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*** Auf dem FLIEGENDEN TEPPICH um die Welt: die schönsten Märchen endlich wieder lieferbar! *** Ob zu Lande, zu Wasser oder durch die Luft: Märchenhelden sind viel auf Reisen und zu Abenteuern unterwegs. Reisen ist eine uralte menschliche Erfahrung, und in der Begegnung mit dem Ungewissen liegt eine Form menschlicher Bewährung. Auf spannende Weise spiegeln die Märchen diese Erfahrungen wider.
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Seitenzahl: 255
Veröffentlichungsjahr: 2014
Märchen von Reisen und Abenteuern
Märchen der Welt
Herausgegeben von Günther Westenberger
FISCHER E-Books
Es lebte einmal ein König, der hatte gewissenlose Ratgeber. Und weil selbst ein König nicht alles allein wissen kann, so war es um das Glück seines Volkes übel bestellt. Zuletzt war nicht einmal mehr Geld in den Kassen.
»Was machen wir nun?« fragte der König seine Minister. »Wir lassen die Prinzessin den reichsten Prinzen der Erde heiraten.«
»Hm, soso!« brummte der König. Aber er erkannte, das würde auch nicht viel helfen.
Einige Tage darauf wurde die schöne Prinzessin in den Thronsaal geführt, wo der König und seine Räte versammelt waren, und der König erklärte ihr, sie müsse nun heiraten. Dann schlug er ihr drei Prinzen vor, die als die reichsten galten. Die Prinzessin war ein sehr kluges Mädchen und wußte ganz genau, wo den König und seine Minister der Schuh drückte. Und so sprach sie: »Ich will keinen anderen heiraten als den, der die goldene Stadt gesehen hat.«
Ah, das ist ausgezeichnet, dachte der König und sagte: »Brav!«, erhob sich sogleich von seinem Thron und rief: »Wer die goldene Stadt gesehen hat, der trete heran – er soll mein Schwiegersohn werden!«
Den Räten und allen, die das hörten, wurden die Gesichter lang, denn von der goldenen Stadt hatten sie noch nie etwas erfahren.
»Wir müssen es in der Hauptstadt und im ganzen Lande ausrufen lassen!« gebot der König. Und alsbald ritten Boten in alle Winde und verkündeten: »Wer die goldene Stadt gesehen hat, der soll die Hand der schönsten Prinzessin erhalten!«
Diese Hand hätte nun jeder gerne gehabt, aber weil keiner die goldene Stadt gesehen hatte, zuckten alle mit den Schultern.
Einer jedoch, der das Lügen als seine beste Kunst betrieb, wollte sein Heil versuchen. Er ging in das Schloß und trat vor die Prinzessin. »Nun«, sagte sie, »so erzähle mir, wie du in die goldene Stadt gekommen bist und was du gesehen hast.«
»Das kann gleich geschehen«, antwortete der junge Mann. »Von hier aus bin ich nach Hanapura gewandert, von dort nach Permasien, das sind beiläufig dreitausend Meilen. Und von da sind es noch fünf Tagesreisen bis zur goldenen Stadt. Die führt ihren Namen übrigens mit Recht: Goldene Mauern bilden ihre Grenzen; in die Tore sind Edelsteine eingelegt so groß wie der Mond; alle Häuser und selbst die Straßensteine sind aus Gold, und Kunst und Wissenschaften blühen darin wie die Gänseblumen.«
Da lachte die kluge Prinzessin ihm ins Gesicht und sagte: »Das ist alles erlogen. Die goldene Stadt sieht ganz anders aus!« Der König griff darauf gleich nach seinem Schwert, um den Frechen zu bestrafen. Doch dieser erkannte, daß es höchste Zeit war, sich aus dem Staub zu machen – und blitzschnell war er auf und davon.
Es lebte in jenem Lande nun auch ein Jüngling, der war fleißig und klug. Als er hörte, was der König ausrufen ließ, und sah, daß alle Menschen mit den Schultern zuckten und herzlich dumme Gesichter machten, sagte er: »Hier kann weiter nichts helfen, als daß einer die goldene Stadt findet.« Und noch in der gleichen Stunde machte er sich auf den Weg.
Nach einigen Wochen kam er an ein großes Gebirge. In der Nacht umtönte ihn das Brüllen der wilden Tiere, und des Tags sengte ihn die Sonne. Bald mußte er vor mordgierigen Räuberscharen fliehen, die die Wälder durchstreiften, und bald wurde er durch schimmernde Luftgebilde irregeführt, die am Saum der Wüste ihn lockten und von denen er dachte, dort müsse die goldene Stadt sein.
Unter solchen Strapazen und Gefahren gelangte er endlich zu einem einsamen Waldsee. An dessen Ufer stieß er auf eine verfallende Hütte, vor der ein uralter Einsiedler saß. Den fragte er nach der goldenen Stadt. Doch auch dieser zuckte mit den Schultern und sagte: »Mein Sohn, acht Jahrhunderte habe ich an diesem See vorüberschreiten sehen, aber von einer goldenen Stadt habe ich kein Sterbenswort vernommen. Doch liegt dreihundert Meilen von hier der Berg Utara. Dort lebt mein älterer Bruder – vielleicht weiß der den Weg zu deinem Ziel.«
Der Jüngling verlor den Mut nicht, denn er dachte daran, daß er sich eine Krone und die schöne Prinzessin erwerben könne. Er setzte ein Bein vor das andere, wanderte mit wachen Augen, lernte auf seiner Reise viele Länder und Menschen kennen und brachte so die dreihundert Meilen hinter sich. Endlich gelangte er an den Berg Utara. Hoch droben fand er die Einsiedelei, und er sprach zu dem Greise, der vor der Hütte saß: »Ehrwürdiger Mann, ich bin ausgezogen, die goldene Stadt zu suchen. Dein Bruder sendet mich – kannst du mir Auskunft geben?«
»Ich habe hier oben nicht sehr viel Umgang mit Menschen und weiß nichts von der goldenen Stadt: Aber mitten im Meer liegt die Insel Ustalla. Dort herrscht ein reicher König, der den Ruf aller Weisheit besitzt. Frage den, vielleicht kann er dir den Weg beschreiben.«
Der Jüngling bedankte sich und wanderte an den Strand des Meeres. Weil er nicht viel Geld hatte, ließ er sich auf einem Segler als Matrose dingen. Und bald schon begann die Reise nach Ustalla. Unterwegs aber kam ein solch heftiger Sturm auf, daß das Schiff zerbrach und alle, die sich darauf befanden, in die Fluten stürzten. Während der Jüngling sich noch nach einem Wrackholz umsah, das ihn über Wasser halten sollte, kam plötzlich ein riesiger Fisch geschwommen, der ihn verschlang.
Im Magen des Fisches war es zwar stockdunkel, aber wenigstens geräumig, und der Schiffbrüchige war froh, daß es bis jetzt so glimpflich abgelaufen war. Weil er die Geschichte vom Propheten Jonas kannte, blieb er guten Muts und wartete, was sich weiter ereignen würde.
Nach einiger Zeit wurde er gehörig durcheinandergerüttelt, und er vernahm sogar Männerstimmen. Als wieder eine Weile später ein großes Messer und gleichzeitig Licht in den Magen des Fisches drang, rief er laut: »Vorsicht! Vorsicht! Der Fisch ist bewohnt.« Vor den Augen eines verwunderten Koches, der gerade dabei war, den Fisch zu zerlegen, stieg er heraus und erzählte seine Geschichte. Da sagte der Koch: »Glück muß der Mensch haben! Du bist nämlich in der Küche des Königs der Insel Ustalla, zu dem du wolltest. Dieser Fisch ist heute morgen am Strand gefangen worden, und weil keinem der Fischer jemals zuvor ein solches Exemplar ins Netz gegangen war, brachten sie die seltene Beute dem König.«
»Das trifft sich ja vortrefflich!« freute sich der Jüngling, dankte dem Koch und ging direkt zum König. Diesem mußte er sein Abenteuer noch einmal erzählen, worüber der König sich so wunderte und freute, daß er versprach, ihm weiterzuhelfen. »Die goldene Stadt kenne ich zwar auch nicht«, sprach er, »aber auf einem einsamen Felseneiland lebt ein Einsiedler, der weiß alles, und zu dem wollen wir morgen segeln.«
Und richtig – am nächsten Morgen lag ein Schiff abfahrbereit im Hafen. Sie bestiegen es und segelten vor gutem Wind davon. Nach langer Fahrt, sie hatten bereits tausend Seemeilen zurückgelegt, sahen sie am Horizont eine merkwürdige Erscheinung aus dem Wasser ragen, die aussah wie ein Berg, der aber seltsam schwankte. »Was ist das?« fragte der Jüngling. Nachdem der König eine Weile durch sein Fernrohr geschaut hatte, erbleichte er und sagte: »Was du dort siehst, ist eine winzige Insel, auf der jedoch ein gewaltiger Feigenbaum steht. Weh uns, denn dort, wo der Feigenbaum weit aufs Meer hinausragt, befindet sich ein Strudel, der so gefräßig ist, daß alles, was in seine Nähe gerät, unweigerlich von ihm verschlungen wird. Die Stunde unseres Unterganges ist gekommen!«
Kaum hatte er dies gesagt, füllte ein starker Wind die Segel, und mit der Eile einer weißen Möwe trieb das Schiff dem Verhängnis entgegen. Der König sann krampfhaft auf einen Ausweg, doch da jagten sie schon hinein in den gierigen Rachen des Meeres. Im allerletzten Augenblick erfaßte der Jüngling einen tiefhängenden Ast des Feigenbaumes, und während das Schiff unter ihm in die Tiefe gerissen wurde und gurgelnd verschwand, schwang er sich höher ins Geäst des Baumes. Dort befand er sich zwar in Sicherheit, doch wurden ihm Herz und Sinn schwer bei dem Gedanken an den edlen König, der ins Verderben geraten war, weil er für ihn den Weg zur goldenen Stadt finden wollte. Und was sollte nun weiter mit ihm selbst geschehen? Ringsumher die endlose Weite des Meeres, der Seewind wühlte in den Ästen des Baumes, und unter ihm rauschte der alles verschlingende Strudel …
Während er so über sein Schicksal nachsann, vernahm er plötzlich ein gewaltiges Brausen in der Luft. Ein ganzer Schwarm Adler kam übers Meer dahergeflogen und ließ sich auf dem Feigenbaum nieder. Zum Glück war die Sonne gerade untergegangen, so daß die Adler den Jüngling nicht mehr sehen konnten. Jener hatte sich im dichtesten Laube verborgen und erlauschte nun aus dem Gespräch der Vögel, daß sie allabendlich hier schliefen. Nur einer fehlte heute noch. Das war der größte und stärkste von ihnen. Und als er endlich nahte, verdunkelte er das Sternenlicht mit seinen breiten Schwingen. »Warum hast du dich denn heute schon wieder verspätet?« fragten ihn die anderen.
»Ah«, antwortete er, »ich habe mir einen guten Tag gemacht. Der Weg war zwar ein wenig weit, aber er war der Mühe wert. Ich war nämlich in der goldenen Stadt, und morgen flieg ich wieder hin …«
Als der Jüngling dies hörte, wollte ihm das Herz schier zerspringen vor Freude und Überraschung. Er wagte indes kaum zu atmen, aus Angst, die Vögel könnten ihn entdecken und er könnte etwas von dem verpassen, was die Vögel vor dem Einschlafen noch sprachen.
Etwa um Mitternacht, die Vögel schliefen fest, glitt der Jüngling aus seinem Versteck hervor und setzte sich dem Adler aus der goldenen Stadt ganz behutsam auf den Rücken –
»Na, was ist denn das?« fragte der Adler schläfrig.
Der Jüngling, der so etwas erwartet hatte, erwiderte: »Das ist die Sehnsucht nach der goldenen Stadt.«
Darüber mußte der Adler lachen, denn er dachte, er hätte geträumt. Dann schlief er weiter.
Kaum graute der Tag, flogen die Vögel nach verschiedenen Richtungen auseinander. Zuletzt schwang sich auch der große Adler, der zur goldenen Stadt flog, vom Ast. Von dem Menschen auf seinem Rücken merkte er gar nichts. So mochten sie ungefähr dreihundert Meilen geflogen sein, da erkannte der Jüngling eine Stadt inmitten blühender Haine. Langsam senkte sich der Adler auf einen der schönen Gärten nieder. Seltsam – aus Gold war an dieser Stadt aber weiter nichts als die Kuppel der Kirche. Weder goldene Tore noch Mauern, noch Straßen waren zu sehen, jedoch schritten fröhliche Menschen allenthalben, und ein köstlicher Duft wehte über die Erde. Der Jüngling glitt vom Rücken seines Reittieres, schritt durch alle Gärten und wandelte durch alle Straßen. Wohin er blickte, sah er Menschen an der Arbeit, wohin er kam, wohnte Wohlergehen, Freundschaft und Friede. Alle Menschen wirkten zufrieden ihr Tagwerk – die einen ein leichteres, die anderen ein schwereres. Wie oft hingegen hatte der Jüngling daheim die Menschen mit ihrem Dasein hadern erlebt.
Als er noch über dies Wunder nachdachte, kam er an einem Mann vorüber, der Steine auf einen Karren lud. Es war gerade um die heißeste Stunde des Tages, so daß die Stirne des Mannes von Schweiß troff. »Du hast ein bitteres Los«, redete ihn der Jüngling an. »Deine Last ist schwer und dein Lohn wahrscheinlich gering. Murrst du nicht wider das Schicksal, das dich so übel bedachte?«
»Warum sollte ich?« fragte der Mann erstaunt. »Diese Arbeit ist nicht zu schwer für mich, denn ich bin gesund und stark. Zudem werde ich aber auch doppelt belohnt.«
»Wie denn das?« fragte der Jüngling
»Zuerst empfange ich mein Geld dafür, daß ich den Haufen Steine von der Straße fortkarre. Aber dann darf ich diese Steine auch noch behalten und damit meine Hütte ausbessern und vergrößern. Sollte ich meine Arbeit also zu schwer finden?«
»Und wer hat dir diesen zweifachen Lohn gewährt?«
»Oh«, antwortete der Mann, »das war meine edle Fürstin. Die sieht überall nach dem Rechten und vergißt keinen ihrer Untertanen.«
Bei dieser Rede fiel es dem Jüngling wie Schuppen von den Augen, und auf einmal wußte er, wie das Wort von der goldenen Stadt zu verstehen sei: nicht Gold, Edelsteine und Geld konnten das Land seines Königs reich machen, sondern die Weisheit und Zufriedenheit, die zwischen den blühenden Gärten dieser wunderbaren Stadt wandelten!
Nicht lange, so traf er die Königin. Und weil ihr sein Wesen fremd schien, redete sie ihn an und erforschte seine Herkunft und Geschichte. Nachdem er ihr alles erzählt hatte, sprach sie: »Nie, o Jüngling, würdest du wieder heimkehren können in dein Land, wenn nicht eine Weissagung sich an dir erfüllt hätte. Denn das ist mir verkündigt worden: Wenn ein Vogel zum Pferd wird, soll ich Schiffe rüsten, die zu den glücklichen Inseln treiben. Denn dann wird der gierige Mund des Meeres geschlossen sein, der unsere Boote verschlang, sooft sie von dieser Küste stießen.«
Am nächsten Morgen lag eine kleine Flotte schon bereit zur Abfahrt. Eines der Schiffe, dazu bestimmt, die Königin zu tragen, hatte scharlachrote Segel. Dieses Schiff blieb noch vor Anker, denn die Königin wollte erst am nächsten Tag nachfolgen, aber alle anderen Schiffe liefen aus. Als sie zu den glücklichen Inseln kamen, deren König so jammervoll sein Leben verloren hatte, ließ der Jüngling den Hafen anlaufen, denn er wollte den Bewohnern vom Schicksal ihres Königs berichten und sie trösten. Kaum aber erkannte man den Fremden, so stürzten sich die Soldaten auf ihn und nahmen ihn gefangen. Alle beschuldigten ihn, ihren weisen König in den Tod geführt zu haben. Sosehr er seine Unschuld beteuerte – es half ihm nichts. Sie schlangen ihn mit Ketten an einen Baumstamm und berieten, wie sie ihn zu Tode bringen sollten. Darüber verging die Nacht, und als der neue Morgen heraufstieg, lösten sie seine Fesseln und wollten ihn zum Tode führen. Da tauchte weit draußen auf dem Meer, doch sich geschwind nähernd, ein Schiff mit scharlachroten Segeln auf.
»Seht!« rief der Jüngling. »Seht, auf diesem Schiff kommt die Königin der goldenen Stadt. Wartet auf ihre Ankunft, denn sie kann euch sagen, ob ich schuldig oder unschuldig bin!«
Und kurz darauf glitt das Schiff in den Hafen. Am Bug des Schiffes stand die Königin und neben ihr – welch ein Wunder – der totgeglaubte König. Wie war das möglich? Durch die Holdseligkeit, Weisheit und Güte der Königin war, gemäß der Weissagung, selbst die Gier des Meeres besiegt worden. Der alles verschlingende Strudel und der riesige Feigenbaum waren verschwunden. Als das Schiff der Königin an jener Stelle, die einst der Schrecken aller Seeleute gewesen war, vorübersegelte, trieb dort das Schiff des Königs. Dieser grüßte die Königin der goldenen Stadt und erzählte ihr von dem schweren Traum, den er gehabt hätte. Da lächelte die schöne Königin weise und berichtete ihrerseits, was inzwischen alles geschehen war.
So waren die beiden gerade rechtzeitig eingetroffen, um den Jüngling vom Tode zu erretten. Das Volk, das seinen König erkannt hatte, jubelte ihm zu. Ja, als bekannt wurde, daß die Königin der goldenen Stadt die Gemahlin des Königs der glücklichen Inseln werden sollte, wurde der Jubel immer lauter und wollte schier kein Ende nehmen. Schon am nächsten Tag sollte die Hochzeit sein. Darum wurden sofort hundert Kanonen abgeschossen, und alle Glocken mußten läuten. In ihrer Freude aber vergaßen König und Königin nicht ihres Gastes. »Du bist durch die Schuld meiner Soldaten in große Not geraten«, sagte der König. »Ich will dich deshalb auf dem kürzesten Weg in dein Vaterland bringen. Siehst du das Roß, das dort am Waldrand weidet?«
»Ich sehe es«, antwortete der Jüngling. »Es ist weißer als Schlehenblüten.«
»So geh hin, besteig es und reite zum Ufer des Teiches, der im Walde liegt. Dann wirst du das Weitere erfahren.«
Der Jüngling dankte dem König und der Königin aus tiefstem Herzen, nahm Abschied und schritt dem Hügel am Waldrand zu. Was nützt mir ein Pferd, so dachte er, da ich doch weit übers Meer fahren muß, um in meine Heimat zu gelangen. Unter solchen Gedanken kam er zu dem weißen Pferd, schwang sich auf dessen Rücken und sagte: »Trag mich zum Rande des Teiches mitten im Wald.« Das weiße Pferd schnaufte ein wenig, setzte sich in Trab und hatte schon bald den Rand des Teiches erreicht. Plötzlich stieg es in den Zügeln, machte einige tolle Sprünge und warf den Jüngling ins Wasser. Zu seinem großen Erstaunen merkte er, daß er nicht ertrank, ja, daß er nicht einmal naß wurde. Und während er sich noch wunderte und das Wunder zu verstehen trachtete, hob ihn die Flut auch schon empor. Er tauchte auf und stieg ans Ufer eines kleinen Sees, der lag direkt vor dem Schloß der Prinzessin, die keinen anderen zum Manne nehmen wollte als den, der die goldene Stadt gesehen hatte.
Obgleich der Jüngling auf seinen Reisen allerhand Merkwürdiges erlebt hatte, konnte er nicht recht fassen, derart geschwind zurück in sein Vaterland gelangt zu sein, und glaubte zu träumen. Doch als er die schöne Prinzessin durch den Schloßgarten gehen sah, waren sämtliche Zweifel weggefegt. Augenblicklich schritt er auf sie zu und schenkte ihr einen Strauß Seerosen, den er vom Seeufer mitgebracht hatte. Die Prinzessin hörte entzückt seinen Bericht und führte ihn sogleich zu ihrem Vater.
Der König rief seine Minister zusammen. Diese zogen ihre Staatsröcke an und kamen, in der sicheren Gewißheit, der König bedürfe diesmal ganz besonders ihrer Weisheit, in den hohen Rat. Doch der König hielt eine lange Rede und setzte sie alle ab. Weil er mit dem Regieren wenig Glück gehabt hatte, gab er dem Jüngling seine Tochter, sein Zepter und seinen Reichsapfel und setzte sich kurzerhand zur Ruhe.
Der junge König regierte von nun an nach einem Gesetzbuch, das er sich in der goldenen Stadt für alle Fälle besorgt hatte, und bald gab es keinen im Land, der sich einen besseren Herrscher wünschte – und die junge Königin wünschte sich wahrlich keinen besseren Gatten.
[Märchen aus Deutschland]
Vor Zeiten lebte einmal ein armer Fischer, der hatte eine hübsche Frau und drei Kinder. Er besaß kaum etwas, weder ein Stück Land noch Rebgärten, nur ein kleines Boot, und so lebten sie kümmerlich vom Fischfang. Aber auch darin hatte er kein Glück, denn er fing meist nur wenig.
Eines Morgens stand er früh auf und fuhr mit dem Boot hinaus aufs Meer. Doch nachdem er wieder den ganzen Tag über nichts gefangen hatte, war er voller Sorgen. In der Hoffnung, doch noch einen Fang zu machen, segelte er weiter als sonst und gelangte zu einer kleinen Insel. Dort stieg er ans Ufer und erschrak, als plötzlich ein riesengroßer Korsar vor ihm stand. Der sprach zu ihm: »Was willst du mir geben, wenn ich dir viele Fische und genug Geld verschaffe?«
Der Fischer erwiderte: »Ich gebe dir, was du willst. So sag, was soll ich tun?«
Da sagte der Seeräuber: »Wenn du mir einen deiner Söhne auf diese kleine Insel bringst, sollst du Fische und auch Gold und Silber im Überfluß haben.«
Da war der arme Fischer sehr betrübt. Aber seine Armut zwang ihn zuzustimmen, und er antwortete: »Ich will dir den Jüngsten geben und werde ihn auf diese Insel bringen.«
Darauf fing der Korsar im Handumdrehen ganze Netze voller Fische und füllte damit das Boot. Dann gab er dem Fischer eine gewaltige Menge Geld und warnte ihn: »Wenn du dein Versprechen nicht hältst, wirst du im Meer ertrinken.«
»Ich werde dich ganz gewiß nicht täuschen«, entgegnete der Fischer und kehrte mit reicher Ladung heim. Als erstes kaufte er für Frau und Kinder gute Kleidung und Lebensmittel aller Art. Da wich die Not aus der Fischerhütte, und Wohlergehen kehrte ein, doch schlug es eine tiefe Wunde in des Fischers Herz, daß er seinen jüngsten Sohn hergeben sollte. Aber Jammern half nun auch nicht, vielmehr rief er das Büblein, das erst sieben Jahre alt war, herbei, nahm es mit in das Fischerboot und segelte voll Sorge und Trauer der Insel zu. Dort stiegen sie an Land, und er sagte zu dem Knaben: »Bleib hier und warte, bis ich wieder zurückkomme.« Und damit fuhr er schnell weg und ließ den Buben allein am Strand zurück, denn er wollte nicht mit ansehen müssen, was diesem nun Schreckliches widerfahre.
Noch war der Vater nicht lange fort, da erschien der Korsar und wollte den Knaben fortschleppen. Der geriet in große Angst und schrie so laut und gellend um Hilfe, daß der Korsar ihn erschrocken fallen ließ und verschwand. So blieb der Knabe verängstigt und allein sitzen. Als er sich nach einer Weile von dem Schrecken erholt hatte, schaute er sich um und sah auf einer Anhöhe einen Adler. Der kam zu ihm herab und sagte: »Du sollst keine Angst haben, ich will dich von dieser Insel fortbringen.«
»Ich will aber nicht fort«, erwiderte der Knabe, »denn ich muß hier auf meinen Vater warten.«
»Dein Vater wird es mir danken, wenn ich dich rette«, sprach der Adler, hob den Knaben auf und trug ihn hoch in die Lüfte empor. Dem Knaben gefiel diese Luftreise noch viel besser als die Fahrt mit dem Boot auf dem Meer. Sie ließen die Insel hinter sich und flogen in die Dämmerung hinein. Sie flogen so schnell, daß sie in einer Nacht vierhundert Tagesreisen zurücklegten, und am nächsten Morgen befanden sie sich über einem weiten, fremden Land. Der Adler sagte, nun seien sie in seinem Land angekommen, und kurz darauf erreichten sie auch sein Schloß. Durch die weitgeöffneten Fenster flogen sie geradewegs in einen prächtigen Saal hinein. Dort sagte der Adler: »Warte hier auf mich, ich bin gleich wieder zurück.«
In einer Kammer verwandelte sich der Adler in ein Mädchen, das war noch nicht zehn Jahre alt und von unvergleichlicher Schönheit. Ihre Augen leuchteten so hell wie Sterne, ihr Antlitz erstrahlte in edelstem Liebreiz, und ihre langen Haare glänzten wie goldene Seide. Sie kam zu dem Knaben zurück und sagte: »Ich heiße Aquilina. Ich war der Adler, der dich von der Insel des Seeräubers gerettet hat.«
Der Knabe dankte ihr und bot sich an, ihr im Schloß zu dienen. So blieb er mehr als acht Jahre in ihrem Dienst.
Als sie beide erwachsen waren – er glich einer Lilie und sie einer Rose –, sprach Donna Aquilina eines Tages zu ihm: »Mein Herz hat keine Ruhe mehr, wenn sich mein Wunsch nicht erfüllt: Ich möchte deine Frau sein.«
Der Jüngling antwortete: »Ihr habt mich von der Insel gerettet, Ihr habt mich mit vieler Mühe als Edelknabe aufgezogen, ich bin bereit zu tun, was Euch gefällt.«
Die beiden heirateten einander und lebten glücklich und mit allem wohlversorgt in dem großen Schloß. Der Jüngling, er wurde nun Liombruno genannt, übte sich fleißig im Ritterspiel. Die beiden gewannen sich mit jedem Tag lieber.
Eines Tages traf Aquilina ihren Liombruno ganz in Gedanken versunken an. Da fragte sie ihn mit liebreichen Worten, was ihm fehle. Liombruno erwiderte traurig: »Ich spüre ein großes Verlangen, meine Geschwister und meine Eltern wiederzusehen.«
»Nun, wenn du sie besuchen möchtest, so versprich mir, nach einem Jahr wieder zurück zu sein.«
Liombruno versprach ihr dies, und sie gab ihm einen schönen Ring, der ihn vor aller Unbill bewahren sollte. Dazu sprach sie: »Verlange von diesem Ring, was du willst, so wirst du es empfangen, sowohl Geld als auch andere Sachen. Aber hüte dich wohl, unser Geheimnis zu verraten, sprich mit niemandem von mir, denn sonst würde des Ringes Zauberkraft schwinden, und du könntest keinerlei Gunst mehr erwarten.«
Dann veranstaltete sie vor seiner Abreise ihm zu Ehren ein Hoffest, das vier Tage dauerte, und ließ ihn zum Ritter erheben. Am Abend des vierten Tages nahm er Abschied von den Gästen und seiner geliebten Gattin und legte sich schlafen, um für die weite Reise ausgeruht zu sein. In dieser Nacht träumte er, der Adler trüge ihn wieder durch die Luft und brächte ihn schneller als der Wind in seine vierhundert Tagereisen entfernte Heimat.
Als er am nächsten Morgen erwachte und sich umschaute, wunderte er sich sehr, denn er fand sich auf einer ihm aus Kindertagen wohlbekannten Wiese, nicht weit von seinem Elternhaus. Er dankte in Gedanken seiner lieben Aquilina, denn nur sie konnte diese bequeme und schnelle Reise bewirkt haben, und bereitete dann seine Ankunft bei seiner Familie vor. Er drehte den Ring an seinem Finger und wünschte sich ein gutes Pferd, schöne Kleider, einen Koffer voll Geld und Geschenke sowie eine Anzahl Diener zu Fuß und zu Roß. Mit alldem begab er sich nach Hause, wo er Vater, Mutter und Geschwister begrüßte und sie alle reich beschenkte. Sie freuten sich über die Maßen und fragten ihn, wo er so lange gewesen und wie es ihm ergangen sei. Er gab vor, er sei im Dienst reicher Kaufleute gewesen, die hätten ihn zum Lohn so kostbar und reichlich ausgestattet und zum Ritter von Bufalaro erhoben. Er habe ebendiesen Kaufleuten versprochen, vor Ablauf eines Jahres wiederzukommen. Da jammerten seine Verwandten und bedrängten ihn: »O Liombruno, wieso willst du so bald wieder von uns weggehen? Hier gibt es für dich viel zu tun und zu gewinnen. Nicht weit von hier wohnt der König und will demjenigen, der im Turnier Sieger bleibt, seine Tochter zur Frau geben und ein halbes Königreich schenken.«
Als Liombruno das hörte, fühlte er sich seiner Ritterehre verpflichtet und wollte sein Glück versuchen. Zwar reizte ihn die Königstochter keineswegs, er hatte ja seine holde Aquilina, doch ein halbes Königreich dünkte ihm ein lohnender Preis. Er drehte an seinem Ring und wünschte sich ein stolzes Streitroß samt einer Rüstung, nahm Abschied von seiner Familie und ritt zur Hauptstadt. Dort besiegte er im Turnier einen Sarazenen, der als unüberwindlich gegolten hatte, und behauptete den Sieg über alle, die am Turnier teilnahmen. Der König war bereit, ihm seine Tochter zur Frau und das halbe Königreich zu geben, mußte aber vorher noch eine Versammlung seiner Barone einberufen. Einer der Berater meinte: »Ich habe einen Ring an seinem Finger gesehen, es kommt mir vor, als habe er in fremden Landen schon eine Frau. Auch scheint er nicht von so hoher Geburt, daß er sich für eine solche Würde eignete, obwohl er im übrigen tüchtig und ritterlich ist. Wollt Ihr, edler König, nach unserem Rat handeln, so befehlt, daß jeder sich einer Sache rühmen soll, und dann soll auch er vortreten.«
Am nächsten Tag mußten sich alle Barone und Edlen des Landes im großen Saal versammeln. Der eine rühmte sich, herrliche Ländereien zu besitzen, der andere besaß ein prächtiges Schloß, der dritte die seltensten Pferde, der vierte die tüchtigsten Falken, der sechste die üppigsten Gärten, der siebente eine stattliche Burg, der achte pries seine edle Ahnenreihe, und nachdem sich alle gerühmt hatten, wurde auch Liombruno gefragt. Er merkte wohl, daß sie ihn beschämen wollten, und sagte trotzig: »Ich preise meine liebe Frau, denn eine schönere ist auf der ganzen Welt nicht zu finden.«
Das hörte die Prinzessin natürlich gar nicht gerne, aber der König noch viel weniger. Dieser war zornig und rief: »Du rühmst dich also, die schönste Frau der Welt zu haben. Dann beweise es. Ich gebe dir dreißig Tage Frist, zeigst du uns in dieser Zeit nicht deine Frau, und ist sie nicht so schön, wie du sagst, dann sollst du deinen Kopf verlieren.«
Liombruno drehte an seinem Ring und sprach: »Frau Aquilina, erscheine sogleich!«
Aber sie kam nicht, weil er sein Versprechen, von ihr nicht zu reden, gebrochen hatte. Als der dreißigste Tag anbrach, und Liombrunos Hinrichtung nahe bevorstand, traf Aquilina draußen vor der Stadt ein, aber sie hielt sich noch verborgen. Sie schickte an ihrer Stelle eine Kammerzofe von holder Schönheit in ihren Gewändern zum Schloß. Der König fragte Liombruno: »Ist das deine Frau?«
»Nein, gnädiger Herr.«
Nun schickte Aquilina eine zweite, noch schönere Zofe zum Schloß, aber Liombruno erklärte: »Auch das ist nicht meine Frau. Bisher schickte sie nur ihre Dienerinnen voraus.«
Zuletzt erschien Frau Aquilina selber, und ihr Gesicht erstrahlte in unvergleichlicher Schönheit, und ihre Gestalt bezauberte durch edelste Grazie und hoheitsvolle Anmut. Da war der König und mit ihm der ganze Hofstaat überzeugt, das müsse tatsächlich die schönste Frau der Welt sein, und sie baten Liombruno um Entschuldigung. Liombruno nahm Abschied vom Hof und ritt mit seiner Frau zur Stadt hinaus. Aquilina war in höchstem Maße erzürnt über ihn und ließ ihn – plötzlich war sie verschwunden – ohne Waffen und Pferde allein in einem Wald zurück. Auf der Suche nach ihr traf er in diesem Wald auf drei Straßenräuber, die zwei Kaufleute umgebracht und ausgeraubt hatten und nun um ihre Beute stritten. Sie hatten das gestohlene Geld auf einen Stein gelegt und baten Liombruno, das übrige Diebesgut als Schiedsrichter gerecht unter sie zu verteilen. Es handelte sich um einen Mantel und ein Paar Reitstiefel. Liombruno meinte: »Damit ich ein gerechtes Urteil abgeben kann, sagt mir, welche Vorzüge diese Stiefel und dieser Mantel besitzen.«
Einer der Räuber erklärte: »Wer diesen Mantel anlegt, der wird unsichtbar, und wer diese Stiefel anzieht, kann schneller laufen als der Wind.«
»Das kann ich nicht glauben«, versetzte Liombruno, »bevor ich es nicht selbst probiert habe.«
»So zieh die Stiefel an und geh einige Schritte auf dieser Straße auf und ab.«
Liombruno zog die Stiefel an und bat, ihm auch den Mantel zur Probe zu geben. »Wenn das nun wahr ist, was ihr sagtet, so ist das freilich ein unbezahlbarer Schatz.«
Da meinte der älteste der Räuber: »Also zieht auch den Mantel an, damit Ihr uns glaubt.«
Liombruno warf den Mantel über und fragte: »Seht ihr mich?«
»Nein«, antworteten die Diebe.
Da ging Liombruno zum Stein, nahm soviel Geld, wie er wollte, und verschwand mit den beiden Zauberdingen im Wald. Die Räuber hatten jetzt das Nachsehen, und ihr Zorn entlud sich auf den ältesten unter ihnen, den sie umbrachten. Dann gingen die beiden übrigen zu dem Stein, um wenigstens das Geld zu teilen. Als sie sahen, daß viel Geld fehlte, gerieten sie, sich gegenseitig des Diebstahls beschuldigend, so heftig in Streit, daß sie ihre Schwerter zogen und aufeinander einhieben, bis beide tot zur Erde fielen. Liombruno hatte den Lärm der Waffen gehört, kam zurück und sah, daß alle drei tot dalagen. Da steckte er auch noch das restliche Geld zu sich und machte sich mit den Zauberstiefeln in Windeseile von dannen, um seine geliebte Aquilina zu suchen.