Marienkind - Paul Heyse - E-Book

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Paul Heyse

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Neue Deutsche Rechtschreibung Paul Johann Ludwig von Heyse (15.03.1830–02.04.1914) war ein deutscher Schriftsteller, Dramatiker und Übersetzer. Neben vielen Gedichten schuf er rund 180 Novellen, acht Romane und 68 Dramen. Heyse ist bekannt für die "Breite seiner Produktion". Der einflussreiche Münchner "Dichterfürst" unterhielt zahlreiche – nicht nur literarische – Freundschaften und war auch als Gastgeber über die Grenzen seiner Münchner Heimat hinaus berühmt. 1890 glaubte Theodor Fontane, dass Heyse seiner Ära den Namen "geben würde und ein Heysesches Zeitalter" dem Goethes folgen würde. Als erster deutscher Belletristikautor erhielt Heyse 1910 den Nobelpreis für Literatur. Null Papier Verlag

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Seitenzahl: 150

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Paul Heyse

Marienkind

Novelle

Paul Heyse

Marienkind

Novelle

Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2024Klosterstr. 34 · D-40211 Düsseldorf · [email protected] 2. Auflage, ISBN 978-3-962811-76-1

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Der Idi­ot

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Effi Briest

Ma­da­me Bo­va­ry

Ili­as & Odys­see

Ge­schich­te des Gil Blas von San­til­la­na

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Marienkind

Auf der Land­stra­ße, die in ge­rin­ger Ent­fer­nung von dem Ei­sen­bahn­damm zwi­schen Wie­sen und Wäl­dern dem Ge­bir­ge zu­läuft, schritt ei­nes schwü­len Nach­mit­tags im Hoch­som­mer ein ha­ge­rer, lan­ger Herr da­hin, rüs­ti­gen Fu­ßes trotz sei­ner fünf­und­sech­zig Jah­re. Auf sei­ner ho­hen, stark­ge­wölb­ten Stirn, um wel­che sich dün­ne, graue Haar­bü­schel wun­der­lich in schma­len Strei­fen her­um­leg­ten, stan­den große Schweiß­trop­fen und perl­ten auch auf der mäch­ti­gen Ha­ken­na­se und den glatt ra­sier­ten Wan­gen, ob­wohl er sich’s nach Mög­lich­keit be­quem ge­macht hat­te. Nur eine große, beu­len­rei­che Bo­ta­ni­sier­trom­mel hing ihm an der Sei­te, doch schi­en sie nicht all­zu schwer zu sein. Den grau­en Som­mer­rock hat­te er aus­ge­zo­gen und an die Spit­ze des lei­ne­nen Son­nen­schir­mes ge­hängt, den er nach­läs­sig ge­schul­tert in der Lin­ken trug. In der an­dern Hand hielt er sei­nen brau­nen Stroh­hut, mit dem er sich flei­ßig Küh­lung zu­fä­chel­te. Denn al­ler­dings war die Luft hier zwi­schen den dich­ten, wind­stil­len Föh­ren und Bu­chen un­leid­lich heiß und sti­ckig und das Wan­dern auf der ver­reg­ne­ten Stra­ße, wo es galt, alle Au­gen­bli­cke ei­ner schlam­mi­gen La­che aus­zu­wei­chen und von ei­nem Stein­in­sel­chen zum an­dern zu sprin­gen, be­schwer­lich ge­nug. Auch wa­ren die lei­ne­nen Ga­ma­schen des al­ten Herrn un­ter den auf­ge­krämp­ten grau­en Bein­klei­dern bis hoch hin­auf be­spritzt und die Perl­mut­ter­knöpf­chen hat­ten ih­ren Glanz völ­lig ver­lo­ren.

All dies Un­ge­mach er­trug der Wan­de­rer aber mit stoi­scher Er­ge­bung, stand nur zu­wei­len auf­at­mend still und trock­ne­te sich Ge­sicht und Hals mit ei­nem großen, rot­sei­de­nen Ta­schen­tu­che, da­bei nach den Wol­ken bli­ckend, die sich in tie­fem Schwarz­blau über den Wip­feln hin­wälz­ten. Dann, als er aus dem Wal­de her­austrat und nun das Ge­wit­ter drü­ben am Ho­ri­zont in dro­hen­dem Un­ge­stüm sich her­auf­wäl­zen sah, maß er, durch die großen, run­den Bril­lenglä­ser spä­hend, die Ent­fer­nung bis zu den ers­ten Häu­sern des freund­li­chen Markt­fle­ckens, de­ren rote Dä­cher tröst­lich über die wei­ten, grell­grü­nen Wie­sen­grün­de zu ihm her­blick­ten, ver­si­cher­te sich, dass der Wind noch nicht voll ihm ent­ge­gen­stand, das Un­wet­ter also nicht ge­ra­de auf ihn los­kam, und setz­te dann in ra­sche­rem Tem­po sei­nen Weg fort, um noch vor dem ers­ten Blitz­strahl ein schüt­zen­des Dach zu er­rei­chen.

Nur eine klei­ne Vier­tel­stun­de hat­te er noch zu wan­dern und ließ jetzt die Au­gen ver­gnüg­lich über die fan­tas­tisch be­leuch­te­te Ge­gend schwei­fen, die weit ge­streck­ten Gras­hal­den, die sanft an­stei­gen­den, dun­kel­be­wal­de­ten Hü­gel und hin­ter den zer­streu­ten Häu­sern und Hüt­ten des Orts die schön ge­schwun­ge­ne Sil­hou­et­te des Hoch­ge­bir­ges, die jetzt, in wet­ter­dunkle Pur­pur­far­be gehüllt, ihm ge­gen­über lag. Men­schen und Tie­re hat­ten sich vor dem Aus­bruch des Stur­mes be­reits in Si­cher­heit ge­bracht, nur ein paar Schwal­ben schos­sen in nied­ri­gem Flu­ge über den Weg, und hoch über ih­nen schweb­te ein Raub­vo­gel, der mit aus­ge­spann­ten Schwin­gen im Äther ste­hend, das Wet­ter zu ob­ser­vie­ren schi­en, und als­bald mit ei­nem schar­fen Schrei in die hö­he­ren Re­gio­nen über dem Ge­wölk hin­auf­stieg.

Dies al­les war dem na­tur­fro­hen Auge des al­ten Herrn ein fes­seln­des Schau­spiel, so­dass er tap­fer durch die Pfüt­zen hin­stampf­te und sonst auch nicht be­ach­te­te, was auf der plat­ten Erde ihm in den Wurf kom­men moch­te. So war er denn ei­ni­ger­ma­ßen über­rascht, als er sei­nen Blick zu­fäl­lig ein­mal von den himm­li­schen Hö­hen nie­der­sin­ken ließ, nur we­ni­ge Schrit­te vor sich eine son­der­ba­re Grup­pe zu ge­wah­ren, die vor ei­nem elen­den Häu­schen, dem äu­ßers­ten und ärm­lichs­ten der gan­zen Ort­schaft, sich dar­stell­te.

Am Ran­de der schmut­zi­gen Fahr­stra­ße hock­te auf ei­nem Feld­stuhl ein jun­ger Mann in ei­ner brau­nen, kur­z­en Som­mer­jop­pe, den schwar­zen Künst­ler­hut weit in den Na­cken zu­rück­ge­scho­ben, so eif­rig mit ei­ner Mal­ar­beit be­schäf­tigt, dass er von dem her­auf­dro­hen­den Un­wet­ter, dem er frei­lich den Rücken zu­ge­kehrt hat­te, nicht das min­des­te zu ah­nen schi­en. Die Füße hat­te er auf ein al­tes Brett ge­stellt, das sie vor dem nas­sen Schlamm schütz­te, und hielt ein großes Skiz­zen­buch auf den hoch­ge­zo­ge­nen Kni­en, in wel­ches er mit dem Aqua­rell­pin­sel hin­ein­tupf­te, has­tig auf der klei­nen por­zel­la­ne­nen Pa­let­te die nö­ti­gen Far­ben aus­wäh­lend. Auf ei­nem schmut­zi­gen Sche­mel­chen zu sei­ner Rech­ten stand sein Mal­kas­ten und ein Gläs­chen mit Was­ser, ein großer Ma­ler­schirm war mit der schar­fen Spit­ze fest zwi­schen die Stei­ne der schlüpf­ri­gen Chaus­see ge­spießt.

Da­ran wäre nun nichts Ver­wun­der­ba­res ge­we­sen, dass ein jun­ger Künst­ler über ei­ner ihm wich­ti­gen Ar­beit die Ge­fahr, von ei­nem Wol­ken­bruch weg­ge­spült zu wer­den, völ­lig über­se­hen hät­te. Was den al­ten Herrn je­doch zu ei­nem halb­lau­ten Hm! Hm! und stil­lem sar­kas­ti­schen Zu­cken des fal­ten­rei­chen Mun­des ver­an­lass­te, war der Ge­gen­stand, den der eif­ri­ge Skiz­zie­rer sich er­wählt und so in sein Herz ge­schlos­sen hat­te, dass er al­les um sich her, auch die An­nä­he­rung des frem­den Wan­de­rers, un­be­ach­tet ließ.

Denn ihm ge­gen­über, auf dem un­säu­ber­li­chen Platz vor dem Bau­ern­häus­chen, nur durch einen nie­de­ren, sehr ver­fal­le­nen und mit Brenn­nes­seln über­wu­cher­ten Zaun von der Land­stra­ße ge­trennt, stand ein vom Al­ter ge­schwärz­ter, ver­wit­ter­ter Brun­nen, der sei­nen dün­nen Was­ser­strahl in einen halb ver­faul­ten, aus ei­nem Stück Baum­stamm aus­ge­höhlten Trog nie­der­rie­seln ließ. Auf dem Ran­de des­sel­ben, das Brun­nen­rohr mit dem rech­ten Arm um­klam­mernd, hat­te sich ein arm­se­li­ges Fi­gür­chen hin­ge­la­gert, ein etwa sie­ben­jäh­ri­ges Mäd­chen, dem ein zer­ris­se­nes Hemd die ma­ge­ren Schul­tern be­deck­te, wäh­rend sein in Fet­zen hän­gen­des Röck­chen die über den Rand her­nie­der­bau­meln­den dün­nen Bein­chen bis zu den Kni­en frei ließ. Das strup­pi­ge blon­de Haar hing tief über die nie­de­re Stirn her­ab, und zwei klei­ne Au­gen wa­ren starr auf den Ma­ler ge­rich­tet, der Mund aber ver­zog sich zu ei­nem blö­den Grin­sen. In der lin­ken Hand hielt sie einen zer­bro­che­nen Topf, in wel­chem sie, wie es schi­en, Was­ser zu ho­len aus­ge­schickt war. Die nack­ten Füße tru­gen die Spu­ren des ver­sumpf­ten Erd­reichs um den Brun­nen­trog her­um, und in der schwar­zen Pfüt­ze, die von dem durch­si­ckern­den Was­ser ge­bil­det wor­den war, wat­schel­te eine ma­ge­re Ente, die den Ab­fall von Kohl­blät­tern und Kar­tof­fel­scha­len, der dar­in her­um­schwamm, mit ih­rem brei­ten Schna­bel durch­wühl­te.

»Sie ha­ben sich da eine in­ter­essan­te Auf­ga­be ge­stellt«, hör­te jetzt der jun­ge Ma­ler, der nicht um­ge­blickt hat­te, hin­ter sei­nem Rücken sa­gen. »Ich sehe, dass Sie der Fort­schritts­par­tei an­ge­hö­ren und die An­sicht der al­ten grie­chi­schen Wei­sen un­ter­schrei­ben, dass auch im Schmutz das Gött­li­che woh­ne. Ich er­lau­be mir aber doch, Sie dar­auf auf­merk­sam zu ma­chen, dass wir in zehn Mi­nu­ten eine Sint­flut zu ge­wär­ti­gen ha­ben, die mehr Was­ser lie­fern möch­te, als dem eif­rigs­ten Aqua­rel­lis­ten er­wünscht sein kann.«

Der An­ge­re­de­te wand­te sich nach dem Spre­cher um. Sein hüb­sches, bräun­li­ches Ge­sicht hat­te einen fins­tern Aus­druck, die vol­len ro­ten Lip­pen un­ter dem blon­den Schnurr­bärt­chen zuck­ten, als schwe­be eine her­be Ab­fer­ti­gung des un­be­ru­fe­nen War­ners dar­auf. Ei­nen Au­gen­blick be­trach­te­te er den An­kömm­ling mit sei­nem schar­fen Ma­ler­au­ge. Als er aber kei­ne Spur ei­ner spöt­ti­schen Re­gung in dem ha­ge­ren Ge­sicht des al­ten Herrn ent­de­cken konn­te, glät­te­ten sich wie­der sei­ne ge­spann­ten Brau­en.

»Ich dan­ke Ih­nen«, warf er hin. »Das Wet­ter ist aber noch nicht so nahe.«

»Schau­en Sie nur dort im Wes­ten die kup­fer­far­be­ne Wol­ken­wand und drü­ben die blei­far­be­nen Strei­fen am Ho­ri­zont. Aber Sie schei­nen für die­se ko­lo­ris­ti­schen Rei­ze der Na­tur nicht sehr emp­fäng­lich zu sein?«

Der Ma­ler blick­te ein paar Se­kun­den lang gen Him­mel. Dann wand­te er sich ach­sel­zu­ckend wie­der zu sei­ner Ar­beit.

»Ich lie­be al­ler­dings die­se pa­the­ti­schen Sze­ne­ri­en nicht«, sag­te er, »die­se auf­ge­don­ner­ten Ef­fekt­stücke, die von künst­le­ri­schen Phra­seurs bis zum Über­druss auf den Markt ge­bracht wor­den sind. Das Ein­fa­che, Un­ge­schmink­te hat viel in­ti­me­re Rei­ze.«

»Nun«, sag­te der alte Herr, »an Ein­fach­heit lässt Ihr The­ma al­ler­dings nichts zu wün­schen, und Schmin­ke kennt Ihr Mo­dell schwer­lich auch nur dem Na­men nach. Ich möch­te nur die Na­tur in Schutz neh­men ge­gen den Vor­wurf, als sei sie eine schnö­de Ef­fekt­ha­sche­rin, die es zu­wei­len auf eine thea­tra­li­sche Ver­blüf­fung der Zuschau­er ab­ge­se­hen habe. Für mich we­nigs­tens hat so ein nai­ver Ge­wit­ter­him­mel in sei­ner bru­ta­len Ma­je­stät ge­ra­de so viel in­ti­men Reiz, wie ein blöd­sin­ni­ges Bau­ern­kind in ei­nem schmut­zi­gen Hem­de.«

Wie­der fuhr der Kopf des jun­gen Ma­lers her­um, und in den schön ge­schnit­te­nen Au­gen wet­ter­leuch­te­te ein feind­se­li­ger Arg­wohn. Das Lä­cheln auf dem al­ten Ge­sicht war aber so gut­mü­tig, dass es den auf­fla­ckern­den Zorn ent­waff­ne­te.

»Sie spot­ten, Herr«, murr­te der Ma­ler zwi­schen den Zäh­nen. »Sie sind na­tür­lich von der al­ten Schu­le, da ist es über­flüs­sig, zu strei­ten. Und Sie sind wohl über­haupt kein Künst­ler.«

»Das kann ich nicht leug­nen, mein wer­ter jun­ger Herr«, ver­setz­te der Alte und hob lang­sam den Schirm von der Schul­ter, um den Rock wie­der an­zu­zie­hen. »Ich bin Arzt, Me­di­zi­nal­rat ∗∗∗, um mich Ih­nen voll­stän­dig vor­zu­stel­len, und in die­sem Blech­ge­häu­se tra­ge ich kei­nen Mal­ap­pa­rat, son­dern ein biss­chen Wä­sche und an­dern Toi­let­ten­kram, da ich auf ei­ni­ge Tage mich frei ge­macht habe, hier drau­ßen rei­ne Luft zu at­men. Was aber Ihre Voraus­set­zung be­trifft, ich stän­de der neu­en Kun­strich­tung fremd und ohne Ver­ständ­nis ge­gen­über, so täu­schen Sie sich sehr. Schon vor drei­ßig Jah­ren und dar­über, als das Wort Na­tu­ra­lis­mus noch nicht er­fun­den war und alle Künst­ler noch zu der Fah­ne der so­ge­nann­ten Schön­heit schwu­ren, war ich be­reits ein ver­bis­se­ner Vor­läu­fer des neu­en Evan­ge­li­ums und schwärm­te für die Rei­ze des Wah­ren und Häss­li­chen.«

Der Ma­ler sah ihn groß an.

»Was mei­nen Sie da­mit, Herr – Me­di­zi­nal­rat?«

»Sehr ein­fach. Ich ar­bei­te­te an ei­nem Werk über die ver­glei­chen­de Ent­wi­cke­lungs­ge­schich­te des mensch­li­chen und tie­ri­schen Or­ga­nis­mus. Zu dem Ende mach­te ich wohl hun­dert sehr sorg­fäl­ti­ge Zeich­nun­gen mensch­li­cher Fö­tus, de­nen ich die von Hun­den und Vö­geln ge­gen­über­stell­te. Die letz­te­ren wa­ren ganz lus­tig an­zu­schau­en. Un­ter den mensch­li­chen aber fan­den sich so man­che, die ei­nem An­hän­ger der al­ten äs­the­ti­schen Schu­le ein Grau­en er­weckt ha­ben wür­den. Mich schreck­ten sie nicht von der Nach­bil­dung ab. Na­tur ist eben Na­tur; man soll kein Kost­ver­äch­ter sein, und Sie be­grei­fen nun wohl, dass mir auch das breit­mäu­li­ge, klei­ne Ge­sicht mit dem idio­ti­schen Aus­druck, das Sie da eben zu ver­ewi­gen su­chen, als eine wür­di­ge Auf­ga­be der Kunst er­scheint.«

In die­sem Au­gen­blick öff­ne­te sich die Tür des Häu­schens, und ein häss­li­ches Weib mit flie­gen­den Haa­ren, in so ver­wahr­los­tem Auf­zu­ge wie das Kind auf dem Brun­nen­trog, er­schi­en an der Schwel­le. Sie rief in kei­fen­dem Ton der Klei­nen zu, ob der Herr noch nicht bald fer­tig sei, das Wet­ter wer­de gleich los­bre­chen. In der Tat er­hob sich jetzt ein un­heim­li­ches Strahl des Brünn­chens seit­wärts über die Knie des Mäd­chens, wäh­rend auf dem Bo­den Stroh­hal­me und Keh­richt­hau­fen auf­ge­wir­belt wur­den.

Der Ma­ler er­hob sich, klapp­te Buch und Mal­kas­ten zu, gab dem Kin­de ein Stück Geld und sag­te, er wer­de mor­gen um die­sel­be Zeit wie­der­kom­men. »Es wird nun doch Ernst«, sag­te er, zu dem Al­ten ge­wen­det. »Wir tun gut, uns un­ter Dach und Fach zu brin­gen.«

»Die Mut­ter war auch kein üb­ler Cha­rak­ter­kopf«, sag­te der alte Herr mit ganz erns­ter Mie­ne, wäh­rend sie jetzt mit großen Schrit­ten dem Orte zu­eil­ten, da be­reits ei­ni­ge große Trop­fen her­abs­aus­ten. »Die soll­ten Sie sich auch nicht ent­ge­hen las­sen, Herr – dürf­te ich um Ihren wer­ten Na­men bit­ten?«

»Franz Flo­rian. Mit der Al­ten ha­ben Sie sehr recht, und ich habe sie auch schon zwei­mal skiz­ziert. Wenn es Sie in­ter­es­siert –«

Er woll­te im Ge­hen sein Buch öff­nen.

»Wir wer­den es im Wirts­haus be­que­mer ha­ben, Ihre Stu­di­en durch­zu­se­hen«, wehr­te der Alte mit freund­li­chem Lä­cheln ab. »Sie schei­nen hier sehr flei­ßig ge­we­sen zu sein, und da es die­ser Ge­gend, ob­wohl sie vor­wie­gend mit ei­nem wohl­ha­ben­den Bau­ern­schlag be­völ­kert ist, auch an ver­küm­mer­ten Exis­ten­zen nicht fehlt, wer­den Sie in Schmutz und Häss­lich­keit or­dent­lich ge­plät­schert ha­ben. Ich be­wun­de­re Ihren Mut und Ihre Aus­dau­er. Die Kehr­sei­te der Na­tur und der mensch­li­chen Ge­sell­schaft ist ja ge­wiss sehr an­zie­hend, und es ist des Schwei­ßes der Ed­len wert, ihr end­lich auch künst­le­risch zu ih­rem Recht zu ver­hel­fen. Aber selbst die Ka­min­keh­rer pfle­gen sich we­nigs­tens am Sams­tag zu wa­schen, und es gibt doch auch so man­che ap­pe­tit­li­che Din­ge in der Welt, die nicht ganz zu ver­ach­ten sind. Vor al­lem, mein jun­ger Freund, neh­men Sie sich vor Ita­li­en in acht. Da könn­ten Sie am Ende doch noch zu ei­nem Schön­heits­rausch kom­men, der Ih­nen her­nach die schöns­ten deut­schen Trot­tel ver­lei­de­te.«

Der Ma­ler run­zel­te die Stirn. Ein Seuf­zer kam ihm von den Lip­pen.

»Die­sen Rausch habe ich be­reits durch­ge­macht«, sag­te er mit dump­fer Stim­me. »Ich war zwei Jah­re in Ita­li­en, erst wie im sie­ben­ten Him­mel, dann von Tag zu Tage trost­lo­ser und ver­zwei­fel­ter. Schön­heit? Ja wohl, die läuft dort auf den Gas­sen her­um, und in den Kir­chen und Ga­le­ri­en sieht man sie in so aus­bün­di­gen Exem­pla­ren, dass man aus der Haut fah­ren möch­te. An­fangs dacht ich, un­ser­eins kön­ne es mit gu­tem Wil­len und hart­nä­cki­gem Fleiß auch zu et­was brin­gen, und ko­pier­te, kom­po­nier­te, skiz­zier­te auf Teu­fel­ho­len. Be­sah ich mir dann die Na­tur, etwa in ei­nem rö­mi­schen Mo­dell mit ih­rem Ju­no­nacken und der Bron­ze­haut, oder im Palaz­zo Bor­ghe­se und dem Va­ti­kan die be­rühm­ten Wun­der­wer­ke in Gol­d­rah­men oder an Wand und De­cke – da knirsch­te ich mit den Zäh­nen über mei­ne Ohn­macht. End­lich warf ich Pin­sel und Pa­let­te in den Kof­fer und reis­te mit Scheu­klap­pen über den Bren­ner zu­rück nach Hau­se. Ich brach­te aus dem ge­lob­ten Lan­de nichts zu­rück als die kla­re Er­kennt­nis, dass das Lied­chen von der Schön­heit zu Ende ge­sun­gen ist von glück­li­che­ren Vor­fah­ren un­ter ei­nem gna­den­rei­che­ren Him­mel, und dass wir, wenn wir nicht ein für al­le­mal das Maul hal­ten, son­dern auch zu Wor­te kom­men wol­len, in ei­ner ganz an­dern Ton­art uns hö­ren las­sen müs­sen. Sie se­hen, ver­ehr­ter Herr, ich ver­ach­te die Schön­heit durch­aus nicht. Ich hal­te die Trau­ben dar­um nicht für sau­er, weil sie mir zu hoch hän­gen. Aber um nicht zu ver­durs­ten, fin­de ich es ver­nünf­tig, mich auf die Fa­bri­ka­ti­on von Äp­fel­wein zu ver­le­gen. Oder nein, das Gleich­nis hin­kt. Was wir heu­te Kunst nen­nen, hat den glei­chen Wert, wie die vom Cin­que­cen­to. Jede Pe­ri­ode hat ihre eig­ne Auf­ga­be, die Al­ten brach­ten das Schö­ne auf den Gip­fel der Vollen­dung, uns­re Auf­ga­be ist das Cha­rak­te­ris­ti­sche. Und ei­gent­lich«, fuhr er sich stei­gernd fort, »eine ab­so­lu­te, al­lein se­lig ma­chen­de Schön­heit gibt es ja auch nicht. Selbst Ti­zians Ve­nus­se sind kon­ven­tio­nel­le Sche­men, und die Ve­nus der Äthio­pi­en braucht sich nicht zu ver­krie­chen, wenn man nur nicht mit klas­si­schen Vor­ur­tei­len vor sie hin­tritt. Denn nicht nur gut und böse sind blo­ße Be­grif­fe, son­dern auch schön und häss­lich; die Na­tur weiß nichts da­von, un­ser Den­ken macht erst den Un­ter­schied. Das ist mein Cre­do, und seit ich dem­nach lebe, bin ich wie­der zu­frie­den in mir, ohne Verzweif­lungs­an­fäl­le, ohne den Kat­zen­jam­mer, der auf den un­frucht­ba­ren Schön­heits­rausch un­fehl­bar zu fol­gen pflegt.« »Ein je­der tut eben, was er nicht las­sen kann«, be­merk­te der alte Herr tro­cken. »Ich sehe, Sie ha­ben sich’s recht wa­cker an­ge­le­gen sein las­sen, aus der Not eine Tu­gend zu ma­chen, und wenn ein Lehr­stuhl der neu­en Äs­the­tik an ei­ner Uni­ver­si­tät oder Aka­de­mie er­rich­tet wird, wä­ren Sie be­fä­higt, Ihre Dok­trin recht über­zeu­gend vor­zu­tra­gen. Am Ende ist das auch noch ein­mal Ihre Zuf­lucht, wenn das Pub­li­kum, das im­mer noch von den ver­al­te­ten Vor­ur­tei­len nicht los­kommt, Ih­nen Ihre Bil­der nicht ab­kauft und lie­ber ein hüb­sches, dral­les De­freg­ger­sches Bau­ern­mäd­chen sich ins Zim­mer hängt, trotz des kon­ven­tio­nel­len Lä­chelns und des man­geln­den Frei­lichts, als Ihre klei­ne cha­rak­te­ris­ti­sche Kre­ti­ne auf dem Brun­nen­trog.«

»Ich ver­zich­te auf den Bei­fall und Zu­lauf der stumpf­sin­ni­gen Men­ge«, ver­setz­te Franz Flo­ri­an mit ei­ner groß­ar­ti­gen Ge­bär­de. »Zum Glück habe ich ein klei­nes Ver­mö­gen von mei­nen gu­ten El­tern ge­erbt, das mir er­laubt, mei­nen Über­zeu­gun­gen treu zu blei­ben.«

»Das ist sehr er­freu­lich, lie­ber Herr. Mir wäre sonst doch ein we­nig um Ihre Zu­kunft ban­ge, wie ich denn auch selbst mit mei­nem At­las über die ver­glei­chen­de Ana­to­mie der Fö­tus si­cher hät­te bet­teln ge­hen kön­nen, wenn mei­ne Pra­xis mir nicht zu le­ben ver­schafft hät­te. Was aber das Gros der Na­tu­ra­lis­ten und Frei­licht­ma­ler be­trifft, so hof­fe ich, der Staat wird über kurz oder lang sei­ne Auf­ga­be er­ken­nen, die­sen treff­li­chen Leu­ten Klös­ter zu bau­en.«

»Klös­ter?«

»Ich fin­de näm­lich, dass sie sich vor­züg­lich zur Ab­le­gung der drei Mönchs­ge­lüb­de qua­li­fi­zie­ren: Ar­mut, Ge­hor­sam, Keusch­heit. An Ar­mut wird’s ih­nen, wie ge­sagt, nicht feh­len, wenn es auch zu­nächst kei­ne ganz frei­wil­li­ge wäre, je­den­falls sind vie­le dar­un­ter auch arm an Geist. Ge­hor­sam ge­gen die Schul­theo­ri­en steckt ih­nen im Blut, und was die Keusch­heit be­trifft – da sie ihre Mo­del­le un­ter den von der Na­tur Ver­nach­läs­sig­ten zu su­chen pfle­gen, sind ihre Frau­en­bil­der rech­te Mit­tel ge­gen die Lie­be. So­dass schon um ih­res sitt­li­chen Ein­flus­ses wil­len der Staat ver­pflich­tet sein soll­te, sie bis an ihr Le­bens­en­de vor Nah­rungs­sor­gen zu schüt­zen und zu flei­ßi­gen gu­ten Wer­ken ih­rer Kon­fes­si­on ih­nen die nö­ti­ge Muße zu schaf­fen.«

Die­se län­ge­re Rede, in so ru­hi­gem Ton sie auch vor­ge­tra­gen wur­de, ließ kei­nen Zwei­fel dar­über, dass in dem al­ten Herrn ein sa­ti­ri­scher Schalk steck­te, dem es mit sei­ner Zu­stim­mung zu den künst­le­ri­schen Grund­sät­zen sei­nes neu­en Be­kann­ten von An­fang an nicht Ernst ge­we­sen war. Die hef­ti­ge Er­wi­de­rung aber, die dem jun­gen Ma­ler auf der Zun­ge brann­te, wur­de noch zur rech­ten Zeit, um einen un­frucht­ba­ren Zank zu er­sti­cken, ab­ge­schnit­ten. Denn ge­ra­de in die­sem Au­gen­blick riss die ge­wal­ti­ge dunkle Wol­ken­mas­se zu Häup­ten der bei­den Wan­de­rer kra­chend ent­zwei. Blitz und Wet­ter­schlag folg­ten ein­an­der in atem­lo­ser Hast, und ein Sturz­re­gen pras­sel­te nie­der, der die auf­lo­dern­de äs­the­ti­sche Zor­nes­flam­me er­stick­te.

Zum Glück war das Gast­haus zur Post, nach wel­chem sie hin­streb­ten, in ei­nem kur­z­en Wett­lauf über den lee­ren Markt­platz er­reicht. Au­fat­mend und die trie­fen­den Schir­me schüt­telnd, selbst aber leid­lich tro­cken, be­tra­ten die bei­den Ge­bor­ge­nen das Gast­zim­mer, in wel­chem nur we­ni­ge durch das Wet­ter zu­rück­ge­hal­te­ne Bau­ern schläf­rig bei ih­ren Bier­krü­gen sa­ßen, und wand­ten sich so­fort dem in­ne­ren Ver­schla­ge, dem so­ge­nann­ten Her­ren­stü­bel zu, das völ­lig leer war. Die statt­li­che Wir­tin be­grüß­te sie höf­lich, ih­nen Glück wün­schend, dass der Wol­ken­bruch sie nicht auf frei­em Fel­de über­rascht habe, und frag­te, wo­mit sie ih­nen auf­war­ten kön­ne. »Zu­nächst mit ei­ner Tas­se Kaf­fee«, er­wi­der­te der alte Herr; und ob in ih­rem Hau­se noch ein gu­tes, ru­hi­ges Zim­mer frei sei. Er ge­den­ke, et­li­che Tage, viel­leicht eine Wo­che sich hier auf­zu­hal­ten. Die Frau, die für den jo­via­len und rit­ter­li­chen Grau­kopf so­fort eine leb­haf­te Ver­eh­rung emp­fand, ver­si­cher­te, er wer­de un­ter ih­rem Da­che aufs bes­te auf­ge­ho­ben sein, und ver­ließ, da auch ihr jün­ge­rer Lo­gier­gast Kaf­fee be­stell­te, hur­tig das Zim­mer, um die Her­ren nicht war­ten zu las­sen.