Marla in den Dunkeltannen - Benjamin Beller - E-Book

Marla in den Dunkeltannen E-Book

Benjamin Beller

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Beschreibung

In einer Zeit, als noch Pferdekarren über die Feldwege fuhren, wohnen ein Mädchen namens Marla und ihr kleiner Bruder Piet mit ihrem Vater in der Abgeschiedenheit am Rande eines Waldes. Die Mutter verschwand, als die Kinder noch klein waren. Als eines Tages auch der Vater nicht mehr aus dem Wald zurückkommt, sind die Kinder auf sich allein gestellt. Marla muss einen Entschluss fassen und sich den dunklen Tannen hinter dem Haus stellen. Hinter dem Wald finden die Kinder eine bizarre, verwunschene Welt, in der absurde Wesen sie auf ihrer Suche nach ihren Eltern begleiten und an ihrer Seite gegen König Dicho, den Unterdrücker aller Völker kämpfen. Auf dem Weg zu seinem Schloss erleben die Kinder fantastische Abenteuer und lernen eine raue und urkomische Welt voller Magie und Geheimnisse kennen. Marla muss auf dieser Reise über sich selbst hinauswachsen. Nur sie kann in den sagenumwobenen Traumstrudel springen und so das Geheimnis ihrer eigenen Herkunft lösen. Ein Buch voller Spannender Begegnungen und absurdem Humor.

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Seitenzahl: 574

Veröffentlichungsjahr: 2021

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Inhaltsverzeichnis

Prolog

DIE HÜTTE AM WALDESRAND

DIE SUCHE

IM WALD

AUF DER ANDEREN SEITE

IM NEBEL

DIE SCHENKE IM WALD

MARLAS SPIEL

ÜBER DAS MEER

DIE GESCHICHTEN VON AROS

PELSO

BALAM UND BAM

DURCH DEN FELS

OGHI

AYOS

SHZED

ANTOS

BUFO

SERESA

OLJADHOBNOM

EREMIT

DER TEMPEL

DICHO

IM VERWUNSCHENEN WALD

DIE UNVERSEHRLICHEN

FRIEDEN ÜBER DER WELT

Epilog

Prolog:

Der Wald stand still in seinem Glanze, verborgen lag in seinem Schoss, des fremden Wesens Lichtertanze, es ließ ihn nimmer wieder los.

Die Waldeshex im Sumpf verschwand, unter grünen Algenmatten, Dämonen schwanden unerkannt, zwischen langer Bäume Schatten.

Er blickte sich noch einmal um, war es in Wahrheit nur ein Traum? Doch thronte dort nur still und stumm, ein schweigend‘ Meer von Baum an Baum.

Ihr Vater hatte ihr erzählt, dass sie niemals hinter die zweite Senke im Wald gehen dürfe. Bis dorthin könne sie den Spuren der Waldtiere folgen, mit ihrem Bruder spielen, oder einfach durch das Dickicht streichen, ohne bestimmtes Ziel. Aber hinter die zweite Senke, so hatte ihr Vater gesagt, dürfe sie nicht gehen, denn dahinter gab es einen Ort, an dem der Wald einen verschluckte und nicht mehr herausgab. Wenn er so sprach, dann blieb er mitten im Spaziergang einfach stehen und schaute in die Richtung, vor der er seine Tochter gewarnt hatte. Marla schaute in diesen Momenten immer zu ihrem Vater hoch in das bärtige, gütige Gesicht, versuchte, dessen Ausdruck zu deuten und schwieg, da sie wusste, dass er nicht mehr dazu sagen würde, auch wenn es sicherlich viel gegeben hätte, was dazu zu sagen gewesen wäre. So standen sie dann jedes Mal nur eine Weile schweigsam da und der Vater wiederholte seine Warnung von dem Wald hinter der zweiten Senke und schaute dorthin, vollständig in seinen Gedanken verloren. Aber Marla sah in seinem Gesicht nicht nur die Furcht vor dem was hinter der Senke war, sondern auch einen Schein von Sehnsucht und eine Art von Schmerz, wie ihn nur jemand empfindet, der etwas Wichtiges dort draußen verloren hatte.

1. DIE HÜTTE AM WALDESRAND

Sie konnte nicht verstehen, was der Vater gesagt hatte, da der Wind es in seiner heulenden Klage verschluckte.

Sie drehte sich um, sah aber nichts als den strömenden Regen, weißen Dunst und im Hintergrund dunkle, hohe Schatten, wo der Wald anfing. Sie kniff ihre grünen Augen, die vom kalten Wind schmerzten, zusammen und vergrub ihr Gesicht, so tief es ging, in ihrer Weste. Sie wartete und wagte es nicht, sich im knietiefen Matsch umzudrehen und dem abendlichen Sommersturm ins Gesicht zu schauen.

Schließlich schälte sich aus den Schatten der Tannen eine große und starke Gestalt heraus, der etwas über die Schulter hing. Der Schatten wurde zu ihrem Vater, über seine Schulter ein erlegter Hase. In der rechten Hand hielt er die Jagdflinte, die den Hasen zur Strecke gebracht hatte. Sein fester Ledermantel und sein dichter Bart, der sein schmales, aber kantiges, vom Wetter gezeichnetes Gesicht fast vollständig bedeckte, waren voller Gestrüpp und Erde. Marlas Vater war kein reicher Mann, aber er hatte einige wertvolle Dinge, über deren Herkunft er nie sprechen wollte. Da Marla und ihr Bruder Piet ihren Vater nur auf diese schweigsame Art und Weise kannten und die Erinnerung an die Mutter schon fast gänzlich verblasst war, hatten sie nicht weiter hinterfragt, woher der Vater diese sonderbaren Gegenstände haben mochte. Das Auffälligste war ein brauner Ledergürtel, der ihm stets um die Taille gebunden war, wenn er das Haus verließ.

In diesem Gürtel waren acht funkelnde Edelsteine in einem besonderen Muster eingenäht. Den Gürtel legte er außerhalb des Hauses niemals ab, nur wenn er in die Stadt ging, um das geschlagene Holz zu verkaufen, warf er stets seinen Mantel darüber, so dass die Edelsteine nicht sichtbar waren, denn es lief viel Gesindel dort herum und er fürchtete Überfall und Diebstahl. Hier draußen aber, in der ländlichen Abgeschiedenheit, traf man kaum je eine Menschenseele außer den Nachbarsleuten, Siegfried und Rosemarie vom Gehöft nebenan.

„Du hast etwas vergessen“, wiederholte der Vater seine Worte und dieses Mal konnte sie seine sonore Stimme klar verstehen. Er griff in seine linke Manteltasche, holte eine große, braunweiße Feder heraus und hielt sie Marla vors Gesicht.

„Die habe ich im Wald, etwa zehn Schritte von hier gefunden.

Für die Indianer ist es eine große Ehre, vom Häuptling eine schöne Adlerfeder geschenkt zu bekommen“. Der Vater schaute ihr unbewegt ins Gesicht und Marla hielt dem Blick mühelos stand. Hatte sein Mundwinkel soeben leicht gezuckt? Die beiden schauten sich ein paar Momente an, ohne etwas zu sagen, während der Sturm sie umtoste.

Dann grinste Marla und auch ihr Vater konnte seine ernste Miene nicht mehr aufrechthalten, lächelte und zwinkerte ihr liebevoll zu.

„Oh Vater! Meinst wohl ich kann einen Adler nicht von einer Eule unterscheiden!“. Er lächelte und nickte anerkennend, gab ihr die Feder, legte seine starke Hand auf ihre Schulter und wandte sich mit ihr zum Gehen. Als Marla sich vom Wald abwandte und sich in Richtung ihres Hauses drehte, peitschte ihr der tollwütige Sturmregen wie mit einer dünnen Rute Furchen ins Gesicht und sie konnte kaum die Augen offen halten. Vor ihr sah sie schemenhaft die dunklen Umrisse des Elternhauses. Ein Feuerschein flackerte in der Stube.

Sie wusste, dass ihr kleiner Bruder Piet dort schon ungeduldig auf sie und ihren Vater wartete und von Zeit zu Zeit unruhig durch das Fenster zum Wald schaute. So mühten sich Marla und ihr Vater, langsam und mit bedächtigen Schritten, durch den Morast der Haustür entgegen, hinter der das wohlige Kaminfeuer auf die beiden wartete.

Nachdem Marla Mantel und Stiefel abgelegt und der Vater Hasen und Flinte in der Kammer verräumt und sich ebenfalls der nassen Kleidung entledigt hatte, saßen sie zu dritt am Esstisch. Piet hatte Kartoffeln gekocht und Salzfische aus der Vorratskammer geholt, die der Vater im nahen Weiher im Wald gefangen hatte. Dem Vater hatte Piet eine blecherne Kanne mit starkem Kaffee gekocht, für seine Schwester und ihn hatte er aus getrocknetem Pfefferminz einen leichten Tee bereitet. Draußen war es längst dunkel geworden, aber der Sturm heulte noch immer und die Bäume des nahen Waldes rauschten und knackten.

Die Nacht senkte sich herein und der Vater hatte sich in der Stube auf die lange, hölzerne Truhe vor dem nur noch schwach glühendenden, offenen Kamin gelegt.

Diese Truhe kam aus einem fernen Land, war ganz schwarz und auf der Vorderseite waren fremdartige Skulpturen, Gesichter und Leiber von froschartigen Tieren mit großen Augen, Wassernixen und andere Meerestiere mit langen Fangarmen ins harte Holz geschnitzt. Oft betrachtete Marla die Schnitzereien im Holz und fragte sich, aus welchem Märchen diese Skulpturen entsprungen waren. Marla liebte Märchen, denn sie waren die einzigen Geheimnisse hier draußen. Sie spürte eine geheimnisvolle Magie in ihrer Nähe, wenn sie zwischen den Bäumen ging. Der Wald war Marlas Leben. Ein Teil davon war in die Obhut des Vaters gegeben worden. Er hieb dort sein Holz und hatte den Auftrag, über den Wald zu wachen. Man nannte ihn scherzhaft Heinrich, den Waldschrat, weil er in jedem Winkel umherstreifte und Sorge trug, dass das Totholz entfernt wurde und keinen Wanderer auf den vorgesehenen Pfaden traf, dass Wildschweine und Rehe nicht überhandnähmen und Schädlinge den Bäumen fernblieben. Doch abends, wenn es Schlafenszeit wurde, verließ er diese Welt, breitete eine dicke Wolldecke über das glatte, glänzende Schwarz der Truhe und legte sich darauf.

Es schien, als müsste er auf dem eigenartigen Möbelstück schlafen, um sich zu vergewissern, dass es auf der Welt noch mehr gäbe, als den Wald und das Haus. Piet meinte hingegen, die Truhe hätte sicherlich einmal einer Hexe gehört, die nachts von dem Vater Besitz ergriff und ihn in seinen Träumen auf das große Walpurgisfest einlade, wo er mit den vermaledeiten Kreaturen feierte. Dem Jungen war die Truhe mehr als unheimlich und er lief stets in gebührendem Abstand und mit argwöhnischem Blick auf die eingekerbten Fratzen an ihr vorbei. Einmal hatte er den Vater darauf angesprochen, hatte ihn gefragt, ob er des Nachts mit der Welt der Dämonen im Bunde sei, aber der Vater hatte nur gelacht, war Piet mit der Hand durchs strohblonde Haar gefahren und hatte nichts weiter dazu gesagt.

Die Kinder schliefen in den beiden Kammern unter dem Dach, den beiden anderen Zimmern des Hauses.

Manchmal schliefen sie auch zu dritt in der Stube oder der Vater blieb nachts bei einem der Kinder, aber in letzter Zeit war es der heranwachsenden Marla in ihrem vierzehnten Lebensjahr zunehmend wohler, ein Schlafzimmer für sich allein zu haben.

2. DIE SUCHE

Am nächsten Morgen hatte sich der Sturm vollständig gelegt.

Der Himmel beschirmte die stille Sommerlandschaft mit klarblauem Frieden. Die Sonne erholte sich von der tobenden Umfesselung, die sie tagelang umschlossen hatte.

Ihre Strahlen tauchten den Garten in grelles Licht, dass einem bei dem Anblick die Augen schmerzten. Müde und erschöpft klangen leise die silbernen Röhrchen des Windspiels an der alten Eiche aneinander. Ein Buntspecht und ein Klaiber hopsten verschlafen und träge darunter herum. Marla stürzte freudig zum schrägen Fenster ihrer Dachkammer und schaute in den Garten in eine Welt vollendeter Schönheit.

Im Hintergrund stand hoch und still der dunkle Wald und wartete darauf, von Marla und ihrem Vater durchstreift zu werden. Vater! Ja, wo war er denn eigentlich? Sicher war es längst auf den Beinen und in den Wald gegangen. Marla war enttäuscht, obwohl sie wusste, dass Piet nicht gerne allein im Haus war. Heute war Sonntag, sie mussten nicht in die Schule und Marla wäre liebend gerne auf die Jagd gegangen oder hätte Tierspuren gelesen. Der Vater machte dann vielerlei Vogelrufe und bekam meist sogar eine Antwort oder er erklärte den Kindern, welch unterschiedliche Abdrücke von welchen Tieren stammten.

In freudiger Erwartung stürmte Marla die hölzerne Treppe herunter, sich bemühend, vor Hast und Ungeduld nicht den Halt zu verlieren. Sie fasste mit der rechten Hand den hölzernen Pfosten, der die Treppe im Erdgeschoss enden ließ, drehte sich auf dem rechten Bein um ihn herum und hüpfte vom Treppenabsatz in den Flur und weiter durch die Stubentür. Ihr Vater war nicht da. Seine braune Wolldecke lag ordentlich zusammengefaltet auf der Truhe. Marla schaute in die Kammer, wo er neben den Speisen noch seine Waldwerkzeuge aufbewahrte. Seine große Axt und eine lange Säge fehlten und sein Beutel war auch nicht da.

Sie vertrieb sich eine Weile die Zeit, indem sie in der Stube Ordnung schaffte und mit einem großen Reisigbesen die hölzernen Bodendielen fegte. Piet kam etwas später mit seinem Stoffhund im Arm schlaftrunken und übellaunig die Treppe heruntergetaumelt und setzte sich mit hängenden Augenlidern an den Tisch. Die Abwesenheit des Vaters schien ihn nicht sonderlich zu beunruhigen, stattdessen verlangte er lautstark nach einem Becher voller heißer Milch.

„Bist selbst groß genug, um dir Essen und Trinken zu machen“, meinte Marla bestimmt, und weiter: „du musst nicht meinen, du solltest nur im Haushalt helfen, wenn kein anderer da ist, der die Arbeit für dich erledigt.“ Sie hob streng die Augenbrauen und blickte ihren Bruder erwartungsvoll an.

„Ist der Vater Holz schlagen?“ erwiderte Piet mit noch vom Schlafe heiserer Stimme, ohne auf die Aufforderung seiner Schwester einzugehen. Marla zögerte einen Moment lang, während sie mit einem sorgenvollen Blick aus dem Fenster den Besen langsam in die Ecke stellte.

„Gewiss“, sagte sie rasch und etwas kühler, als sie beabsichtigt hatte, „er wird bald wieder hier sein“.

Doch zur Mittagsstunde war der Vater immer noch nicht zurück. Von Minute zu Minute wurde sie nervöser und unruhiger, ihre Bewegungen fahriger und ungeschickter.

Schließlich saß sie nur noch am Tisch in der Stube und schaute sehnsüchtig aus dem Fenster in Richtung des Waldes.

Er würde wiederkommen. Ganz bestimmt.

Piet hatte sich eine Weile lang mit seinen Spielfiguren und Stofftieren beschäftigt, hatte auf der Truhe gelegen und faul vor sich hingeträumt. Hin und wieder hatte er ein Liedchen gesummt und Belanglosigkeiten von sich gegeben, wie:

„Nicht wahr, Marla, es ist gut, dass wir heute nicht in die Schule müssen“, oder: „Ich möchte endlich mal alleine auf Siegfrieds großem Gaul reiten, meinst du, der Vater lässt mich mit ihm aufs Feld, da ich schon zehn bin?“ Dann legte er sich auf der Truhe zurück, starrte an die Decke und malte sich in den buntesten Farben aus, wie er allein auf dem hohen Ross, vorbei an goldenen Weizenfeldern durch die strahlende Sommersonne schoss, gefolgt von den bewundernden Blicken der Landleute, die auf dem Weg in die Stadt und zurück waren. Marla in ihrer Sorge, die sich langsam in das kalte Spinnentier der Angst wandelte, das mit dünnen, pieksenden Fingern nach ihr griff, brachte als Antwort nicht mehr heraus, als:

„Hm…hm“, „Ja, s’ist schon gut,“ oder: „kann schon sein“.

Doch als der Vater zur Kaffeestunde und zum Abendbrot noch immer nicht zurückgekehrt war und es langsam dunkel wurde, wurde auch Piet immer stiller und stiller, ließ das Spielzeug liegen und starrte die Decke an, als sei der Vater dort oben zu finden. Schließlich konnte Marla die Untätigkeit nicht mehr länger ertragen, schnappte sich ein Windlicht, zog sich ihre Filzjacke an und lief eilig zum Nachbarhof. Der Hof lag dunkel und verlassen da. Sie pochte so laut sie konnte gegen die Haustüre. Dann rief sie, zuerst leise und schüchtern, dann immer lauter. Doch nichts tat sich.

Offensichtlich waren die Bauersleute heute Nacht bei Verwandten im Weidental untergekommen. Marla dachte angestrengt nach. Der Mond war eine von Wolken verdeckte, runde Scheibe. Sie ging noch einmal ums Haus herum zum Stalltor, doch im Stall war es ruhig. Kein Pferd stand bereit, mit dem sie Hilfe holen könnte und zum Laufen war es viel zu weit in Dunkelheit und Kälte. Für den Moment blieb ihr nichts anderes übrig, als kehrt zu machen und zurück ins Haus zu gehen.

Piet schoss von der Truhe hoch, als er hörte, dass die Haustür ging und überfiel Marla mit einem Trommelfeuer an Fragen.

„Was ist mit den beiden? Haben sie den Vater gesehen, geht es ihm gut?“ Marla hob, zur Ruhe gemahnend, die Hände.

„Es ist keiner da, Piet, wir müssen bis morgen warten und dann nach ihm suchen.“ Piet wollte sich damit nicht zufrieden geben.

„Aber Marla, was ist, wenn er Hilfe braucht?“

„Der Vater kommt dort draußen zurecht, Piet, das weißt du.

Er war schon früher tagelang auf der Jagd, weißt du noch?

Wir waren kleine Kinder und er war viele Tage fort.

Der Siegfried und die Rosi haben dann auf uns aufgepasst.

Sicherlich ist er wieder mit anderen zum Jagen gegangen oder er hatte wegen dem Sturm viel Holz wegzuräumen und arbeitet jetzt weiter oben im Wald auf den Bergen mit den Männern von der Stadtverwaltung. Vielleicht wurden sie von der Nacht überrascht und müssen nun in einer Schutzhütte die Nacht verbringen. Morgen, gleich wenn es hell wird, werden wir ihn suchen.“ Piet schaute zu Boden und sagte leise:

„Aber versprich mir eins: Wenn er nicht mehr zurückkommt, gehen wir nicht in ein Kinderheim.“ Marla versprach es ihrem Bruder.

In dieser Nacht war der Himmel kalt und klar und Marla schaute von ihrem Bett aus durch ihr Dachfenster in die Sterne und konnte keine Ruhe finden. Irgendwann hatte Piet an ihre Tür gepocht und war wortlos zu ihr ins Bett gekrochen, wie früher, als er ein kleines Kind war und sich vor der Dunkelheit gefürchtet hatte. Jetzt, in ihrer Nähe, hatte er zumindest in einen unruhigen, von wirren Träumen erfüllten Schlaf gefunden. Er gab von Zeit zu Zeit unbestimmte Laute und Seufzer von sich oder wälzte sich hektisch hin und her.

Marla lag hellwach neben ihm. Was würde aus ihnen werden?

Als ihr letzten Endes doch noch die Augen zufielen, sah sie im Schleier ihres Halbschlafes wieder das vertraute Gesicht, das ihr schon lange nicht mehr erschienen war. Sie wusste, dass es die Mutter war, obwohl sie dieses Gesicht in ihren Träumen nie richtig erkennen konnte. Sie wusste nur, dass es da war. Es lag in einem glitzernden, hellen Schimmer und es kam ihr vor, als würde sie ein in der Sonne spiegelndes Gewässer durch ein Kaleidoskop betrachten. Die funkelnden, bruchstückhaften Lichtpunkte tanzten in grünlichbraunen und freundlichen, hellen Farben vor ihrem Auge umher.

Plätschernde Geräusche drangen an ihr Ohr, es rauschte der Wind in den Blättern naher Bäume und gelbbraunes Herbstlaub fiel auf das Wasser und schwamm vor dem wunderschönen Gesicht. Die blassen Lippen lächelten Marla liebevoll an, die waldgrünen Augen, dieselben Augen, die auch Marla hatte, blickten sanftmütig aus dem Wasser nach oben, das dunkelbraune, lange, lockige Haar schwamm ausgebreitet wie ein Fächer im Wasser.

„Sieh nur, Marla“, sagten die Lippen mit einer sanften, zärtlichen Stimme, ohne sich zu bewegen. „Sieh nur wie erwachsen du schon geworden bist. Du musst Entscheidungen treffen und dir selbst vertrauen, dass es die richtigen sind.

Lange konnten die Welten getrennt sein, doch jetzt fühlen wir alle, dass es ein Ende haben muss. Ob zu unserer Erlösung oder zu unserem Verderben, das wissen wir nicht. Aber weil wir Menschen sind und die Hoffnung immer in uns wohnt, werden wir es darauf ankommen lassen müssen und das Schicksal, das für uns vorgesehen ist, müssen wir annehmen.“

Dann verschwand das Spiegelbild des geheimnisvollen Wesens und zerfiel in einen Vorhang glitzernden Lichtes.

*

Sie hatten sich zum Frühstück mit frischen Eiern und Butterbroten, Käse und geräuchertem Schinken gestärkt.

Dann hatten sie ihre Hemden und Westen, ihre robusten, langen Lederhosen und Lederstiefel angezogen und ihre Beutel mit Proviant geschultert. Nun standen sie nebeneinander vor den hohen Tannen und schauten auf die Stelle, an der ein kleiner Pfad den Eingang des Waldes markierte. Es war die Pforte zu einer bedeutungsvollen Erkenntnis, das fühlte Marla. Plötzlich hörten sie vom Nachbarhof ein lautes Rufen. Siegfried, ein älterer, aber von harter Arbeit zu sehniger Gestalt geschmiedeter Bauer, humpelte eilends mit buckligem Rücken zu ihnen heran.

Er trug sein schmutziges Stallhemd und eine graue, lange Stoffhose. Wohl hatte er die beiden vom Küchenfenster aus gesehen.

„Halt Kinder!“ rief er laut aus und zog sein kaputtes Bein, das bei einem Unfall in die Deichsel seines Pferdewagens geraten war, so rasch er konnte, nach. Schließlich blieb er schwer atmend vor Ihnen stehen. Er fuhr sich schwitzend mit seinen groben Händen durch die grauen Haare und den grauen Schnauzbart, stützte sich dann mit beiden Händen auf sein noch gesundes Knie und stand schief vor ihnen.

„Wo ist denn euer Vater, Kinder?“ fragte er keuchend.

„Ich wollte heute mit Heinrich ins Holz gehen, der Sturm hat gute, frische Stämme umgelegt, so sparen wir uns etliche Axtschläge. S’ist ein herrliches Wetter, um ins Holz zu gehen.“

„Unser Vater ist losgegangen und wird wohl bald zurück sein.

Dann wird er bei dir vorbeikommen und ihr könnt mit euren Pferden die großen Stämme aus dem Wald ziehen.“

Siegfried schaute die beiden etwas argwöhnisch an.

„Ich sehe keine frischen Spuren in den Wald führen und diese sind wenigstens einen Tag alt und gestern war er nicht in der Sonntagsmesse. Na ich weiß ja, dass er nicht immer Zeit hat, aber für den Herrgott muss man sie sich doch nehmen.

Und warum seid ihr beiden nicht längst auf dem Schulweg?

Ihr werdet euch noch großen Tadel einfangen, wenn ihr nicht gleich loszieht. Ihr könnt meinen Pferdekarren nehmen.“

„Der Vater ist weiter nördlich der Spur einer Hirschkuh gefolgt, die dort in den Wald gezogen ist“, log Marla „und wir müssen heut nicht in die Schule, da es Masern gegeben hat unten im Weidental bei einigen Kindern.“ Siegfried stutzte.

„Jaja, das hab ich wohl gehört mit den Masern“, murmelte er in sich hinein. Marla wusste, dass er es nicht gehört hatte, es aber nicht eingestehen wollte, da er viel darauf hielt, immer der Erste zu sein, der bei den Dorfratschen den neuesten Tratsch erfuhr.

„Die Masern, soso,“ sagte er noch einmal, schaute sie dabei misstrauisch an, machte dann kehrt und humpelte in Richtung seines Hofes zurück, nicht ohne noch vorher über die Schulter zu rufen: „Er soll sich bei mir melden, wenn er zurück ist.

Das ist ein herrliches Wetter zum Holz holen!“ Marla und Piet sahen ihm lange nach.

„Meinst du, es war eine gute Idee, ihn wieder fortzuschicken?“ fragte Piet. Marla nickte.

„Ich habe dir versprochen, dass wir nicht in ein Kinderheim gehen, wenn der Vater nicht mehr zurückkommt.

Deshalb wollen wir es erst niemandem sagen und selbst nach ihm suchen. Ich finde ihn ohnehin besser als der alte Siegfried. Ich kann Spuren besser lesen als er. Aber wenn wir ihn bis Mittag nicht gefunden haben, kommen wir zurück und holen Hilfe.“ Piet staunte über die Gelassenheit seiner Schwester.

„Wie kannst du nur so an das Gute glauben, Marla?“

„Weißt du noch, wie die Mama nachts mit mir gesprochen hat?“

„Ja natürlich! Das war in deinen Träumen, weil du so eine Kopfkrankheit hast. Du bist ziemlich verwirrt, hat der Doktor Meissner gesagt.“

„Nein, das bin ich nicht. Es ist, glaube ich, genau anders herum. Ich kann Dinge klarer sehen, als andere und das verwirrt mich. Jedenfalls ist sie wieder dagewesen, letzte Nacht. Und sie hat mir gesagt, ich solle mich entscheiden.

Und ich habe mich entschieden. Wir gehen in den Wald.“

Piet schaute seine Schwester bewundernd an.

„Ich vertraue dir!“ sagte er und es tat ihr sehr, sehr gut, das zu hören. Die Kinder gingen voran, bis der Wald sie verschluckte.

3. IM WALD

Im Wald war es ruhig und friedlich. Ein schmaler Pfad, nur so breit, dass sie nebeneinander hergehen konnten, führte geradeaus westwärts zwischen die Bäume, um etwas weiter vorne sanft anzusteigen, über die erste kleine Anhöhe.

Sie kannten diesen Teil des Waldes nur allzu gut. Es war hell, zu ihrer Rechten verlief gleich hinter der ersten Baumreihe der Waldrand und zu ihrer Linken war der Wald licht und voller verwilderter Freiflächen, an denen das Holz kreuz und quer lag, umgestürzte Baumstümpfe und undurchdringliches Geäst sich übereinander stapelten und der Boden mit kleinen Erdhaufen, Furchen und Gräben übersät war, die von Gräsern, Sträuchern und Gestrüpp überwachsen und überwuchert waren. Marla fand die Fußspur gleich am Eingang des Waldes wieder. Da sich hier nur selten Fremde hin verirrten, waren die Spuren noch deutlich erkennbar.

Sie gingen schweigend und zügig voran. Marlas geübtem Auge entging kein einziger Fußabdruck.

„Was ist hinter der zweiten Senke, Vater? Warum gehen wir nicht einmal weiter rechts über den Hügel und dann durch den dichten Wald? Das ist viel aufregender, als immer auf dem Fußpfad zu bleiben!“ „Schscht!“, hatte ihr Vater gesagt und den Zeigefinger auf seinen Mund gelegt, „es gibt fremde Kräfte dort draußen, die du besser niemals kennenlernst.“

Marla hatte in die Richtung der Senke geschaut, während ihr Vater sich schon zum Gehen gewandt hatte und die Stirn gerunzelt. Was mochte da hinten sich nur vor ihrem Blick verbergen? Oder hatte der Vater kein Vertrauen zu ihr und hatte Angst, sie könne sich verirren und den Weg zurück nicht mehr finden, wie eine Fliege, die im Haus umherschwirrte und das offene Fenster nicht fand? Sie schnaubte verächtlich bei dem Gedanken. Sie wusste, wie man sich im Wald zurechtfand, wie man sich orientierte und sich gegen wilde Tiere verteidigte. Dort hinter der dritten Anhöhe musste es einen Ort geben, an dem ihr Vater schon gewesen war.

Dort musste es wohl düster und unheimlich sein, ein feindseliger Ort für ein junges Mädchen. Aber dort musste es auch ein Geheimnis geben oder ein Abenteuer. Und Marla kannte nur sehr wenige Geheimnisse und erlebte nie Abenteuer, so dass ihr das Unbekannte als etwas Wunderbares erschien, das in ihr mehr Neugierde als Angst auslöste. Dann hatte sie sich doch letztendlich umgedreht und war ihrem Vater auf den Heimweg gefolgt. Dabei hatte sie daran gedacht, was Rosie eines Tages zu ihr gesagt hatte, als sie die Kinder während der Abwesenheit des Vaters gehütet hatte: „Dein Vater ist ein guter Mann, ein guter Mann mit Geheimnissen. Ohne diese Geheimnisse ist er ein unvollständiger Mensch und deswegen müssen wir ihn so annehmen und dürfen nicht nachfragen.“

Sie durchquerten die erste Senke, wo ein kleiner, hölzerner Brunnen von einer Quelle gespeist wurde und sich sein Wasser in einen kleinen Tümpel ergoss, der in einen schmalen Bach mündete. Schließlich war auch der zweite Hügel überquert und sie befanden sich in der zweiten Senke.

Die Spuren des Vaters führten immer noch gerade auf dem Weg entlang. Er war nicht vom Pfad abgewichen. Zu beiden Seiten wurde der Wald jetzt wieder dichter und dunkler und es fiel zunehmend schwer, die genaue Himmelsrichtung zu erkennen, in die sie gingen, aber es war Marla, als drehten sie sich langsam nach rechts in Richtung Norden. Plötzlich hörten die Fußabdrücke einfach auf. Dafür sah sie im Dickicht der Tannen, abseits des Weges, dünne Zweige, die erst vor kurzem abgeknickt worden waren. Sie verließen den Weg und gingen direkt durch die Bäume.

Die Stille, die Einsamkeit und das dämpfige Dunkel zwischen den Tannen drückten auf die Seele. Rindenstaub flimmerte in der Luft und es roch nach Harz und feuchter Erde. Mit den Armen voran ging Marla langsam durch die Bäume und drückte die Zweige sanft zur Seite. Piet folgte dicht hinter ihr.

Die Spur verlief geradewegs zwischen den Bäumen den Hang hinunter zum nördlichen Arm des Waldes. Am Fuße des Hügels öffnete sich der Wald und sie traten auf einen weiten Acker hinaus. Der Wald erhob sich nun nur noch zu ihrer Linken und die Spuren des Vaters waren im tiefen Morast deutlicher zu erkennen als zuvor zwischen den Tannen.

Sie führten am Waldrand entlang, schnurgerade weiter nach Norden. Dann hörten sie urplötzlich auf. Ja, sie hätten gar nicht weitergehen können, denn vor Marla breitete sich eine Fläche aus, die seltsam flach und sauber war. Direkt vor ihren Füßen ging ihr der Matsch bis zu den Waden, aber einen Meter weiter war nur noch eine dünne, glatte Erdschicht zu sehen. Es war, als hätte die Waldhexe ihren Reisigbesen ordentlich und gleichmäßig über den Acker geführt und so alle Erde bis auf eine hauchzarte Schicht säuberlich weggefegt. Marla schaute hoch und bemerkte, dass diese seltsame Erscheinung mit einer sonderbaren Art von Bäumen zusammenfiel. Die Bäume waren stattliche Tannen, dunkler und höher als alle Bäume, die sie auf ihrem Weg hierher gesehen hatten. Auch standen sie dichter beisammen wie finstere Soldaten und ihre Nadeln waren länger und spitzer und stachen hervor aus der dunkelgrünen, fast schwarzen Mauer ihrer Reihe. Es krachte und knackte unaufhörlich zwischen den Zweigen und Ästen. Marla besah sich die Erde genauer.

„Es muss hier jemand einen Weg hin gebaut haben“, mutmaßte Piet. Marla schüttelte den Kopf.

„Nein. Es muss ein starker Wind gewesen sein, der die Erde auf das Feld geweht hat.“

Piet runzelte die Stirn.

„Schau dir diese Bäume an“, brummte er, „sie sehen nicht aus, als würde dort eine Stecknadel durchgehen, also wie soll der Wind dort durchgeweht haben?“

Bevor Marla antworten konnte, nahmen sie einen leichten Luftzug wahr und sahen, wie feine Kügelchen aus Erde und Grashälmchen auf der glatten Fläche vor ihnen in Bewegung gerieten und in Richtung der Bäume kullerten und tanzten.

Es schien, als würde alles dem Wald hinzustreben und der Wind in ihn hineinwehen. Dann geschah alles plötzlich ganz schnell. Aus dem Luftzug wurde ein ungeheurer Sog, der zerrte und zog an ihnen und umtoste ihre Ohren, so dass sie nichts anderes mehr wahrnehmen konnten. Völlig überrascht vom Überfall durch die Gewalt der Natur, konnten sie sich nicht mehr auf den Beinen halten und flogen unsanft auf die Erde. Marla presste sich im Heulen des Windes die Hände auf die Ohren so fest sie konnte und legte sich flach auf die Erde, sie hielt die Luft an und schloss die Augen in Erwartung, dass etwas Furchtbares passieren würde. Doch urplötzlich hörte der Sog auf. Marla rollte sich auf den Bauch und spähte hastig um sich. Etwas weiter in Richtung der Dunkeltannen war Piet gefallen, der ebenfalls bemüht war, sich aufzurappeln.

„Was war das?“, schimpfte er und stellte sich Fäuste ballend und wild um sich blickend auf die Füße, bereit, sich jedem unsichtbaren Gegner entgegenzuwerfen. Marla hatte keine Erklärung.

„Es kam von diesen merkwürdigen Bäumen, ein Sturm oder etwas in der Art. Was es auch war, es ist vorbei.“ Sie irrte sich.

Ein kalter Windstoß traf die beiden wie eine unsichtbare Wand. Dieses Mal jedoch kam er aus dem Wald heraus und ließ sie einmal mehr über die Erde purzeln. Marla fiel hart auf den Rücken und schrie laut auf vor Schmerz. Dieser letzte Windstoß war noch schneller angeschwollen, als der erste, so dass sie sich weder durch festhalten, noch durch Wegrennen retten konnten. Begleitet wurde der Wind durch ein immer stärkeres, fauchendes Tosen, als würde der Wald die zuvor angesaugte Luft wieder auspusten. Ein merkwürdiger Gedanke flackerte in Marla auf: Der Wald atmet! Doch es blieb keine Zeit, nachzudenken, denn nun begann der Wald wieder, sie anzusaugen, große Erdbrocken und herumliegende Äste rollten über die Erde und flossen wie ein Strom den Bäumen zu. Der Wind schwoll orkanartig an und wehte Marla die langen Haare vors Gesicht, sie hielt die Hände seitlich an die Augen und suchte Piet in der Nähe der Dunkeltannen in einer Staubwolke. Dieser taumelte vor den Tannen umher, stolperte, versuchte, sich tapfer aufrecht zu halten.

„Leg dich hin, Piet!“ schrie Marla verzweifelt gegen den Sturm an, doch ihre Worte wurden umwirbelt und verweht, so dass sie sie selbst kaum hörte, es sauste und brauste um ihre Ohren, sie krallte ihre Hände in die harte Erde, bis es schmerzte und sah Piet am Boden immer weiter in Richtung der Dunkeltannen schlittern.

„Nicht aufstehen!“ schrie Marla so laut sie konnte, „zur Seite!

Weg vom Wind!“ und ihre Augen weiteten sich in dunkler Vorahnung auf das, was gleich passieren würde. Es war nur eine kleine Bewegung, ein kleines Aufrichten ihres Bruders, der sich am Boden in ihre Richtung gedreht hatte, sie von weitem anblickte und ihr etwas Unverständliches zurief.

Schon griffen ihn unsichtbare Geisterfinger, zogen ihn hoch in die Luft und ließen ihn mit dem Rücken voran in hohem Bogen durch die Luft segeln und in den nadeligen Zweigen der Dunkeltannen verschwinden. Dort, wo er eingetaucht war, schwangen die Zweige noch kurz nach und dann war er ohne eine Spur verschwunden, als hätte es ihn nie gegeben. Piet!

Schrie es in Marla auf und sie hob instinktiv den Kopf.

Die kleine Bewegung reichte aus, um den gierigen Klauen des Windes die Fläche zu bieten, die er benötigte. Triumphierend heulte er auf, höhnisch packte er mit seinem starken Arm das Mädchen. Marla hörte, wie die Lungen eines schrecklichen Ungeheuers sich füllten, merkte, dass sie sich nicht mehr halten konnte, sich ihr ganzer Körper mit einem Ruck vom Boden löste und sie in die Luft geschleudert wurde. Der Wind nahm sie in seine grausame Hand und warf sie achtlos wie eine Puppe in die Wand aus Tannennadeln. Sie sah nur noch, wie die schwarzgrünen Tannen auf sie zurasten, schloss die Augen und stürzte in das stachelige Nest der Dunkeltannen.

4. AUF DER ANDEREN SEITE

Auf der anderen Seite war es still und klar. Marla wagte es erst nach einigen hastigen Herzschlägen, bei denen sie erstaunt gewahr wurde, dass sie noch am Leben war, die Augen zu öffnen. Sie schaute in einen warmen und völlig windstillen Himmel. Erst nach und nach begann sie, die Striemen und Kratzer zu spüren, die die Tannennadeln in ihrem geschundenen Gesicht hinterlassen hatten. War die andere Seite auch die Seite, von der der Pfarrer der Dorfkirche im Weidental immer gesprochen hatte, der Ort, an dem die Toten weiterlebten? War sie tot? Dann schrie jemand und hörte nicht mehr auf zu schreien. Es war Piet.

Sie fuhr auf. Piet lag einige Meter von ihr entfernt.

Sie krabbelte rasch zu ihm hinüber. Er lag auf dem Rücken, hatte die Augen zusammengekniffen, fuchtelte mit den Händen vor seinem Gesicht herum und schrie und schrie.

Sie rüttelte an ihm. Piet schlug die Augen auf und fuhr hoch.

„Wo ist der Sturm? Wo ist der Sturm und wer hat ihn durch welche Hexerei aus der Hölle herbeigerufen?“ Er warf sich wieder auf den Boden und versuchte, sich mit beiden Händen tiefer in die Erde einzugraben.

„Beruhig dich Piet, es ist vorbei“, versuchte Marla ihn zu beschwichtigen. Doch Piet wagte nicht, sich zu rühren, beim letzten Mal, als er sich aufgerichtet hatte, war es ihm schlecht bekommen.

„Das hast du eben schon einmal gesagt“, kam es in hohen, hysterischen Tönen aus Piets Mund, wobei Marla Mühe hatte, alles zu verstehen, denn er hatte sein Gesicht so sehr in den Schlamm gewühlt, dass die Worte nur dumpf daraus hervordrangen. „und vor allem“, kam es aus dem feuchten Morast, „wo ist er hin, dein Sturm, wo ist er hin?“

Marla schaute sich nun zum ersten Mal richtig um. Vor ihnen erhob sich die andere Seite der Dunkeltannen. Doch von dieser Seite aus waren links und rechts davon noch viele mehr. Ein Wald aus denselben, hohen, schwarzen Bäumen wie diejenigen, durch die sie soeben geflogen waren.

Eine blickdichte, undurchdringlich erscheinende Nadelwand.

Hinter ihnen lag ein freies Feld. Sie waren auf einem Acker gelandet, der schon seit Jahren nicht mehr bestellt worden war, denn wilde Gräser, Unkraut und Triebe von kleinen Birken hatten ihn überwuchert und die Furche war kaum noch zu erkennen. Am anderen Ende des Ackers weit hinter ihnen verfiel ein altes Bauernhaus mit eingefallenem Strohdach und einer ebenso heruntergekommenen Scheune, das schon seit Längerem leer stehen musste. In der Mitte des Ackers stand eine schäbige, heruntergekommene Vogelscheuche mit einem breiten Sonnenhut auf dem Kopf, deren Gesicht von hier aus nicht zu erkennen war.

Vorsichtig näherte sich Marla den Dunkeltannen. Sie streckte die Hand aus in die Nadeln. Aus der Nähe konnte sie deutlicher sehen, wie dicht die Bäume miteinander verwachsen waren. Die Verflechtungen der Äste und Zweige der Tannen waren so eng wie ein Teppich, so dass nur ein Gestrüpp aus Nadeln erkennbar war, aber weder waren die einzelnen Äste zu unterscheiden, noch konnte man sehen, wo der eine Baum zu Ende war und der nächste begann.

Sie drehte sich um und versuchte, sich rückwärts durch das Gestrüpp zu winden wie ein Wurm, schob und zerrte dann an den Ästen um sich herum, doch nichts half. Von dieser Seite und ohne die Wucht des Orkans war kein Durchkommen möglich.

„Hier können wir nicht zurück“, stellte Marla ernüchtert fest.

„Unser Weg führt nur weiter nach Westen.“ Sie schaute sich um. „Nur trockene Erde, keine Spur mehr von unserem Vater.“ Entmutigt ließ sie sich zu Boden sinken. Doch dieses Mal war es überraschenderweise Piet, der sich zuerst aufrappelte.

„Wenn wir nicht zurückkönnen, dann lass uns weiterziehen, eine Spur findet sich immer, wo ein Mensch gewesen ist.“

Also gingen sie über den Acker. Es war jetzt um die Mittagszeit und die Sonne war herausgekommen und brannte Piet unangenehm auf sein blondes Haupt. Daher kam ihm, gerade als sie an der Vogelscheuche vorbeigingen, ein spontaner Einfall und er ging um sie herum und musterte sie aufmerksam. Die Vogelscheuche stand mit ausgebreiteten Armen still und stumm da. Ihre Strohfinger hielten die Querstreben des braunen, morschen Holzkreuzes umklammert, an welches sie lehnte. Seltsam, dachte Marla, sie scheint nicht am Kreuz befestigt zu sein, ich sehe weder Schnur noch Draht und doch scheint sie sich schon seit langer Zeit gut daran zu halten. Die Füße der Scheuche steckten in einem paar ausgemergelter, schwarzer Lederstiefel.

Oben trug sie ein löchriges, ehemals weißes Leinenhemd mit einer unvollständigen Reihe von Knöpfen. Darüber saßen stramm die ledernen Hosenträger, die weiter unten zu einer weiten, grauen Lederhose führten, an der sie mit zwei rostigen Schnallen befestigt waren. Der große, runde Sonnenhut aus hellem Stoff war von zahlreichen Regentagen überaus verschmutzt worden und zeigte an vielen Stellen graue Ränder und dunkle Flecken sowie kleine Löcher, wo Vögel ihre spitzen Schnäbel hineingepickt hatten.

Die Strohhalme staken in alle Richtungen aus der Puppe heraus. Der Sonnenhut aber war so tief über das Gesicht der Scheuche heruntergezogen, dass man den Eindruck hatte, sie hätte einen Hut anstelle eines Kopfes auf ihren schmalen Schultern sitzen. Piet sah die Vogelscheuche argwöhnisch an.

„Na, das ist mir mal ein schäbiger Geselle, lumpig und ungestalt, ein ganz und gar hässliches Exemplar. Sein Besitzer sollte sich ordentlich was schämen, ihn so liederlich verwahrlosen zu lassen.“ Marla stellte sich neben ihn hin und begutachtete gleichsam die zerrissene Gestalt.

„Ich denke, wenn ich mir Acker und Bauernhaus so recht besehe, ist keiner mehr da, um sich um ihn zu sorgen.“ Piet machte ein wissendes Gesicht und meinte:

„Dann ist es auch kein Diebstahl, wenn ich mir den Hut nehme, nicht wahr, Marla?“,

„Nun, Diebstahl ist es wohl schon, doch wird der Besitzer des Hutes allem Anschein nach nicht so bald zurückkehren, wenn er noch lebt.“ Piet hüpfte bereits an der langen Vogelscheuche hoch, um sich den Hut zu schnappen, kam aber nicht so weit nach oben.

„Bevor ich mir den Schädel in der Sonne verbrenne, leih ich mir das Ding hier aus. Der alte Knabe braucht es ja doch nicht mehr.“ Schließlich bat er Marla, den Hut zu holen, ging in die Hocke und ließ sie auf sein Knie steigen. Marla zog sich am Vorderkörper der Vogelscheuche nach oben und hielt sich schließlich an ihren Schultern fest, so dass ihr Gesicht direkt vor dem Hut schwebte. Piets Knie begann schon leicht zu zittern. Marla konnte sich nur noch mit einer Hand an der Schulter der Vogelscheuche halten und zog mit der anderen, leicht schwankend, kräftig am Hut. Als sie ihn mit einer schnellen Bewegung vom Kopf der Vogelscheuche gezogen hatte, geriet sie ins Wanken und purzelte mitsamt der Kopfbedeckung von Piets Knie herab auf den Boden zurück.

Piet selbst fiel seitlich hin und fluchte laut: „Marla, in drei Teufels Namen! Den Hut solltest du mir holen und nicht der Scheuche den Kopf abreißen!“

„Ist ja gut, Piet, ich habe dir das Ding geholt, nun sei zufrieden!“ sagte Marla gereizt.

„Vielleicht habe ich, was meinen schönen Sonnenhut angeht, noch ein Wörtchen mitzureden“, sagte die Vogelscheuche mit tiefer, grollender Stimme. Marla und Piet fuhren herum, als hätte ihnen jemand ein Bajonett in den Rücken gerammt.

Die Vogelscheuche hat gesprochen, durchzuckte es Marla.

Sie suchte in den Augen ihres Bruders Halt, doch dessen entsetzter Gesichtsausdruck verriet ihr, dass er dasselbe gehört hatte. Sie starrten beide entgeistert auf das Wesen vor ihnen und versuchten, zu begreifen, dass dieses Ding gerade zum Leben erwacht war. Wo eben noch der Hut das Gesicht verdeckt hatte, saßen nun zwei Augen, die eigentlich wohl nur aus Kohlenstücken bestanden, aber doch sehen zu können schienen und die jemand vor langer Zeit in den Strohball gesteckt hatte, der den Kopf des Wesens bildete.

Darunter war als Nase eine kleine, runde Strohkugel in die Mitte des Gesichtes geflochten worden und weiter unten verriet eine weitere Reihe von Kohlestücken, die sich unablässig bewegte, dass die Worte aus einer Art Mund gekommen waren. Der Mund schien im Moment höchst unerfreut zu sein und beschrieb deswegen einen nach unten geöffneten Halbkreis.

„Elende Hutdiebe, na wartet, bis ich euch am Kragen habe!“

bellte die Vogelscheuche und mit langsamen, bedrohlich knisternden und raschelnden Bewegungen lösten sich die kräftigen Strohfinger einzeln vom Holzkreuz und die langen, dürren, aber robust aussehenden Beine bewegten sich auf die beiden völlig verängstigten Kinder zu, wobei das leise Knacken von Strohhalmen zu hören war. Marla fasste sich als erste wieder, hob den verschlissenen Sonnenhut auf und hielt ihn hastig der Vogelscheuche entgegen.

„Entschuldigen Sie bitte, Herr Vogelscheuche“, haspelte sie nervös, „wir wussten nicht, dass Sie am Leben sind und mein Bruder Piet wollte sich nur vor der Sonne schützen“.

Die Vogelscheuche wurde angesichts dieser Erklärung nur noch wütender.

„Ach und wer hat euch erzählt, dass Nepomuk der Grantige nur Hüte aufzieht, um sie dem nächst besten, dahergelaufenen Landstreicher feilzubieten? Brauche ich vielleicht keinen Schutz vor der Sonne? Und wie soll ich nachts schlafen, ohne mein Gesicht mit dem Hut zu bedecken? Und wie soll eine einfache Vogelscheuche wie ich seine höchst ehrbare Arbeit am Tage verrichten, wenn ich nachts nicht schlafen kann, weil der Mond mir ins Gesicht scheint und die Käuzchen mir die Ohren vollheulen?“

Die Kinder waren schon mit der Tatsache überfordert, dass eine Vogelscheuche überhaupt mit ihnen sprach, daher konnten sie deren Frage nur mit einem erstaunten Schweigen beantworten. Aber an Antworten war die Vogelscheuche, die sich Nepomuk nannte, ohnehin nicht interessiert.

„Wartet nur, bis Arne, mein Bauer, davon erfährt, dass ihr euch auf seinem Grund und Boden herumtreibt und braven Vogelscheuchen die Kleider stehlen wollt, dann wird er euch persönlich mit Mistgabel und Schrotgewehr vom Acker jagen.“ Marla und Piet schauten sich etwas betreten an.

Marla erklärte schüchtern:

„Nun, wenn dein Bauer eine Mistgabel schwingt, so tut er es wohl nicht mehr hier, sondern hat sich dazu einen anderen Ort ausgesucht.“

„Ja“, pflichtete Piet ihr bei, „und womöglich hat er die Mistgabel auch gegen eine Harfe getauscht und das Bauernhaus, wenn man die verfallene Ruine dort hinten so nennen kann, gegen eine Wolke.“ Nun geschah etwas Unerwartetes, denn der Vogelscheuche entglitten jegliche Gesichtszüge, die Kohlenstücke hingen herab und begannen zu zittern und zu beben und irgendwoher aus dem Stroh kullerten dicke Tränen über das Strohgesicht (können Strohpuppen weinen?, fragte sich Piet nachdenklich an dieser Stelle). Marla bedachte ihren Bruder mit einem strafenden Blick und Piet schaute etwas schuldig vor sich auf den Boden angesichts seiner eigenen Gefühllosigkeit.

„Soll das heißen, er ist fort?“ schluchzte Nepomuk der Grantige, von dessen Grantigkeit in diesem Moment nicht mehr viel zu sehen war. „Aber wie lange habe ich geschlafen?“ Die Kinder schauten ihn fragend an, verstanden ihn nicht.

„Oh Jammer!“ jammerte Nepomuk weiter, ohne eine Antwort abzuwarten, „Oh Klage!“ klagte er, „Oh Ärger!“ ärgerte er sich und ließ seinen langen, drahtigen Körper auf die harte Erde plumpsen. Dann erzählte er den Kindern zwischen langen Seufzern, die aus einem gebrochenen Herz zu kommen schienen (seit wann haben Strohpuppen ein Herz? fragte sich Piet sehr nachdenklich an dieser Stelle), was es mit seinen Schlafgewohnheiten auf sich hatte.

„Jeden Abend hat mein Bauer mir zärtlich und liebevoll meinen Hut über das Gesicht gezogen, so dass es finster war und ich schlafen konnte, denn ich kann meine Augen nicht selbst schließen. Die ekeligen Nachtvögel und die mir frech ins Gesicht scheinenden Gestirne am Himmel haben mich auf solche Weise nicht am Schlafen hindern können. Am nächsten Morgen kam er dann stets schon mit den ersten Sonnenstrahlen und lüftete mir den Hut vom Kopf, so dass die Sonne jedes winzige Hälmchen in meiner Nase kitzelte und ich erwachte.“

„Aber eines Morgens ist er nicht mehr gekommen und daher bist du seitdem nicht mehr aufgewacht“, fügte Marla hinzu, der jetzt die volle Tragik der Situation der Vogelscheuche bewusst wurde.

„Etwas muss an diesem letzten Abend mit ihm passiert sein“, ergänzte Piet. Nepomuk, der nur noch vor sich auf den Boden starrte, nickte geistesabwesend.

„Wie lange ich geschlafen habe, weiß ich nicht, es mögen Wochen, Monate oder Jahre gewesen sein, denn ich brauche jemanden, der mir hilft, an jedem Tag erneut zum Leben zu erwachen, aber eins ist gewiss: Mein Bauer ist fort. Ich habe ihm die ewige Treue geschworen und kann nun den Schwur nicht halten. Meine müden Knochen liegen nutzlos auf einem mit Unkraut übersäten, vernachlässigten Acker und können ihre Arbeit nicht verrichten.“ (seit wann hat eine Strohpuppe Knochen? fragte sich Piet sehr, sehr nachdenklich an dieser Stelle).

„Oh widriges, unbarmherziges Schicksal! Oh ehrloses, sinnfernes Dasein! Auf dass mich Fäulnis und von Mutter Sonne entzündetes Feuer verzehren!“ Marla war einerseits froh gewesen, dass von der Vogelscheuche offensichtlich keine Gefahr ausging, aber nun wurde es ihr gar zu bunt.

„Aber, aber!“ versuchte sie ihn zu beschwichtigen, „vielleicht ist er wohlauf. Mein Bruder und ich sind auf der Suche nach unserem Vater. Und da wir schon einmal auf dem Weg sind, können wir auch noch nach deinem Bauern suchen, wenn du uns begleiten willst. Ohne dich finden wir uns hier in dieser seltsamen Welt, in der die Vogelscheuchen das Sprechen anfangen, ohnehin nicht zurecht.“ „Unsinniges Zeug redet ihr Kinder da!“ meinte Nepomuk, der Grantige, der sich wieder gesammelt hatte und nun seinem Namen wieder gerecht wurde, „von einer Welt hier und einer anderen dort, wo Vogelscheuchen nicht leben oder sprechen sollten. Ich kenne nur die eine und dass ich lebe und spreche, das wird euch wohl aufgefallen sein. Aber so ist es mit den Menschen und ihren Kindern, sie nähen sich kleine, nutzlose Stofftiere, knuddeln sie und geben ihnen Kosenamen, aber können sich im gleichen Moment nichts weniger vorstellen, als dass ihre Tiere leben könnten.“ Er schüttelte den Kopf über so viel Unwissenheit, dass es knisterte. „Wie seid ihr überhaupt auf meinen Acker gekommen?“

„Durch diese Bäume“, erwiderte Marla und zeigte auf die großen Tannen hinter Nepomuk. Dieser drehte sich erschrocken um und starrte die beiden dann ungläubig an.

„Durch die Dunkeltannen? Unmöglich! Ihr seid aus Oltrod?

Der Welt außerhalb der unsrigen? Unfassbar!“ Die beiden Kinder schauten ihn fragend an. „Dort draußen ist noch nie jemand aus Aros gewesen. Die Bäume sind undurchdringlich.

Man hat nichts unversucht gelassen. Magie und harte Axthiebe, nichts hat gewirkt. Wir wissen wenig von dort draußen. Wir nennen es Oltrod, die Welt außerhalb. Ihr seid jetzt in Aros, der Welt des Hier. Erzählt rasch, wie ist es bei euch? Man sagte mir, da gäbe es purpurne Wälder, so hoch wie der Himmel und Flüsse, in denen die Diamanten glitzerten und alle Menschen hätten Flügel auf dem Rücken.“

„Och weißt du, so interessant ist es auch nicht, bei uns hat niemand Flügel und die Vogelscheuchen stehen nur rum und sprechen kein Wort“, meinte Marla.

„Aber sie haben dafür bessere Laune“, gab Piet hinzu. „Wieso bist du eigentlich den ganzen Tag so grantig?“ fragte er geradeheraus, wie er war.

„Du Knirps“, wandte sich Nepomuk, der Grantige, Piet zu, „fragst eine Vogelscheuche, warum sie schlechte Laune hat?

Es ist nun einmal meine Arbeit, dieses abscheuliche Flattervieh von meines Bauern Feldfrüchte zu verjagen. Soll ich das etwa tun, indem ich sie streichle und ihnen die Federn putze? Soll ich den Staren und Amseln etwa einen Futtertrog mit kostbaren Ähren und eine Vogeltränke mit frischem Wasser bereitstellen und dergleichen Bauchpinseleien? Nein, fürchten sollen sie mich, Nepomuk, den Grantigen! Die Meisen, die Spatzen, die Zaunkönige und Finken! Fort will ich sie jagen, die Feldmäuse, die Maulwürfe und die verfluchten Wanderratten! Kein Hälmchen sollen sie meinem Bauern stehlen mit ihren gelben, gräulichen Nagezähnchen und ihren pieksigstacheligen, missgestaltenen Schnabelmäulern!“ Mit schwellender Brust hatte Nepomuk sich jetzt bedrohlich vor ihnen aufgebaut und redete sich in Rage, als er der verhassten Vögel gedachte. Wenn er jetzt den Verstand verliert, falls er überhaupt einen besitzt, dann ist er uns unnütz, dachte Marla und spürte Piets hilflosen Blick in ihrer Seite.

„Ich bin mir sicher, dein Bauer vermisst dich auch“, beeilte sich Marla zu sagen „und er wartet auf dich an einem anderen Acker, der noch viel größer und schöner ist, als dieser.“

„Ja sicherlich“, stimmte Piet in den Chor der Märchenerzähler ein, „und dort wimmelt es nur so von buntgescheckten Singdrosseln und Käuzen, von Gimpeln und Bussarden und es ist eine große Freude, sie mit Pfeilen, Speeren und Büchsenschüssen zu vertreiben. Dort kannst du nach Herzenslust Steine und glühende Kohlen nach ihnen werfen, sie mit Stöcken traktieren und ihnen die Federn stutzen, denn das weiß ja ein jeder, dass es auf der ganzen Welt keine ehrenvollere Arbeit gibt.“ Marla fand jetzt, ihr Bruder würde zu große Töne spucken und es wurde ihr bang zumute aus Furcht, Nepomuk könne sich von den Kindern verhöhnt fühlen. Doch dieser schien schon im Traume auf dem verheißenen Acker zu wüten und zu toben, dass die Vögel schwärmeweise davonstieben und ihren Weg in wärmere Erdteile außerhalb ihrer Gewohnheit auf sich nähmen. Er schaute auf einen Punkt in der Ferne und ballte die strohigen Fäuste. Ein grimmiges Grinsen setzte sich auf seinem groben Gesicht nieder. Nur die Hoffnung vermag es, in der finstersten Stunde das Gesicht wieder zum Leuchten zu bringen und im selben Moment wussten die Kinder, dass sie einen neuen Begleiter für ihre Suche gewonnen hatten.

„Egal wo dieser Acker gepflügt wird und wohin mein Bauer und seine Frau verschwunden sind, ich werde sie finden und es wird alles so sein wie früher. Euch beide muss ich aber um Verzeihung bitten für mein garstiges Auftreten, ihr habt mich gerettet, indem ihr mich von diesem Hut befreitet und dafür stehe ich für immer in eurer Schuld und folge euch, wohin ihr auch gehen mögt, denn wenn man das gleiche Schicksal teilt, soll man nie mehr auseinandergehen.“ Piet lag noch eine Frage auf dem Herzen:

„Sag einmal, Nepomuk, wenn Vogelscheuchen schlafen, können sie dann etwas davon hören, was um sie herum geschieht?“ Nepomuk schüttelte den Kopf.

„Kein Wort. Nichts und niemand kann so tief und fest schlafen, wie eine Vogelscheuche.“ Piet war angesichts der unschönen Worte, die er zu Nepomuks Aussehen gesprochen hatte, sehr erleichtert über diese Antwort.

Das alte, rostige Scharnier knarzte und die Tür öffnete sich ruckartig unter den Stößen von außen, denn das Holz der schweren Bretter hatte sich bereits verzogen und am Boden hatten sich Häufchen aus Geröll und Erdklumpen angesammelt, die an der Unterseite der Türe schliffen und quietschten, Schließlich gab die Türe endgültig nach, krachte mit einem gewaltigen Stoß auf und ein zerzauster Nepomuk stolperte mit ihr in die verlassene Stube des Bauernhauses, gefolgt von vier neugierigen Kinderaugen. Das Bauernhaus, welches nur aus der Stube bestand, war menschenleer. Der Boden war mit den Überresten der Möbel übersät, wohl Spuren eines Kampfes, bei dem die Bauersleute vertrieben oder mitgenommen worden waren. Hastig löste Nepomuk eine der Dielenbretter im Boden und brachte mit hektischen Strohfingern eine grob geschnitzte, unverzierte Holzschatulle zum Vorschein. Er öffnete vorsichtig den Deckel, als müsste er den Hausherrn trotz seiner Abwesenheit um Erlaubnis fragen.

Darin befanden sich eine kleine Ansammlung schmutziger, matt schimmernder Kupfer- und Silbermünzen und eine auf Pergament gemalte Karte. Die Karte war mit einfachen Strichen aus verblichener, schwarzer Farbe gemalt. Nepomuk breitete sie schnell auf dem Fußboden aus. Am oberen Rand stand mit großen, geschwungenen Buchstaben: Karte von Aros geschrieben. Süden war oben und Norden unten eingezeichnet. Nepomuk erklärte den Kindern in schnellen Worten, was es dort zu sehen gab:

„Auf der Karte kann man drei große Landmassen finden: Im Süden seht ihr fruchtbares, grünes Flachland. Diese Landmasse wird Nemetos, die Weide genannt, ihre Bewohner bezeichnen sich als Nemeter. Im Herzen Nemetos’ seht ihr die Hauptstadt der Nemeter: Olja Dhobnom. Dort steht auf der Anhöhe Tungo die plí Dichonem, Dichos Burg. Wir befinden uns hier unten, ganz im Nordosten, wo sich weitläufige, schier endlose Wäldereien erstrecken. Es sind die dunklen Wälder des Ordens der Ifismönche. Das Land dort wird Keiros Nemos genannt, seine Bewohner sind die Keirun. Wir sind also im Land von Ifis, aber weit weg vom Zentrum seiner Macht.

Gewissermaßen ist es eine Art Niemandsland, wo kein Herrscherhaus bedeutenden Einfluss hat und die Gesetzlosen ihr Unwesen treiben. Dort oben im Südosten seht ihr einen lebensfeindlichen Erdteil, von dem nicht allzu viel bekannt ist.

Diese nebligen Sümpfe werden Mareskos Londhom genannt, ihre Bewohner sind die Mareskaner.“ Nepomuk fuhr mit dem Strohfinger von den Dunkeltannen am unteren Rand der Karte einen Weg entlang, der durch Felder und Wiesen in Richtung eines weiteren, großen Waldgebietes führte, das sich in Hügeln und Bergen verlor. Er machte ein zufriedenes Gesicht. „Das Geld wird uns eine Weile reichen, nicht lange, aber es ist besser als nichts. Kommt! Es führt nur ein Weg von hier fort, weiter nach Westen. Wir folgen dem Weg bis zu seinem Ende und wenn wir dabei über den Rand der Welt hinausfallen. Dabei werden wir in das höchste aller Gebirge kommen, mit Ceri Orus, dem höchsten aller Gipfel. Was dahinter liegt, weiß ich nicht, denn meine Karte endet hier.“

Entschlossen und ohne sich darum zu kümmern, ob Marla und Piet ihm folgten, stapfte die Vogelscheuche aus der Hütte und auf den Weg, der schnurgerade nach Westen führte, über eine Unendlichkeit offener Felder, die eine friedliche Landschaft aus niedrigen, breiten Hügel säumte. Als sie aus der Hütte traten, lud sie eine warme, freundlich strahlende Nachmittagssonne ein, ihr in die Hügel zu folgen, den weit hinten am Horizont im kalten Dunst kaum wahrnehmbaren, waldigen Bergen entgegen.

*

So wanderten die Drei eine Weile lang über die fruchtbaren Felder unter einem strahlend blauen Himmel. Die Geschwister waren durch ihr Leben auf dem Land das Laufen von langen Strecken gewohnt und wurden nur langsam müde und Nepomuk strotzte sowieso nur so vor Kraft und Tatendrang. Energisch schritt er vorneweg, das klare Ziel vor Augen, seinen Bauern wiederzufinden und dessen Entführern alle Knochen zu brechen. Weit nach vorne gebeugt, die Arme und Beine durch die Luft wirbelnd, stürmte er den Weg entlang. Er hatte lange geschlafen und musste seinen angestauten Kräften freien Lauf lassen. Marla und Piet hatten Mühe, mit der Vogelscheuche und ihren langen, schlaksigen Beinen Schritt zu halten. Daher war es Ihnen allen nicht zum Reden zumute. Während Piet sorgenvoll darüber nachdachte, ob lebende Vogelscheuchen überhaupt jemals müde wurden, überkam Marla mit der Zeit ihrer Wanderung ein seltsam wohliges Gefühl der inneren Ruhe. Denn trotz der körperlichen Anstrengung und der Sorge um ihren Vater war es zum einen das erste Mal, dass sie auf Entdeckungsreise in ein unbekanntes Land gingen, zum anderen war es für Marla ein besonderes Erlebnis, neue Menschen und vielleicht sogar Freunde zu finden. In der Einsamkeit ihrer abgeschiedenen Behausung hatten die beiden Geschwister bisher nur sich gegenseitig gehabt. Außerdem erinnerte sie sich an den Traum mit ihrer Mutter, in dem viel Güte gewesen war, als wäre eine Wolke aus Liebe und Licht um sie herumgeschwebt. Der Traum hatte ihr Zuversicht gegeben.

Selbst Nepomuk schien von der Aussicht auf Abenteuer freudig erregt zu sein, auch wenn er es vor den beiden Kindern zu verbergen versuchte. Einmal nahm Marla sogar aus den Augenwinkeln den Anflug eines Lächelns wahr, als er die Strahlen der Sonne durch das Geäst eines großen Kastanienbaumes bewunderte, der einsam auf einem offenen Feld am Wegesrand die drei Wanderer erwartete. Im lauen Sommerwind schienen die Äste ihnen zuzuwinken und ihnen den Weg nach Westen zu weisen, wo sie am Abend in jenen dunklen Forst gelangen würden, den sie schon seit dem Mittag in der Ferne vor Augen hatten. Doch als Nepomuk bemerkte, dass Marla ihn von der Seite ansah, setzte er rasch eine finstere Miene auf. Irgendwann schien ihm jedoch das Schweigen selbst unangenehm zu werden, und so begann er, den Kindern seine Geschichte vom Leben auf dem Acker zu erzählen. Er fluchte über kleine Feldmäuse, die an seiner Kleidung knabberten, während er schlief und bisweilen in kalten Nächten in seine Schuhe schlüpften und sich an seinen Füßen wärmten. Er erzählte, wie der Blitz in die alte Eiche am Ackerrand eingeschlagen war und sie in zwei Hälften zerteilt hatte. Aber am liebsten erzählte er von seiner Arbeit und seinem Leben mit dem Bauern und der Bäuerin.

DIE GESCHICHTE VON NEPOMUK, DEM GRANTIGEN

Wie Nepomuk in diese Welt hineinkam, wusste er selbst nicht.

Eines Tages war er einfach da und erwachte in der Scheune beim Bauernhaus. Arne, der Bauer, fand ihn im Dunkel der Scheune in der Ecke im Stroh liegen. Der Bauer wunderte sich nur kurz und meinte dann:

„Es ist gut, dass du da bist. Ich brauche einen Gehilfen. Dein Name soll ab jetzt Nepomuk sein und nun an die Arbeit.

Verjage jeden Vogel, der sich meinem Acker nähert!“ Das musste man Nepomuk nicht zweimal sagen. Er erledigte seine Arbeit mit Stolz und Ehrgeiz und scheuchte die Vögel unermüdlich von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang vom Felde. Eines Tages schenkte ihm der Bauer eine große Trommel. Diese war mit zahlreichen Verzierungen versehen und hatte ein Band aus rot-schwarz-glänzendem Blech.

Nepomuk freute sich wie ein Kind über die Trommel und liebte sie heiß und innig. Sofort begann er, mit dieser einen Höllenlärm zu veranstalten. Von morgens bis abends pflegte er ab diesem Moment täglich, wie ein Besessener mit schnellen und wütenden Schritten die Ackerfurche im Karree abzuschreiten, die Stöcke unbegabt, aber dafür umso kraftvoller auf die Trommel niedersausen zu lassen und dabei mit lautem „Huh!“ und „Hah!“ Amsel und Krähen zu verjagen.

Jeder harmlose Spatz, die Maulwürfe, Feldmäuse und Regenwürmer im ganzen Umkreis des Ackers verfielen in Schockstarre oder nahmen Reißaus, wenn Nepomuk sich wild trommelnd und bedrohlich huhend und hahend näherte, um sein Tagwerk zu verrichten. Der Bauer war zufrieden mit der Beschäftigung für seinen Knecht und voller Erleichterung darüber, dass jener ihm in seinem Tatendrang nicht mehr auf den Nerven herumtrampelte. Nach einer Weile jedoch war Arne es leid, dass er weder zur Mittagsstunde, als sein Weib ihm das Essen auf den Holztisch in der Stube stellte und er anschließend seinen Mittagsschlaf halten wollte, noch abends nach der Arbeit, in Ruhe essen, schlafen, oder sich Pfeife rauchend auf die Holzbank vor seiner Hütte setzen konnte, da Nepomuk nicht viel auf Ruhepausen hielt und es nicht mitansehen konnte, wenn er auch nur am anderen Ende der Krume einen flügellahmen Buchfink erspähte. Mit zornigem Kriegsgeschrei tobte er dann dem armen Tier hinzu, das nicht selten im Angesicht des furchterregenden Nepomuks tot umfiel.

Schlussendlich riss dem Bauern der Geduldsfaden und er trat an Nepomuk heran, riss ihm die Trommel aus den Händen, hieb mit seiner Spitzhacke ein großes Loch in das Tierfell und versenkte das Instrument in einem nahegelegenen Fluss an einer Stelle, die er strikt geheim hielt, da er Nepomuks Hartnäckigkeit nur allzu gut kannte. Nepomuk aber war untröstlich, als er sich seiner Trommel beraubt sah und beweinte ihren Verlust noch viele Nächte lang. Sogar ein tränenreiches Gedicht widmete er dem verblichenen Musikinstrument, in welchem er herzerweichend über den „geliebten Freund in seinem nassen Grab“ lamentierte. Das Gedicht war nicht nur entsetzlich melodramatisch, sondern auch noch dermaßen grauslich schlecht, dass der Wortlaut glücklicherweise nicht mehr überliefert ist. Nepomuks Bauer, dem seine Mittagsruhe und seine Ehe jedoch mehr wert waren, als eine strohene Heulsuse, blieb hart und schenkte Nepomuk nie wieder eine Trommel oder irgendetwas andersartiges, was man als Musikinstrument hätte verwenden können. Nicht einmal für eine hölzerne Schnarre oder eine Kuhglocke ließ der Bauer sich erweichen, so dass Nepomuk nichts anderes übrigblieb, als fortan allein mit seinem Geschrei die Vögel zu vertreiben, was diesen noch wütender machte.

Nepomuk geriet über die Erzählung seines Landlebens ins Schwärmen und malte den Geschwistern in den buntesten Farben aus, welche Methode die beste wäre, um Vögel zu erschrecken und zu verjagen. Er machte unheimliche Laute nach, die er sich selbst beigebracht hatte, zeigte den Kindern tanzartige Bewegungen und Verrenkungen, die den Vögeln angeblich besonders viel Angst einjagten und hob sogar im Laufen einen Stein auf und warf ihn nach einem unschuldigen Bussard, um zu zeigen, wie kunstvoll er werfen konnte und wie treffsicher er war.

Er ist schwatzhaft wie eine Singdrossel, dachte Piet. Er wagte es aber nicht, diesen Gedanken laut auszusprechen, denn es wäre sehr unklug gewesen, eine Vogelscheuche mit einem Vogel zu vergleichen. Sicherlich hätte es Nepomuk ihm sehr übel genommen. So verging die Zeit wie im Flug und in der Abenddämmerung erreichten sie den dunklen Wald. Als sie zwischen die dicht an dicht stehenden Bäume traten, wurde der Boden weicher und feucht und der Weg war so schmal und mit Matsch überdeckt, dass er kaum noch zu erkennen war. Die Sonne war längst hinter den hohen Bergen versunken, wo sie, nach Nepomuks Erzählungen, jeden Abend in das Leitos Lugja, das Lugjenmeer, fiel und versank, um ihrem Bruder Louksna, der gütigen Mondscheibe Platz zu machen. An jedem Morgen erhob sich die zankhafte Amma Sawel, die Mutter Sonne, nach ihrem Schlafe aus den Fluten und scheuchte Louksna mit ihrem heißen Atem über den Himmel, bis er vor Furcht verblasste und sich in sein Wolkenbett zur Ruhe legte. Erst nachts, wenn Amma Sawel ihr hitziges Gemüt in der Tiefe des Ozeans ausgekühlt hatte, um bis zum nächsten Morgen Ruhe zu finden, traute sich der schüchterne Louksna wieder heraus, um still über das Himmelsgewölbe zu eilen, während seine Schwester schlief.

Der Sage nach war es verboten, zu den Gestirnen zu beten, da es unter allen Umständen zu verhindern galt, dass die beiden Himmelswesen sich eines Tages aussöhnten. Denn nur der Zank zwischen Mutter Sonne und ihrem Bruder, zwischen Amma und Louksna, ließen aus den Tagen Nächte werden und aus den Nächten Tage.