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Kaveh Akbars faszinierender, von Presse und prominenten Leserinnen und Lesern gefeierter Debütroman führt vom Iran der 1980er-Jahre bis in die heutigen USA und ist eine Hymne auf all das, was uns bei der Suche nach Sinn und Bedeutung im Leben helfen kann: auf die Kunst, den Glauben an uns selbst, auf Liebe, Freundschaft und Mitmenschlichkeit. Nominiert für den National Book Award 2024. Cyrus Shams, 29, ist kein Meister des täglichen Lebens. Er schreibt umwerfend gute Gedichte und nimmt zu viele Drogen. Seit er denken kann, ringt er mit den großen Sinnfragen, mit seiner sexuellen Identität und seiner Vergangenheit. Er war noch ein Baby, als das Flugzeug abgeschossen wurde, mit dem seine Mutter auf dem Weg aus Teheran in die Freiheit war. Ein tragischer Irrtum, ein sinnloser Tod, der ihn bis heute verfolgt. Cyrus sucht nach dem Sinn seiner Existenz und ist fasziniert von Märtyrern. Wie wäre es, sich einer Sache so zu verschreiben wie Jeanne d'Arc oder Bobby Sands? Und wer war seine Mutter eigentlich, wohin sollte ihre Reise führen? Cyrus, ausnahmsweise nüchtern und eventuell verliebt, begibt sich auf eine Reise in die Vergangenheit, die ihn zu den Fragen der Zukunft führt. «Ich werde diese Geschichte und die Menschen darin für den Rest meines Lebens in mir tragen.» John Green «Dieses Buch vibriert vor Liebe zum Leben, zur Schönheit und zur Sprache. Ich bin voller Ehrfurcht.» Natalie Portman «Elegant, schwindelerregend und verspielt – Märtyrer! ist ein großartiger Roman.» Lauren Groff «Ein Juwel von einem Roman.» Tommy Orange
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Seitenzahl: 452
Veröffentlichungsjahr: 2025
Kaveh Akbar
Roman
Übersetzung der Lyrik von Jürgen Brôcan
Cyrus Shams, 29, ist kein Meister des täglichen Lebens. Er schreibt umwerfend gute Gedichte und nimmt zu viele Drogen. Seit er denken kann, ringt er mit den großen Sinnfragen, mit seiner sexuellen Identität und seiner Vergangenheit. Er war noch ein Baby, als das Flugzeug abgeschossen wurde, mit dem seine Mutter auf dem Weg aus dem Iran in die Freiheit war. Ein tragischer Irrtum, ein sinnloser Tod, der ihn bis heute verfolgt. Cyrus sucht nach dem Sinn seiner Existenz und ist fasziniert von Märtyrern. Wie wäre es, sich einer Sache so zu verschreiben wie Jeanne d’Arc oder Bobby Sands? Und wer war seine Mutter eigentlich, wohin sollte ihre Reise führen? Cyrus, ausnahmsweise nüchtern und eventuell verliebt, begibt sich auf eine Reise in die Vergangenheit, die ihn zu den Fragen der Zukunft führt.
Kaveh Akbar ist eine elektrisierende, unverzichtbare neue Stimme in der US-amerikanischen Literatur.
Kaveh Akbar, geboren 1989 in Teheran, hat bislang zwei Lyriksammlungen veröffentlicht. Er unterrichtet Kreatives Schreiben an der University of Iowa, am Randolph College und am Warren Wilson College. Märtyrer! ist sein erster Roman, der auf der Bestsellerliste der New York Times stand und von Kritiker*innen und Leser*innen gefeiert wird.
Stefanie Jacobs, geboren 1981, lebt und arbeitet als freie Übersetzerin in Wuppertal. Für ihre Übersetzungen von Miranda July, Lauren Groff, Edna O’Brien und vielen anderen Autor*innen wurde sie vielfach ausgezeichnet, zuletzt mit dem Heinrich Maria Ledig-Rowohlt-Preis.
Die Originalausgabe erschien 2024 unter dem Titel «Martyr!» bei Alfred A. Knopf, Inc., New York.
Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, April 2025
Copyright © 2025 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg
«Martyr!» Copyright © 2024 by Kaveh Akbar
Die Zitate von Sylvia Plath auf S. 14 und S. 188 stammen aus: Ariel, aus dem Englischen von Erich Fried, Suhrkamp Verlag, Berlin 2016, S. 21.
Das Zitat von Herman Melville auf S. 185 stammt aus: Moby-Dick, aus dem Englischen von Matthias Jendis, Hanser Verlag, München 2001, S. 50.
Covergestaltung Lübbeke Naumann Thoben, Köln
Coverabbildung Barbara Thoben
ISBN 978-3-644-01878-5
Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation
Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp
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Für die Märtyrer, die am Leben sind
Mein Gott, gerade fiel mir ein, dass wir sterben.
– Clarice Lispector
Vielleicht hatte Cyrus die falschen Drogen genommen oder die richtigen in der falschen Reihenfolge, aber als Gott ihm nach siebenundzwanzig Jahren des Schweigens endlich antwortete, hatte er nur einen Gedanken: Mach das noch mal. Zur Sicherheit. Auf seiner nach Pisse und Febreze stinkenden Matratze in seinem nach Pisse und Febreze stinkenden Zimmer sah Cyrus hoch zu der nackten Glühbirne an der Decke und versuchte, sie durch schiere Willenskraft noch einmal zum Flackern zu bringen, Gott die Bestätigung abzuringen, dass das gerade wirklich ein himmlisches Zeichen gewesen war und nicht nur die maroden Leitungen der alten Wohnung.
«Lass kurz das Licht flackern», hatte Cyrus gedacht, nicht zum ersten Mal in seinem Leben. «Nur ein winziges bisschen, dann verscheuere ich meinen ganzen Kram und kauf ein Kamel. Fange noch mal ganz von vorn an.» Sein ganzer Kram, das war im Moment nur ein Haufen schmutziger Wäsche und ein Stapel Bücher, die er in diversen Bibliotheken ausgeliehen und nie zurückgegeben hatte, Gedichtbände und Biografien, Zum Leuchtturm, Mein Onkel Napoleon. Egal: Cyrus war es ernst. Dem Propheten Mohammed hatte doch sogar ein Erzengel einen Besuch abgestattet. Und Saulus hatte auf dem Weg nach Damaskus buchstäblich das Licht des Himmels erblickt. Klar hatte man nach so einer eindeutigen Offenbarung einen unerschütterlichen Glauben. Wo blieb die Gerechtigkeit, wenn man diese Jungs für einen Glauben feierte, der letztlich gar keiner war, sondern nur ein Sich-Fügen in das, was sie mit eigenen Augen gesehen hatten? Und was sollte es bringen, alle anderen dafür zu bestrafen, dass ihnen nie eine derart eindeutige Offenbarung vergönnt gewesen war? Den Rest der Menschheit allein und verzweifelt von Krise zu Krise taumeln zu lassen?
Aber dann wurde es auch für Cyrus wahr, in diesem abgeranzten Zimmer in Indiana. Er flehte Gott an, sich zu offenbaren. Er bat Ihn, Sie, Them, Es, whatever, mit aller ihm verfügbaren Ernsthaftigkeit, und das war eine Menge. Wenn jede Beziehung ein ewiges Wechselspiel aus Annäherung und Rückzug war, dann war es fast nie Cyrus, der sich zurückzog, nein, er offenbarte mit einem Wort, einem Lächeln oder einem Schulterzucken alles Wichtige über sich selbst, als wollte er sagen: «So ist es eben. Wofür soll ich mich schämen?»
Auf seiner direkt auf dem Holzboden liegenden nackten Matratze ausgestreckt, hatte er wie ein mürrischer Prinz seine Zigarettenasche auf den nackten Bauch fallen lassen und gedacht: «Lieber Gott, lass einmal kurz das Licht an- und ausgehen, dann kauf ich mir einen Esel, ich schwöre, ich kauf mir ein Kamel und reite darauf nach Medina, nach Gethsemane, egal wohin, lass einfach nur das Licht flackern, und ich krieg das auf die Reihe, versprochen.» Das hatte er gedacht, als es – oder zumindest etwas – passierte. Die Glühbirne setzte kurz aus, nur für den Bruchteil eines Sekundenbruchteils, oder vielleicht wurde sie ein wenig heller, wie ein Kamerablitz auf der anderen Straßenseite, dann war alles wieder wie vorher, eine stinknormale gelbe Glühbirne.
Cyrus versuchte, sich zu erinnern, was er seit dem Morgen schon für Substanzen konsumiert hatte. Die übliche bunte Mischung aus Alk, Gras, Zigaretten, Benzos, Adderall und Neurontin, abwechselnd über den Tag verteilt. Er hatte noch ein paar Percocet übrig, aber die hob er sich für später am Abend auf. Eigentlich hatte er nichts allzu Exotisches intus, nichts, was ihn wild halluzinieren lassen würde. An und für sich war er ziemlich nüchtern, zumindest für seine Verhältnisse.
Er überlegte, ob er sich vielleicht so darauf fixiert – oder darauf gestiert – hatte, dass seine angestrengten Augen irgendwann einfach gesehen hatten, was sie hatten sehen wollen. Oder war das einfach Gottes Art, in der neuen Welt in Erscheinung zu treten? Vielleicht hatte Gott ja keinen Bock mehr auf spektakuläre Knalleffekte wie brennende Büsche und Heuschreckenplagen, sondern agierte jetzt durch die müden Augen betrunkener Iraner im Mittleren Westen, durch Zwei-Liter-Flaschen Bourbon von CVS und kleine rosa Tabletten mit der Prägung G31. Cyrus nahm einen Schluck aus der riesigen Old-Crow-Plastikflasche. Der Whiskey war für ihn, was für normale Leute ein Nachtschränkchen war, er stand immer am Kopfende seiner Matratze und hielt das Wichtigste beisammen. Tag für Tag zog er Cyrus aus demselben Schlaf, in den er ihn schließlich wieder sinken ließ.
Und da lag Cyrus nun, dachte über das Wunder nach, das ihm vielleicht gerade widerfahren war, und bat Gott, es zu wiederholen. Es zu bestätigen, so als würde man sein Passwort ein zweites Mal in den Browser eintippen. Falls der/die allwissende Schöpfer*in sich Cyrus hatte offenbaren wollen, dann doch sicher ganz unzweideutig. Cyrus fixierte die Glühbirne an der Decke, die im Zigarettenrauchnebel wie ein verschwommener Mond aussah, und wartete darauf, dass es noch einmal passierte. Aber Fehlanzeige. Das hauchzarte Flackern, das er wahrgenommen oder nicht wahrgenommen hatte, kam kein zweites Mal. Im muffigen Dunst seiner relativen Nüchternheit – an sich schon wieder eine Art High –, inmitten von Unterwäsche, Dosen, getrockneter Pisse, leerer orangener Tablettenfläschchen und halb gelesener Bücher, die mit gebrochenem Rücken auf dem Boden lagen und wegsahen, musste Cyrus sich entscheiden.
Zwei Jahre später
«Für dich würde ich sterben», sagte Cyrus und sah sich in dem kleinen Krankenhausspiegel tief in die Augen. Er war sich zwar nicht sicher, ob er das wirklich ernst meinte, aber der Satz fühlte sich gut an. Cyrus spielte schon seit Wochen den Sterbenden. Nicht auf die Sylvia-Plath-Weise – «Ich habe es wieder gekonnt. Einmal jedes Jahrzehnt bring ich es fertig» –, sondern als Simulationsperson in der Uniklinik der Keady. Fünfzehn Stunden pro Woche tat Cyrus für zwanzig Dollar die Stunde, als würde er «zu denen gehören, die zugrunde gehen». Es gefiel ihm, wie der Koran das ausdrückte, nicht, «bis du stirbst», sondern, bis du «zu denen gehörst, die zugrunde gehen». Es verhieß die Ankunft in einer neuen Gemeinschaft, die dich schon sehnsüchtig erwartete. In einem Büro in der vierten Etage bekam er von der Sekretärin eine Karte mit Namen und Identität des darzustellenden Patienten und einem Smiley, der einem Wert auf einer Schmerzskala von 0 bis 10 entsprach, wobei die 0 ein lächelndes Kein-Schmerz-Gesicht, die 4 ein neutrales Mittlerer-Schmerz-Gesicht und die 10 ein entsetzlich schluchzendes Stärkster-vorstellbarer-Schmerz-Gesicht mit einem umgedrehten U als Mund war. Cyrus hatte seine Berufung gefunden.
Manchmal war er selbst der oder die Todgeweihte. An anderen Tagen spielte er einen Angehörigen. Heute Abend würde er Sally Gutierrez sein, dreifache Mutter mit einem Starker-Schmerz-Gesicht, auf der Skala eine 6. Mehr Informationen hatte Cyrus nicht, als eine nervöse Medizinstudentin in einem schlecht sitzenden weißen Kittel hereinkam und Cyrus/Sally darüber informierte, dass ihre Tochter nach einem Autounfall ins Krankenhaus gebracht worden sei, wo ihr Team zwar alles in seiner Macht Stehende getan habe, sie aber leider nicht habe retten können. Cyrus versuchte, seine Reaktion genau auf eine 6 abzustimmen; er kämpfte mit den Tränen. Ob er seine Tochter sehen dürfe, fragte er die Medizinstudentin. Er fluchte und schrie sogar kurz ein bisschen. Als Cyrus an diesem Abend ging, nahm er sich aus dem Körbchen auf dem Tisch der Sekretärin einen Schokomüsliriegel.
Die Medizinstudenten versuchten oft, ihn zu trösten, übereifrig wie Vormittagstalkshowmoderatoren. Oder sie fanden die Situation viel zu künstlich und machten kaum Anstalten, auf ihn einzugehen. Kamen ihm mit Plattitüden von einer auswendig gelernten Liste und versuchten, ihn an den psychologischen Dienst des Krankenhauses zu verweisen. Nachdem sie dann wieder gegangen waren, musste Cyrus auf einem fotokopierten Bewertungsbogen festhalten, wie empathisch sie sich verhalten hatten. Eine kleine Kamera auf einem Stativ zeichnete jeden Dialog zu Auswertungszwecken auf.
Manchmal fragten die Studierenden Cyrus, ob er bereit sei, die Organe seines Angehörigen zur Transplantation freizugeben. Das war eins der Gespräche, auf das sie an der Uni vorbereitet wurden. Sie hatten die Aufgabe, ihn zu überzeugen. Cyrus war Buck Stapleton, Trainerassistent der Uni-Footballmannschaft, ein gläubiger Katholik. Gelassen, auf der Skala eine 2: «Geringer Schmerz». Das Gesicht lächelte sogar noch, wenn auch nur ein bisschen. Seine Frau lag im Koma, ihr Hirn zeigte keinerlei Spuren von Aktivität mehr. «Sie kann immer noch anderen Menschen helfen», sagte die Studentin und legte Cyrus unbeholfen eine Hand auf die Schulter. «Sie kann immer noch jemandem das Leben retten.»
Cyrus mochte den Job schon allein wegen der unterschiedlichen Rollen. Er war Daisy VanBogaert, eine diabeteskranke Buchhalterin, deren Unterschenkelamputation zu spät erfolgt war. Für ihre Rolle musste er sogar ein OP-Hemdchen anziehen. Er war ein deutscher Immigrant, Franz Links, Ingenieur mit einem schweren Lungenemphysem. Er war Jenna Washington, deren Alzheimer-Erkrankung schneller voranschritt als erwartet. Eine 8. «Intensiver Schmerz».
Die Ärztin damals beim Vorstellungsgespräch, eine ältere Weiße mit strengen Lippen und müdem Blick, hatte zu Cyrus gesagt, sie stelle gern Leute wie ihn ein. Auf seine hochgezogene Augenbraue hin erklärte sie schnell: «Laien, meine ich. Schauspieler kommen schnell auf so einen» – sie ließ die Hände in der Luft kreisen – «so einen Marlon-Brando-Trip. Die müssen sich dann immer gleich produzieren.»
Cyrus hatte auch versucht, seinen Mitbewohner Zee mit an Bord zu holen, aber Zee hatte das Vorstellungsgespräch kurzfristig abgesagt. Zbigniew Ramadan Novak, Sohn einer ägyptischen Mutter und eines polnischen Vaters, kurz Zee. Er sagte, er habe den Wecker verschlafen, aber Cyrus vermutete eher, dass er kalte Füße bekommen hatte. Zee ließ immer wieder Bedenken diesem Job gegenüber durchblicken. Als Cyrus einen Monat später gerade loswollte zum Krankenhaus, sah Zee ihm beim Anziehen zu und schüttelte den Kopf.
«Was ist?», fragte Cyrus.
Keine Antwort.
«Was ist denn?», fragte Cyrus noch einmal.
Zee verzog ein bisschen das Gesicht. «Das kann einfach nicht gesund sein, Cyrus.»
«Was kann nicht gesund sein?», fragte Cyrus.
Zee runzelte die Stirn.
«Diese Krankenhaussache?»
Zee nickte. «Ich meine, dein Gehirn kennt keinen Unterschied zwischen Spiel und Realität», sagte er. «Nach all dem Mist, den du durchgemacht hast? Das kann einfach nicht … gut für dich sein. So im Stammhirn.»
«Zwanzig Dollar die Stunde sind ziemlich gut für mich», sagte Cyrus grinsend, «gerade im Stammhirn.»
Das Geld kam ihm wirklich viel vor. Cyrus dachte daran, wie er noch zu Alk-Zeiten für genau diesen Betrag sein Plasma verkauft hatte, zwanzig Dollar pro Spende, nur dass sein dehydriertes, verkatertes Blut Stunden gebraucht hatte, um wie ein Milchshake durch einen dünnen Strohhalm herauszutropfen. Während er dalag, sah Cyrus mehrere Leute kommen, Blut spenden und wieder gehen.
«Und für mein Schreiben wird es mir garantiert auch irgendwann nützen», fügte Cyrus hinzu. «Wie war das, die Gedichte leben, die ich noch nicht schreibe?»
Cyrus schrieb wirklich gute Gedichte, wenn er es denn einmal tat, nur dass das selten der Fall war. Bevor er trocken wurde, hatte Cyrus weniger geschrieben, als zu diesem Zweck zu trinken, und behauptet, Alkohol sei für seinen Schaffensprozess essenziell, «beinahe heilig» – so drückte er es wirklich aus –, denn er verschaffe ihm «Zugang zu der verborgenen Stimme, die vom Alltagsgeschwafel übertönt wird». Aber natürlich tat er, wenn er trank, kaum je irgendetwas anderes. «Zuerst nimmst du einen Drink, dann nimmt der Drink einen Drink, und dann nimmt er dich!», ließ Cyrus gern unter Freunden oder in einer Bar verlauten, ohne sich zu erinnern, von wem er diesen Spruch geklaut hatte. Wenn er nüchtern war, litt er über weite Strecken an Schreibblockaden, genauer gesagt an Schreibambivalenz. Schreibwiderwillen. Dass Zee völlig aus dem Häuschen geriet, sobald Cyrus tatsächlich mal irgendetwas schrieb, machte es fast noch schlimmer; er schlich neugierig um jeden neuen Entwurf herum, lobte jeden Zeilenumbruch und jeden unreinen Reim und hätte am liebsten alles direkt an die Kühlschranktür gehängt.
«‹Die Gedichte leben, die du nicht schreibst?›», spottete Zee. «Ach komm, das hast du doch nicht nötig.»
«Doch, absolut», sagte Cyrus scharf, dann ging er.
Als Cyrus auf den Krankenhausparkplatz fuhr, ärgerte er sich immer noch. Es war nicht immer alles so komplex, wie Zee es darstellte, dachte Cyrus. Manchmal war das Leben halt einfach, was sich ergab, wenn eins zum anderen kam. Das war eins der vagen Axiome aus seinen Trinkertagen, an dem Cyrus auch jetzt, wo er trocken war, noch festhielt. Es war nicht fair, dass jetzt alle von ihm erwarteten, jede Entscheidung bis ins letzte Detail zu hinterfragen, nur weil er nicht mehr trank. Dieser Job oder jener, dieses Leben oder jenes. Allein, nicht zu trinken, war schon eine Herkulesaufgabe. Er hätte mehr Nachsicht gebraucht statt weniger. Die lange Narbe an seinem linken Fuß – er hatte vor Jahren mal einen Unfall gehabt – pochte schmerzhaft.
Cyrus meldete sich im Krankenhaus an und ging durch die Flure, vorbei an zwei stillenden Müttern, die nebeneinander in einem Wartezimmer saßen, und mehreren benutzten Betten, und stieg in den Aufzug. Als er in das Büro im vierten Stock kam, musste er sich bei der Rezeptionistin ein weiteres Mal anmelden und bekam dann seine Karte für den Nachmittag. Sandra Kaufmann. Mathelehrerin an einer Highschool. Gebildet, keine Kinder. Witwe. Eine Sechs auf der Schmerzskala. Cyrus setzte sich ins Wartezimmer, warf einen kurzen Blick zur Kamera und auf das «Hautkrebs erkennen»-Plakat mit den schauerlichen Bildern von auffälligen Muttermalen, Vorstufen von Krebs. Das ABC der Melanome: Asymmetrie, Begrenzung, Colorit, Durchmesser und Entwicklung. Cyrus stellte sich Sandras Haar rot vor, leuchtend rot wie das «Durchmesser»-Muttermal auf dem Poster.
Kurz darauf kam eine Medizinstudentin herein, sah Cyrus an und dann kurz die Kamera. Sie war etwas jünger als er, das kastanienbraune Haar am Hinterkopf zu einem perfekten Knoten zusammengebunden. Mit ihrer tadellosen Haltung sah sie aus wie eine Internatsschülerin, New-England-Adel. Cyrus fand sie reflexhaft scheiße. Diese Yankee-Adelsfassade. Er stellte sich vor, dass sie die Studienzulassungstests mit Bravour bestanden und eine Ivy-League-Uni besucht hatte, nur um dann enttäuscht festzustellen, dass sie fürs Medizinstudium bloß einen Platz an der Keady University bekommen hatte statt in Yale oder an der Columbia. Er stellte sich vor, wie sie freudlosen, aseptischen Sex mit dem aalglatten Sohn eines Geschäftspartners ihres Vaters hatte, sah die beiden in einem edlen Restaurant bei Kerzenlicht mürrisch zusammen in einer Kalbfleisch-Piccata stochern und den Brotkorb nicht anrühren. Eine unerklärliche, gnadenlose Verachtung überkam ihn. Allein schon, wie geräuschvoll sie die Tür öffnete und die Ruhe besudelte, die er gerade genossen hatte.
Nach einem weiteren Blick zur Kamera stellte sie sich vor: «Hallo, Miss Kaufmann. Ich bin Dr. Monfort.»
«Mrs Kaufmann», korrigierte sie Cyrus.
Die Medizinstudentin warf einen kurzen Blick in die Kamera. «Ähm, Verzeihung?»
«Mr Kaufmann mag nicht mehr am Leben sein, aber ich bin immer noch seine Frau», sagte Cyrus und zeigte auf einen imaginären Ehering an seiner linken Hand.
«Ich, ähm, das tut mir leid, Ma’am. Ich wollte bloß …»
«Kein Problem, Fräulein.»
Dr. Montfort ließ das Klemmbrett sinken und legte eine Hand auf den Rand des Waschbeckens neben sich, als müsste sie sich kurz sortieren. Dann begann sie zu reden: «Mrs Kaufmann, die MRT-Aufnahmen Ihres Gehirns zeigen einen großen Tumor. Mehrere große Tumore, die miteinander verbunden sind. Leider sind sie von sensiblem Hirngewebe umgeben, das die Atmung und die Herz-Lungen-Funktion steuert, und wir können nicht operieren, ohne schwere Schäden an diesen Systemen zu riskieren. Eventuell kämen für Sie Chemotherapie und Bestrahlung infrage, aber in Anbetracht von Lage und Entwicklungsgrad der Tumore hätten diese Behandlungen wahrscheinlich eher palliativen Charakter. Unsere Onkologin wird Ihnen sicher mehr dazu sagen.»
«Palliativ?», fragte Cyrus. Die Studierenden waren angehalten, Fachausdrücke und Euphemismen zu vermeiden. Nicht «an einen besseren Ort gehen». Es wurde empfohlen, so oft wie möglich das Wort «sterben» zu verwenden, denn es beugte Verwirrung vor und half den Patienten schneller durch die Phase der Verleugnung hindurch. «Ähm, ja. Zur Schmerzlinderung. Damit Sie beschwerdefrei alles Nötige regeln können.»
Alles Nötige regeln. Wie schlecht konnte man sein? Cyrus fand sie grottig.
«Entschuldigen Sie, Frau Doktor … Wie war noch mal Ihr Name? Milton? Wollen Sie damit sagen, ich werde sterben?» Halb lächelnd sprach Cyrus das Wort aus, das sie bisher noch nicht in den Mund genommen hatte, und genoss es, sie ein wenig zusammenzucken zu sehen.
«Ähm, ja, Miss Kaufmann, ähm, das tut mir wirklich sehr leid.» Ihre Stimme hatte etwas von einem Wildkaninchen, schien immer kurz davor, sich aus dem Staub zu machen.
«Mrs Kaufmann.»
«Ach so, ja richtig, natürlich.» Sie sah auf ihr Klemmbrett. «In meinen Unterlagen steht nur ‹Miss Kaufmann›, deshalb.»
«Frau Doktor, wollen Sie mir etwa erzählen, ich weiß nicht mehr, wie ich heiße?»
Die Medizinstudentin blickte verzweifelt in die Kamera.
Anderthalb Jahre zuvor, als Cyrus gerade frisch trocken war, hatte er zu seinem Sponsor Gabe gesagt, er halte sich im Kern für einen schlechten Menschen. Egoistisch, nur um sich selbst kreisend. Richtiggehend grausam. Ein trunksüchtiger Pferdedieb, der nicht mehr trinkt, ist auch bloß ein nüchterner Pferdedieb, hatte Cyrus gedacht und war stolz gewesen auf diesen Gedanken. Diese Zeile würde er in abgewandelter Form später in zwei Gedichten verwenden.
«Aber du bist kein schlechter Mensch, der ein guter zu werden versucht. Du bist ein Kranker, der zu genesen versucht», hatte Gabe geantwortet.
Cyrus dachte darüber nach. Aber Gabe war noch nicht fertig.
«Für die Welt macht es keinen Unterschied, ob jemand ein guter Mensch ist oder ein schlechter, der sich wie ein guter verhält», sagte er. «Ich glaube sogar, Gott liebt den zweiten ein klein wenig mehr.»
«Gutmensch-Drag», dachte Cyrus laut nach. So nannten sie es von da an.
«Natürlich nicht, Mrs Kaufmann, ich wollte keinesfalls mit Ihnen diskutieren», stammelte die Medizinstudentin. «Offenbar ist Ihr Name in meinen Unterlagen fehlerhaft angegeben. Das tut mir sehr leid. Gibt es jemanden, den wir anrufen sollen?»
«Wen soll ich Ihnen da nennen?», fragte Cyrus. «Meinen Direktor? Ich bin ganz allein.»
Dr. Monfort sah unbehaglich aus. Das rote Kameralämpchen blinkte die ganze Zeit, wie ein Glühwürmchen, das sich über das Gespräch mokierte.
«Wir haben hier an der Keady ein fabelhaftes Psychologenteam», sagte sie. «Im nationalen Vergleich ganz vorne …»
«Hatten Sie schon mal einen Patienten, der sterben wollte?», unterbrach Cyrus sie.
Die Medizinstudentin sah ihn nur schweigend an; ihr ganzes Wesen strahlte pure Verachtung, mühsam im Zaum gehaltenen Zorn aus. Cyrus rechnete halb damit, gleich eine gescheuert zu kriegen.
«Oder vielleicht nicht sterben», sagte Cyrus, «aber einfach seinem Leiden ein Ende bereiten?»
«Also, wie ich schon sagte, bieten wir eine Vielzahl palliativer Behandlungsmöglichkeiten an», zischte sie, sah Cyrus in die Augen, Cyrus-Cyrus, nicht Mrs Kaufmann, und versuchte, ihn durch Willenskraft wieder in seine Rolle zu zwingen.
Er ignorierte sie.
«Als ich das letzte Mal dachte, ich will sterben, hab ich mich mit einer Pulle Everclear in die Wanne gelegt. Sie wissen schon, dieser 95-prozentige Alkohol. Ich hab das Zeug direkt aus der Flasche getrunken und mir auch ein bisschen was auf den Kopf gekippt. Einen Schluck für mich, einen für meine Haare. Der Plan war, die Flasche leer zu machen und mich dann anzuzünden. Theatralisch, was?»
Dr. Monfort schwieg.
«Nach ungefähr einem Viertel», fuhr Cyrus fort, «ist mir plötzlich klar geworden, dass ich keinen Bock habe, alle Nachbarn mit anzuzünden.»
Das stimmte. Dieses kleine Aufblitzen von Klarheit, wie ein Sonnenreflex auf der Haut einer Schlange im Gras. Das war ein paar Monate, bevor Cyrus trocken wurde, und erst, als er ordentlich betrunken war, fiel ihm überhaupt erst wieder ein, dass es ja auch noch andere Menschen im Haus gab und dass ein Feuer sich ausbreiten und, wenn er sich im Badezimmer einer Erdgeschosswohnung anzündete, wahrscheinlich auch auf alle anderen Wohnungen übergreifen würde. So wirkte Alkohol manchmal, sorgte – ganz kurz nur – für eine Klarheit, die in seinem Kopf nicht von allein herrschte. Es war, als säße man beim Augenoptiker und bekäme verschiedene Gläser vorgehalten, und manchmal war es der richtige Wert, der einen die Welt für eine Sekunde so sehen ließ, wie sie war, jenseits des eigenen Schmerzes und der eigenen Verdammnis. Diese Klarheit brachte nur Alkohol, sonst nichts. Einen Blick auf das Leben, wie andere ihn hatten – das Leben als Bleibe. Aber natürlich verschwamm in der nächsten Sekunde alles wieder, wurde unschärfer und trüb, bis man schließlich nur noch die Dunkelheit des eigenen Schädels wahrnahm.
«Können Sie sich das vorstellen?», fragte Cyrus. «Dass ich erst betrunken sein musste, um auf den Gedanken zu kommen, dass mein Feuer in der Wanne nicht einfach so ausgehen wird, nachdem ich verbrannt bin?»
«Mrs Kaufmann …» Die Medizinstudentin rang die Hände, eins der «körperlichen Anzeichen für Stress», die Cyrus auf dem Evaluationsbogen festhalten sollte.
«Ich weiß noch, wie ich da in der Wanne saß und versucht habe, genau das mit mir auszumachen. Kümmert es mich überhaupt, ob ich noch andere mitnehme? Diese Fremden? Ich musste erst überlegen, ob sie mir etwas bedeuten oder nicht. Wie abgefuckt ist das denn bitte?»
«Mrs Kaufmann, wenn Sie Suizidgedanken haben, können wir Ihnen professionelle …»
«Ach, kommen Sie, unterhalten Sie sich doch einfach mit mir. Sie wollen Ärztin sein? Ich sitze hier vor Ihnen und rede. Irgendwann bin ich dann aufgestanden und hab mich aus dem Gebäude geschleppt, nass vom Alkohol, aber gar nicht allzu sehr, ist wahrscheinlich schnell verflogen, jedenfalls war ich ziemlich überrascht, dass ich gar nicht so nass war. Zwischen unserem Gebäude und dem daneben gab es ein kleines Rasenstück und eine Picknickbank mit so einem fest eingebauten Holzkohlegrill. Ich fand das brüllend komisch, den Gedanken, mich direkt neben einem Grill selbst anzuzünden. Dann holte ich das Everclear und das Feuerzeug raus – ein Chicago-Bears-Feuerzeug, das weiß ich noch ganz genau, ist doch komisch, oder? Keine Ahnung, wo das herkam. Und dann saß ich da auf dieser Bank und fühlte mich, obwohl ich das ganze Everclear in mir und auf mir hatte, na ja, nicht direkt glücklich, aber vielleicht … wie eine Qualle, die einfach im Meer treibt? Irgendwer hat mal gesagt, Alkohol reduziert die ‹verheerende Intensität› des Lebens. Vielleicht war es das.»
Draußen hingen jetzt dicke, dunkle Regenwolken, der ganze Himmel ein verwundetes Tier in einem letzten wilden Tobsuchtsanfall. Das Krankenhauszimmer hatte ein kleines Fenster ganz oben an der Wand, wahrscheinlich, damit niemand von der Straße hereinschauen konnte. Die Medizinstudentin rührte sich nicht.
«Haben Sie auch dieses Organ hier?», fragte Cyrus sie und zeigte auf seine Kehle. «So ein Verdammnisorgan, das die ganze Zeit pulsiert? Und hartnäckig Angst verbreitet? So als würde es glauben, dass hinter dem Vorhang ein Panther lauert, der Sie jeden Moment zerfleischen will, nur dass da kein Panther ist und nicht mal ein Vorhang? Ich wollte einfach, dass das aufhört.»
«Was haben Sie dann gemacht?», fragte die Medizinstudentin schließlich. Sie hatte sich offenbar ein wenig entspannt, gab sich dem Fluss des Augenblicks hin.
«Ich bin wieder reingegangen in meine Wohnung», sagte Cyrus achselzuckend. «Ich wollte meinen Schmerz nicht mehr ertragen. Und bei lebendigem Leib zu verbrennen, diese Vorstellung kam mir plötzlich sehr schmerzhaft vor.»
Dr. Montfort lächelte und nickte ein winziges bisschen.
«Dann hab ich geduscht und bin eingeschlafen», fuhr Cyrus fort. «Ich bin noch da. Aber die Angst eben auch. Ich dachte, es würde besser werden, wenn ich nicht mehr trinke; das Trockenwerden kam dann später. Die Genesung. Und in gewisser Weise wurde es auch besser. Ich bin jetzt sicher nicht mehr so eine Last für die Menschen um mich herum, mache ihnen weniger Angst. Aber ich habe es immer noch, dieses Verdammnisorgan.» Er zeigte noch einmal auf seinen Hals. «Es sitzt da in meiner Kehle und pulsiert den ganzen Tag, jeden Tag. Trockenwerden, Freunde, Kunst – das alles betäubt es nur kurz. Wie war noch mal das Wort, das Sie dafür verwendet haben?»
«Palliativ?»
«Ja, genau, palliativ. Dieser ganze Kram ist palliativ. Er lindert das Leid, aber es geht davon nicht weg.»
Die Medizinstudentin schwieg einen Moment, dann setzte sie sich Cyrus gegenüber auf einen Stuhl. Vom Fenster her fielen schwarz-blaue Strahlen auf sie, als wäre ein himmlisches Scheinwerferlicht auf sie gerichtet. «Wissen Sie, Mrs Kaufmann», sagte sie schließlich wohlüberlegt, «psychische Begleiterkrankungen sind gar nicht so ungewöhnlich, sie treten sogar häufig auf. Offenbar haben Sie sich für Ihre Suchtproblematik bereits Hilfe geholt, das ist großartig. Aber es kann sein, dass daneben noch eine weitere Erkrankung vorliegt, die bisher noch unbehandelt ist, eine Angststörung oder eine schwere Depression oder irgendetwas anderes. Vielleicht würde es Ihnen guttun, sich auch dafür Hilfe zu holen.» Sie lächelte ein wenig. «Wissen Sie, es ist nie zu spät, selbst mit den Tumoren.» Das war ihre Art, Cyrus wieder zurück in seine Rolle zu komplimentieren, und er fügte sich. Plötzlich schämte er sich in Grund und Boden.
Für den Rest des Gesprächs verhielt er sich nett und angenehm. Als die Medizinstudentin ein paar Minuten später das Zimmer verließ, schrieb er ihr eine kurze, aber glänzende Beurteilung und eilte zutiefst beschämt aus dem Krankenhaus.
Von: Rear Admiral William M. Fogarty, USN
An: Commander in Chief, U.S. Central Command
Betr.:OFFIZIELLE UNTERSUCHUNG DER UMSTÄNDE DES ABSCHUSSES EINES PASSAGIERFLUGZEUGS DURCH DIE USS VINCENNES (CG. 49) AM 3. JULI 1988 (U)
IV. Meinungen
>A. GENERAL
1. Die USS Vincennes hat die iranische Passagiermaschine nicht vorsätzlich abgeschossen.
Am Abend fuhr Cyrus zu einem Meeting der Anonymen Alkoholiker im Camp5 Center, dem lokalen AA-Klubhaus. Es war ein umgebautes Wohnhaus vom Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts, mit einem Giebeldach und altersschwachen, in schmuddeligem Blauviolett angestrichenen Balken. Auf dem Parkplatz stand eine Gruppe bärbeißiger älterer Kettenraucher, die quasi zum Inventar gehörten, während ein paar jüngere Leute zu den Meetingzeiten verschämt mit ihren Formularen rein- und raushuschten und jeden Blickkontakt mieden.
Cyrus ging durch Zigarettenrauch und Vape-Nebel zum Haupteingang hinein und die Treppe hoch zu einem Fensterchen, hinter dem Angus B., ein wortkarger älterer Herr, tagsüber Snacks verkaufte, einen Becher Kaffee oder Cookies für fünfzig Cent und Eiersalat-Sandwiches für zwei Dollar, Einnahmen, die der Monatsmiete von Camp5 zugutekamen. Cyrus holte sich einen Becher Kaffee und ging hinunter in das spärlich beleuchtete Kellergeschoss. In einem großen, düsteren Raum waren sechs lange Plastik-Klapptische verteilt, und drumherum standen unbequeme Holzstühle aus dem Inventarabverkauf der Uni.
Sein Sponsor war da. Gabe B., Gabriel Bardo. Er war Ende fünfzig und seit dreiunddreißig Jahren trocken. Aufgewachsen in Orange County, hatte er die meiste Zeit seines Lebens beim Fernsehen gearbeitet und unterrichtete jetzt an der Volkshochschule Dramatik. Gabe hatte was von einer alten Eiche in Jeansjacke, mit einem dominanten Unterkiefer, einem dicken weißen Schnauzbart und großen Händen, die eigentlich immer rissig waren von der Arbeit an irgendeinem Projekt. Er saß schon am hintersten Tisch, und Cyrus ließ sich wortlos auf den freien Stuhl neben ihm fallen.
Während des Meetings schweiften Cyrus’ Gedanken andauernd ab. Das heutige Thema, «Das Leben nach seinen Regeln leben», war so breit gefasst, dass es alles und nichts bedeutete. Ein weißer Mann mittleren Alters feierte zum vierten Mal innerhalb eines Jahres dreißig trockene Tage. Alle klatschten. Ein älterer Mann beweihräucherte sich für seine Großmut in einem Streit mit einem Geschäftspartner und sagte: «Wenn du es einfach laufen lässt, geht’s bergab.» Alle nickten. Auf seinem T-Shirt stand in großen weißen Buchstaben: «Ich jogge nicht, ich LADE MEINE AKKUS.» Eine adlerartige junge Frau erzählte, wie sie beim Tag der offenen Tür in der Vorschule ihrer Tochter auf der Toilette gekokst hatte. Alle lachten. Gabe erzählt von seinem Sohn – Shane, nach dem Western –, der Probleme in der Schule hatte, andauernd schwänzte und insgesamt einfach ein Teenager war. Nachdem er berichtet hatte, wie ihm neulich der Kragen geplatzt war, weil Shane in der Küche ein einziges Chaos hinterlassen hatte, sagte Gabe: «Der Unterschied zwischen Himmel und Hölle besteht für mich darin, dass mir das Chaos egal ist.»
Zustimmendes Murmeln im ganzen Raum. Noch ein paar Leute erzählten, was sie gerade bewegte. Cyrus hatte eigentlich gar nicht vorgehabt, sich zu Wort zu melden, und war hauptsächlich aus Gewohnheit oder Trägheit da, aber gegen Ende des Meetings regte sich irgendetwas Ruheloses in ihm.
«Hi, mein Name ist Cyrus, und ich bin Alkoholiker», sagte er. Ein paar Köpfe drehten sich in seine Richtung, aber die meisten im Raum wussten, wer er war und wie er aussah.
«Ich war heute total mies zu dieser einen Frau bei der Arbeit. Ich kannte sie nicht mal und hab mich ohne jeden Grund wie der letzte Arsch benommen. Und wisst ihr was? Es hat sich gut angefühlt. Es war super, sie so nervös zu machen. Die Kontrolle zu haben. Wir reden hier die ganze Zeit übers Aufgeben, Loslassen. ‹Wir fassten den Entschluss, unseren Willen und unser Leben der Sorge Gottes – wie wir ihn verstehen – anzuvertrauen.› Die Kontrolle abzugeben. Aber eigentlich empfinde ich nur in den Momenten, in denen ich das Cockpit stürme, überhaupt noch irgendwas, dann weiß ich wieder, wer ich eigentlich bin. Das Cockpit stürme? Ungute Metapher.» Cyrus lächelte und holte tief Luft. «Ich treffe keine großen Entscheidungen in meinem Leben. Die meiste Zeit sitze ich bloß rum und höre mein Hirn immer wieder denselben Mist fragen: ‹Würdest du nicht lieber masturbieren?› ‹Irgendwas Überwältigendes tun?› Und die Antwort lautet jedes, aber auch wirklich jedes Mal: ja, ja. Ich setz mir Kopfhörer auf und dreh so laut, dass es wehtut, ich bin total arschig zu einer Frau, die bloß ihren Job macht. Weil es sich anders anfühlt als nichts. Und genau das ist Nüchtern-Sein. Nichts. In jeder Hinsicht. Früher habe ich nur was gespürt, wenn es die totale Ekstase war oder ein so greller Schmerz, dass er mich ausgeknockt hat. Den Rest haben die Drogen und der Alkohol einfach weggeschliffen, wie Schmirgelpapier. Aber jetzt ist alles nur noch diese nichtssagende Mitte.»
Ein wieselartiger jüngerer Typ, Joe A., drehte sich demonstrativ um und sah auf die Uhr hinter sich an der Wand. Cyrus erzählte weiter.
«Als ich klein war, hat mein Dad, wenn er die richtige Menge Gin intus hatte, darauf bestanden, dass ich vorm Schlafengehen bete. ‹Sprich einfach mit Gott›, hat er gesagt, ‹sprich mit deiner Mutter. Erzähl ihnen, wie’s dir geht.› Das war dasselbe, mit Gott sprechen und mit meiner toten Mom sprechen. Und ich tat es, ich erzählte Gott, wie beschissen es mir ging, ich flehte meine Mutter an, irgendwas zu machen, damit diese Traurigkeit aufhört. Mit sieben noch, mit zehn. Und ich bot ihnen Deals an, wie zum Beispiel: ‹Du kannst mir zwanzig Jahre vom Ende meines Lebens wegnehmen, wenn du machst, dass jetzt nicht mehr alles so scheiße ist.› Keine Ahnung, warum ich überhaupt so traurig war. Ich hatte Freunde. Ich hatte genug zu essen. Aber da war einfach tief in mir drin irgendwas faul. Gott? Meine Mom? Das waren nur Wörter. Das ist das Problem. Und die Frau heute bei der Arbeit, die hat all diese Sachen gesagt, all diese Wörter. Sie waren so leer, und ich hab sie dafür gehasst. Und dieses Programm hier auch. Alles nur Gerede. Ich meine, früher hab ich andauernd ins Bett gepinkelt und wollte mich umbringen. Jetzt pinkele ich immerhin nicht mehr ins Bett. Ist doch schon mal was, oder? Objektiv betrachtet. Aber ich sperre mich dagegen. Ich bin die ganze Zeit traurig. Wütend. Wenn ich gnadenlos ehrlich bin, halte ich die meisten von euch immer noch für Vollidioten. Würden wir uns außerhalb dieser Räume hier treffen, würdet ihr mich wahrscheinlich abschieben wollen …»
«Thema außerhalb der Gemeinschaft!», blaffte Big Susan, eine zierliche ältere Frau mit Haaren auf den Zähnen, die trotz ihres Spitznamens gerade mal eins fünfzig groß war. «Hat nichts mit AA zu tun!» Ihre Stimme ließ alle im Raum sofort eine Spur gerader sitzen.
«Genau das meine ich», sagte Cyrus, sah Big Susan an und hob die Hände. «Genesung besteht aus Wörtern, und für die gibt es alle möglichen Regeln. Wie soll etwas so Begrenztes etwas so Großes wie ein ‹höheres Wesen› beeinflussen, was zum Teufel das sein mag? Und wie werde ich diesen riesigen Klumpen Fäulnis in mir los? Der fühlt sich an wie ein riesiger Schwamm, der alles auf der Welt aufsaugt, was sich eigentlich gut anfühlen soll. Welche Wörter könnten daran etwas ändern?» Cyrus schnaubte erschöpft, ärgerlich über sich selbst. «Keine Ahnung. Echt keine Ahnung. Tut mir leid.»
Erschöpft ließ er sich auf seinen Stuhl sacken. Für ein, zwei Sekunden war es still im Raum – eine Ewigkeit für diese Gruppe –, dann schwärmte Mike P., ein ehemaliger Crack-Junkie, inzwischen Cafébesitzer, was für ein wunderschöner Tag es sei, um trocken zu sein, mit der Sonne und den Wolken und den Bäumen. Gabe sah Cyrus einen kurzen Moment an, deutete ein Nicken an und schürzte die Lippen, was so viel heißen sollte wie: «Wirklich sehr interessant.»
Als Gabe Cyrus nach dem Meeting fragte, ob er noch mit ihm ins Secret Stash komme, das Café von Mike P. in der Stadt, war Cyrus klar, dass es keine Frage war. Sie fuhren getrennt, Gabe in seinem blauen Volvo und Cyrus in seinem alten Chevy Cavalier. Gabe war zuerst da und hatte gerade bestellt, als Cyrus ankam – einen doppelten Espresso für sich selbst und einen Americano für Cyrus, schwarz. Die beiden warteten schweigend auf ihre Getränke und setzten sich dann ganz nach hinten an ein rundes Tischchen. An den Wänden hingen Kohlezeichnungen aus einem Highschool-Kunstkurs, groteske Gesichter in handgezeichneten Instagram-Frames.
«Ein Gott aus Wörtern also, hm?», sagte Gabe schließlich. Er riss ein Tütchen braunen Zucker auf, ließ ihn in seinen Espresso rieseln und rührte um. Im Café lief dieser lärmende Arcade-Fire-Song, den man oft bei Hockey-Spielen hörte.
«Ach, keine Ahnung», sagte Cyrus. «Ich bin einfach traurig. Soll man nicht genau über so was reden?»
«Doch, klar», sagte Gabe, «auf jeden Fall.» Er beugte sich über den Tisch und sah Cyrus an. «Du hast da was Rotes im Auge.»
«Was?»
«Ein Blutgefäß oder so?» Gabe deutete auf seinen eigenen rechten Augenwinkel, um Cyrus zu zeigen, wo er nachsehen sollte. Cyrus zog das Handy heraus und betrachtete sich mit der Handykamera. Eine kleine rote Pangaea im Weiß seines Auges, die bis in die Iris ausblutete.
«Oh, Shit.»
«Alles klar?», fragte Gabe.
«Ja, keine Ahnung. Hab vielleicht komisch geschlafen oder so.»
«Oder so, klar. Okay: Ein Gott aus Wörtern, du bist traurig. Erzähl weiter.» Er trank von seinem Espresso, was einen kleinen Schaummond unten an seinem weißen Schnauzbart hinterließ.
«Das war’s eigentlich. Die große pathologische Traurigkeit. Ob ich drüber nachdenke oder nicht. Wie eine riesige Bowlingkugel auf dem Bett, letztlich rollt alles darauf zu.»
«Vielleicht glaubst du nicht daran, dass Gott will, dass du glücklich bist? Gott, deine Mutter, Poesie, was auch immer. Was macht dich so besonders, dass alle anderen das verdienen, nur du nicht?»
«Was soll das überhaupt heißen? ‹Gott, deine Mutter, Poesie, was auch immer.› Ich hab keine Ahnung, wen Big Susan oder Mike oder irgendwer von diesen Leuten mit einem ‹höheren Wesen› meinen. Die meisten stellen sich wahrscheinlich einen bärtigen alten Mann auf einer Wolke vor, der böse wird, wenn ich einen Schwanz lutsche, und alle Muslime zur Hölle schickt. Was soll mir dieses höhere Wesen bringen?» Cyrus hielt inne. «Ich habe die ganzen alten Mystiker gelesen. Wenn ich irgendein persisches höheres Wesen finden könnte, irgendwas aus dem Islam …»
«Hör doch auf mit diesem Geschwätz.» Gabe verdrehte theatralisch die Augen. Die Kohle-Teenager sahen mit bedrohlich gefletschten Zähnen auf sie herab. «Du bist so amerikanisch, wie es überhaupt geht. Du hast Shane gezeigt, wie man Maddenspielt und die Marvel-Filme als Torrent runterlädt. Du kaufst verdammte Vinyl-Platten. Und wir sitzen hier in Indiana und unterhalten uns, nicht in Teheran.»
Gabe war der einzige Mensch in Cyrus’ Leben, weiß oder nicht weiß, der so mit ihm sprach. Diese Art zu reden, die irgendwie punkige «Ich-scheiß-drauf»-Altmännerattitüde, hatte Cyrus lange Zeit imponiert, auch wenn sie bedeutete, dass Gabe sich manchmal weit jenseits der Grenzen politischer Korrektheit bewegte. Aber so sehr er Gabe theoretisch um seine Fähigkeit beneidete, sich die rhetorische Hygiene unserer Tage am Allerwertesten vorbeigehen zu lassen – jetzt in diesem Moment, in dem ihm die Episode mit Dr. Monfort noch in den Knochen saß, spürte er selbstgerechte Wut in sich hochkochen.
Als Cyrus vor zwei Jahren seinen Fünften Schritt absolvierte – Gabe seine tiefsten, bestgehüteten Geheimnisse enthüllte – und beiläufig erwähnte, auch mit Männern geschlafen zu haben, hatte er eine schockierte Reaktion oder wenigstens einen seiner typischen «O-ha»-Blicke erwartet. Stattdessen sagte Gabe nur, er selbst sei mit Hunderten von Männern im Bett gewesen.
«Südkalifornien in den Siebzigern halt», meinte er achselzuckend, als sei das damals normal gewesen.
«Ich hätte gedacht, das würde dich mehr überraschen», gab Cyrus zu. «Weil ich ja eigentlich als hetero durchgehe.»
«Ach Herzchen», sagte Gabe und kicherte, «hetero, ja?»
Gabe verehrte John Wayne und sah auch so aus wie er. Kinn- und kieferlastiges Gesicht, dunkle, tief in den Höhlen liegende Augen wie Klatschmohnblüten. Mit seinem Dramakurs schrieb er nicht nur Stücke, sondern baute auch die Kulissen dazu, durchstöberte den weitläufigen Campus der Keady nach alten Paletten und lud sie in seinen Volvo. Seit seine Frau, die er bei AA kennengelernt hatte, rückfällig geworden und spurlos aus Indiana verschwunden war, zog er Shane allein groß. In Cyrus’ Wahrnehmung war Gabe eine bestimmte Art von Mann – spießig und konservativ –, nur dass Gabe ihm immer wieder vor Augen führte, was für ein himmelweiter Unterschied zwischen dem Bild auf dem Cover und der Story im Inneren bestand; er war Überraschungen von ihm inzwischen durchaus gewohnt.
Cyrus beschloss, nicht auf den Indiana-und-nicht-Teheran-Kommentar einzugehen, und nahm nur eine vage Kampfhaltung ein, verschränkte Arme und vorgeschobene Unterlippe.
«Ich hab deine Gedichte gelesen, Cyrus. Ich hab kapiert, dass du Perser bist. Dort geboren, hier aufgewachsen. Mir ist klar, dass das ein Teil von dir ist. Aber du hast wahrscheinlich allein heute schon mehr Zeit mit deinem Smartphone verbracht als mit dem Zerteilen von Granatäpfeln. In deinem ganzen Leben zusammen. Stimmt’s? Aber wie viele beschissene Granatäpfel kommen in deinen Gedichten vor? Und wie viele iPhones? Verstehst du, was ich meine?»
Cyrus hätte ihm am liebsten eins in die Fresse gegeben. Weil er rassistisch war. Und weil er ein bisschen recht hatte.
«Ich will kein Arsch sein», sagte Gabe, jetzt mit sanfter Stimme. «Aber das ist eine Masche. Es ist eine Masche, und sie steht deiner Genesung im Weg. Und deiner Kunst. Und das wird dir niemand so schonungslos sagen wie ich. Das kann dir niemand sagen. Mir macht es nichts aus, wenn du stinksauer auf mich bist. So ein Gesicht ziehst wie jetzt gerade. Damit kann ich leben. Aber wenn du gleich rausgehst und dich deswegen betrinkst, dir schadest, damit kann ich nicht leben.»
Der hagere Typ mit den riesigen Kopfhörern am Nebentisch tippte wie wild auf seinem Laptop herum, wie ein Hacker im Film, der versucht, das Pentagon zu knacken. Aus den Lautsprechern des Cafés wurde jetzt eine Ballade gehaucht, die Cyrus nicht kannte.
«Bist du fertig mit deinem Monolog, oder kommt noch irgendwas Spannendes?», blaffte Cyrus schließlich.
Gabe beugte sich vor. «Weißt du, wie beim Theater die Regel Nummer eins lautet?»
Cyrus schüttelte den Kopf, nur ein winziges bisschen. Es kam ihm schon wie ein Zugeständnis vor, sich auch nur Gabes Fragen anzuhören.
«Schick nie eine Figur auf die Bühne, ohne zu wissen, was sie will.»
Cyrus runzelte die Stirn. «Ich weiß schon, was ich will», sagte er.
«Wirklich?» Gabe hatte sich über das Tischchen gebeugt, das mit seinen großen Händen darauf wie ein hölzerner Essteller aussah.
«Ich will nicht bedeutungslos sein», flüsterte Cyrus.
«Wer will das schon. Tiefer.»
«Ich will Kunst erschaffen. Große, bedeutungsvolle Kunst.»
«Gut. Weiter.»
«Reicht das nicht?», fragte Cyrus gereizt.
«Hinz und Kunz hält sich für einen unentdeckten genialen Künstler, Cyrus. Was erwartest du – du und niemand anders – von deiner nie dagewesenen und nicht wiederholbaren Existenz? Was macht dich aus und unterscheidet dich von allen anderen?» Gabe stocherte mit dem Nagel des kleinen Fingers zwischen den Zähnen und zog etwas hervor. Ihm fehlte ein Schneidezahn, was ihm ein etwas jungenhaftes Aussehen verlieh.
Cyrus schwieg einen Moment, dann sagte er:
«Ich will sterben. Ich glaube, das wollte ich schon immer.»
«Hm.» Gabe kniff die Augen zusammen. «Darauf kommen wir später noch mal zurück. Erzähl weiter.»
«Herrgott, was weiß denn ich. Meine Mom ist völlig sinnlos gestorben. Ein Rundungsfehler. Sie musste sich ihren Tod mit dreihundert anderen Leuten teilen. Und mein Dad ist sang- und klanglos gestorben, nachdem er jahrzehntelang auf einer Geflügelfarm Hühnerscheiße weggemacht hat. Mein Leben – mein Tod – soll mehr bedeuten.»
«Du willst ein Märtyrer sein?», fragte Gabe und zog die Augenbrauen hoch.
«Wahrscheinlich schon, ja. So was in der Art.»
«Cyrus», sagte Gabe lächelnd, «du kannst doch nicht mal deine Wäsche waschen.» Er deutete mit dem Kinn auf Cyrus’ knittriges T-Shirt, das am Kragen ein paar Kaffeeflecken hatte. «Und du glaubst, du bist in der Lage, mit einer Bombe auf der Brust in ein Café zu spazieren?» Obwohl sich seine Stimme bei dem Wort «Bombe» kein bisschen veränderte, zuckte Cyrus zusammen.
«Ist dir eigentlich klar, wie rassistisch das gerade war?», flüsterte Cyrus, und wie eine Schlange, die böse züngelnd aus ihrem Loch kam, kroch die Wut in seiner Kehle hoch.
«Habe ich etwa unrecht?», fragte Gabe mit ernster Miene.
«Ich meine nicht so einen Märtyrer», sagte Cyrus. «Wobei …»
«Ja?», fragte Gabe. Der Espressorand an seinem Schnauzbart sah einfach lächerlich aus.
«Kannst du dir vorstellen, diese Art von Glauben zu haben?», fragte Cyrus. «Dir einer Sache ganz sicher zu sein, auch wenn du sie nie mit eigenen Augen gesehen hast? Ich bin mir bei nichts sicher, nicht mal bei der Schwerkraft.»
«Genau diese Sicherheit setzt ihnen Würmer ins Hirn, Cyrus. Nur Eiferer und Tyrannen reden in Gewissheiten.»
«Ja, schon klar. Aber gibt es da nicht irgendeinen winzigen, verborgenen Teil von dir, der sie um diese Klarheit beneidet? Diese innere Überzeugung?»
«Ich fühle mich ganz wohl damit, in meiner Unsicherheit hier zu sitzen. Ich muss nicht verzweifelt herumtasten, um sie loszuwerden. In einem Monat bin ich viermal wegen Trunkenheit am Steuer verknackt worden, weil ich mir sicher war, ich habe alles unter Kontrolle. Da siehst du, was mir Sicherheit eingebracht hat. Achtzehn Monate Knast. Hast du dir in letzter Zeit mal den Dritten Schritt durchgelesen?»
Cyrus verdrehte die Augen. Der Dritte Schritt war der, in dem man alles – sein ganzes Leben – Gott, der Poesie, seiner Großmutter oder weiß der Geier wem anvertraute.
«Hast du mir überhaupt zugehört?», fragte Cyrus. «Ich weiß noch nicht mal, wer oder was mein höheres Wesen ist.»
«Das hat dich aber vor einem Jahr nicht davon abgehalten, mit mir zusammen auf die Knie zu gehen und es zu bitten, dich von deinem Leid zu erlösen.»
«Aber wen denn zu bitten?», fragte Cyrus. «Zu wem oder was haben wir überhaupt gesprochen?»
«Wen juckt’s?», antwortete Gabe. «Nicht zu deinem Riesen-Ego jedenfalls. Alles andere ist eigentlich scheißegal.»
«Hörst du dir eigentlich selbst mal beim Reden zu?», fragte Cyrus. Die Schlange hatte sich jetzt aufgerichtet und klapperte mit dem Schwanz. «Merkst du eigentlich, wie scheinheilig du das Leben anderer zu kontrollieren versuchst? Vielleicht, weil dein eigenes so abgefuckt ist. Vielleicht, weil dein Sohn nichts auf die Kette kriegt und deine Frau sich fürs Saufen entschieden hat statt für dich. Und mich nennst du einen falschen Perser, ja? Einen Dilettanten?»
«Ich glaube nicht, dass ich dich einen Dilettanten genannt habe», sagte Gabe ruhig.
«Weißt du, was Borges über Väter und Spiegel gesagt hat? Beide sind Abscheulichkeiten. Beide verdoppeln die Anzahl von Männern.»
«Ich bin mir ganz sicher», sagte Gabe, «dass ich das Wort ‹Dilettant› nie in den Mund genommen habe.»
«Du hörst mir ja nicht mal zu!» Cyrus wurde laut. Der Hackertyp sah zu ihnen rüber.
«Klar», erwiderte Gabe, noch immer ganz ruhig. «Du bist sauer auf mich, und jetzt schwingst du die Intellektuellenkeule und zitierst Borges. Sehr beeindruckend.»
«Ach, fick dich doch», sagte Cyrus und stand auf. «Ich brauch das hier nicht. Ich muss mir von dir keine Vorträge anhören, und ich brauch auch diesen blöden Bullshitkult nicht.»
Cyrus nahm seinen Kaffee, den er noch nicht angerührt hatte, und ging. Gabe rührte sich nicht vom Fleck. Aus den Lautsprechern röhrte Nick Cave, «hernia, Guernica, furniture». Cyrus rannte zu seinem Wagen und fuhr, durch und durch erfüllt von einer betäubenden Mischung aus eitler Empörung und Selbstmitleid, weg vom Secret Stash – weg von Gabe. Sein Fuß pochte. Für einen kurzen Moment sah er sich selbst im Rückspiegel; der rote Fleck verschlang jetzt die gesamte rechte Hälfte seines rechten Auges, und die Farben flossen ineinander wie auf einem Rothko-Gemälde.
Cyrus ärgerte sich über sich selbst, weil ihm beim Aufstehen nichts Treffenderes als «blöder Bullshitkult» eingefallen war. Während der Rückfahrt dachte er über bessere Alternativen nach: Republikaner-Schlappschwanzkirche, Hexensabbat für alte Rassistenweiber. Es war beruhigend, die Zeit anzuhalten und die Erinnerung umzuschreiben, sich durch das Multiversum des Thesaurus zu arbeiten. Seichter Schwallertempel. Cäsaren-Ärsche, die Gott vivisezieren. Er dachte an all die Dichter, die er gelesen hatte, die in ihrer schwärmerischen Ekstase die Grenzen der sprachlichen Ausdruckskraft niedergerissen hatten. Cyrus fiel auf, dass er sich nicht erinnern konnte, wann er das letzte Mal auch nur einen Hauch von leuchtendem, leichtfüßigem Glück verspürt hatte. Das war sein letztes AA-Meeting gewesen, beschloss er. Und auch sein letztes Gespräch mit Gabe.
Seit Cyrus denken konnte, hatte er es total seltsam gefunden, dieses Bedürfnis des Körpers, sich Nacht für Nacht wieder aufzuladen. Und dass man nicht einfach schlief, so wie man schluckte oder zur Toilette ging, sondern dass Schlaf auch etwas mit Glauben zu tun hatte. Man tat, als würde man schlafen, und vertraute darauf, dass aus dem So-tun-als-ob schließlich Wirklichkeit wurde. Eine allabendlich praktizierte Lüge – oder wenn schon keine Lüge, dann wenigstens etwas Vorgetäuschtes. Und obwohl diese Aufführung nicht zwangsläufig Unaufrichtigkeit bedeutete, so veränderte sie doch auf jeden Fall etwas. Die Rede, die man am Ende hielt, war nie genau die, die man vorm Spiegel geprobt hatte.
Nichts sonst funktionierte auf diese Weise – dass man etwas so lange spielte, bis es wahr wurde. Man setzte sich ja auch nicht vor einen Teller Reis und tat, als würde man schlucken, um die kleinen Körner in den Bauch zu bekommen. Nur der Schlaf erforderte diese peinliche Aufführung.
Und wie als Anreiz für die ganze Quälerei schenkte einem der Körper Träume. Im Austausch für ein Drittel seines Lebens bekam man opulente Festmähler, exotische Abenteuer, wunderschöne Geliebte oder Flügel. Oder wenigstens die berauschende Aussicht darauf, nur ein klein wenig getrübt durch die seltsame Bedrohung eines Albtraums. Dass der eigene Kopf manchmal einfach so beschloss, einen auf ein Wimmern oder einen Schreckensschrei in der Nacht zu reduzieren.
Diese Bedingungen waren nicht verhandelbar, und wenn man nicht zustimmte, drehte man durch, wurde krank oder starb. Cyrus hatte jede Menge darüber gelesen. Nach nur vierundzwanzig Stunden ohne Schlaf gingen Koordination und Kurzzeitgedächtnis verloren. Nach achtundvierzig Stunden sackte der Blutzucker dramatisch ab, und das Herz schlug nicht mehr regelmäßig.
Cyrus fiel es schwer, das Wachsein nicht als Feind zu betrachten, so wie es die eigene Existenzkraft – die Fähigkeit, klar zu denken und zu leben – zersetzte, bis man sich schließlich geschlagen gab. Wachsein, das war eine Art Gift, und Träumen war das einzige Gegengift. Was, wenn sich dessen alle bewusster wären? Inwiefern wäre das Leben dann aufgeladener, dringlicher? «Ich wurde vergiftet, in sechzehn Stunden breche ich zusammen.»
Cyrus war schon immer ein miserabler Schläfer gewesen, schon seit frühester Kindheit. Als Baby hatte er so wenig geschlafen, dass sein Vater Ali befürchtete, mit ihm könnte irgendetwas nicht stimmen. Cyrus sah von seinem Bettchen aus mit schläfrigen, unverkennbar zornigen alten Augen zu ihm hoch, als wollte er fragen: «Muss ich das wirklich machen?»
Ali wiegte seinen Sohn, massierte ihm in sanften Kreisen die Kopfhaut und fuhr spätabends mit ihm durch die Stadt, aber Cyrus hielt zornig und verbissen am Wachsein fest, wie ein winziges Pferdchen, das aus einem schlammigen Teich zu steigen versucht und dabei nur tiefer und tiefer einsinkt. Wenn seinem kleinen Körper die Kraft ausging, schlief Cyrus endlich ein, aber immer mit einem verwirrten, ärgerlichen Ausdruck auf dem Gesicht, als wollte er fragen: «Wer hat sich das bitte ausgedacht?»
Cyrus’ Schlaf wurde mit den Jahren nur noch schlechter. Als Schulkind bekam er die ersten Anfälle von Nachtangst. Grundlos und ohne Vorwarnung schreckte er aus dem Schlaf hoch und schrie, schlug manchmal auch wie wild auf sich selbst ein. Cyrus’ nächtliche Panikanfälle hatten Ali bald voll im Griff, wurden der Gott, zu dem er betete, den er anrief und dem er huldigte.
Während dieser Anfälle versuchte Ali, seinen Sohn wachzurütteln, aber wenn Cyrus überhaupt aufwachte, war er wie versteinert vor Angst, wusste nicht, wo er war oder was ihm Angst gemacht hatte. Sein Vater wiegte ihn und flehte, so wie er zahllose Male zuvor gefleht hatte: «Karush baba, bitte. Schlaf einfach. Cyrus baba. Schlaf.»
Aber Cyrus schrie oder weinte einfach weiter oder schlug weiter um sich, manchmal stundenlang, bevor er wieder in eine angespannte Ruhe fiel, wie die Zunge im Mund zwischen einem Bissen und dem nächsten.
Cyrus nässte oft ein, dann musste Ali ihn umziehen und die Laken wechseln, bevor er sich selbst noch einmal für ein paar Stunden hinlegen konnte. Das bedeutete einen zusätzlichen Gang zum Waschsalon, einmal zusätzlich Waschen und Trocknen, eine zusätzliche Stunde, zusätzliche zwei Dollar fünfzig.
Hätte Ali je mit irgendjemandem über diese Zeit gesprochen, hätte er gesagt, dass es ihm wie ein höchst unfairer Tausch vorgekommen war – wenn das Universum ihm schon seine Frau genommen hatte, hätte es ihm wenigstens ein pflegeleichtes Kind geben können. Ein ausgeglichenes Kind mit gutem Schlaf. Ein Nackenschlag direkt nach dem anderen, so kam es Ali vor, ein Finger, der in einer offenen Wunde rührte.
Alis Frau Roya war wenige Monate nach Cyrus’ Geburt gestorben. Unter unsäglichen Umständen. Sie hatte nach Dubai fliegen wollen, um eine Woche bei ihrem Bruder Arash zu verbringen, der nie wieder richtig auf die Beine gekommen war, seit er in der iranischen Armee gegen den Irak gekämpft hatte. Arash verbrachte ein paar Monate in Dubai, und Roya hatte spontan beschlossen, ihn dort zu besuchen, um shoppen zu gehen, zu essen und sich auszuruhen. Sie war erschöpft von der Schwangerschaft und der Geburt, fühlte sich Ali und ihrem eigenen Sohn fremd. Durch diese Reise, so hoffte Ali, würde sie vielleicht wieder zu Kräften kommen und ihre alte Zugewandtheit zurückgewinnen. Roya würde zum allerersten Mal überhaupt fliegen und zum ersten Mal seit Cyrus’ Geburt Teheran verlassen. Sie war ein einziges Nervenbündel. Sie hatte gut aussehen wollen und war in ihrem Lieblingsoutfit aus dem Haus gegangen: einem schmal geschnittenen, weißen Trenchcoat und einer eleganten Flanellhose, trotz der Julihitze. Sie hatte Geschenke für ihren Bruder im Gepäck gehabt, die neueste Kassette der Black Cats und etwas persisches Nougat.
Kurz nach dem Start wurde Royas Flugzeug von einem Schiff der US Navy zerstört. Einfach aus dem Himmel geschossen. Wie eine Gans.
Ein Kriegsschiff der US Navy, die USS Vincennes, feuerte zwei Flugabwehrraketen auf die Maschine ab. Eine traf und verwandelte sie – sie und die 290 Passagiere an Bord – sofort zu Staub. So stand es tatsächlich in den Berichten, der Iran-Air-Flug 655 sei «zu Staub verwandelt» worden. Vielleicht hatte man dabei an die Familien gedacht und gehofft, das würde es ihnen erleichtern – dass es so schnell gegangen war. Aus Staub erschaffen, zum Staub zurückgekehrt. An sich eine saubere Sache, wenn man nicht zu genau darüber nachdachte.
Unter den getöteten Passagieren des Iran-Air-Flugs 655 waren sechsundsechzig Kinder gewesen. Beinahe wären es siebenundsechzig gewesen. Aber Roya hatte zu Ali gesagt, ihr Sohn sei noch zu klein zum Fliegen und sie habe sich nach der langen Schwangerschaft eine Pause vom Wickeln und Füttern verdient. Ansonsten. Ansonsten.
Ali war derjenige gewesen, der unbedingt ein Kind gewollt hatte. Seine Frau hatte ihre Zweifel gehabt. Royas Mutter war stets voller Liebe und Hingabe gewesen. Sie hatte sich alle möglichen Basteleien und Unternehmungen für ihre Kinder überlegt. Hatte ihnen täglich drei warme Mahlzeiten serviert, dazu noch Plätzchen und Kleinigkeiten zwischendurch. Sie hatte das Haus mit Büchern, Kunst und Musik gefüllt. Sie war eine dieser natürlichen, instinktiven Mütter gewesen, neben denen sich alle anderen Mütter unzulänglich fühlten.
Roya wusste, dass sie nie so eine Mutter wie ihre eigene Mutter würde sein können, eine, die vor Liebe bebte wie ein feuchter Zweig. Sie schaffte es ja kaum, sich selbst ausreichend zu füttern und zu baden.
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