Margos Spuren - John Green - E-Book

Margos Spuren E-Book

John Green

4,5

Beschreibung

Schon als kleiner Junge war Quentin in die schöne, impulsive Margo verliebt - und schon damals war sie ihm ein Rätsel: Niemand konnte so mutig und entschlossen sein wie sie, niemand wirkte so unnahbar. Nachdem Quentin Margo bei einem nächtlichen Rachefeldzug geholfen hat, verschwindet diese urplötzlich und hinterlässt geheimnisvolle Spuren. Quentin ist verwirrt: Sind die Spuren für ihn? Soll er die Suche aufnehmen? Doch dann verfolgt er jeden Hinweis und befindet sich plötzlich inmitten eines aufregenden Abenteuers, irgendwo zwischen Roadmovie, Detektiv- und Liebesgeschichte. Der dritte Roman des vielfach ausgezeichneten Autors aus den USA.

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Sammlungen



John Green

Margos Spuren

Aus dem Englischen

von Sophie Zeitz

Carl Hanser Verlag

Die Originalausgabe erschien 2008 unter dem Titel Paper Towns bei Dutton Books, New York.

Published by arrangement with Dutton Children’s Books, a division of Penguin Young Readers Group, a member of Penguin Group ( USA ) Inc.

Die Schreibweise in diesem Buch entspricht

den Regeln der neuen Rechtschreibung.

ISBN 978-3-446-24207-4

© 2008 by John Green

Alle Rechte der deutschen Ausgabe :

© Carl Hanser Verlag München Wien 2010

3. E-Book-Ausgabe 2017

Satz im Verlag: Nadine Wagner, München

Unser gesamtes lieferbares Programm

und viele andere Informationen finden Sie unter:

www.hanser-literaturverlage.de

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Datenkonvertierung E-Book:

Kreutzfeldt digital, Hamburg

Für Julia Strauss-Gabel,

ohne die nichts von allem

Wirklichkeit geworden wäre

Und später, als wir vors Haus traten,

um ihren Kürbis von draußen zu bewundern,

sagte ich, ich fand es schön, wie ihr Licht

aus dem Gesicht schien, das im Dunkeln flackerte.

»Der Kürbis«, Katrina Vandenberg in Atlas

People say friends don’t destroy one another.

What do they know about friends?

»Game Shows Touch Our Lives«, The Mountain Goats

Vorwort

Also, wie ich die Sache sehe, erlebt jeder irgendwann mal ein Wunder. Ich meine, es ist zwar unwahrscheinlich, dass ich vom Blitz getroffen werde oder einen Nobelpreis kriege, Diktator eines Inselstaats im Pazifik werde, an Ohrenkrebs sterbe oder mich spontan selbst entzünde. Aber wenn man alle unwahrscheinlichen Dinge, die passieren könnten, zusammennimmt, ist es wahrscheinlich, dass jedem von uns zumindest einmal etwas davon passiert. Ich hätte zum Beispiel Zeuge werden können, wie es Frösche regnet. Oder ich hätte den ersten Schritt auf dem Mars machen können. Oder von einem Wal verschluckt werden können. Ich hätte die Queen heiraten oder monatelang auf dem Ozean überleben können. Doch stattdessen erlebte ich ein anderes Wunder. Und zwar folgendes : Von all den Hunderttausenden von Häusern in den Tausenden von Neubausiedlungen in ganz Florida wohnte ich ausgerechnet in dem Haus neben Margo Roth Spiegelman.

Unsere Siedlung hieß Jefferson Park und war mal ein Marinestützpunkt. Dann brauchte die Navy den Stützpunkt nicht mehr und gab das Land an die Bürger von Orlando zurück, die beschlossen, eine riesige Neubausiedlung hochzuziehen, weil man das in Florida mit Land so machte. Und kaum waren die ersten Häuser gebaut, zogen meine Eltern und Margos Eltern ein, genau nebeneinander. Da waren Margo und ich zwei Jahre alt.

Bevor Jefferson Park ein Wohnviertel wurde und noch bevor es ein Marinestützpunkt war, hatte das Land mal einem Mann namens Jefferson gehört, Dr. Jefferson Jefferson, um genau zu sein. Dr. Jefferson Jefferson war eine bekannte Persönlichkeit in Orlando, Schulen und Wohltätigkeitsorganisationen waren nach ihm benannt, doch das Merkwürdige an ihm war, dass Dr. Jefferson Jefferson überhaupt kein Doktor war. Er hatte als einfacher Orangensaftverkäufer namens Jefferson Jefferson angefangen. Und als er reich und mächtig war, ging er zum Standesamt und ließ seinen Namen ändern. Er ließ sich einen zweiten Vornamen eintragen, den er seinem ersten voranstellte : »Dr.« Großes D. Kleines r. Punkt. In Amerika ist so was möglich.

Margo und ich waren inzwischen neun. Unsere Eltern hatten sich angefreundet, und wir spielten manchmal zusammen oder fuhren mit dem Rad durch unser verkehrsberuhigtes Viertel zum Jefferson-Park im Herzen der Siedlung.

Ich wurde immer ganz nervös, wenn Margo kam, denn immerhin war sie das schönste und tollste Wesen auf Gottes Erde. An jenem Morgen hatte sie weiße Shorts an und ein rosa T-Shirt mit einem grünen Drachen darauf, der glitzerndes orangenes Feuer spuckte. Es ist schwer zu beschreiben, wie toll ich Margos T-Shirt damals fand.

Wie immer radelte Margo im Stehen, mit verschränkten Armen, über den Lenker gebeugt, und ihre lila Turnschuhe drehten sich so schnell auf den Pedalen, dass sie aussahen wie eine lila Wolke. Es war ein drückend heißer Märztag. Der Himmel war blau, doch die Luft schmeckte säuerlich, als würde später ein Sturm aufziehen.

Ich wollte Erfinder werden, und als wir die Fahrräder abgeschlossen hatten und das kurze Stück zum Spielplatz liefen, erzählte ich Margo von meiner neuesten Idee, dem Ringolator. Der Ringolator war eine riesige Kanone, mit der man riesige bunte Steine in eine niedrige Erdumlaufbahn schießen konnte, so dass die Erde Ringe bekam wie der Saturn. ( Ich finde immer noch, dass es eine gute Idee ist, aber der Bau einer Kanone, die Felsbrocken in eine niedrige Umlaufbahn schießt, scheint relativ kompliziert zu sein. )

Ich war so oft in dem Park gewesen, dass ich eine präzise Landkarte davon im Kopf hatte, und so fiel mir schon nach wenigen Schritten auf, dass irgendwas nicht so war, wie es sein sollte, auch wenn ich nicht gleich wusste, was.

»Quentin«, sagte Margo ganz ruhig und leise.

Sie streckte den Zeigefinger aus. Und dann sah ich, was nicht stimmte.

Vor uns stand die dicke Eiche, knorrig und kraftstrotzend und uralt. Das war wie immer. Rechts von uns war der Spielplatz. Auch das war wie immer. Am Stamm der Eiche aber lehnte ein Mann, der einen Anzug trug. Und das war neu. Er bewegte sich nicht. Er saß in einer Blutlache. Aus seinem Mund quoll halb getrocknetes Blut. Der Mund stand offen, wie Münder eigentlich nicht offen stehen sollen. Fliegen saßen auf seiner bleichen Stirn.

»Er ist tot«, erklärte Margo, als wäre mir das nicht auch schon aufgefallen.

Ich wich zwei Schritte zurück. Ich erinnere mich, wie ich dachte, er würde aufwachen und über mich herfallen, falls ich ruckartige Bewegungen machte. Vielleicht war er ein Zombie. Ich wusste natürlich, dass es keine Zombies gab, aber er sah so aus, als könnte er doch einer sein.

Während ich zwei Schritte zurückwich, trat Margo zwei vorsichtige Schritte vor. »Seine Augen sind offen«, stellte sie fest.

»Wir müssen schnell heim«, sagte ich.

»Ich dachte, wenn man stirbt, macht man die Augen zu«, sagte sie.

»MargowirmüssennachHausedenElternBescheidsagen«, sagte ich.

Sie trat einen weiteren Schritt vor. Jetzt war sie so nah, dass sie seinen Fuß berühren konnte. »Was, glaubst du, ist mit ihm passiert?«, fragte sie. »Vielleicht hat er Drogen genommen oder so was?«

Ich wollte Margo nicht mit dem Toten allein lassen, der vielleicht ein Zombie war und über sie herfallen würde, aber ich hatte auch keine Lust, noch länger hier rumzuhängen und zu erörtern, was zu seinem verfrühten Ableben geführt haben könnte. Also nahm ich all meinen Mut zusammen, trat vor und griff nach ihrer Hand. »Margowirmüssenjetztgehen!«

»Ja, okay«, sagte sie. Und dann rannten wir endlich zu unseren Rädern zurück, und ich hatte ein Flattern im Bauch, das sich wie Aufregung anfühlte, aber keine Aufregung war. Wir stiegen auf, und ich ließ Margo vorfahren, weil ich weinte und nicht wollte, dass sie es sah. An den Sohlen ihrer Turnschuhe klebte Blut. Sein Blut. Das Blut des Toten.

Und dann waren wir zu Hause, jeder bei sich. Meine Eltern riefen die Polizei, und ich hörte die Sirenen in der Ferne und fragte, ob ich den Feuerwehrautos zusehen dürfte, aber meine Mutter sagte Nein. Und dann machte ich meinen Mittagsschlaf.

Meine Mutter und mein Vater sind beide Psychotherapeuten, was bedeutet, dass ich ein verdammt ausgeglichener Junge bin. Als ich nach dem Mittagsschlaf aufwachte, führte meine Mutter ein langes Gespräch mit mir über den Kreislauf des Lebens, darüber, dass der Tod Teil des Lebens ist, aber kein Teil, über den ich mir mit neun Jahren allzu viele Gedanken machen müsse, und danach ging es mir schon besser. Ehrlich gesagt habe ich mir nicht lange den Kopf über die Sache zerbrochen. Und das soll etwas heißen, denn ansonsten zerbreche ich mir über alles den Kopf.

Es war nun mal so : Ich hatte eine Leiche gefunden. Der süße kleine neunjährige Quentin hatte mit seiner noch süßeren, noch kleineren Spielkameradin einen Toten gefunden, dem Blut aus dem Mund lief, und dann, beim Nach-Hause-Radeln, klebte das Blut an ihren süßen kleinen Turnschuhen. Es war eine dramatische Erfahrung, aber andererseits – ich kannte den Kerl überhaupt nicht. Jeden Tag starben Leute, die ich nicht kannte. Wenn ich jedes Mal, wenn etwas Schlimmes auf der Welt passiert, einen Nervenzusammenbruch hätte, dann wäre ich längst ein Fall für die Klapse.

Abends um neun lag ich im Bett, weil neun Uhr meine Bettzeit war. Meine Mutter kam zu mir und sagte, dass sie mich lieb hatte, und ich sagte : »Bis morgen«, und sie sagte : »Bis morgen.« Dann machte sie das Licht aus und zog die Tür bis auf einen Spalt zu.

Als ich mich zur Seite drehte, stand Margo Roth Spiegelman vor dem Fenster und drückte das Gesicht gegen die Scheibe. Ich stieg aus dem Bett und machte das Fenster auf. Das Fliegengitter war zwischen uns und zerlegte sie in Pixel.

»Ich habe Nachforschungen angestellt«, erklärte sie mit kindlichem Ernst. Zwar zerteilte das Fliegengitter ihr Gesicht in Kästchen, doch ich konnte erkennen, dass sie ein Notizbuch und einen Bleistift mit angekautem Radiergummi dabeihatte. Sie warf einen Blick in ihre Aufzeichnungen. »Mrs. Feldman aus der Jefferson Court Street sagt, sein Name war Robert Joyner. Sie hat mir erzählt, dass er auf der Jefferson Road gewohnt hat, in einer Wohnung über dem Supermarkt, also bin ich da hin, und da standen ein paar Polizisten rum, und einer hat mich gefragt, ob ich für die Schülerzeitung schreibe, aber ich hab gesagt, unsere Schule hat keine Schülerzeitung, und da meinte er, wenn ich keine Reporterin wäre, würde er meine Fragen beantworten. Er sagte, Robert Joyner war sechsunddreißig Jahre alt und Rechtsanwalt. Sie wollten mich nicht in seine Wohnung lassen, aber nebenan wohnt eine Frau namens Juanita Alvarez, und die hat mich reingelassen, weil ich sie gefragt habe, ob sie mir eine Tasse Zucker borgt, und dann hat sie mir erzählt, dass Robert Joyner sich erschossen hat. Ich habe gefragt, warum, und sie hat gesagt, er ist sehr traurig gewesen, weil seine Frau sich scheiden lassen wollte.«

Margo schwieg, und ich sah sie an, ihr Gesicht grau und vom Mond beschienen und durch das Fliegengitter in tausend kleine Kästchen zerlegt. Ihre großen runden Augen sahen von ihrem Notizbuch zu mir und wieder zurück. Ich sagte : »Viele Leute lassen sich scheiden, ohne sich deswegen umzubringen.«

»Genau«, antwortete sie aufgeregt. »Genau das habe ich auch zu Juanita Alvarez gesagt. Und da hat sie gesagt …« – Margo blätterte in ihrem Notizbuch – »sie sagte, Mr. Joyner hatte Probleme. Und als ich sie fragte, was sie damit meint, hat sie gesagt, wir sollen für ihn beten und ich sollte meiner Mutter jetzt den Zucker bringen, und da habe ich gesagt, vergessen Sie den Zucker, und bin gegangen.«

Ich schwieg. Ich wollte, dass sie weiterredete – ihre leise, aufgeregte Stimme, weil sie beinahe etwas rausgefunden hatte, gab mir das Gefühl, dass etwas Wichtiges in meinem Leben passierte.

»Ich glaube, ich weiß vielleicht, warum er es getan hat«, sagte sie.

»Warum?«

»Vielleicht sind alle Saiten in ihm gerissen.«

Während ich überlegte, was ich antworten sollte, schob ich den Riegel des Fliegengitters zurück und nahm es aus dem Fenster. Ich stellte das Gitter auf den Boden, aber sie wartete nicht ab, was ich zu sagen hatte. Bevor ich wieder saß, sah sie mich an und flüsterte : »Mach das Fenster zu.« Und ich gehorchte. Ich dachte, sie würde gehen, aber sie blieb einfach stehen und beobachtete mich durch die Scheibe. Ich winkte ihr zu und lächelte, doch ihr Blick war auf etwas hinter mir gerichtet, auf etwas Grauenhaftes, das ihr die Farbe aus dem Gesicht trieb, und ich bekam solche Angst, dass ich mich nicht umdrehen und nachsehen konnte. Aber da war natürlich nichts hinter mir. Höchstens vielleicht der Tote aus dem Park.

Ich hörte auf zu winken. Wir waren auf gleicher Höhe, als wir uns durch die Scheibe anstarrten. Ich weiß nicht mehr, was dann passiert ist – ob ich zuerst ins Bett ging oder sie. In meiner Erinnerung hört die Szene nicht auf. Wir stehen einfach nur da und sehen einander bis in alle Ewigkeit an.

Margo hat Rätsel immer geliebt. Und bei allem, was später passierte, wurde ich den Gedanken nicht los, dass sie Rätsel vielleicht so liebte, dass sie selbst zu einem wurde.

Teil 1

Die Saiten

1

Der längste Tag meines Lebens fing mit Verspätung an. Ich hatte verschlafen, trödelte unter der Dusche und musste schließlich unterwegs frühstücken, neben meiner Mutter im Auto, um 7 :17 Uhr.

Normalerweise holte mein bester Freund mich ab, doch Ben war pünktlich und damit zu früh für mich. »Pünktlich« hieß bei uns dreißig Minuten vor dem Unterricht, weil der Höhepunkt unseres gesellschaftlichen Lebens sich in der halben Stunde vor dem ersten Klingeln abspielte : an der Seitentür zum Musikraum, wo wir uns täglich versammelten und quatschten. Die meisten meiner Freunde waren im Orchester, und die meiste meiner freien Zeit verbrachte ich in einem Radius von fünf Metern um den Musikraum. Nur ich selbst war nicht im Orchester, weil ich an einer Art Tontaubheit litt, die an völlige Taubheit grenzte.

Jetzt war ich zwanzig Minuten zu spät, was bedeutete, dass ich immer noch zehn Minuten zu früh zur Schule kam.

Auf der Fahrt fragte meine Mutter nach der Schule und den Prüfungen und dem Abschlussball.

»Ich bin kein Freund des Schulballs«, erinnerte ich sie, als wir um eine Ecke bogen und ich geschickt die Cornflakesschale balancierte, um die Fliehkräfte auszutricksen. Ich hatte Übung darin.

»Was ist dabei, wenn du einfach eine Freundin fragst? Cassie Hiney würde bestimmt mit dir hingehen.« Ich hätte Cassie Hiney wirklich fragen können. Sie war ein völlig nettes, angenehmes und hübsches Mädchen – trotz der Tatsache, dass sie einen ungemein dämlichen Nachnamen hatte.

»Es ist nicht nur so, dass ich den Schulball blöd finde. Ich finde auch die Leute blöd, die den Schulball gut finden«, erklärte ich, was streng genommen nicht stimmte. Ben wollte unbedingt zum Schulball gehen.

Wir erreichten das Schulgelände, und ich hielt die fast leere Cornflakesschale mit beiden Händen fest, als wir über die Schwellen zur Geschwindigkeitsbegrenzung rumpelten. Unbewusst scannte ich den Schülerparkplatz. Margo Roth Spiegelmans silberner Honda stand an seinem angestammten Platz. Als Mama vor dem Musikraum anhielt und mir einen Kuss auf die Wange drückte, sah ich Ben und die anderen im Halbkreis stehen.

Als ich auf sie zuging, öffnete sich der Kreis ganz automatisch um mich aufzunehmen. Sie redeten gerade von Suzie Chung, meiner Exfreundin, die Cello spielte und für Aufsehen sorgte, weil sie neuerdings mit Taddy Mac, einem Baseballspieler, zusammen war. Ich wusste nicht, ob das sein richtiger Name war. Jedenfalls hatte sich Suzie Chung dazu entschlossen, mit Taddy Mac zum Schulball zu gehen. Ein weiterer Verrat.

»Alter«, sagte Ben, der mir gegenüberstand. Er nickte mir zu und drehte sich um. Ich verstand den Wink und folgte ihm ins Schulgebäude. Ben Starling war ein schmächtiger Junge mit gelblicher Hautfarbe, der spät in die Pubertät und nie wieder herausgekommen war. Wir waren seit der fünften Klasse beste Freunde – als wir uns eingestanden hatten, dass wir beide keinen anderen besten Freund abbekommen würden. Außerdem legte er sich ins Zeug, und das gefiel mir, meistens wenigstens.

»Alles klar, Mann?«, fragte ich. Drinnen im Schulflur ging unser Gespräch im allgemeinen Lärm unter.

»Radar geht zum Schulball«, erklärte Ben finster. Radar war der dritte Mann in unserem Trio. Wir nannten ihn Radar, weil er aussah wie der Knirps mit der Brille aus den alten M*A*S*H-Folgen, nur dass 1. der Radar im Fernsehen nicht schwarz war, und 2. unser Radar irgendwann nach seiner Benennung einen halben Meter gewachsen war und angefangen hatte Kontaktlinsen zu tragen, so dass er 3. überhaupt nicht mehr wie der M*A*S*H-Radar aussah, aber es 4. dreieinhalb Wochen vor Ablauf unserer Schulzeit zu spät war, ihm einen neuen Spitznamen zu geben.

»Mit Angela?«, fragte ich. Radar schwieg sich über sein Liebesleben aus, was uns nicht davon abhielt, wild darüber zu spekulieren.

Ben nickte. Dann sagte er : »Ich habe dir doch von meinem Plan erzählt, mit einer Neuntklässlerin zum Ball zu gehen, weil die aus der Neunten die Einzigen sind, die die Geschichte vom blutigen Ben nicht kennen?« Ich nickte.

»Na ja«, sagte Ben, »heute Morgen kommt so eine zuckersüße Schnuckelpuppe aus der Neunten auf mich zu und fragt mich, ob ich der blutige Ben bin. Der Plan fällt also flach. Sie ist kichernd weggerannt, bevor ich auch nur andeuten konnte, dass es eine Nierenentzündung war.«

Vor zwei Jahren wurde Ben mit einer Nierenentzündung ins Krankenhaus gebracht, doch Margos beste Freundin Becca Arrington streute das Gerücht, der wahre Grund, warum er Blut im Urin hatte, wäre, dass er zu viel masturbierte. Seitdem wurde Ben die Geschichte nicht mehr los – ganz abgesehen von der medizinischen Unsinnigkeit. »Schöner Mist«, sagte ich.

Ben fing an mir neue Strategien zu erklären, wie er an ein Date für den Ball kommen wollte, doch ich hörte nur halb zu, denn durch die dichter werdende Menge, die sich durch den Schulflur schob, konnte ich Margo Roth Spiegelman sehen. Sie stand vor ihrem Schließfach und unterhielt sich mit ihrem Freund Jason. Sie trug einen knielangen weißen Rock und ein blaues, bedrucktes T-Shirt. Ich konnte ihr Schlüsselbein sehen. Über irgendwas lachte sie hysterisch – ihre Schultern zuckten, Fältchen kräuselten sich um ihre großen Augen, und ihr Mund stand weit offen. Doch der Grund schien nicht das zu sein, was Jason sagte, denn sie sah von ihm weg durch den Flur zu der anderen Reihe Schließfächer. Ich folgte ihrem Blick, und da stand Becca Arrington, die an einem Baseballspieler hing wie Lametta an einem Weihnachtsbaum. Ich lächelte Margo zu, auch wenn ich wusste, dass sie mich nicht sah.

»Riskier es einfach, Alter«, sagte Ben. »Vergiss diesen Jason. Mann, sie ist echt eine Schnuckelpuppe.« Als wir weitergingen, warf ich durch die Menge immer wieder Blicke auf Margo, wie schnelle Schnappschüsse : Eine fotografische Serie mit dem Titel Vollkommenheit steht still, während die Sterblichen vorüberziehen. Ich dachte, vielleicht lacht sie gar nicht. Vielleicht ist sie überrascht, hat gerade ein Geschenk bekommen oder so was. Sie sah aus, als würde sie den Mund gar nicht mehr zukriegen.

»Ja«, sagte ich zu Ben, dem ich nicht zuhörte, weil ich immer noch versuchte so viel wie möglich von ihr zu sehen, ohne dass es zu auffällig wurde. Margo war nicht hübsch. Sie war der Hammer. Und dann waren Ben und ich zu weit weg, und zwischen ihr und mir waren zu viele Leute, und ich war nicht nahe genug an sie rangekommen, um mit ihr zu sprechen oder rauszufinden, was für eine Überraschung so wahnsinnig komisch war.

Ben schüttelte den Kopf. Er hatte mich tausend Mal beobachtet, wie ich Margo beobachtete, und kannte das Phänomen inzwischen. »Im Ernst, Mann, sie ist scharf, aber so scharf ist sie nun auch wieder nicht. Weißt du, wer ernsthaft scharf ist?«

»Wer?«, fragte ich.

»Lacey.« Lacey war Margos andere beste Freundin. »Und deine Mutter. Alter, als ich gesehen habe, wie deine Mutter dir heute Morgen den Kuss gegeben hat — tut mir leid, aber ich schwöre, ich habe gedacht, Gott, ich wünschte, ich wäre Q. Und ich wünschte, ich hätte einen Pimmel im Gesicht.« Ich gab ihm einen Stoß in die Rippen, aber ich dachte immer noch an Margo, weil Margo die einzige lebende Legende war, die genau bei mir im Nachbarhaus wohnte. Margo Roth Spiegelman, deren sechssilbiger Name meistens ehrfurchtsvoll in seiner vollen Gänze ausgesprochen wurde. Margo Roth Spiegelman, deren Geschichten über ihre heldenhaften Abenteuer durch die Schule fegten wie ein Sommersturm : Die Geschichte von dem alten Mann, der ihr in einer kleinen Hütte in Hot Coffee, Mississippi, Gitarrespielen beigebracht hatte. Die Geschichte von dem Zirkus, mit dem Margo Roth Spiegelman drei Tage lang gereist war, weil die Zirkusleute ihr Potenzial am Hochtrapez erkannten. Die Geschichte von den Mallionaires, mit denen Margo Roth Spiegelman nach einem Konzert in St. Louis hinter der Bühne Kräutertee trank, während die Bandmitglieder Whiskey kippten. Die Geschichte, wie Margo Roth Spiegelman in das Konzert reingekommen war, weil sie dem Türsteher erklärte, sie sei die Freundin des Bassisten, ob er sie nicht wiedererkannte – komm schon, Mann, im Ernst, ich bin’s, Margo Roth Spiegelman, du kannst ihn ja holen, dann sagt er dir, dass ich seine Freundin bin oder dass er wünschte, ich wäre es, worauf der Türsteher nach hinten ging, und der Bassist sagte : »Ja, das ist meine Freundin, lass sie rein.« Und später, als er sie anmachen wollte, hatte Margo Roth Spiegelman den Bassisten der Mallionaires abblitzen lassen.

Die Geschichten, die über sie kursierten, endeten immer mit : Unglaublich, Mann. Doch selbst wenn sie schwer zu glauben waren, am Ende waren sie immer wahr.

Und dann waren wir an unseren Schließfächern, wo Radar an Bens Schließfach lehnte und auf seinen Palmtop eintippte.

»Du gehst also zum Schulball«, sagte ich zu ihm. Er blickte auf, dann blickte er wieder auf den Bildschirm.

»Ich räume gerade den Omnictionary-Eintrag eines ehemaligen französischen Staatspräsidenten auf. Gestern Abend hat jemand den ganzen Artikel gelöscht und stattdessen ›Jacques Chirac ist schwül‹ hingeschrieben, was weder faktisch noch sprachlich korrekt ist.« Radar war der Superredakteur eines von Benutzern verfassten Online-Lexikons namens Omnictionary. Der Instandhaltung und dem Wohlergehen von Omnictionary widmete er sein ganzes Leben. Das war einer von mehreren Gründen, weshalb mich die Tatsache, dass er zum Schulball ging, überraschte.

»Du gehst also zum Schulball«, wiederholte ich.

»Tut mir leid«, sagte er, ohne aufzublicken. Es war allseits bekannt, dass ich ein Gegner des Schulballs war. Absolut nichts, was damit zu tun hatte, machte mich an – weder das langsame Schwofen noch das schnelle Discogehüpfe, weder die Kleider der Mädchen und erst recht nicht der Smoking vom Kostümverleih. Einen Smoking zu leihen schien mir der beste Weg, sich von seinem Vorbesitzer irgendeine widerliche Krankheit zuzuziehen, und ich hatte keine große Lust darauf, mir als Jungfrau Filzläuse zu holen.

»Alter«, sagte Ben zu Radar, »die Geschichte vom blutigen Ben ist bis zu den Schnuckelpuppen aus der Neunten durchgesickert.« Endlich steckte Radar den Palmtop ein und nickte mitfühlend. »Tja«, fuhr Ben fort, »jetzt habe ich nur noch zwei Alternativen. Entweder ich bestelle eine Tussi übers Internet oder ich fliege nach Missouri und kidnappe mir eine süße Freilandschnuckelpuppe frisch von der Farm.«

Ich hatte mehrfach versucht Ben zu erklären, dass die Bezeichnung »Schnuckelpuppe« nicht retro-cool, sondern sexistisch und doof war, aber er weigerte sich, seinen Sprachgebrauch zu ändern. Sogar seine eigene Mutter nannte er »Schnuckelpuppe«. Es war ihm einfach nicht zu helfen.

»Ich frage Angela, ob sie jemand kennt«, bot Radar an. »Auch wenn es leichter ist, aus Blei Gold zu machen, als dir ein Schulballdate zu besorgen.«

»Dir ein Schulballdate zu besorgen ist so schwer, dass allein die Idee eine Herde Elefanten aufwiegt«, sagte ich.

Radar schlug zweimal mit der Faust ans Schließfach um seine Anerkennung auszudrücken, dann setzte er noch eins drauf. »Ben, dir ein Schulballdate zu besorgen ist so schwer, dass nach Einschätzung der amerikanischen Regierung das Problem nicht mit Diplomatie, sondern nur durch Waffengewalt zu lösen ist.«

Ich bastelte gerade am nächsten Spruch, als wir den wandelnden Anabolika-Ballon Chuck Parson erblickten, der zielstrebig auf uns zugestampft kam. Chuck Parson trieb keinen Sport – Sport hätte ihn von seiner eigentlichen Bestimmung abgelenkt : eines Tages wegen Mordes verurteilt zu werden. »Hey, ihr Schwuchteln«, begrüßte er uns.

»Chuck«, antwortete ich, so nett ich konnte. In den letzten Jahren hatte Chuck uns mehr oder weniger in Ruhe gelassen – anscheinend hatte jemand im Reich der coolen Kids die Devise ausgegeben, dass wir unangetastet bleiben sollten. Deswegen war es ein bisschen ungewöhnlich, dass er überhaupt das Wort an uns richtete.

Vielleicht weil ich den Mund aufgemacht hatte, vielleicht auch nicht, rammte er die Hände rechts und links von mir gegen den Schrank und kam nahe genug, dass ich seine Zahnpastamarke erraten konnte. »Was weißt du über Margo und Jason?«

»Äh«, sagte ich. Ich dachte an alles, was ich über die beiden wusste : Jason war Margo Roth Spiegelmans erster und einziger ernsthafter Freund. Beide würden im nächsten Jahr an die University of Florida in Gainesville gehen. Jason bekam ein Baseballstipendium. Er war nie bei Margo zu Hause, außer um sie abzuholen. Sie verhielt sich nicht so, als würde sie ihn besonders mögen, aber andererseits verhielt sie sich nie so, als würde sie irgendjemanden mögen. »Gar nichts«, sagte ich schließlich.

»Verarsch mich nicht«, knurrte Chuck.

»Ich kenne sie kaum«, sagte ich, was mittlerweile stimmte.

Er musste eine Minute über meine Antwort nachdenken, und ich versuchte, so gut ich konnte, dem Blick seiner eng stehenden Augen standzuhalten. Dann nickte er kaum merklich, drückte sich von den Schließfächern ab und marschierte davon zu seiner ersten Unterrichtsstunde : Hege und Pflege der Brustmuskulatur. Es klingelte zum zweiten Mal. Noch eine Minute bis Unterrichtsbeginn. Radar und ich hatten zusammen Mathe; Ben war im Parallelkurs. Die Räume lagen direkt nebeneinander, und wir gingen gemeinsam hin, zu dritt in einer Reihe im Vertrauen darauf, dass das Meer unserer Klassenkameraden sich teilte, um uns durchzulassen, und so geschah es.

Ich sagte : »Für dich ein Schulballdate zu finden ist so unwahrscheinlich, dass selbst tausend Affen, die tausend Jahre lang an tausend Schreibmaschinen tippen, kein einziges Mal den Satz ›Ich gehe mit Ben zum Schulball‹ schreiben würden.«

Nicht mal Ben konnte der Versuchung widerstehen, sich selbst fertig zu machen. »Meine Aussichten für den Schulball sind so düster, dass mich sogar Qs Oma abblitzen lässt. Sie will lieber abwarten, ob Radar sie fragt.«

Radar nickte bedächtig. »Stimmt, Q. Deine Oma steht auf uns Brüder.«

Es war so lächerlich einfach, die Sache mit Chuck zu vergessen und über den Schulball zu reden, auch wenn mir der Schulball vollkommen egal war. Aber so war das Leben an jenem Morgen : Nichts war wichtig, weder die guten noch die schlechten Dinge. Wir waren nur damit beschäftigt, Sprüche zu klopfen, uns gegenseitig zum Lachen zu bringen, und darin waren wir ganz gut.

Die nächsten drei Stunden verbrachte ich in verschiedenen Klassenzimmern und versuchte nicht auf die Uhr über den verschiedenen Tafeln zu starren, und dann sah ich doch hin und war jedes Mal erschüttert, wie wenig Zeit vergangen war, seit ich das letzte Mal zur Uhr gesehen hatte. Ich hatte fast vier Jahre Erfahrung darin, auf diese Uhren zu sehen, aber ihre Trägheit überraschte mich jedes Mal aufs Neue. Falls man mir je sagen sollte, ich hätte nur noch einen Tag zu leben, würde ich schnurstracks zurück in die geweihten Hallen der Winter-Park-Highschool gehen, wo ein Tag bekanntlich tausend Jahre dauerte.

Doch auch wenn es sich so anfühlte, als wollte Physik nie zu Ende gehen, klingelte es irgendwann, und dann saß ich mit Ben in der Cafeteria. Radar und die meisten unserer Freunde hatten eine Stunde später Mittagspause, deswegen aßen Ben und ich meistens allein, mit ein paar leeren Stühlen zwischen uns und einer Gruppe von Theaterleuten, die wir kannten. Heute standen Minipizzen mit Salami auf dem Menu.

»Gute Pizza«, sagte ich. Er nickte zerstreut. »Was ist los?«, fragte ich.

»Nffts«, sagte er mit vollem Mund. Er schluckte. »Ich weiß, du findest es bescheuert, aber ich will zum Schulball.«

»1. finde ich es tatsächlich bescheuert; 2. wenn du hinwillst, geh einfach; und 3. wenn ich mich nicht täusche, hast du bis jetzt noch überhaupt niemanden gefragt.«

»In Mathe habe ich Cassie Hiney gefragt. Ich habe ihr ein Briefchen geschrieben.« Fragend hob ich die Brauen. Ben zog einen mehrfach gefalteten Zettel aus der Hosentasche, den er mir hinschob. Ich faltete ihn auseinander :

Ben, ich wäre gern mit dir zum Ball gegangen,

aber ich habe Frank schon zugesagt. Tut mir leid! – C.

Ich faltete den Zettel wieder zusammen und schob ihn über den Tisch zurück. Mir fiel ein, wie wir früher hier Papierfußball gespielt hatten. »Schöner Mist«, sagte ich.

»Ja. Was soll’s.« Die Wände schienen die Ohren zu spitzen, und so schwiegen wir eine Weile, bis Ben mit todernster Miene zu mir sagte : »Im College lasse ich die Zuckerpuppen tanzen. Ich schwöre dir, ich komme ins Guinnessbuch der Rekorde. ›Größte Anzahl glücklicher Frauen auf kleinstem Raum.‹«

Ich lachte. Ich dachte gerade daran, dass Radars Eltern tatsächlich im Guinnessbuch der Rekorde standen, als ich das hübsche Mädchen mit den kurzen Dreadlocks bemerkte, das vor uns am Tisch stand. Es dauerte einen Moment, bis ich begriff, dass es Angela, Radars mutmaßliche Freundin, war.

»Hi«, sagte sie.

»Hallo«, sagte ich. Angela und ich hatten ein paar Kurse zusammen, daher kannten wir uns vom Sehen, aber wir grüßten uns nicht oder so was. Ich bot ihr einen Stuhl an, und sie rutschte ans Kopfende unseres Tischs.

»Ich schätze, ihr kennt Marcus besser als sonst jemand«, sagte sie, indem sie Radars richtigen Namen benutzte. Sie stützte die Ellbogen auf den Tisch.

»Ist ein Scheißjob, aber irgendwer muss ihn ja machen«, sagte Ben grinsend.

»Meint ihr, dass er … also, dass er sich meinetwegen schämt?«

Ben lachte. »Was? Ach Quatsch«, sagte er.

»Eigentlich müsstest du dich seinetwegen schämen«, erklärte ich.

Lächelnd verdrehte sie die Augen. Ein Mädchen, das Komplimente gewohnt war. »Aber er nimmt mich nie mit, wenn er mit euch rumhängt oder so.«

»Ach sooo«, sagte ich. »Das ist, weil er sich unseretwegen schämt.«

Sie lachte. »Ich finde, ihr wirkt ganz nett.«

»Du hast noch nicht gesehen, wie Ben Sprite durch die Nase zieht und aus dem Mund wieder ausspuckt«, sagte ich.

»Springbrunnen mit Kohlensäure«, erklärte Ben.

»Aber mal im Ernst, findet ihr das nicht komisch? Wir sind seit fünf Wochen zusammen, und Marcus hat mich noch nie mit zu sich nach Hause genommen.«

Ben und ich wechselten einen vielsagenden Blick. Ich biss die Lippen zusammen, um nicht loszulachen.

»Was ist?«, fragte sie.

»Nichts«, sagte ich. »Ehrlich, Angela. Wenn er dich zwingen würde, mit uns rumzuhängen, und dich dauernd mit zu sich nach Hause nehmen würde, dann …«

»… dann würde das eindeutig heißen, dass ihm nichts an dir liegt«, beendete Ben den Satz.

»Stimmt was mit seinen Eltern nicht?«

Ich überlegte, wie ich die Frage ehrlich beantworten sollte. »Äh, nein. Die sind in Ordnung. Sie sind nur etwas … überfürsorglich, würde ich sagen.«

»Ja, überfürsorglich«, bestätigte Ben ein bisschen zu schnell.

Doch sie lächelte, und dann stand sie auf und sagte, sie müsste noch jemandem Hallo sagen, bevor die nächste Stunde anfing. Ben wartete, bis sie weg war.

»Die Puppe ist der Hammer«, sagte er dann.

»Oberhammer«, sagte ich. »Meinst du, wir können statt mit Radar mit ihr befreundet sein?«

»Wahrscheinlich ist sie nicht so gut mit Computern. Wir brauchen jemanden, der gut mit Computern ist. Und ich wette, in Dark Resurrection ist sie eine Niete.« Dark Resurrection war unser Lieblingsvideospiel. »Nett gesagt, übrigens, dass Radars Leute überfürsorglich sind.«

»Ich bin nicht der, der ihr die Wahrheit sagen sollte«, verteidigte ich mich.

Ben lächelte. »Mal sehen, wie lange es dauert, bis sie das Team-Radar-Museum besichtigen darf.«

Die Mittagspause war fast um, und wir brachten unsere Tabletts zum Fließband. Das gleiche Fließband, auf das Chuck Parson mich in der neunten Klasse geworfen hatte, worauf ich in den Niederungen der Winter-Park-Highschool-Geschirrspülbrigade verschwunden war. Dann stellten wir uns vor Radars Schließfach und warteten, bis er kurz nach dem ersten Klingeln den Flur heraufgerannt kam.

»In Politik habe ich mir überlegt, dass ich wirklich buchstäblich Eseleier lutschen würde, wenn ich dafür den Rest des Schuljahrs Politik schwänzen dürfte«, sagte er.

»Von Eseleiern lernt man eine Menge über Politik«, sagte ich. »Wo wir gerade von Gründen reden, die fünfte Stunde freizuhaben, wir haben mit Angela zu Mittag gegessen.«

Ben zwinkerte Radar zu. »Ja, und sie wollte wissen, warum sie noch nie bei dir zu Hause war.«

Radar atmete hörbar aus, während er die Zahlenkombination in das Schloss eingab. Er atmete so lange aus, dass ich Angst bekam, er würde ohnmächtig werden. »Mist«, sagte er schließlich.

»Ist dir irgendwas peinlich?«, fragte ich grinsend.

»Halt die Klappe«, antwortete er und gab mir einen Stoß mit dem Ellbogen.

»Bei euch zu Hause ist es doch schön«, sagte ich.

»Im Ernst, Alter«, sagte Ben. »Sie ist echt ein nettes Mädchen. Ich verstehe nicht, warum du sie nicht deinen Eltern vorstellst und ihr die Radar-Villa zeigst.«

Radar warf seine Bücher in das Schließfach und schloss ab. Zufällig setzte der Lärm im Flur eine Sekunde aus, als Radar den Blick gen Himmel hob und rief : »ES IST NICHT MEINE SCHULD, DASS MEINE ELTERN DIE WELTGRÖSSTE SAMMLUNG SCHWARZER WEIHNACHTSMÄNNER HABEN!«

Ich hatte wahrscheinlich schon tausendmal gehört, wie Radar »weltgrößte Sammlung schwarzer Weihnachtsmänner« sagte, aber es war immer noch genauso lustig wie beim ersten Mal. Dabei war es kein Spaß. Ich erinnerte mich an meinen ersten Besuch bei ihm zu Hause. Ich war dreizehn. Es war Frühling, Weihnachten war mehrere Monate vorbei, und doch waren die Fensterbretter mit schwarzen Weihnachtsmännern dekoriert. Am Treppengeländer hingen Scherenschnitte von schwarzen Weihnachtsmännern, schwarze Weihnachtsmannkerzen standen auf dem Esstisch, über dem Kamin hing das Ölbild eines schwarzen Weihnachtsmanns, und auf dem Sims darunter drängten sich zahlreiche kleine schwarze Weihnachtsmannfiguren. Aus Namibia hatten Radars Eltern einen schwarzen Weihnachtsmann-PEZ-Spender. Ein schwarzer Leucht-Weihnachtsmann aus Plastik, der von Thanksgiving bis Neujahr im Vorgarten stand, wachte den Rest des Jahres im Gästebad, wo sie mit Farbe und Schwämmen in Weihnachtsmannform eine schwarze Weihnachtsmanntapete selbst gemacht hatten. Außer Radars Zimmer war das ganze Haus von Unmengen schwarzer Weihnachtsmänner bevölkert – aus Gips und Plastik, Keramik und Marmor, Holz und Kunstharz, Gummi und Stoff. Radars Eltern besaßen insgesamt mehr als zwölfhundert schwarze Weihnachtsmänner der unterschiedlichsten Machart. Wie eine Plakette neben der Haustür verkündete, war Radars Zuhause von der Amerikanischen Weihnachtsgesellschaft offiziell zur Sehenswürdigkeit erklärt worden.

»Sag einfach die Wahrheit, Mann«, schlug ich vor. »Sag : ›Angela, ich mag dich wirklich, aber es gibt da was, was du wissen musst. Wenn wir zu mir gehen und uns die Kleider vom Leib reißen, dann sind zweitausendvierhundert Augen von zwölfhundert schwarzen Weihnachtsmännern auf uns gerichtet.‹«

Radar fuhr sich mit der Hand durch das kurz geschorene Haar und schüttelte den Kopf. »Ja, ja. Ich glaube nicht, dass ich genau die gleichen Worte benutze, aber ich kümmere mich darum.«

Ich musste zu meinem Politikkurs, Ben hatte als Wahlfach Videospieldesign. Und wieder beobachtete ich zwei Stunden lang die Uhrzeiger, bis endlich die Schule aus war und sich Erleichterung in mir ausbreitete – das letzte Klingeln an jedem Tag war wie die Generalprobe für den Schulabschluss in weniger als vier Wochen.

Ich ging nach Hause. Aß zwei Brote mit Erdnussbutter und Marmelade. Sah mir ein Pokerturnier im Fernsehen an. Um sechs kamen meine Eltern, umarmten einander, dann umarmten sie mich. Wir aßen Makkaroniauflauf zu Abend. Sie fragten mich nach der Schule. Sie fragten mich nach dem Schulball. Sie staunten, was für einen tollen Jungen sie großgezogen hatten. Sie erzählten mir von ihrem Tag, den sie damit verbracht hatten, sich um Leute zu kümmern, die weniger Glück beim Großziehen von Kindern hatten. Dann setzten sie sich vor den Fernseher. Ich ging in mein Zimmer um meine E-Mails zu lesen. Schrieb für Englisch eine halbe Seite über den Großen Gatsby. Las ein paar Artikel der amerikanischen Verfassung für Politik. Chattete mit Ben, dann klinkte sich auch Radar ein. Im Verlauf benutzte er viermal den Ausdruck »weltgrößte Sammlung schwarzer Weihnachtsmänner«, und ich musste jedes Mal lachen. Ich sagte ihm, ich freute mich für ihn, dass er eine Freundin hatte. Er sagte, wir hätten einen tollen Sommer vor uns. Ich stimmte zu. Es war der fünfte Mai, aber das Datum spielte keine Rolle. Meine Tage waren auf wunderbare Weise gleich. Und das gefiel mir : Ich mochte Routine. Ich mochte Langeweile. Ich wollte es nicht, aber so war es eben. Und deshalb war jener fünfte Mai genauso wie jeder andere Tag – bis kurz vor Mitternacht, als Margo Roth Spiegelman mein Schlafzimmerfenster aufschob, zum ersten Mal, seit sie vor neun Jahren gesagt hatte, ich solle es schließen.

2

Als ich hörte, wie das Fenster aufging, und auf dem Drehstuhl herumschwang, starrten mir Margos blaue Augen entgegen. Erst waren nur ihre Augen da, aber dann gewöhnte ich mich an die Dunkelheit und sah, dass sie sich das Gesicht schwarz angemalt hatte und eine schwarze Kapuze trug.

»Hast du gerade Cybersex?«, fragte sie.

»Ich chatte mit Ben Starling.«

»Das beantwortet nicht meine Frage.«

Ich lachte verlegen, dann stand ich auf und kam ans Fenster. Unsere Gesichter waren nur wenige Zentimeter voneinander entfernt. Es war mir ein vollkommenes Rätsel, was sie hier machte, an meinem Fenster, in dieser Aufmachung. »Was verschafft mir die Ehre?«, fragte ich. Theoretisch waren Margo und ich einander immer noch freundlich gesinnt, nahm ich an, aber ein nächtlicher Auftritt mit schwarzer Tarnfarbe im Gesicht war nicht an der Tagesordnung. Für so was hatte sie andere Freunde, da war ich sicher. Aber ich gehörte nicht dazu.

»Ich brauche dein Auto«, erklärte sie.

»Ich habe kein Auto«, sagte ich, was eine Art wunder Punkt für mich war.

»Dann brauche ich eben das Auto deiner Mutter.«

»Du hast doch selber ein Auto«, argumentierte ich.

Margo blies die Wangen auf und seufzte. »Richtig. Das Problem ist nur, dass meine Eltern meinen Autoschlüssel kassiert und in den Safe geschlossen haben, der unter ihrem Bett steht, und Myrna Mountweazel« – Margos Hund – »schläft bei ihnen im Schlafzimmer. Myrna Mountweazel kriegt einen hysterischen Anfall, wenn sie mich sieht. Ich meine, natürlich könnte ich mich ins Schlafzimmer schleichen, den Safe klauen, ihn knacken, meine Schlüssel rausholen und wegfahren, aber das Problem ist, ich brauche es gar nicht erst zu versuchen, weil Myrna Mountweazel wie eine Verrückte zu kläffen anfängt, wenn ich die Tür auch nur einen Spalt aufmache. Also brauche ich dein Auto. Außerdem brauche ich dich als Fahrer, weil ich heute Nacht elf Sachen zu erledigen habe, und bei wenigstens fünf davon brauche ich einen, der den Fluchtwagen fährt.«

Ich ließ die Lider sinken, so dass ihr Gesicht mit dem Hintergrund verschwamm und ihre Augen im Äther zu schweben schienen. Dann fokussierte ich wieder, sah den Umriss ihres Gesichts und die schwarze Farbe, die noch feucht war. Ihre Wangenknochen bildeten ein Dreieck mit dem Kinn, und ihre pechschwarzen Lippen bogen sich kaum merklich zu einem Lächeln.

»Ist irgendwas davon strafbar?«, fragte ich.

»Hm«, machte Margo. »Hilf mir auf die Sprünge – ist Einbruch strafbar?«

»Nein«, sagte ich entschlossen.

»Nein, Einbruch ist nicht strafbar, oder nein, du willst mir nicht helfen?«

»Nein, ich helfe dir nicht. Kannst du nicht eine deiner Assistentinnen abkommandieren?« Lacey und / oder Becca tanzten immer nach Margos Pfeife.

»De facto sind sie Teil des Problems«, sagte Margo.

»Was ist das Problem?«, fragte ich.

»Es gibt elf Probleme«, antwortete sie ungeduldig.

»Keine Straftaten«, sagte ich.

»Ich schwöre, dass ich dich nicht zu strafbaren Handlungen zwinge.«

Im gleichen Moment gingen drüben im Haus der Spiegelmans die Flutlichter an. In einer einzigen fließenden Bewegung machte Margo einen Purzelbaum durchs Fenster in mein Zimmer und rollte sich unters Bett. Sekunden später stand Margos Vater auf der Terrasse. »Margo!«, rief er. »Ich habe dich gesehen.«

Unter dem Bett hörte ich ein gedämpftes : »Mist.« Margo kroch wieder heraus, stand auf, ging ans Fenster und rief : »Komm schon, Papa. Ich wollte nur ein bisschen mit Quentin quatschen. Du sagst doch immer, wie gut sein Einfluss auf mich wäre und so.«

»Du unterhältst dich mit Quentin?«

»Ja.«

»Warum hast du schwarze Farbe im Gesicht?«

Sie zögerte nur einen Sekundenbruchteil. »Papa, um das zu erklären, müsste ich ellenlang ausholen, und das würde Stunden dauern, und du bist bestimmt müde, deshalb geh einfach wieder ins B —«

»Rein mit dir!«, donnerte er. »Jetzt sofort!«

Margo packte mich am Hemd und flüsterte mir ins Ohr : »Ich bin in einer Minute zurück.« Dann kletterte sie aus dem Fenster.

Kaum war sie fort, steckte ich meinen Autoschlüssel ein, der auf dem Tisch lag. Einen Schlüssel hatte ich, nur das Auto gehörte tragischerweise nicht mir.

Zu meinem sechzehnten Geburtstag hatten meine Eltern mir ein sehr kleines Geschenk überreicht, und in dem Moment, als ich es in der Hand hielt, wusste ich, dass es ein Autoschlüssel war. Ich hätte mir vor Freude fast in die Hose gemacht, weil sie mir vorher mehrfach gesagt hatten, sie könnten es sich nicht leisten, mir ein Auto zu schenken. Doch als ich die kleine, hübsch verpackte Schachtel in der Hand hielt, dachte ich, sie hätten geschwindelt und mir doch ein Auto gekauft. Ich riss das Papier auf und öffnete die Schachtel. Es lag wirklich ein Schlüssel darin.

Bei näherer Betrachtung entpuppte er sich als Chrysler-Schlüssel. Der Schlüssel zu einem Chrysler-Van. Dem Kleinbus meiner Mutter.

»Ihr schenkt mir einen Schlüssel zu deinem Auto?«, fragte ich.

»Tom«, sagte meine Mutter zu meinem Vater, »ich habe dir gesagt, er ist enttäuscht.«

»Mach mir keine Vorwürfe«, gab mein Vater zurück. »Damit sublimierst du nur deine Frustration über mein Einkommen.«

»Ist deine Blitzanalyse nicht ein bisschen passiv-aggressiv?«, erwiderte meine Mutter.

»Sind rhetorische Anschuldigungen passiv-aggressiven Verhaltens nicht grundsätzlich passiv-aggressiv?«, konterte mein Vater, und dann ging es eine Weile so weiter.

Kurz gesagt : Sie übertrugen mir das Nutzungsrecht für das Ungetüm, das Mamas Kleinbus darstellte, außer wenn meine Mutter es gerade benutzte. Und da sie jeden Morgen damit zur Arbeit fuhr, durfte ich den Wagen nur am Wochenende haben. Beziehungsweise am Wochenende und mitten in der Nacht.

Margo brauchte länger als die versprochene Minute, bis sie wieder da war, aber nicht viel länger. Allerdings war mein Entschluss, während sie weg war, ins Wanken geraten. »Ich habe morgen Schule«, sagte ich.

»Ja, ich weiß«, sagte Margo. »Morgen ist Schule, und am Tag danach auch, und wenn du zu lange darüber nachdenkst, kriegst du graue Haare. Ja, es stimmt, es ist mitten in der Woche. Deswegen sollten wir uns schleunigst auf den Weg machen, damit wir vor Morgengrauen wieder zu Hause sind.«

»Ich weiß nicht.«

»Q«, sagte sie. »Q. Schätzchen. Wie lange sind wir schon Freunde?«

»Wir sind keine Freunde. Wir sind Nachbarn.«

»Verdammt noch mal, Q. War ich nicht immer nett zu dir? Habe ich meinen Handlangern in der Schule nicht befohlen, nett zu dir zu sein?«

»Doch«, antwortete ich skeptisch, auch wenn ich immer geahnt hatte, dass es Margo war, die Chuck Parson und seiner Meute eingeschärft hatte, sich nicht an uns zu vergreifen.

Sie klimperte mit den Wimpern. Sogar ihre Lider waren schwarz. »Q«, sagte sie, »wir müssen los.«

Also ging ich mit. Ich kletterte aus dem Fenster, und dann schlichen wir an der Seite unseres Hauses entlang und öffneten mit eingezogenen Köpfen die Wagentüren. Margo flüsterte, wir sollten die Türen offen lassen – zu viel Lärm –, und ich legte bei offenen Türen den Leerlauf ein, drückte mich mit dem Fuß von der Einfahrt ab und ließ den Kleinbus auf die Straße rollen. Langsam rollten wir ein paar Häuser weiter, dann startete ich den Motor und machte das Licht an. Wir zogen die Wagentüren zu, und ich folgte den Serpentinenstraßen unserer endlosen Siedlung, wo die Häuser alle immer noch neu und wie aus Plastik aussahen, eine Spielzeugstadt, die von Tausenden von echten Menschen bewohnt wurde.

Margo fing zu reden an. »Eigentlich interessiert meine Eltern nicht die Bohne, was ich mache; es geht ihnen nur darum, was die Nachbarn denken. Weißt du, was er eben gesagt hat? Er hat gesagt : ›Ist mir egal, wenn du dein Leben wegwirfst, aber bring uns nicht vor den Jacobsens in Verlegenheit – sie sind unsere Freunde.‹ Dass ich nicht lache. Du hast keine Ahnung, wie schwer es neuerdings ist, aus dem blöden Haus rauszukommen. Schon mal gesehen, wie sie bei Gefängnisausbrüchen im Kino immer ein Kleiderbündel unter die Decke legen, damit es aussieht wie ein Mensch, der schläft?« Ich nickte. »Tja, meine Mutter hat ein verfluchtes Babyphon in meinem Zimmer installiert, damit sie mich nachts schnarchen hört. Ich musste Ruthie fünf Dollar geben, damit sie in meinem Zimmer schläft, und dann habe ich ein Kleiderbündel unter ihre Decke in ihrem Zimmer gelegt.« Ruthie war Margos kleine Schwester. »Es ist wie Mission Impossible. Früher konnte ich wie ein ganz normaler amerikanischer Teenager ausreißen – einfach aus dem Fenster klettern und vom Vordach springen. Heute lebe ich wie in einer gottverdammten faschistischen Diktatur.«

»Verrätst du mir irgendwann, wo wir hinfahren?«

»Zuerst fahren wir zum Publix-Supermarkt. Du musst ein paar Lebensmittel für mich einkaufen, den Grund erkläre ich dir später. Und dann müssen wir zu Wal-Mart.«

»Willst du eine Shoppingtour durch alle rund um die Uhr geöffneten Läden im Großraum Orlando machen?«, fragte ich.

»Heute Nacht, mein Lieber, werden wir einiges Unrecht gerade biegen. Und ein paar Kleinigkeiten krumm biegen. Das Erste tun wir zuletzt und das Letzte zuerst; selig sind die Sanftmütigen, denn sie bekommen die Erde. Aber bevor wir die Welt radikal verändern, brauchen wir eine Ausrüstung.« Dann waren wir auf dem Parkplatz des Supermarkts, der um diese Zeit fast leer war, und ich parkte den Wagen.

»Also«, sagte sie. »Wie viel Geld hast du dabei?«

»Null Dollar und null Cent.« Ich stellte den Motor ab und sah sie an. Sie zwängte die Hand in die Tasche ihrer engen, dunklen Jeans und pulte mehrere Hundertdollarscheine heraus. »Glücklicherweise hat der liebe Gott für uns vorgesorgt.«

»Woher hast du das?«, fragte ich erschrocken.

»Das ist mein Bat-Mitzwa-Geld, Mann. Ich darf zwar nicht an das Konto ran, aber ich kenne das Passwort meiner Eltern, weil sie immer ›MYRNA MOUNTW3AZ3L‹ nehmen. Ich habe mir einen Vorschuss genehmigt.«

Ich versuchte mir die Bewunderung nicht anmerken zu lassen, doch sie durchschaute mich und zwinkerte mir zu. »Eins verspreche ich dir«, sagte sie, »das wird die beste Nacht deines Lebens.«

3

Wenn ich mit Margo Roth Spiegelman zusammen war, überließ ich das Reden ihr, und falls sie mit Reden aufhörte, ermutigte ich sie weiterzureden. Die Gründe dafür waren, dass ich 1. wahnsinnig verliebt in sie war, 2. sie absolut in jeder Hinsicht einzigartig war, und 3. dass sie nie eine Frage an mich richtete, so dass die einzige Möglichkeit, unangenehme Pausen zu vermeiden, darin bestand, sie reden zu lassen.

Auf dem Parkplatz des Supermarkts sagte sie : »Also gut. Ich habe hier eine Einkaufsliste für dich. Falls du Fragen hast, ruf mich auf dem Handy an. Übrigens habe ich mir die Freiheit genommen, ein paar Vorräte in deinem Kofferraum zu bunkern.«

»Was, du meinst, bevor ich überhaupt eingewilligt habe mitzukommen?«

»Na ja. Streng genommen. Jedenfalls, ruf mich einfach an, wenn du Fragen hast. Und was die Vaseline angeht, du willst die große Packung, die, die größer ist als eine Faust. Es gibt die Baby-Größe und die Mama-Größe, und dann gibt es den dicken alten Großpapa der Vaseline-Packungen, und das ist die, die wir brauchen. Falls sie die nicht haben, kannst du auch drei Mamas nehmen.« Sie überreichte mir die Einkaufsliste und einen Hundertdollarschein und sagte : »Das sollte reichen.«

Margos Liste :

3 große Ganze schellfische, einzeln Verpackt

veet (das ist Zum beine rasieren nur Ohne rasierer;

steht bei Den mädchensachen in Der drogerieabteilung )

vaseline

1 Sechserpack mountain dew

1 dutzend tulpen

1 flasche Stilles wasser

Taschentücher

1 dose Blaue sprühfarbe

»Interessante Groß- und Kleinschreibung«, sagte ich.

»Ja. Ich bin eine große Verfechterin der spontanen Groß- und Kleinschreibung. Die gängigen Regeln der Groß- und Kleinschreibung sind unfair den kleinen Worten gegenüber.«

Ich war mir nicht sicher, was man zur Kassiererin sagt, wenn man nachts um halb eins mit sechs Kilo Schellfisch, einer Tube Enthaarungscreme, einer Großpapapackung Vaseline, einem Sechserpack Mountain Dew, einer Dose blauer Sprühfarbe und einem Dutzend Tulpen an der Kasse steht. Ich versuchte es mit : »Ist nicht so komisch, wie es aussieht.«

Die Frau räusperte sich, ohne aufzublicken. »Trotzdem komisch«, murmelte sie.

»Ich will wirklich keinen Ärger bekommen«, erklärte ich, als ich wieder im Wagen saß, während Margo sich mit dem Wasser und den Taschentüchern die schwarze Farbe aus dem Gesicht wischte. Anscheinend hatte sie die Schminke nur gebraucht, um aus dem Haus zu kommen. »In meiner Zulassung zur Duke University schreiben sie ausdrücklich, dass sie mich nur nehmen, wenn ich nicht vorbestraft bin.«

»Du bist ein sehr ängstlicher Mensch, Q.«

»Versprich mir bitte einfach, dass wir keinen Ärger kriegen«, beharrte ich. »Ich meine, es ist okay, wenn es nur Spaß ist, aber nicht auf Kosten meiner Zukunft oder so was.«

Sie sah zu mir auf, das Gesicht inzwischen weitgehend sauber, und lächelte ein winziges Lächeln. »Ich finde es erstaunlich, dass der ganze Mist dir tatsächlich so wichtig ist.«

»Wie bitte?«

»Das College  : ob sie dich nehmen oder nicht. Ärger : ob du welchen kriegst oder nicht. Schule : gute oder schlechte Noten. Karriere : machen oder nicht machen. Haus : groß oder klein, mieten oder kaufen. Geld : haben oder nicht haben. Das ist doch alles so langweilig.«

Ich wollte darauf antworten, nämlich dass ihr offensichtlich auch irgendwas daran lag, denn sie hatte gute Noten und würde im Herbst mit einem Begabten-Stipendium an die University of Florida gehen, doch sie würgte mich ab : »Wal-Mart.«

Diesmal betraten wir den Laden gemeinsam und suchten nach dem Ding, das in der Werbung »Die Kralle« hieß und mit dem man das Lenkrad eines Wagens blockieren konnte. Als wir es gefunden hatten und durch die Spielzeugabteilung schlenderten, fragte ich Margo : »Wofür brauchen wir die Kralle?«

Doch Margo schaffte es, ihren gewohnten manischen Monolog fortzusetzen, ohne meine Frage zu beantworten. »Wusstest du, dass unsere Lebenserwartung in der gesamten Menschheitsgeschichte fast immer unter dreißig Jahren lag? Man hatte vielleicht zehn Jahre als Erwachsener zu erwarten, ja? Da hat man nicht für die Rente vorgesorgt. Da hat man keine Karriere geplant. Planen