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In "Marie Antoinette: Historischer Roman" entführt Stefan Zweig die Leser in die glanzvolle, aber zutiefst tragische Welt der letzten französischen Königin. Durch einen feinsinnigen literarischen Stil und präzise historische Recherchen schafft Zweig ein beeindruckendes Porträt der komplexen Persönlichkeit Königin Marie Antoinettes, die zwischen den Erwartungen des Hofes und den drängenden politischen Realitäten ihrer Zeit gefangen ist. Der Roman beleuchtet nicht nur ihr Nachtleben und ihre opulente Lebensweise, sondern auch ihre innere Zerrissenheit und den Druck, unter dem sie stand, während Revolutionsstimmungen aufkamen. Zweigs Geschick in der Charakterzeichnung und der emotionalen Tiefe schafft ein fesselndes Leseerlebnis, das historische Ereignisse mit psychologischer Introspektion verbindet. Stefan Zweig, ein österreichischer Schriftsteller des 20. Jahrhunderts, war bekannt für seine tiefen Einblicke in die menschliche Psyche und seine Fähigkeit, historische Figuren lebendig werden zu lassen. Sein Interesse an Marie Antoinette könnte durch sein eigenes Erleben von politischem Umbruch und Exil während der turbulenten Zeiten des Ersten und Zweiten Weltkriegs beeinflusst worden sein. Angst vor dem Verlust von Stabilität und Identität spiegelt sich in der Darstellung der Königin wider, die ebenfalls an den Rand ihrer Welt gedrängt wird. "Marie Antoinette: Historischer Roman" ist ein unentbehrliches Werk für alle, die sich für die Verflechtungen zwischen Geschichte und menschlichem Schicksal interessieren. Zweigs akribische Recherche gepaart mit seiner meisterhaften Erzählkunst bietet nicht nur eine fesselnde Biografie, sondern auch zeitlose Reflexionen über Macht, Isolation und das Streben nach Verständnis in einer Welt, die sich rapide verändert. Leser werden von der tragischen Schönheit der Erzählung und der emotionalen Intensität gefesselt sein. In dieser bereicherten Ausgabe haben wir mit großer Sorgfalt zusätzlichen Mehrwert für Ihr Leseerlebnis geschaffen: - Eine prägnante Einführung verortet die zeitlose Anziehungskraft und Themen des Werkes. - Die Synopsis skizziert die Haupthandlung und hebt wichtige Entwicklungen hervor, ohne entscheidende Wendungen zu verraten. - Ein ausführlicher historischer Kontext versetzt Sie in die Ereignisse und Einflüsse der Epoche, die das Schreiben geprägt haben. - Eine Autorenbiografie beleuchtet wichtige Stationen im Leben des Autors und vermittelt die persönlichen Einsichten hinter dem Text. - Eine gründliche Analyse seziert Symbole, Motive und Charakterentwicklungen, um tiefere Bedeutungen offenzulegen. - Reflexionsfragen laden Sie dazu ein, sich persönlich mit den Botschaften des Werkes auseinanderzusetzen und sie mit dem modernen Leben in Verbindung zu bringen. - Sorgfältig ausgewählte unvergessliche Zitate heben Momente literarischer Brillanz hervor. - Interaktive Fußnoten erklären ungewöhnliche Referenzen, historische Anspielungen und veraltete Ausdrücke für eine mühelose, besser informierte Lektüre.
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Veröffentlichungsjahr: 2023
Im Spiegel einer Epoche wird aus einem Menschen ein Mythos – und aus dem Mythos ein Schicksal. Mit dieser Spannung zwischen Person und Projektion setzt Stefan Zweig an, wenn er Marie Antoinette ins Zentrum eines erzählerischen Porträts rückt. Sein Buch verfolgt die Wege, auf denen höfische Rituale, öffentliche Erwartung und politischer Druck eine junge Frau formen und überformen. Nicht das Sensationelle steht im Vordergrund, sondern die Frage, wie Charakter und Zeit aufeinander einwirken. Dadurch entsteht ein Panorama, das die Bewegungen eines untergehenden Systems ebenso sichtbar macht wie die tastenden Entscheidungen einer Figur, die zur Symbolfigur wird.
Stefan Zweigs Marie Antoinette erschien 1932 und gehört zu den berühmtesten Darstellungen der französischen Königin im deutschsprachigen Raum. Der österreichische Autor, 1881 geboren, verbindet akribische historische Arbeit mit der Spannung und Anschaulichkeit eines Romans. Auch wenn es kein Roman im engen Sinn ist, liest sich die Biografie als große Erzählung über Herkunft, Rolle und Selbstwerdung. Zweig interessiert weniger die Chronik bloßer Fakten als die psychologische Energie hinter Ereignissen. So gestaltet er ein Bild, das sich an Quellen orientiert und zugleich die innere Logik einer Lebensgeschichte nachzeichnet.
Dass dieses Werk als Klassiker gilt, hat mehrere Gründe. Es eröffnet den Zugang zu Geschichte über einen präzise gezeichneten Charakter und macht Komplexität durch klare, rhythmische Prosa erfahrbar. Zugleich zeigt es, wie literarische Mittel die Erkenntnis historischer Zusammenhänge vertiefen können, ohne die Treue zu belegbaren Informationen zu verlieren. Diese Verbindung hat die erzählende Biografie nachhaltig geprägt und Maßstäbe für spätere Darstellungen historischer Persönlichkeiten gesetzt. Leserinnen und Leser finden hier weder hagiografische Verehrung noch pauschale Verdammung, sondern eine Kunst des Abwägens, die auch heute Orientierung in polarisierten Deutungslandschaften bietet.
Im Kern erzählt das Buch von einer Erzherzogin aus Wien, die als junges Mädchen nach Versailles kommt, eine königliche Ehe eingeht und sich in einem höfischen System behaupten muss, das auf Etikette, Sichtbarkeit und Gerücht gründet. Zweig führt in die Welt der Feste, Intrigen und Erwartungen ein, die die neue Königin umgeben. Er zeigt, wie die öffentliche Rolle private Räume durchdringt und Entscheidungen prägt. Gleichzeitig zeichnet er das Anwachsen gesellschaftlicher Spannungen nach, die außerhalb der Palastmauern entstehen. Die Entwicklung bleibt ohne vorwegnehmende Enthüllungen und konzentriert sich auf die Ausgangslage und ihre unmittelbaren Konsequenzen.
Zweig arbeitet mit Erinnerungen, Briefen und zeitgenössischen Zeugnissen, um die Umwelt seiner Protagonistin glaubhaft zu rekonstruieren. Er ordnet diese Stimmen und Bilder so, dass daraus eine nachvollziehbare Dramaturgie entsteht. Die Szenen wirken lebendig, weil der Autor Nähe herstellt, ohne die kritische Distanz zu verlieren. Sein Zugriff ist psychologisch: Er fragt nach Gewohnheiten, Neigungen, Verblendungen und Einsichten, die eine Persönlichkeit im Wechselspiel mit Ereignissen formen. Damit vermeidet er schematische Zuschreibungen und gibt der Figur eine menschliche Kontur, die weder auf Legende noch Anklage reduziert werden kann.
Der Publikationszeitpunkt 1932 verleiht dem Buch eine zweite historische Ebene. In einem Europa, das von Krisen, ideologischen Erschütterungen und der Erosion tradierter Ordnungen gezeichnet ist, liest sich das Porträt einer Monarchie im Umbruch wie ein Resonanzraum für aktuelle Erfahrungen. Zweig, der die Spannungen seiner Gegenwart scharf wahrnahm, entwirft keinen politischen Traktat, sondern eine Geschichte über das Abrutschen von Gewissheiten. Diese Konstellation schärft den Blick auf Mechanismen des Machtverlusts: die Trägheit von Institutionen, die Dynamik der öffentlichen Meinung und die Blindstellen von Eliten, die Warnsignale verkennen.
Nachhaltig wirkt das Buch durch seine Themen: die Herstellung von Images, die Anziehungskraft des Spektakels, das Eigenleben von Gerüchten und die fragile Identität öffentlicher Personen. Zweig zeigt, wie Repräsentation Chancen eröffnet und zugleich Fallen stellt. Er macht verständlich, wie eine Gesellschaft Wünsche und Ängste auf einzelne Figuren projiziert und damit Realitäten verschiebt. Diese Analyse bleibt nicht im 18. Jahrhundert gefangen. Sie berührt Fragen der Gegenwart, in der Medien, Erwartungen und Narrative Karrieren befördern oder zerstören können und in der das Private unaufhörlich in die Öffentlichkeit gezogen wird.
Die stilistische Eleganz des Textes trägt wesentlich zur Wirkung bei. Zweig balanciert erzählerische Dichte und sachliche Präzision, wechselt zwischen Nahaufnahme und Überblick und hält die Spannung, ohne mit Effekten zu arbeiten. Das Ergebnis ist keine bloße Aneinanderreihung von Daten, sondern eine formbewusste Komposition. Wer eine literarische Annäherung an Geschichte sucht, findet hier ein Muster dafür, wie Erzählkunst Erkenntnis vertieft. Gerade weil das Werk kein Roman im strengen Sinne ist, zeigt es, wie literarische Verfahren Wissen zugänglich machen und Empathie schärfen, ohne die Grenze zum Erfundenen zu überschreiten.
Zweig entwirft keine Heldin nach Maß, sondern eine widersprüchliche, lernende, verletzliche Person. Er macht verständlich, wie Entscheidungen in engen Handlungsspielräumen fallen und wie äußere Zwänge sowie innere Dispositionen einander bedingen. Damit schützt er vor einfachen Urteilen, die historische Akteure zu reinen Symbolen verdichten. Die Königin erscheint nicht als Statistin der Geschichte, aber auch nicht als souveräne Regisseurin. Gerade diese mittlere Position – zwischen Wirken und Getriebenwerden – macht die Figur lesbar und bietet Anknüpfungspunkte, die über die spezifische Zeit hinausragen.
Die erzählerische Struktur des Buches führt durch Etappen eines Lebenswegs, ohne die spätere Entwicklung vorwegzunehmen. Ein Schwerpunkt liegt auf den Mechanismen des Hofes, auf Ritualen, Netzwerken und Konflikten, die den Alltag bestimmen. Zugleich deutet Zweig die Fermentation gesellschaftlicher Kräfte an, die im Hintergrund wirken. Leserinnen und Leser erhalten Orientierung in einer komplexen Welt, ohne mit Details überfordert zu werden. Die Klarheit der Darstellung macht das Werk zu einer empfehlenswerten ersten Begegnung mit der Epoche, die später vertieft werden kann, wenn man weiter in Quellen und Forschung einsteigt.
Als literarischer Einfluss wirkt das Buch bis heute fort, weil es einen Weg zeigt, historische Erkenntnis sinnlich erfahrbar zu machen. Es hat dazu beigetragen, die erzählende Biografie als eigenständige Form zu etablieren, die dokumentarische Genauigkeit mit dramaturgischer Stimmigkeit verbindet. Übersetzungen haben die Verbreitung über Sprachgrenzen hinweg ermöglicht, und die anhaltende Leserschaft bezeugt seine Lebenskraft. Dass diese Darstellung immer wieder neu gelesen wird, liegt an der Balance von Form und Haltung: präzise, nachvollziehbar, respektvoll, aber niemals unkritisch, und offen für die Ambivalenzen menschlichen Handelns.
Heute bleibt Marie Antoinette von Stefan Zweig relevant, weil es die Mechanik von Öffentlichkeit, Macht und Mythos mit seltener Klarheit zeigt. In einer Gegenwart, die von medialer Beschleunigung, Personalisierung von Politik und der Sehnsucht nach einfachen Erzählungen geprägt ist, erinnert dieses Buch an die Verantwortung des genauen Hinsehens. Seine zeitlosen Qualitäten liegen in erzählerischer Eleganz, psychologischer Tiefe und intellektueller Redlichkeit. Als Klassiker lädt es dazu ein, Geschichte nicht nur zu wissen, sondern zu verstehen – und das Schicksal einer Einzelnen als Brennspiegel kollektiver Erfahrungen zu begreifen.
Stefan Zweig zeichnet das Leben Marie Antoinettes als spannungsreiches Porträt, das weniger eine Abfolge von Daten als die Entwicklung eines Charakters im Sog der Geschichte vorführt. Ausgehend von ihrer Herkunft am Wiener Hof rückt das Buch die Frage in den Mittelpunkt, wie Anmut, Unbekümmertheit und höfische Sozialisation auf die politischen Verwerfungen des späten 18. Jahrhunderts treffen. Zweig verbindet erzählerische Dichte mit quellennaher Deutung, um die Distanz zwischen Mythos und Mensch zu vermessen. Im Zentrum steht die Reibung zwischen privater Neigung und öffentlicher Rolle, deren Unvereinbarkeit den roten Faden seiner Darstellung bildet.
Die frühe Phase beleuchtet die österreichische Prinzessin als Teil einer europäischen Heiratspolitik, die Bündnisse sichern soll. Als Braut des französischen Thronfolgers verlässt sie ihre vertraute Welt und wird in die strenge Etikette von Versailles eingeführt. Zweig betont die kulturellen Brüche: Sprache, Sitten, Beobachtung durch eine misstrauische Öffentlichkeit. Im Mittelpunkt steht das Thema Anpassung: Eine junge Frau lernt, Gesten und Masken zu beherrschen, ohne die Spielregeln vollständig zu durchschauen. Schon hier deutet sich der Konflikt an zwischen der Leichtigkeit ihrer Erziehung und dem Ernst der Aufgabe, die weniger individuelle Begabung als taktisches Kalkül verlangt.
Der Aufenthalt am Hof bringt Privilegien und Leere zugleich. Die Ehe erweist sich als wenig inspirierend, der König als schwerfällig, die Nähe zwischen den Gatten fragil. Um Sinn und Anerkennung zu finden, wendet sich Marie Antoinette dem Zeremoniell, den Festen und Künsten zu. Sie pflegt Geschmack, Mode und Musik und schafft eigene Rückzugsräume, in denen Spontaneität möglich scheint. Zweig zeigt, wie daraus eine öffentliche Figur entsteht, die Bewunderung und Irritation erzeugt: eine souveräne Gastgeberin, zugleich abgehoben von den Nöten des Landes. Die Kluft zwischen höfischem Spiel und politischer Wirklichkeit beginnt, unübersehbar zu werden.
Mit dem wachsenden Druck auf die Staatsfinanzen verengt sich die Geduld der Gesellschaft, und die Königin gerät in den Fokus. Pamphlete und Spottbilder formen ein Feindbild, das von Verschwendung und Intrige erzählt. Zweig zeichnet nach, wie Symbole – Kleider, Gärten, Vergnügungen – politisch aufgeladen werden und die Person übermächtig über die Institution ragt. Gleichzeitig wird sichtbar, dass die Hofmaschine auf Selbstbestätigung ausgelegt ist und Kritik nur als Revolte kennt. Zwischen Hof und Hauptstadt entsteht ein Dialog der Taubheit: Erwartungen prallen aufeinander, Missverständnisse vergiften den Ton, und jede Geste der Selbstbehauptung wird als Provokation gelesen.
Die Geburt der Kinder eröffnet eine neue Rolle, in der Nähe und Verantwortung spürbar werden. Zweig nutzt diese Zäsur, um die menschliche Seite der Königin hervorzuheben: Bemühungen um Einfachheit, Momente des Rückzugs, ein wachsendes Bewusstsein für Pflichten jenseits der Repräsentation. Zugleich verstärken Ratschläge aus dem Umfeld den Drang, Einfluss zu nehmen, ohne über tragfähige Machtmittel zu verfügen. Zwischen familiärer Intimität und öffentlicher Projektionsfläche sucht sie einen Weg, das Bild zu korrigieren. Doch die Versuche bleiben halb, da die Strukturen des Ancien Régime Widerstände konservieren und jeden Schritt als Taktik der Selbsterhaltung erscheinen lassen.
Ein Skandal, für den sie nicht verantwortlich ist, markiert einen neuen Tiefpunkt ihres Ansehens. Die sogenannte Halsbandaffäre wird zur Chiffre für Hofkorruption und entfaltet eine Wirkung, die weit über den konkreten Fall hinausgeht. Zweig zeigt, wie das Vertrauen erodiert, weil Erklärungen die Logik der Empörung nicht durchdringen. Parallel verfestigen sich aufklärerische und wirtschaftliche Argumente gegen die alte Ordnung, und die Königin wird zum Kristallisationspunkt dieser Kritik. Ihr Habitus, der einst als Grazie galt, erscheint nun als Trotz. So verknüpfen sich persönliches Image und strukturelle Krise zu einem Konflikt, der kaum noch vermittelbar ist.
Als politische Reformen unausweichlich werden, tritt die Frage ins Zentrum, ob der Hof zu Zugeständnissen fähig ist. Zweig schildert Beratungen, in denen die Königin zwischen dem Impuls zur Standhaftigkeit und dem Gebot taktischer Nachgiebigkeit schwankt. Die Einberufung repräsentativer Gremien verschiebt die Machtbalance; neue Sprecher der Nation beanspruchen die Bühne. Die Königin versucht, Kontakte zu knüpfen, Bitten zu moderieren, Grenzen zu setzen. Doch öffentliche Demonstrationen und Gewaltandrohungen schärfen die Fronten. In der Zuspitzung offenbart sich ein Charakter, der Haltung zeigt, aber die Zeichen der Zeit nur unvollständig liest, gefangen in Formen, die an Überzeugungskraft verlieren.
Auf der Suche nach Handlungsspielräumen wird eine riskante Bewegung versucht, die die Initiative zurückerobern soll. Ihr Scheitern verschärft die Lage: Was als Rettung gedacht war, wird als Abwendung von der Nation gedeutet. Zweig beschreibt die Rückkehr in einen politisch engeren Raum, in dem jeder Schritt überwacht und interpretiert wird. Zugleich verdichtet sich die innere Entscheidung der Königin, ihr Amt nicht zu entleeren. Die Hoffnung, durch externe Kräfte oder Verhandlungen eine Wende herbeizuführen, kollidiert mit Misstrauen und Müdigkeit der Öffentlichkeit. So wird die Bühne kleiner, das Licht greller, und die Rollen fixieren sich unbarmherzig.
In den letzten Kapiteln begleitet Zweig eine Frau, die in der Beschränkung Haltung sucht und in der Öffentlichkeit zur Chiffre geworden ist. Er fragt, wie weit Charakter in Extremsituationen trägt, und kommt zu einem Porträt, das weder Verklärung noch Verdammung ist. Entscheidend bleibt die Einsicht, dass ein mittelgroßer Charakter in einer übergroßen Epoche stand und daran gemessen wurde. Das Buch deutet, ohne auszuformulieren, wohin die Entwicklung führt, und liest das Schicksal als Lehrstück über Wahrnehmung, Verantwortung und Timing politischer Entscheidungen. So bleibt ein Nachhall: die Zerbrechlichkeit von Ruhm und die Macht historischer Bilder.
Die Handlungsebene, die Stefan Zweigs Marie Antoinette zugrunde liegt, ist das späte Ancien Régime in Frankreich und die habsburgische Welt Wiens. Monarchie, Adel und Kirche bestimmen Institutionen und Alltagsrhythmen; die höfische Maschinerie von Versailles mit ihrer strengen Etikette ordnet Rang, Zugang und Gunst. Außenpolitisch dominiert das europäische Mächtekonzert, innenpolitisch die Ständegesellschaft mit rechtlichen Privilegien. Dies ist die Bühne, auf der eine österreichische Erzherzogin zur französischen Königin wird. Zweigs Darstellung verknüpft diese Rahmenbedingungen mit der Frage, wie Reputation, Ritual und politische Entscheidungszwänge eine Person formen, deren Leben zwischen dynastischer Diplomatie, öffentlicher Meinung und fiskalischer Not zerrieben wird.
Die sogenannte diplomatische Revolution von 1756, die das traditionelle Bündnissystem umkehrte und Österreich mit Frankreich verbündete, bildet den Ausgangspunkt der Heiratspolitik. Nach den Erschütterungen des Österreichischen Erbfolgekriegs und des Siebenjährigen Kriegs suchten Wien und Versailles eine Stabilisierung. Das Eheprojekt zwischen Marie Antoinette, 1755 geboren, und dem französischen Thronfolger Louis-Auguste diente der Festigung dieses neuen Arrangements. Zweigs Buch bettet die Biografie in diese europäische Lage ein: Eine junge Frau wird zum Pfand einer großen Politik, in der das Gleichgewicht der Mächte, die Angst vor Preußen und Großbritannien sowie dynastische Bündnisse konkrete Lebenswege bestimmen.
Mit der Ankunft Marie Antoinettes 1770 in Frankreich beginnt ein Ringen um Anpassung an die strengen Regeln von Versailles. Der Hof lebt von Ritualen wie Lever und Coucher, von Gunstbeweisen und dem sorgfältig inszenierten Blick der Öffentlichkeit. 1774, nach dem Tod Ludwigs XV., besteigt Louis XVI. den Thron; Marie Antoinette wird Königin. Das junge Paar steht unter dem Druck, die Dynastie zu sichern und Stabilität auszustrahlen. Gleichzeitig hegt ein Teil der französischen Elite Misstrauen gegenüber der österreichischen Verbindung. Zweig zeigt, wie diese Gemengelage die Königin zwischen Repräsentationspflicht und persönlicher Suche nach Handlungsspielräumen einschnürt.
Ökonomisch leidet Frankreich unter einer strukturellen Fiskalkrise. Steuerprivilegien von Adel und Klerus, Steuerpacht und eine wenig effiziente Verwaltung belasten den Staatshaushalt, während Kriegsfolgen und Schuldendienste wachsen. Reformversuche unter Turgot (1774–1776) zielen auf Liberalisierung, stoßen aber auf Widerstand; Unruhen wie die Mehlkrise 1775 zeigen die Sensibilität des Getreidemarkts. Brot ist das tägliche Grundnahrungsmittel, Preissprünge entfachen Protest. Diese materiellen Spannungen bilden in Zweigs Darstellung den Resonanzraum, in dem Hofluxus und höfische Feste als Provokation erscheinen und die Königin – unabhängig von realer Verantwortung – zur Projektionsfläche für Unmut über Ungleichheit und Misswirtschaft wird.
Parallel dazu wächst die Öffentlichkeit der Aufklärung. Salons, Zeitschriften, Pamphlete und Karikaturen verbreiten Ideen und Gerüchte, trotz formeller Zensur. Die Figur der Königin rückt ins Zentrum einer polemischen Literatur, in der sich politische Kritik, Misogynie und Fremdenangst mischen. Der Spottname l’Autrichienne verweist auf die stete Verdächtigung, Österreichische Interessen zu begünstigen. Zweig nimmt diese Text- und Bildwelten ernst, weil sie Handeln rahmen: An Ruf und Skandal hängt im Ancien Régime politische Durchsetzungskraft. Die Biografie rekonstruiert, wie die Macht der publizistischen Kampagnen die Möglichkeiten der Monarchie einengt und persönliche Fehler zu Staatsaffären hochschaukelt.
Die höfische Konsumkultur prägt zugleich Handwerk, Manufakturen und Mode. Seidenwebereien in Lyon, die Porzellanmanufaktur von Sèvres und die marchandes de modes, berühmt geworden durch Rose Bertin, bedienen den repräsentativen Bedarf der Elite. Marie Antoinettes Geschmack, vom Petit Trianon bis zu ländlichen Inszenierungen im Hameau, steht für eine Suche nach Privatheit innerhalb der Öffentlichkeit des Hofes. Zweig zeigt, wie dieses Streben mit dem Vorwurf der Verschwendung kollidiert. In einer Zeit knapper Kassen wird jede Ausgabe politisch gedeutet; die symbolische Ökonomie der Mode verschränkt sich mit fiskalischen Debatten und verschärft das Legitimationsproblem.
Der Eintritt Frankreichs in den amerikanischen Unabhängigkeitskrieg 1778 bringt Prestigegewinne, aber hohe Kosten. Der Sieg gegen Großbritannien belebt die Flotte und den Nationalstolz, doch die Finanzierung über Kredite vertieft die Schuldenlage. Zugleich kehren Offiziere wie Lafayette mit republikanischen Vokabeln und Freiheitsrhetorik zurück, die die politische Sprache in Frankreich prägen. Zweig macht deutlich, dass diese Mischung aus finanzieller Überdehnung und ideeller Aufladung die Handlungsspielräume der Krone weiter schrumpfen lässt. Die Königin gerät dadurch stärker in den Fokus: als Symbol einer Ordnung, die Kriegserfolge feiert, aber den sozialen Ausgleich und nachhaltige Reformen nicht durchsetzt.
Die Halsbandaffäre von 1785 kristallisiert die Macht der Gerüchte. Ein enorm teures Diamanthalsband, Intrigen um Kardinal de Rohan und die Betrügerin Jeanne de Valois-Saint-Rémy führen zu einem öffentlichen Prozess. Obwohl die Königin juristisch nicht belastet wird, zerstört der Skandal ihr Image nachhaltig. Die Juweliere Böhmer und Bassenge, die Hoffnungen auf einen Kauf hegten, geraten selbst in den Strudel. Zweig nutzt den Fall als Beispiel dafür, wie ein ohnehin angefochtener Hof durch spektakuläre Affären Vertrauen verliert. Für die Leserschaft wird verständlich, wie symbolische Schäden reale politische Folgen nach sich ziehen und Reformen weiter erschweren.
Die Jahre 1787 bis 1789 bringen die Krisendynamik an einen Wendepunkt. Der Finanzminister Calonne ruft zur Entlastung des Staates eine Versammlung der Notablen ein, doch die Elite blockiert neue Steuern. Sein Nachfolger Brienne scheitert ebenfalls; schließlich wird Necker zurückgerufen. Am Ende steht die Einberufung der Generalstände für 1789, ein seit 1614 nicht mehr tagendes Gremium. Zweig bindet diese Entwicklung an die wachsende Politisierung, in der Petitionen, Schriften und lokale Versammlungen den Ton angeben. Die Königin, als vermeintliche Strippenzieherin, wird dabei zur zentralen Figur im Streit über Souveränität, Repräsentation und die Grenzen höfischer Politik.
1789 radikalisiert die Lage: Die Generalstände spalten sich, der Dritte Stand erklärt sich zur Nationalversammlung, der Ballhausschwur markiert den Anspruch, eine Verfassung zu geben. Der Sturm auf die Bastille am 14. Juli und die Gewalt der Großen Angst verweisen auf eine soziale Dimension der Revolution. Mit dem Oktoberzug der Pariserinnen werden König und Königin nach Paris gebracht, die höfische Distanz der Residenz Versailles bricht zusammen. Zweigs Darstellung zeigt, wie die Monarchie, nun im Tuilerienpalast, unter ständiger Beobachtung versucht, zwischen konstitutioneller Anpassung und dynastischen Reflexen zu navigieren, während Misstrauen und Erwartungen unvereinbar wachsen.
Im Juni 1791 scheitert der Fluchtversuch der königlichen Familie in Varennes. Dieses Ereignis beschädigt die Glaubwürdigkeit der konstitutionellen Monarchie nachhaltig und nährt den Verdacht, die Krone arbeite gegen die Revolution. Die Verfassung von 1791 wird dennoch verabschiedet, doch die politische Landschaft polarisiert sich zwischen gemäßigten Kräften und radikalen Klubs. Zweig deutet Varennes als psychologischen Bruch: Aus Repräsentanten der Nation werden in der öffentlichen Wahrnehmung potenzielle Verräter. Die Königin steht dabei im Zentrum harscher Kritik, die persönliche Korrespondenzen und diplomatische Kontakte als Beweise einer angeblichen österreichischen Einflussnahme liest.
1792 münden europäische Spannungen in den Krieg gegen Österreich und Preußen. Das Manifest des Herzogs von Braunschweig verschärft in Paris die Angst vor einer Konterrevolution. Am 10. August stürmt die Pariser Nationalgarde mit Sansculotten die Tuilerien; die Monarchie wird suspendiert. Die Septembermassaker vertiefen die Gewaltspirale. Zweig verknüpft diese Ereignisse mit der Entstehung einer neuen Art politischer Öffentlichkeit, in der Gerichte, Clubs und Zeitungen Handlungsmacht bündeln. Aus der Königin als Repräsentationsfigur wird eine Gefangene des Staates; ihr individuelles Schicksal erscheint als Konsequenz struktureller Umbrüche, in denen alte Loyalitäten keine Bindekraft mehr entfalten.
Nach der Hinrichtung Ludwigs XVI. im Januar 1793 radikalisiert sich der Umbruch weiter. Der Wohlfahrtsausschuss gewinnt an Einfluss, der Krieg dehnt sich aus. Im Oktober steht Marie Antoinette vor dem Revolutionstribunal. Die Anklagen – von Staatsverrat bis zur vermeintlichen Einbindung in ein sogenanntes österreichisches Komitee – mischen Tatsachen mit Unterstellungen. Das Urteil endet am 16. Oktober 1793 auf der Guillotine. Zweig schildert diesen Prozess als Kulmination eines Meinungsklimas, das wenig Raum für Nuancen lässt. Die Biografie legt weniger die Schuldfrage fest, als sie Mechanismen der Entmenschlichung, der symbolischen Feindbildproduktion und der politischen Justiz beleuchtet.
Zweigs Arbeitsweise stützt sich auf zeitgenössische Berichte, Memoiren, Polizeiprotokolle und diplomatische Korrespondenzen. Eine zentrale Quelle sind die Briefe an und von dem österreichischen Gesandten Mercy-Argenteau, die Einblick in Erwartungen und Selbstbilder geben. Der Autor ordnet diese Zeugnisse in eine narrative, psychologisch akzentuierte Biografie ein, die er programmatisch als Bildnis eines mittleren Charakters versteht. Damit grenzt er sich von Hagiografie und Verdammung ab. Die Figur wird weder als Heldin noch als Dämon präsentiert, sondern als Produkt und Akteurin ihrer Epoche, deren Handlungsmacht durch Institutionen, Rituale und öffentliche Diskurse begrenzt ist.
Die Veröffentlichung 1932 fällt in eine europäische Zwischenkriegszeit, in der wirtschaftliche Krisen, Staatszerfall und aggressive Massenpolitik die Öffentlichkeit prägen. Zweigs Wiener Prägung, seine Wertschätzung für Humanismus und seine Sensibilität für psychologische Motive lenken den Blick auf Stimmungen, Affekte und das fragile Band zwischen Regierenden und Regierten. Ohne die Ereignisse seiner Gegenwart direkt zu thematisieren, liest sich die Biografie als Reflexion über die Verführbarkeit von Massen und die Sprengkraft propagandistischer Kampagnen. Die erzählerische Verdichtung verbindet Forschung und Literatur, um historische Prozesse anschaulich zu machen, ohne den Anspruch auf überprüfbare Fakten preiszugeben.
Für das 18. Jahrhundert zeigt das Buch die Bedeutung neuer Infrastrukturen: verbesserte Straßen und Postverbindungen beschleunigen den Nachrichtenfluss; Drucktechnik, Leihbibliotheken und Kaffeehäuser verdichten Kommunikationsräume. Karikaturen, Theater und Liedgut tragen politische Botschaften in breitere Schichten. In dieser medialen Umwelt entfaltet der Hof seine Rituale, doch der Resonanzraum hat sich verschoben: Öffentlichkeit kann nicht mehr dauerhaft ausgesperrt werden. Zweig nutzt diese Einsicht, um die Diskrepanz zwischen höfischer Selbstwahrnehmung und urbaner, zunehmend nationaler Öffentlichkeit zu erklären. So wird nachvollziehbar, warum Symbole und Bilder ebenso entscheidend werden wie Gesetze oder Dekrete.
Im Ergebnis kommentiert Zweigs Buch sowohl die Krise des Ancien Régime als auch die Moderne seiner eigenen Zeit. Es zeigt, wie eine Monarchie an struktureller Ungleichheit, finanzieller Starrheit und der Dynamik der öffentlichen Meinung scheitert, und wie eine Frau zur Chiffre komplexer Konflikte wird. Zugleich warnt die Darstellung vor der Macht von Gerücht, Skandal und Feindbild, die Rechtsstaatlichkeit aushebeln können. Indem die Biografie einen nüchternen, empathischen Blick mit Quellenkritik verbindet, bietet sie keinen Schlussstrich, sondern eine Einladung zum Nachdenken: über Verantwortung, politische Kultur und die Bedingungen, unter denen Gewalt plausibel erscheint.
Stefan Zweig (1881–1942) war ein österreichischer Schriftsteller der klassischen Moderne, bekannt für Novellen, Biografien und essayistische Porträts von seltener psychologischer Präzision. In Wien geboren und in der Vielvölkerwelt der Habsburgermonarchie herangewachsen, verstand er sich als europäischer Humanist und Kosmopolit. Zwischen Vorkriegszeit, Erstem Weltkrieg, Zwischenkriegsjahren und Exil in den 1930er- und frühen 1940er-Jahren spiegeln seine Werke die Brüche einer Epoche. Zweig erreichte schon zu Lebzeiten ein internationales Publikum und gilt bis heute als einer der meistgelesenen deutschsprachigen Autoren des 20. Jahrhunderts. Seine Prosa verbindet erzählerische Eleganz mit einem Sinn für historische Verdichtung und moralische Ambivalenz.
Nach dem Besuch humanistischer Schulen studierte Zweig in Wien und zeitweise in Berlin Literatur- und Philosophie. 1904 wurde er an der Universität Wien zum Dr. phil. promoviert; seine Dissertation beschäftigte sich mit dem Denken Hippolyte Taines. Früh knüpfte er Kontakte zur Wiener Moderne und zum internationalen Symbolismus, übersetzte und förderte insbesondere Émile Verhaeren. Freundschaften und intellektuelle Nähe verbanden ihn mit Romain Rolland und Sigmund Freud, deren Ideen zu Humanismus, Pazifismus und Tiefenpsychologie seine ästhetischen Verfahren prägten. Zweig entwickelte daraus eine Kunst des psychologischen Porträts, die individuelle Leidenschaft und soziale Triebkräfte engführt, ohne dabei auf dokumentarische Sorgfalt zu verzichten.
Bereits vor dem Ersten Weltkrieg veröffentlichte Zweig Lyrik, Essays und Reiseberichte, doch Bekanntheit erlangte er vor allem mit erzählerischen Kurzformen. Seine Novellen verbinden straffe Dramaturgie mit intensiver Innerlichkeit. Texte wie Amok, Brief einer Unbekannten, Angst und Verwirrung der Gefühle zeigen obsessive Leidenschaften, Schuldgefühle und die Macht des Unbewussten in präzise komponierten Szenarien. Der feuilletonistische Ton seiner Prosa öffnete zugleich ein großes Lesepublikum. Viele Erzählungen wurden früh in zahlreiche Sprachen übersetzt, was Zweigs Ruf als internationaler Autor festigte und ihm erlaubte, als freier Schriftsteller zu arbeiten und seine Themen in immer neuen Variationen zu erproben.
Neben den Novellen prägten historische Porträts und Biografien Zweigs öffentliche Wirkung. Mit Sternstunden der Menschheit entwarf er dramatische Miniaturen geschichtlicher Wendepunkte. Seine großen Lebensbilder – Joseph Fouché, Marie Antoinette, Triumph und Tragik des Erasmus von Rotterdam sowie Magellan – verbinden akribische Quellenarbeit mit dramaturgischer Zuspitzung. Charakteristisch ist die Suche nach dem Moment, in dem Persönlichkeit und Zeitlage unauflöslich ineinandergreifen. Zweig interessiert weniger die Chronik als der innere Antrieb: Opportunismus, Idealismus, Entdeckergeist oder die fragile Balance geistiger Freiheit. Diese Methode machte ihn zu einem der meistgelesenen Popularisierer historischer Stoffe und prägte das Bild vieler Figuren im kollektiven Gedächtnis.
Der Krieg brach Zweigs frühes Selbstverständnis als unbeschwerter Weltbürger. Zwar diente er im Ersten Weltkrieg im k.u.k. Kriegsarchiv, doch wuchs gleichzeitig seine Abneigung gegen Nationalismus und Gewalt. In dem Drama Jeremias formulierte er eine eindringliche pazifistische Botschaft. Angeregt von Romain Rolland und verwandten Geistern verteidigte er in Essays und Reden die Idee einer supranationalen europäischen Kultur, deren Kitt die gemeinsame Sprache der Kunst sein sollte. Diese Überzeugung spiegelt sich in seinen Stoffwahlen, in der Sympathie für Vermittlerfiguren wie Erasmus und in der Aufmerksamkeit für die seelischen Verwüstungen, die politischer Fanatismus in Individuen hinterlässt.
In den 1930er-Jahren wurden seine Bücher in Deutschland verboten und bei öffentlichen Verbrennungen diffamiert. Zweig verließ Mitteleuropa schrittweise, lebte zunächst in Großbritannien und ging später über Stationen in Nord- und Südamerika ins brasilianische Exil. Seine späten Werke bündeln Erfahrung und Verlust. Der Roman Ungeduld des Herzens untersucht moralische Verstrickungen und die Lähmung des Mitleids. Die Schachnovelle, im Exil entstanden, verdichtet psychischen Zwang und Widerstandskraft in einer symbolisch aufgeladenen Konstellation. Die autobiografische Die Welt von Gestern beschwört das untergegangene Europa der Bildung und Geselligkeit und reflektiert die Verwüstungen der Diktaturen aus persönlicher, zugleich exemplarischer Perspektive.
Im brasilianischen Exil sah Zweig die europäische Zivilisation, der er sich verbunden fühlte, in Trümmern. In Petrópolis nahm er sich im Februar 1942 das Leben. Sein Abschiedsbrief bekennt Dankbarkeit für das Gastland und Resignation angesichts der Zerstörung Europas. Gleichwohl wirkt sein Werk fort: Novellen, Biografien und Erinnerungen gehören zum Kanon einer Literatur, die psychologische Genauigkeit mit humanistischem Ethos vereint. In zahlreichen Ländern wird er weiterhin verlegt, erforscht und adaptiert. Besonders Die Welt von Gestern und die Schachnovelle bilden Bezugspunkte der Gegenwartsdebatten über Erinnerung, Flucht und Identität und halten Zweigs Stimme im kulturellen Gedächtnis präsent.
Die Geschichte der Königin Marie Antoinette schreiben, heißt einen mehr als hundertjährigen Prozeß aufnehmen, in dem Ankläger und Verteidiger auf das heftigste gegeneinander sprechen. Den leidenschaftlichen Ton der Diskussion verschuldeten die Ankläger. Um das Königtum zu treffen, mußte die Revolution die Königin angreifen, und in der Königin die Frau. Nun wohnen Wahrhaftigkeit und Politik selten unter einem Dach, und wo zu demagogischem Zweck eine Gestalt gezeichnet werden soll, ist von den gefälligen Handlangern der öffentlichen Meinung wenig Gerechtigkeit zu erwarten. Kein Mittel, keine Verleumdung gegen Marie Antoinette wurde gespart, um sie auf die Guillotine zu bringen, jedes Laster, jede moralische Verworfenheit, jede Art der Perversität in Zeitungen, Broschüren und Büchern der »louve autrichienne« unbedenklich zugeschrieben; selbst im eigenen Haus der Gerechtigkeit, im Gerichtssaal, verglich der öffentliche Ankläger die »Witwe Capet[1]« pathetisch mit den berühmtesten Lasterfrauen der Geschichte, mit Messalina, Agrippina und Fredegundis. Um so entschiedener erfolgte dann der Umschwung, als 1815 abermals ein Bourbone den französischen Thron bestieg; um der Dynastie zu schmeicheln, wird das dämonisierte Bild mit den öligsten Farben übermalt: keine Darstellung Marie Antoinettes aus dieser Zeit ohne Weihrauchwolke und Heiligenschein. Preislied folgt auf Preislied, Marie Antoinettes unberührbare Tugend wird ingrimmig verteidigt, ihr Opfermut, ihre Güte, ihr makelloses Heldentum in Vers und Prosa gefeiert; und reichlich mit Tränen genetzte Anekdotenschleier, meist von aristokratischen Händen geklöppelt, umhüllen das verklärte Antlitz der »reine martyre«, der Märtyrerkönigin.
Die seelische Wahrheit liegt hier, wie meist, in der Nähe der Mitte. Marie Antoinette war weder die große Heilige des Royalismus noch die Dirne, die »grue« der Revolution, sondern ein mittlerer Charakter, eine eigentlich gewöhnliche Frau, nicht sonderlich klug, nicht sonderlich töricht, nicht Feuer und nicht Eis, ohne besondere Kraft zum Guten und ohne den geringsten Willen zum Bösen, die Durchschnittsfrau von gestern, heute und morgen, ohne Neigung zum Dämonischen, ohne Willen zum Heroischen und scheinbar darum kaum Gegenstand einer Tragödie. Aber die Geschichte, dieser große Demiurg, bedarf gar nicht eines heroischen Charakters als Hauptperson, um ein erschütterndes Drama emporzusteigern. Tragische Spannung, sie ergibt sich nicht nur aus dem Übermaß einer Gestalt, sondern jederzeit aus dem Mißverhältnis eines Menschen zu seinem Schicksal. Sie kann dramatisch in Erscheinung treten, wenn ein übermächtiger Mensch, ein Held, ein Genius in Widerstreit gerät zur Umwelt, die sich zu eng, zu feindselig erweist für seine ihm eingeborene Aufgabe – ein Napoleon etwa, erstickend im winzigen Geviert von St. Helena, ein Beethoven, eingekerkert in seine Taubheit –, immer und überall bei jeder großen Gestalt, die nicht ihr Maß und ihren Ausstrom findet. Aber ebenso ergibt sich Tragik, wenn eine mittlere oder gar schwächliche Natur in ein ungeheures Schicksal gerät, in persönliche Verantwortungen, die sie erdrücken und zermalmen, und diese Form des Tragischen will mir sogar als die menschlich ergreifendere erscheinen. Denn der außerordentliche Mensch sucht unbewußt ein außerordentliches Schicksal; seiner überdimensionalen Natur ist es organisch gemäß, heroisch oder, nach Nietzsches Wort, »gefährlich« zu leben; er fordert die Welt durch den ihm innewohnenden gewaltigen Anspruch gewaltsam heraus. So ist der geniale Charakter im letzten nicht unschuldig an seinem Leiden, weil die Sendung in ihm diese Feuerprobe mystisch begehrt zur Auslösung einer letzten Kraft; wie der Sturm die Möwe, so trägt ihn sein starkes Schicksal stärker und höher empor. Der mittlere Charakter dagegen ist von Natur aus auf friedliche Lebensform gestellt, er will, er benötigt gar nicht größere Spannung, er möchte lieber ruhig und im Schatten leben, in Windstille und gemäßigten Schicksalstemperaturen; darum wehrt er sich, darum ängstigt er sich, darum flüchtet er, wenn ihn eine unsichtbare Hand in Erschütterung stößt. Er will keine welthistorischen Verantwortungen, im Gegenteil, er fürchtet sich vor ihnen; er sucht das Leiden nicht, sondern es wird ihm aufgenötigt; von außen, nicht von innen wird er gezwungen, größer zu sein als sein eigentliches Maß. Dieses Leiden des Nicht-Helden, des mittleren Menschen, sehe ich, weil ihm der sichtliche Sinn fehlt, nicht als geringer an als das pathetische des wahrhaften Helden und vielleicht noch als erschütternder; denn der Jedermannsmensch muß es allein für sich austragen und hat nicht wie der Künstler die selige Rettung, seine Qual in Werk und überdauernde Form zu verwandlen.
Wie einen solchen mittleren Menschen aber manchmal das Schicksal aufzupflügen vermag und durch seine gebietende Faust über seine eigene Mittelmäßigkeit gewaltsam hinauszutreiben, dafür ist das Leben Marie Antoinettes vielleicht das einleuchtendste Beispiel der Geschichte. Die ersten dreißig ihrer achtunddreißig Jahre geht diese Frau gleichgültigen Weg, allerdings in einer auffälligen Sphäre; nie überschreitet sie im Guten, nie im Bösen das durchschnittliche Maß: eine laue Seele, ein mittlerer Charakter und, historisch gesehen, anfangs nur Statistenfigur. Ohne den Einbruch der Revolution in ihre heiter unbefangene Spielwelt hätte diese an sich unbedeutende Habsburgerin gelassen weitergelebt wie hundert Millionen Frauen aller Zeiten; sie hätte getanzt, geplaudert, geliebt, gelacht, sich aufgeputzt, Besuche gemacht und Almosen gegeben; sie hätte Kinder geboren und sich schließlich still in ein Bett gelegt, um zu sterben, ohne wahrhaft dem Weltgeist gelebt zu haben. Man hätte sie als Königin feierlich aufgebahrt, Hoftrauer getragen, aber dann wäre sie ebenso dem Gedächtnis der Menschheit entschwunden wie alle die unzähligen anderen Prinzessinnen, die Marie-Adelaiden und Adelaide-Marien und die Anna-Katharinen und Katharina-Annen, deren Grabsteine mit lieblosen kalten Lettern ungelesen im Gotha stehen. Nie hätte ein lebendiger Mensch das Verlangen gefühlt, ihrer Gestalt, ihrer erloschenen Seele nachzufragen, niemand hätte gewußt, wer sie wirklich war, und – dies das Wesentlichste – nie hätte sie selber, Marie Antoinette, Königin von Frankreich, ohne ihre Prüfung gewußt und erfahren, wer sie gewesen. Denn es gehört zum Glück oder Unglück des mittleren Menschen, daß er von selbst keinen Zwang fühlt, sich auszumessen, daß er nicht Neugierde fühlt, nach sich selber zu fragen, ehe ihn das Schicksal fragt: ungenützt läßt er seine Möglichkeiten in sich schlafen, seine eigentlichen Anlagen verkümmern, seine Kräfte wie Muskeln, die nie geübt werden, verweichlichen, bevor sie nicht Not zu wirklicher Abwehr spannt. Ein mittlerer Charakter muß erst herausgetrieben werden aus sich selber, um alles zu sein, was er sein könnte, und vielleicht mehr, als er selber früher ahnte und wußte; dafür hat das Schicksal keine andere Peitsche als das Unglück. Und so, wie sich ein Künstler manchmal mit Absicht einen äußerlich kleinen Vorwurf sucht, statt eines pathetisch weltumspannenden, um seine schöpferische Kraft zu erweisen, so sucht sich das Schicksal von Zeit zu Zeit den unbedeutenden Helden, um darzutun, daß es auch aus brüchigem Stoff die höchste Spannung, aus einer schwachen und unwilligen Seele eine große Tragödie zu entwickeln vermag. Eine solche Tragödie und eine der schönsten dieses ungewollten Heldentums heißt Marie Antoinette.
Denn mit welcher Kunst, mit welcher Erfindungskraft an Episoden, in wie ungeheuren historischen Spannungsdimensionen baut hier die Geschichte diesen mittleren Menschen in ihr Drama ein, wie wissend kontrapunktiert sie die Grundsätze um diese ursprünglich wenig ergiebige Hauptfigur! Mit diabolischer List verwöhnt sie erst diese Frau. Als Kind schon schenkt sie ihr einen Kaiserhof als Haus, der Halbwüchsigen eine Krone, der jungen Frau häuft sie verschwenderisch alle Gaben der Anmut, des Reichtums zu und gibt ihr überdies ein leichtes Herz, das nicht fragt nach Preis und Wert dieser Gaben. Jahrelang verwöhnt sie, verzärtelt sie dieses unbedachte Herz, bis ihm die Sinne schwinden und es immer sorgloser wird. Aber so rasch und leicht das Schicksal diese Frau auf die höchsten Höhen des Glücks emporreißt: um so raffiniert grausamer, um so langsamer läßt es sie dann fallen. Mit melodramatischer Kraßheit stellt dieses Drama die äußersten Gegensätze Stirn an Stirn; es stößt sie aus einem hundertzimmerigen Kaiserhause in ein erbärmliches Gefängnisgelaß, vom Königsthron auf das Schafott, aus der gläsern-goldenen Karosse auf den Schinderkarren, aus dem Luxus in die Entbehrung, aus Weltbeliebtheit in den Haß, aus Triumph in die Verleumdung, immer tiefer und tiefer und unerbittlich bis in die letzte Tiefe hinab. Und dieser kleine, dieser mittlere Mensch, plötzlich inmitten seiner Verwöhntheit überfallen, dieses unverständige Herz, es begreift nicht, was die fremde Macht mit ihm vorhat, es spürt nur eine harte Faust an sich kneten, eine glühende Kralle im gemarterten Fleisch; dieser ahnungslose Mensch, unwillig und ungewohnt alles Leidens, wehrt sich und will nicht, er stöhnt, er flüchtet, er sucht zu entkommen. Aber mit der Unerbittlichkeit eines Künstlers, der nicht abläßt, ehe er nicht seinem Stoff die höchste Spannung, die letzte Möglichkeit entrungen, läßt die wissende Hand des Unglücks nicht von Marie Antoinette, ehe sie diese weiche und unkräftige Seele nicht zu Härte und Haltung gehämmert, ehe sie nicht alles, was von Eltern und Urahnen an Größe in ihrer Seele verschüttet lag, plastisch herausgezwungen hat. Aufschreckend in ihrer Qual erkennt endlich die geprüfte Frau, die nie nach sich gefragt, die Verwandlung; sie spürt, gerade da ihre äußere Macht zu Ende geht, daß in ihr innen etwas Neues und Großes beginnt, das ohne jene Prüfung nicht möglich gewesen wäre. »Erst im Unglück weiß man wahrhaft, wer man ist«, diese halb stolzen, halb erschütternden Worte springen ihr plötzlich vom staunenden Munde: eine Ahnung überkommt sie, daß eben durch dieses Leiden ihr kleines mittleres Leben als Beispiel für die Nachwelt lebt. Und an diesem Bewußtsein höherer Verpflichtung wächst ihr Charakter über sich selber hinaus. Kurz bevor die sterbliche Form zerbricht, ist das Kunstwerk, das überdauernde, gelungen, denn in der letzten, der allerletzten Lebensstunde erreicht Marie Antoinette, der mittlere Mensch, endlich tragödisches Maß und wird so groß wie ein Schicksal.
Jahrhundertelang haben Habsburg und Bourbon auf Dutzenden deutscher, italienischer, flandrischer Schlachtfelder um die Vorherrschaft in Europa gerungen; endlich sind sie müde, alle beide. In zwölfter Stunde erkennen die alten Rivalen, daß ihre unersättliche Eifersucht nur andern Herrscherhäusern den Weg freigekämpft hat; schon greift von der englischen Insel ein Ketzervolk nach dem Imperium der Welt, schon wächst die protestantische Mark Brandenburg zu mächtigem Königtum, schon bereitet sich das halbheidnische Rußland vor, seine Machtsphäre ins Unermeßliche auszudehnen; wäre es nicht besser, so beginnen sich – wie immer zu spät – die Herrscher und ihre Diplomaten zu fragen, man hielte miteinander Frieden, statt abermals und abermals zugunsten ungläubiger Emporkömmlinge das verhängnisvolle Kriegsspiel zu erneuern? Choiseul[2] am Hofe Ludwigs XV., Kaunitz[3] als Berater Maria Theresias schmieden ein Bündnis, und damit es sich dauerhaft und nicht bloß als Atempause zwischen zwei Kriegen bewähre, schlagen sie vor, die beiden Dynastien Habsburg und Bourbon sollen sich durch Blut binden. An heiratsfähigen Prinzessinnen hat es im Hause Habsburg zu keiner Zeit gefehlt; auch diesmal steht eine reichhaltige Auswahl aller Alterslagen bereit. Zuerst erwägen die Minister, Ludwig XV. trotz seines großväterlichen Standes und seiner mehr als zweifelhaften Sitten mit einer habsburgischen Prinzessin zu vermählen, aber der Allerchristlichste König flüchtet rasch aus dem Bett der Pompadour in das einer anderen Favoritin, der Dubarry. Auch Kaiser Joseph, zum zweitenmal verwitwet, zeigt keine rechte Neigung, sich mit einer der drei altbackenen Töchter Ludwigs XV. verkuppeln zu lassen – so bleibt als natürlichste Verknüpfung die dritte, den heranwachsenden Dauphin[4], den Enkel Ludwigs XV. und zukünftigen Träger der französischen Krone, mit einer Tochter Maria Theresias zu verloben. 1766 kann die damals elfjährige Marie Antoinette bereits als ernstlich vorgeschlagen gelten; ausdrücklich schreibt der österreichische Botschafter am 24. Mai an die Kaiserin: »Der König hat sich in einer Art und Weise ausgesprochen, daß Eure Majestät das Projekt schon als gesichert und entschieden betrachten können.« Aber Diplomaten wären nicht Diplomaten, setzten sie nicht ihren Stolz daran, einfache Dinge schwierig zu machen und, vor allem, jede wichtige Angelegenheit kunstvoll zu verzögern. Intrigen von Hof zu Hof werden eingeschaltet, ein Jahr, ein zweites, ein drittes, und Maria Theresia, nicht mit Unrecht argwöhnisch, fürchtet, ihr ungemütlicher Nachbar, Friedrich von Preußen, »le monstre«, wie sie ihn in herzhafter Erbitterung nennt, werde schließlich auch noch diesen für Österreichs Machtstellung so entscheidenden Plan mit einer seiner machiavellistischen Teufeleien durchkreuzen; so wendet sie alle Liebenswürdigkeit, Leidenschaft und List an, um den französischen Hof aus dem halben Versprechen nicht mehr herauszulassen. Mit der Unermüdlichkeit einer berufsmäßigen Heiratsvermittlerin, mit der zähen und unnachgiebigen Geduld ihrer Diplomatie läßt sie immer wieder die Vorzüge der Prinzessin nach Paris melden; sie überschüttet die Gesandten mit Höflichkeiten und Geschenken, damit sie endlich aus Versailles ein bindendes Eheangebot heimholen; mehr Kaiserin als Mutter, mehr auf die Mehrung der »Hausmacht« bedacht als auf das Glück ihres Kindes, läßt sie sich auch durch die warnende Mitteilung ihres Gesandten nicht abhalten, die Natur habe dem Dauphin alle Gaben versagt: er sei von sehr beschränktem Verstand, höchst ungeschlacht und völlig gefühllos. Aber wozu braucht eine Erzherzogin glücklich zu werden, wenn sie nur Königin wird? Je hitziger Maria Theresia auf Pakt und Brief drängt, desto überlegener hält der weltkluge König Ludwig XV. zurück; drei Jahre lang läßt er sich Bilder und Berichte über die kleine Erzherzogin schicken und erklärt sich grundsätzlich dem Heiratsplan geneigt. Aber er spricht nicht das erlösende Werbungswort, er bindet sich nicht.
Das ahnungslose Unterpfand dieses wichtigen Staatsgeschäftes, die elfjährige, die zwölfjährige, die dreizehnjährige Toinette, zart gewachsen, anmutig, schlank und unbezweifelbar hübsch, tollt und spielt unterdessen mit Schwestern und Brüdern und Freundinnen temperamentvoll in den Zimmern und Gärten von Schönbrunn; mit Studien, Büchern und Bildung befaßt sie sich wenig. Ihre Gouvernanten und die Abbés, die sie erziehen sollen, versteht sie mit ihrer natürlichen Liebenswürdigkeit und quecksilbernen Munterkeit so geschickt um den Finger zu wickeln, daß sie allen Schulstunden entwischen kann. Mit Schrecken bemerkt eines Tages Maria Theresia, die sich bei der Fülle der Staatsgeschäfte nie um ein einzelnes Stück ihrer Kinderherde sorgfältig bekümmern konnte, daß die zukünftige Königin von Frankreich mit dreizehn Jahren weder Deutsch noch Französisch richtig zu schreiben versteht und nicht einmal mit den oberflächlichsten Kenntnissen in Geschichte und allgemeiner Bildung behaftet ist; mit den musikalischen Leistungen steht es nicht viel besser, obwohl kein Geringerer als Gluck ihr Klavierunterricht gab. In zwölfter Stunde soll jetzt das Versäumte nachgeholt, die verspielte und faule Toinette zur gebildeten Dame herangezogen werden. Wichtig für eine zukünftige Königin von Frankreich ist vor allem, daß sie anständig tanzt und mit gutem Akzent Französisch spricht; zu diesem Zweck engagiert Maria Theresia eiligst den großen Tanzmeister Noverre und zwei Schauspieler einer in Wien gastierenden französischen Truppe, den einen für die Aussprache, den anderen für Gesang. Aber kaum meldet dies der französische Gesandte dem bourbonischen Hof, als schon ein entrüsteter Wink aus Versailles kommt: eine zukünftige Königin von Frankreich dürfe nicht von Komödiantenpack unterrichtet werden. Hastig werden neue diplomatische Verhandlungen eingeleitet, denn Versailles betrachtet die Erziehung der vorgeschlagenen Braut des Dauphins bereits als eigene Angelegenheit, und nach langem Hin und Her wird auf Empfehlung des Bischofs von Orléans ein Abbé Vermond als Erzieher nach Wien gesandt; von ihm besitzen wir die ersten verläßlichen Berichte über die dreizehnjährige Erzherzogin. Er findet sie reizend und sympathisch: »Mit einem entzückenden Antlitz vereint sie alle erdenkbare Anmut der Haltung, und wenn sie, wie man hoffen darf, etwas wächst, wird sie alle Reize haben, die man für eine hohe Prinzessin wünschen kann. Ihr Charakter und ihr Gemüt sind ausgezeichnet.« Bedeutend vorsichtiger äußert sich jedoch der brave Abbé über die tatsächlichen Kenntnisse und die Lernfreude seiner Schülerin. Verspielt, unaufmerksam, ausgelassen, von einer quecksilberigen Munterkeit, hat die kleine Marie Antoinette trotz leichtester Auffassung nie die geringste Neigung gezeigt, sich mit irgendeinem ernsten Gegenstand zu beschäftigen. »Sie hat mehr Verstand, als man lange bei ihr vermutet hat, doch leider ist dieser Verstand bis zum zwölften Jahr an keine Konzentration gewöhnt worden. Ein wenig Faulheit und viel Leichtfertigkeit haben mir den Unterricht bei ihr noch erschwert. Ich begann während sechs Wochen mit den Grundzügen der schönen Literatur, sie faßte gut auf, urteilte richtig, aber ich konnte sie nicht dazu bringen, tiefer in die Gegenstände einzudringen, obwohl ich fühlte, daß sie die Fähigkeiten dazu hätte. So sah ich schließlich ein, daß man sie nur erziehen kann, indem man sie gleichzeitig unterhält.«
Fast wörtlich werden noch zehn, noch zwanzig Jahre später alle Staatsmänner über diese Denkunwilligkeit bei großem Verstand über dieses gelangweilte Davonhuschen aus jedem gründlichen Gespräch klagen; schon in der Dreizehnjährigen liegt die ganze Gefahr dieses Charakters, der alles könnte und nichts wahrhaft will, völlig zutage. Aber am französischen Hofe wird seit der Mätressenwirtschaft die Haltung einer Frau mehr geschätzt als ihr Gehalt; Marie Antoinette ist hübsch, sie ist repräsentativ und anständigen Charakters – das genügt, und so geht denn endlich 1769 das lang ersehnte Schreiben Ludwigs XV. an Maria Theresia ab, in dem der König feierlich um die Hand der jungen Prinzessin für seinen Enkel, den zukünftigen Ludwig XVI., wirbt und als Termin der Heirat die Ostertage des nächsten Jahres vorschlägt. Beglückt stimmt Maria Theresia zu; nach vielen sorgenvollen Jahren erlebt die tragisch resignierte Frau noch einmal eine helle Stunde. Gesichert scheint ihr jetzt der Frieden des Reiches und damit Europas; mit Stafetten und Kurieren wird allen Höfen feierlich verkündet, daß Habsburg und Bourbon für ewige Zeiten aus Feinden Blutsverbündete geworden sind. »Bella gerant alii, tu, felix Austria, nube«; noch einmal hat sich der alte Hausspruch der Habsburger bewährt.
Die Aufgabe der Diplomaten, sie ist glücklich beendet. Aber nun erst erkennt man: dies war der Arbeit leichterer Teil. Denn Habsburg und Bourbon zu einer Verständigung zu überreden, Ludwig XV. und Maria Theresia zu versöhnen, welch ein Kinderspiel dies im Vergleich zu der ungeahnten Schwierigkeit, das französische und österreichische Hof-und Hauszeremoniell bei einer so repräsentativen Festlichkeit unter einen Hut zu bringen. Zwar haben die beiderseitigen Obersthofmeister und sonstigen Ordnungsfanatiker ein ganzes Jahr lang Zeit, das ungeheuer wichtige Protokoll der Hochzeitsfestivitäten in allen Paragraphen auszuarbeiten, aber was bedeutet ein flüchtiges, nur zwölfmonatiges Jahr für derart verzwickte Chinesen der Etikette. Ein Thronfolger von Frankreich heiratet eine österreichische Erzherzogin – welche welterschütternden Taktfragen löst solcher Anlaß aus, wie tiefsinnig muß hier jede Einzelheit durchdacht werden, wieviel unwiderrufliche Fauxpas heißt es da durch Studium jahrhundertealter Dokumente vermeiden! Tag und Nacht sinnen die heiligen Hüter der Sitten und Gebräuche in Versailles und Schönbrunn mit dampfenden Köpfen; Tag und Nacht verhandeln die Gesandten wegen jeder einzelnen Einladung, Eilkuriere mit Vorschlägen und Gegenvorschlägen sausen hin und her, denn man bedenke, welche unübersehbare Katastrophe (ärger als sieben Kriege) könnte hereinbrechen, würde bei diesem erhabenen Anlaß die Rangeitelkeit eines der hohen Häuser verletzt! In zahllosen Dissertationen rechtsüber, linksüber den Rhein erwägt und erörtert man heikle Doktorfragen, etwa diese, wessen Name an erster Stelle im Heiratskontrakt genannt sein solle, derjenige der Kaiserin von Österreich oder des Königs von Frankreich, wer zuerst unterzeichnen dürfe, welche Geschenke gegeben, welche Mitgift vereinbart werden solle, wer die Braut zu begleiten, wer sie zu empfangen habe, wieviel Kavaliere, Ehrendamen, Militärs, Gardereiter, Ober-und Unterkammerfrauen, Friseure, Beichtiger, Ärzte, Schreiber, Hofsekretäre und Waschfrauen dem Hochzeitszug einer Erzherzogin von Österreich bis zur Grenze gebühren und wie viele dann der französischen Thronfolgerin von der Grenze bis nach Versailles. Während aber die beiderseitigen Perükken über die Grundlinien der Grundfragen noch lange nicht einig sind, streiten ihrerseits schon, als gälte es den Schlüssel des Paradieses, an beiden Höfen die Kavaliere und ihre Damen untereinander, gegeneinander, übereinander um die Ehre, den Hochzeitszug sei es begleiten, sei es empfangen zu dürfen, jeder einzelne verteidigt seine Ansprüche mit einem ganzen Kodex von Pergamenten; und obwohl die Zeremonienmeister wie die Galeerensträflinge arbeiten, kommen sie doch innerhalb eines ganzen Jahres mit diesen weltwichtigsten Fragen des Vortritts und der Hofzulässigkeit nicht völlig zu Rand: im letzten Augenblick wird zum Beispiel die Vorstellung des elsässischen Adels aus dem Programm gestrichen, um »die langwierigen Etikettefragen auszuschalten, die zu regeln keine Zeit mehr bleibt«. Und hätte königlicher Befehl das Datum nicht auf einen ganz bestimmten Tag festgesetzt, die österreichischen und französischen Zeremonienhüter wären bis zum heutigen Tag über die »richtige« Form der Hochzeit noch nicht einig, und es hätte keine Königin Marie Antoinette und vielleicht keine Französische Revolution gegeben.
Auf beiden Seiten wird, obwohl Frankreich wie Österreich Sparsamkeit bitter nötig hätten, die Hochzeit auf höchsten Pomp und Prunk gestellt. Habsburg will hinter Bourbon und Bourbon hinter Habsburg nicht zurückbleiben. Das Palais der französischen Gesandtschaft in Wien erweist sich als zu klein für die fünfzehnhundert Gäste; Hunderte von Arbeitern errichten in fliegender Eile Anbauten, während gleichzeitig ein eigener Opernsaal in Versailles für die Hochzeitsfeier vorbereitet wird. Für die Hoflieferanten, für die Hofschneider, Juweliere, Karossenbauer kommt hüben und drüben gesegnete Zeit. Allein für die Einholung der Prinzessin bestellt Ludwig XV. bei dem Hoffournisseur Francien in Paris zwei Reisewagen von noch nie dagewesener Pracht: köstliches Holz und schimmernde Gläser, innen mit Samt ausgeschlagen, außen mit Malereien verschwenderisch geschmückt, von Kronen umwölbt und trotz dieses Prunks herrlich federnd und schon bei leichtestem Zug fortrollend. Für den Dauphin und den königlichen Hof werden neue Paraderöcke angeschafft und mit kostbaren Juwelen durchstickt, der große Pitt, der herrlichste Diamant jener Zeit, schmückt den Hochzeitshut Ludwigs XV., und mit gleichem Luxus bereitet Maria Theresia den Trousseau ihrer Tochter: Spitzenwerk, eigens in Mecheln geklöppelt, zartestes Leinen, Seide und Juwelen. Endlich trifft der Gesandte Durfort als Brautwerber in Wien ein, herrliches Schauspiel für die leidenschaftlich schaulustigen Wiener: achtundvierzig sechsspännige Karossen, darunter die beiden gläsernen Wunderwerke, rollen langsam und gravitätisch durch die bekränzten Straßen zur Hofburg, hundertsiebentausend Dukaten haben allein die neuen Livreen der hundertsiebzehn Leibgarden und Lakaien gekostet, die den Brautwerber begleiten, der ganze Einzug nicht weniger als dreihundertfünfzigtausend. Von dieser Stunde an reiht sich Fest an Fest: öffentliche Werbung, feierlicher Verzicht Marie Antoinettes auf ihre österreichischen Rechte vor Evangelium, Kruzifix und brennenden Kerzen, Gratulationen des Hofes, der Universität, Parade der Armee, Théâtre paré, Empfang und Ball im Belvedere für dreitausend Personen, Gegenempfang und Souper für fünfzehnhundert Gäste im Liechtensteinpalais, endlich am 19. April die Eheschließung per procurationem in der Augustinerkirche, bei der Erzherzog Ferdinand den Dauphin vertritt. Dann noch ein zärtliches Familiensouper und am 21. feierlicher Abschied, letzte Umarmung. Und durch ein ehrfürchtiges Spalier fährt in der Karosse des französischen Königs die gewesene Erzherzogin von Österreich, Marie Antoinette, ihrem Schicksal entgegen.
Der Abschied von ihrer Tochter war Maria Theresia schwer geworden. Jahre um Jahre hat die alternde, abgemüdete Frau diese Heirat um der Mehrung der habsburgischen »Hausmacht« willen als das höchste Glück erstrebt, und doch macht in letzter Stunde das Schicksal ihr Sorge, das sie selbst ihrem Kinde bestimmt. Blickt man tiefer in ihre Briefe, in ihr Leben, so erkennt man: diese tragische Herrscherin, der einzige große Monarch des österreichischen Hauses, trägt die Krone längst nur noch als Bürde. Mit unendlicher Mühe, in immerwährenden Kriegen hat sie das zusammengeheiratete und in gewissem Sinne künstliche Reich gegen Preußen und Türken, gegen Osten und Westen als Einheit behauptet, aber gerade jetzt, da es äußerlich gesichert erscheint, sinkt ihr der Mut. Eine merkwürdige Ahnung bedrängt die ehrwürdige Frau, dieses Reich, dem sie ihre ganze Kraft und Leidenschaft gegeben, werde unter ihren Nachfolgern verfallen und zerfallen, sie weiß, hellsichtige und fast seherische Politikerin, wie locker dieses Gemisch zufällig gekoppelter Nationen gefügt ist und mit wieviel Vorsicht und Zurückhaltung, mit wieviel kluger Passivität einzig sein Bestand verlängert werden kann. Wer aber soll fortführen, was sie so sorglich begonnen hat? Tiefe Enttäuschungen an ihren Kindern haben einen Kassandrageist in ihr erweckt, bei ihnen allen vermißt sie, was die ureigenste Kraft ihres Wesens war, die große Geduld, das langsame sichere Planen und Beharren, das Verzichtenkönnen und das weise Sich-selbst-Beschränken. Aber von dem lothringischen Blut ihres Mannes muß eine heiße Unruhewelle in die Adern ihrer Kinder geströmt sein; alle sind sie bereit, für die Lust eines Augenblicks unabsehbare Möglichkeiten zu zerstören: ein kleines Geschlecht, unernst, ungläubig und nur um vergänglichen Erfolg bemüht. Ihr Sohn und Mitregent Joseph II. umschmeichelt voll Kronprinzengeduld Friedrich den Großen, der sie ein Leben lang verfolgt und verhöhnt hat; er buhlt um Voltaire, den sie, die fromme Katholikin, als den Antichrist haßt; ihr anderes Kind, das sie gleichfalls für einen Thron bestimmt hat, die Erzherzogin Maria Amalia, hält, kaum nach Parma verheiratet, ganz Europa mit ihrer Leichtfertigkeit in Atem. In zwei Monaten zerrüttet sie die Finanzen, desorganisiert sie das Land, vergnügt sich mit Liebhabern. Und auch die andere Tochter in Neapel macht ihr wenig Ehre; keine von den Töchtern zeigt Ernst und sittliche Strenge, und das ungeheure Werk aufopfernder und pflichthafter Bemühungen, dem die große Kaiserin ihr ganzes persönliches und privates Leben, jede Freude, jeden leichten Genuß unerbittlich aufgeopfert hatte, erscheint ihr sinnlos vollbracht. Am liebsten würde sie in ein Kloster flüchten, und nur aus Angst, aus dem richtigen Vorgefühl, der eilfertige Sohn werde mit unbedachtem Experimentieren sofort alles zerstören, was sie erbaut, hält die alte Kämpferin das Zepter fest, dessen ihre Hand längst müde geworden ist.
Auch über ihr Nesthäkchen Marie Antoinette gibt sich die starke Charakterkennerin keiner Täuschung hin; sie weiß um die Vorzüge – die große Gutmütigkeit und Herzlichkeit, die frische muntere Klugheit, das unverstellte humane Wesen – dieser ihrer jüngsten Tochter, sie kennt aber auch die Gefahren, ihre Unausgereiftheit, ihre Leichtfertigkeit, Verspieltheit, Zerfahrenheit. Um ihr näherzukommen, um noch in letzter Stunde eine Königin aus diesem temperamentvollen Wildfang zu formen, läßt sie Marie Antoinette die letzten zwei Monate vor der Abreise in ihrem eigenen Zimmer schlafen: sie sucht sie in langen Gesprächen auf ihre große Stellung vorzubereiten; und um die Hilfe des Himmels zu gewinnen, nimmt sie das Kind zu einer Wallfahrt nach Mariazell mit. Je näher indes die Stunde des Abschieds kommt, um so unruhiger wird die Kaiserin. Irgendeine finstere Ahnung verstört ihr das Herz. Ahnung kommenden Unheils, und sie setzt alle Kraft ein, die dunklen Mächte zu bannen. Vor der Abreise gibt sie Marie Antoinette eine ausführliche Verhaltungsvorschrift mit und nimmt dem achtlosen Kinde den Eid ab, sie jeden Monat sorgfältig zu überlesen. Sie schreibt außer dem offiziellen Brief noch einen privaten an Ludwig XV., in welchem die alte Frau den alten Mann beschwört, Nachsicht mit dem kindischen Unernst der Vierzehnjährigen zu haben. Aber noch immer ist ihre innere Unruhe nicht beschwichtigt. Noch kann Marie Antoinette nicht in Versailles angelangt sein, und schon wiederholt sie die Mahnung, jene Denkschrift zu Rate zu ziehen. »Ich erinnere Dich, meine geliebte Tochter, an jedem 21. des Monats jenes Blatt nachzulesen. Sei verläßlich im Hinblick auf diesen meinen Wunsch, ich bitte Dich darum; ich fürchte ja bei Dir nichts als Deine Nachlässigkeit im Beten und in der Lektüre und die daraus folgende Unachtsamkeit und Trägheit. Kämpfe gegen sie an … und vergiß nicht Deine Mutter, die, wenn auch entfernt, nicht aufhören wird, bis zum letzten Atemzug um Dich besorgt zu sein.« Mitten im Jubel der Welt über den Triumph ihrer Tochter geht die alte Frau in die Kirche und betet zu Gott, er möge ein Unheil wenden, das sie allein von allen vorausfühlt.
Während die riesige Kavalkade – dreihundertvierzig Pferde, die an jeder Poststation gewechselt werden müssen – langsam durch Oberösterreich, Bayern zieht und sich nach zahllosen Festen und Empfängen der Grenze nähert, hämmern Zimmerleute und Tapezierer auf der Rheininsel zwischen Kehl und Straßburg an einem sonderbaren Bau. Hier haben die Obersthofmeister von Versailles und Schönbrunn ihren großen Trumpf ausgespielt; nach endlosem Beraten, ob die feierliche Übergabe der Braut noch auf österreichischem Hoheitsgebiet oder erst auf französischem erfolgen solle, erfand ein Schlaukopf unter ihnen die salomonische Lösung, auf einer der kleinen unbewohnten Sandinseln im Rhein, zwischen Frankreich und Deutschland, im Niemandsland also, einen eigenen Holzpavillon für die festliche Übergabe zu erbauen, ein Wunder der Neutralität, zwei Vorzimmer auf der rechtsrheinischen Seite, die Marie Antoinette noch als Erzherzogin betritt, zwei Vorzimmer auf der linksrheinischen Seite, die sie nach der Zeremonie als Dauphine von Frankreich verläßt, und in der Mitte den großen Saal der feierlichen Übergabe, in dem sich die Erzherzogin endgültig in die Thronfolgerin Frankreichs verwandelt. Kostbare Tapisserien aus dem erzbischöflichen Palais verdecken die rasch aufgezimmerten hölzernen Wände, die Universität von Straßburg leiht einen Baldachin, die reiche Straßburger Bürgerschaft ihr schönstes Mobiliar. In dieses Heiligtum fürstlicher Pracht einzudringen ist bürgerlichem Blick selbstverständlich verwehrt; ein paar Silberstücke jedoch machen Wächter allorts nachsichtig, und so schleichen einige Tage vor Marie Antoinettes Ankunft einige junge deutsche Studenten in die halbfertigen Räume, um ihrer Neugier Genüge zu tun. Und einer besonders, hochgewachsen, freien leidenschaftlichen Blicks, die Aura des Genius über der männlichen Stirn, kann sich nicht satt sehen an den köstlichen Gobelins, die nach Raffaels Kartons gefertigt sind; sie erregen in dem Jüngling, dem sich eben erst am Straßburger Münster der Geist der Gotik offenbart hatte, stürmische Lust, mit gleicher Liebe klassische Kunst zu begreifen. Begeistert erklärt er den weniger beredten Kameraden diese ihm unvermutet erschlossene Schönheitswelt italienischer Meister, aber plötzlich hält er inne, wird unmutig, die starke dunkle Braue wölkt sich fast zornig über dem eben noch befeuerten Blick. Denn jetzt erst ist er gewahr geworden, was diese Wandteppiche darstellen, in der Tat eine für ein Hochzeitsfest denkbar unpassende Legende, die Geschichte von Jason, Medea und Kreusa, das Erzbeispiel einer verhängnisvollen Eheschließung. »Was«, ruft der genialische Jüngling, ohne auf das Erstaunen der Umstehenden achtzugeben, mit lauter Stimme aus, »ist es erlaubt, einer jungen Königin das Beispiel der gräßlichsten Hochzeit, die vielleicht jemals vollzogen wurde, bei ihrem ersten Eintritt so unbesonnen vor Augen zu führen? Gibt es denn unter den französischen Architekten, Dekorateuren und Tapezierern gar keinen Menschen, der begreift, daß Bilder etwas vorstellen, daß Bilder auf Sinn und Gefühl wirken, daß sie Eindrücke machen, daß sie Ahnungen erregen? Ist es doch nicht anders, als hätte man dieser schönen und, wie man hört, lebenslustigen Dame das abscheulichste Gespenst bis an die Grenze entgegengeschickt.«
Mit Mühe gelingt es den Freunden, den Leidenschaftlichen zu beschwichtigen, beinahe mit Gewalt führen sie Goethe – denn kein anderer ist dieser junge Student – aus dem bretternen Haus. Bald aber naht jener »gewaltige Hof-und Prachtstrom« des Hochzeitszuges und überschwemmt mit heiterem Gespräch und froher Gesinnung den geschmückten Raum, nicht ahnend, daß wenige Stunden zuvor das seherische Auge eines Dichters in diesem bunten Gewebe schon den schwarzen Faden des Verhängnisses erblickte.
Die Übergabe Marie Antoinettes soll Abschied von allen und allem veranschaulichen, was sie mit dem Hause Österreich verbindet; auch hierfür haben die Zeremonienmeister ein besonderes Symbol ersonnen: nicht nur darf niemand ihres heimatlichen Gefolges sie über die unsichtbare Grenzlinie begleiten, die Etikette heischt sogar, daß sie keinen Faden heimatlicher Erzeugung, keinen Schuh, keinen Strumpf, kein Hemd, kein Band auf dem nackten Leib behalten dürfe. Von dem Augenblicke an, da Marie Antoinette Dauphine von Frankreich wird, darf nur Stoff französischer Herkunft sie umhüllen. So muß sich im österreichischen Vorzimmer die Vierzehnjährige vor dem ganzen österreichischen Gefolge bis auf die Haut entkleiden; splitternackt leuchtet für einen Augenblick der zarte, noch unaufgeblühte Mädchenleib in dem dunklen Raum; dann wird ihr ein Hemd aus französischer Seide übergeworfen, Jupons aus Paris, Strümpfe aus Lyon, Schuhe aus Hofkordonniers, Spitzen und Maschen; nichts darf sie als liebes Andenken zurückbehalten, nicht einen Ring, nicht ein Kreuz – würde die Welt der Etikette denn nicht einstürzen, bewahrte sie eine einzige Spange oder ein vertrautes Band? –, nicht ein einziges von den seit Jahren gewohnten Gesichtern darf sie von jetzt an um sich sehen. Ist es ein Wunder, wenn in diesem Gefühl so jäh ins Fremde-gestoßen-Seins das kleine, von all diesem Pomp und Getue erschreckte Mädchen ganz kindhaft in Tränen ausbricht? Aber sofort heißt es wieder Haltung bewahren, denn Aufwallungen des Gefühls sind bei einer politischen Hochzeit nicht statthaft; drüben, im andern Zimmer, wartet schon die französische Suite, und es wäre beschämend, mit feuchten Augen, verweint und furchtsam diesem neuen Gefolge entgegenzutreten. Der Brautführer, Graf Starhemberg, reicht ihr zum entscheidenden Gang die Hand, und, französisch gekleidet, zum letztenmal gefolgt von ihrer österreichischen Suite, betritt sie, zwei letzte Minuten noch Österreicherin, den Saal der Übergabe, wo in hohem Staat und Prunk die bourbonische Abordnung sie erwartet. Der Brautwerber Ludwigs XV. hält eine feierliche Ansprache, das Protokoll wird verlesen, dann kommt – alle halten den Atem an – die große Zeremonie. Sie ist Schritt für Schritt errechnet wie ein Menuett, voraus geprobt und eingelernt. Der Tisch in der Mitte des Raumes stellt symbolisch die Grenze dar. Vor ihm stehen die Österreicher, hinter ihm die Franzosen. Zuerst läßt der österreichische Brautführer Graf Starhemberg die Hand Marie Antoinettes los; statt seiner ergreift sie der französische Brautführer und geleitet langsam, mit feierlichem Schritt, das zitternde Mädchen um die Flanke des Tisches herum. Während dieser genau ausgesparten Minuten zieht sich, langsam rückwärts gehend, im selben Takt, wie die französische Suite der künftigen Königin entgegenschreitet, die österreichische Begleitung gegen die Eingangstür zurück, so daß genau in demselben Augenblick, da Marie Antoinette inmitten ihres neuen französischen Hofstaates steht, der österreichische bereits den Raum verlassen hat. Lautlos, musterhaft, gespenstig-großartig vollzieht sich diese Orgie der Etikette; nur im letzten Augenblick hält das kleine verschüchterte Mädchen dieser kalten Feierlichkeit nicht mehr stand. Und statt kühlgelassen den devoten Hofknicks ihrer neuen Gesellschaftsdame, der Komtesse de Noailles, entgegenzunehmen, wirft sie sich ihr schluchzend und wie hilfesuchend in die Arme, eine schöne und rührende Geste der Verlassenheit, die vorzuschreiben alle Großkophtas der Repräsentation hüben und drüben vergaßen. Aber Gefühl ist nicht eingerechnet in die Logarithmen der höfischen Regeln, schon wartet draußen die gläserne Karosse, schon dröhnen vom Straßburger Münster die Glocken, schon donnern die Artilleriesalven, und, von Jubel umbrandet, verläßt Marie Antoinette für immer die sorglosen Gestade der Kindheit; ihr Frauenschicksal beginnt.
Der Einzug Marie Antoinettes wird eine unvergeßliche Feststunde für das mit Festen schon lange nicht mehr verwöhnte französische Volk[1q]. Seit Jahrzehnten hat Straßburg keine künftige Königin gesehen und vielleicht noch nie eine derart bezaubernde wie dieses junge Mädchen. Aschblonden Haars, schlanken Wuchses, lacht und lächelt das Kind mit blauen, übermütigen Augen aus der gläsernen Karosse den unermeßlichen Scharen zu, die, in schmucker elsässischer Landestracht aus allen Dörfern und Städten herangeströmt, den prunkvollen Zug umjubeln. Hunderte weißgekleideter Kinder schreiten Blumen streuend dem Wagen vorauf, ein Triumphbogen ist aufgerichtet, die Tore sind bekränzt, auf dem Stadtplatz fließt Wein aus dem Brunnen, ganze Ochsen werden auf Spießen gebraten, Brot aus riesigen Körben an die Armen verteilt. Abends werden alle Häuser illuminiert, feurige Lichtschlangen züngeln den Münsterturm empor, durchsichtig erglüht das rötliche Spitzenwerk der göttlichen Kathedrale. Auf dem Rhein gleiten, Lampions wie glühende Orangen tragend, zahllose Schiffe und Barken mit farbigen Fackeln, in den Bäumen schimmern, von Lichtern angestrahlt, bunte Glaskugeln, und von der Insel her flammt, allen sichtbar, als Abschluß eines grandiosen Feuerwerks, inmitten mythologischer Figuren das verschlungene Monogramm des Dauphins und der Dauphine. Bis tief in die Nacht zieht das schaulustige Volk die Ufer und Straßen entlang. Musik dudelt und dröhnt, an hundert Stellen schwingen Männer und Mädchen sich munter im Tanz; ein goldenes Zeitalter des Glücks scheint mit dieser blonden Botin aus Österreich gekommen, und noch einmal hebt das verbitterte, verärgerte Volk Frankreichs sein Herz heiterer Hoffnung entgegen.
