Marwani - Maren Dammann - E-Book

Marwani E-Book

Maren Dammann

0,0
9,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

„Mira ist stark. Stärker als jeder andere. Sie hat es nur vergessen.“

Seit Mira im Rollstuhl sitzt, hat sie jegliche Freude verloren. Und dass ihre Eltern auch noch ein Haus direkt neben einem Pferdehof kaufen, bringt das Fass zum Überlaufen: Weder mag Mira Pferde noch wird sie hier jemals neue Freunde finden, denn ihre alten sind natürlich in der Heimat geblieben. Doch dann galoppiert Marwani in ihr Leben. Die Schimmelstute ist wild, temperamentvoll, selbstbewusst und ungezähmt – genau wie Mira sich früher auch gefühlt hat, bevor sie den Unfall hatte. Mit der Zeit stellt Mira fest, dass sie und Marwani mehr gemeinsam haben, als sie denkt. Außerdem hat es ihr Dan, der etwas schüchterne aber talentierte Stalljunge, ebenfalls angetan. Und wer weiß, vielleicht gibt es ja doch Wunder ...

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Das Buch

Ein Mädchen, das nach einem Unfall nicht mehr an Wunder glaubt.

Eine weiße Stute, die wild und ungestüm ist.

Ein Junge, der die Macht hat, beiden zu helfen.

Das Schicksal führt sie alle zusammen.

Die Autorin

© privat

Maren Dammann, geboren 1983 in Wermelskirchen, studierte Umweltmanagement und emigrierte nach Australien, wo sie unter anderem den Lebensraum der Koalas und Flughunde erforschte. Nun arbeitet sie in einer leitenden Position bei einem der größten Sprachdienstleister Australiens. Seit ihrer frühen Jugend im Journalismus tätig, entwickelte Maren Dammann eine Passion für das Schreiben. Sie hat ca. zehn Jahre als Freelance-Journalist gearbeitet und unzählige Artikel veröffentlicht. Als Selfpublisher hat sie bereits Erfahrung mit Kinder- und Jugendbüchern gesammelt. In ihrer Freizeit beschäftigt sich Maren Dammann mit ihren Pferden, bei denen sie sich auch Inspiration für ihre Geschichten holt.

Der Verlag

Du liebst Geschichten? Wir bei Planet! in der Thienemann-Esslinger Verlag GmbH auch! Wir wählen unsere Geschichten sorgfältig aus, überarbeiten sie gründlich mit Autoren und Übersetzern, gestalten sie gemeinsam mit Illustratoren und produzieren sie als Bücher in bester Qualität für euch.

Deshalb sind alle Inhalte dieses E-Books urheberrechtlich geschützt. Du als Käufer erwirbst eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf deinen Lesegeräten. Unsere E-Books haben eine nicht direkt sichtbare technische Markierung, die die Bestellnummer enthält (digitales Wasserzeichen). Im Falle einer illegalen Verwendung kann diese zurückverfolgt werden.

Mehr über unsere Bücher, Autoren und Illustratoren: www.planet-verlag.de

Planet! auf Facebook: www.facebook.com/thienemann.esslinger

Viel Spaß beim Lesen!

Für Jay, mein erstes Pferd und Liebe meines Lebens.

Wer das Glück haben sollte, ein Pferd zu reiten, der hat einen Schlüssel zur Freiheit.

Dieses Buch ist nicht nach einer, sondern nach mehreren wahren Begebenheiten erzählt. Wundervolle Geschichten des Alltags, die mich fasziniert und aufgewühlt haben und die in dieser Erzählung zu einem Abenteuer verwoben wurden. Es gibt sie, Marwani, die wilde Stute, die nach einer Verletzung ihr Vertrauen verloren hat. Es gibt auch Mira, die trotz ihrer körperlichen Behinderung fester im Sattel sitzt als die meisten Reiter um sie herum. Mira, die Turniere reitet und gewinnt und sich von nichts und niemandem beeindrucken lässt.

Es gibt mehrere Dans, jeder von ihnen etwas ganz Besonders. Die Namen wurden geändert, die Charaktere wild und frei beschrieben und Neues dazuerfunden, damit niemand wiedererkannt wird. Aber wenn du dich fragst, was Marwani wohl gerade macht, dann kann ich dir verraten, dass sie wahrscheinlich mit ihren Pferdefreunden auf der Wiese steht und genüsslich auf dem saftigen Gras herumkaut, das dort wächst. Vielleicht schaut sie auch in die Ferne, spitzt die Ohren und wartet auf das Mädchen, das sie jeden Tag besuchen kommt …

Eure

Maren Dammann

Bunte Lichter blitzten am Straßenrand auf. Die Silhouette eines Lkws schälte sich aus den Schatten der Nacht und für den Bruchteil einer Sekunde fröstelte Mira. Der Lkw raste an ihnen vorbei. Lena stieß sie an und kicherte.

»Drei Stunden auf der Tanzfläche ohne Pause – das ist mein neuer Rekord! Mir tut alles weh.«

Mira stupste zurück. »Also, was du da gemacht hast, das hatte mit Tanzen nicht viel zu tun.«

Sie prusteten beide los.

Im Radio spielte Ed Sheeran und sie fingen an zu singen. Alex saß am Steuer des alten Golfs. Er blödelte mit Tim herum. Es ging um eines ihrer Lieblingsthemen: Fußball. Lena saß hinten am Fenster und Mira in der Mitte neben ihr. So konnte sie Alex besser im Rückspiegel beobachten. Im Halbdunkel des Autoinnenraums waren seine Grübchen kaum zu erkennen, aber ab und zu zwinkerte er ihr zu. Dabei zog er verschwörerisch eine Augenbraue hoch. In Miras Bauch tanzten Schmetterlinge.

An einer Ampel mussten sie stoppen. Lena kurbelte das Fenster herunter. Kalter Nebel waberte herein.

»Hey, bist du irre? Willst du uns alle in Eisblöcke verwandeln?«, rief Tim.

»Ihr müffelt aber wie eine Horde Moschus-Ochsen.«

»Das ist gesunder Männerschweiß«, witzelte Tim, hob seinen Arm und roch demonstrativ an seiner Achsel.

»Ihhh«, rief Mira und verzog das Gesicht. »Das kann nicht gesund sein, das riecht wie etwas, das die Katze unterm Sofa versteckt hat.«

Es hatte angefangen zu regnen und dicke Tropfen klatschten auf das Autodach. Lena schloss das Fenster wieder und Tim schaute sie dankbar an, während Alex die Musik lauter drehte. Er neigte den Kopf leicht und lächelte Mira zu. Sie wurde butterweich – und knallrot.

Lena pikte sie in die Seite und flüsterte: »Hey, vielleicht entsteht nun was, was vorher nicht so war.«

Mira grinste über diesen Insider. Es war ein Zitat aus »Die Schöne und das Biest«.

Und wer weiß, vielleicht stimmte es ja – Alex hatte sie heute zum ersten Mal richtig wahrgenommen. »Deine Löwenmähne sieht hübsch aus, wenn du sie offen trägst«, hatte er gesagt und sie immer wieder zum Tanzen aufgefordert. Mira schnallte sich kurz ab, um sich die Schuhe auszuziehen. Die Knöchel schmerzten von dem ganzen Gehüpfe.

Tim fummelte am Handschuhfach herum, zog eine Wasserpistole heraus und hielt sie Alex ins Gesicht.

»Sieh dir das an!«, rief er und grinste.

Alex hob die Hände und versuchte, die Pistole abzuwehren. Tim drückte ab und Wasser spritzte ihm ins Gesicht.

»Oh, sorry …«

In dem Moment geriet das Auto ins Schlingern.

Die Reklameschilder der Läden schienen näher zu kommen und Alex riss mit aller Kraft das Lenkrad herum. Er bremste. Die Reifen quietschten, es roch nach verbranntem Gummi.

Mira schrie. Vergebens versuchte sie, den Gurt zu finden. Etwas Dunkles kam rasend schnell auf sie zu: ein Laternenpfahl.

Es krachte laut und durch das Auto ging ein furchtbarer Ruck. Mira schoss nach vorne und flog mitten durch die Windschutzscheibe. Ihr Körper glitt durch das Glas wie durch Butter. Sie sah tausende Glassplitter in Zeitlupe durch die Luft schweben und hörte noch, wie Ed Sheeran »Now I see fire inside the mountain« sang, bevor das Radio verstummte. Im Flug spürte sie die Kälte der Nacht. Sie ahnte, was nun kommen würde. Die Zeit dehnte sich für einen fürchterlichen Moment, dann knallte sie auf den Asphalt. Ein entsetzlicher Schmerz durchzuckte ihren Körper. Finsternis umgab sie, während Glassplitter wie Diamantregen auf sie herunterprasselten.

Das Fohlen hüpfte ausgelassen im Kreis und schüttelte dabei seine wollige Mähne. Es war braun und hatte einen weißen Fleck auf der Stirn, der wie ein unförmiger Diamant aussah. Ein piepsiges Wiehern war zu hören, dann galoppierte es wild am Zaun entlang. Sein etwas älterer Bruder jagte hinter ihm her und versuchte, es einzuholen. Das Fohlen sah so aus, als würden seine langen Beine sich bei jedem Schritt verheddern. Sein Fell funkelte im Sonnenlicht und es schüttelte sich wie ein nasser Hund, als ein Sonnenstrahl durch die Wolken brach und es an der Nase kitzelte.

Mira saß am Fenster und schaute den Fohlen mit Wut im Bauch zu. Sie konnte mit den Pferden nichts anfangen und überhaupt, es gefiel ihr rein gar nichts an diesem Haus, der Landschaft und den Tieren. Mit den Fingern trommelte Mira einen nervösen Rhythmus auf der Fensterbank.

Im Esszimmer nebenan quatschte ihre Schwester Kathi mit ihrer Mutter. Die beiden lachten auf – die mussten ja unglaublich gute Laune haben. Vor ihr die ausgelassenen Pferde und nebenan ihre gut gelaunte Familie. Mira ballte die Fäuste. Gab es hier denn keine Ruhe?

»Ihr könnt mich alle mal …«, murmelte sie vor sich hin.

Auf dem Fenstersims stand ein Porzellankoch, dem ein paar Stifte in der Kochmütze steckten. Der Stifthalter war ein Souvenir aus Italien. Dort war sie mit Lena gewesen. Mit einer Wischbewegung beförderte Mira ihn auf den Boden. »Das hast du davon, wenn du im Weg rumstehst.«

Eine aufkommende Brise stachelte die Jungpferde weiter an. Übermütig sprangen sie herum, neckten sich und jagten sich gegenseitig im Kreis. Das Kleinere erwischte seinen Bruder und biss ihm fröhlich in den Nacken. Der Ältere drehte ihm das Hinterteil zu und trat aus. Zack! Daneben.

Mira zog die Jalousien herunter. Es wurde dunkel und die spielenden Pferde verschwanden aus ihrem Sichtfeld. Sie konnte ihren Anblick nicht ertragen. Die Leichtigkeit, mit der sie über die Koppel tobten, und ihre Freude über den sonnigen Tag waren zu viel für sie. Mira wollte das nicht sehen. Es schnürte ihr das Herz zu.

Bloß nicht losheulen, dachte sie und biss sich auf die Unterlippe. Tapfer schluckte sie die Tränen herunter.

Ausgerechnet ein Haus neben einem Reiterhof hatten ihre Eltern kaufen müssen. Warum hatten sie ihr das angetan? Ein Zimmer mit Blick auf diese unbekümmerten Fohlen zu haben, war einfach zu viel.

Kurz entschlossen griff sie nach ihrem Handy und tippte auf Lenas Telefonnummer. Es tutete dreimal, dann erklang Lenas Stimme. »Jo?«, fragte sie.

»Hi, Lena, ich bin’s.«

Es wurde still am anderen Ende der Leitung. Mira wartete kurz. »Bist du noch dran?«

»Äh, ja. Sorry. War abgelenkt. Lange nichts von dir gehört. Wie geht’s?«

Mira vernahm, wie im Hintergrund jemand tuschelte. Anscheinend hatte Lena Besuch.

»Ach, ganz o.k. Aber das Haus hier ist total der Schocker. Eine richtige Bruchbude.«

Das war nicht ganz ehrlich. Das Haus, das Miras Eltern gekauft hatten, war ein altes Fachwerkhaus, aber liebevoll gepflegt und in gutem Zustand. Mira mochte es trotzdem nicht.

Aus den Fenstern konnte man über die Wiesen des Reiterhofs bis hin zu einem Bach sehen, der auch über ihr eigenes Grundstück floss. Es war ein einstöckiges Haus mit einer moosbewachsenen Fassade. Davor lag ein kleiner Gemüsegarten, nach hinten raus schloss sich eine breite Veranda ans Haus an, von der man in den verwilderten Garten gelangte, wo eine kunterbunte Mischung aus Blumen und Kräutern wuchs. Es sah aus wie ein Hexenhäuschen, verwunschen und friedlich. Aber alles an diesem Haus war alt.

»Bruchbude klingt aber gar nicht gut.«

»Du wärst geschockt. Der Putz bröckelt, und wenn man die Wände anfasst, sind sie ganz weiß vom Staub.«

»Bäh. Ist ja widerlich.«

»Ja, genau! Aber Dad versteht das überhaupt nicht. Er nennt das Haus sein ›Schmuckstück‹.«

Mira kicherte und Lena fiel mit ein. Miras Vater war ein sehr vernünftiger Mann, aber manchmal hatte er diesen merkwürdig romantischen Hang zu Dingen. Dann wurde es schnell peinlich.

»Dein Papa ist ein echtes Original.«

»Ja.«

Es wurde wieder still. Früher waren ihre Gespräche flüssiger, einfacher gewesen. Wieder hörte Mira, wie zwei Stimmen im Hintergrund flüsterten. Eine unbekannte Mädchenstimme und eine, die ihr vertraut vorkam. War das etwa Alex? Aber warum sprach er bewusst leise, wenn Mira anrief? Sie waren doch Freunde. Zumindest bisher. Sie hätte sich so gerne mit ihm unterhalten.

»Was geht denn so bei euch ab? Alles klar in der Clique?«

Sie versuchte, das so beiläufig wie möglich zu fragen und kam sich dabei albern vor. Lena und sie waren immer offen zueinander gewesen und hatten wenig Geheimnisse voreinander gehabt.

»Hm. Alles gut soweit, denke ich. Alex war für einen Monat von der Schule beurlaubt und der Arzt hat ihm eine Kur verschrieben. In einem Rehabilitationszentrum in Spanien. Er ist knusprig braun gebrannt wiedergekommen. Tim meinte, er habe dort Surfen gelernt. Irgendein Mädel hat Alex auf Facebook in einem Foto getaggt, da steht er grinsend auf einem Surfboard. Er streitet aber alles ab.«

Lena wusste, dass Mira heimlich in Alex verknallt war. Aber Alex war ein paar Jahre älter und sie hatte sich nie getraut, ihm ihre Gefühle zu gestehen. Im Hintergrund kicherte die Mädchenstimme.

»Also alles beim Alten«, murmelte Mira.

»Äh, ja.« Lena holte Luft, als wollte sie noch etwas sagen, aber sie blieb stumm.

Wieder diese peinliche Stille. Das Mädchen im Hintergrund sagte etwas, und plötzlich erkannte Mira auch diese Stimme: Das war Anne, ihre ehemalige Klassenkameradin. Was hatte ausgerechnet die bei Lena verloren? Anne war das genaue Gegenteil von Mira und Lena, immer aufgetakelt, als würde sie gleich zum Casting gehen. Eine Niete im Unterricht, aber jeden Monat einen neuen Freund. Mira war sich mit Lena immer einig gewesen, dass Anne eine hohle Nuss war.

»Sag mal, kann es sein, dass Anne bei dir ist?«

»Äh …«

Pause.

»Macht ihr gemeinsam Hausaufgaben? Oder hat Herr Speier euch wieder mal zu Gruppenarbeit verdonnert?«

Herr Speier war Miras alter Deutschlehrer und liebte Teamwork. Leider konnte man sich bei ihm nie selbst aussuchen, mit wem man zusammenarbeitete. Mira hasste ihn dafür – und natürlich dafür, dass er jede Stunde um mindestens fünf Minuten überzog.

»Äh, genau, Projektarbeit. Ja, wir arbeiten an einem Referat über regionale Besonderheiten der Mundart. Herr Speier meint, das diene der Verbesserung der ›aktiven Sprachkompetenz‹ oder so.«

Wieder kicherte Anne im Hintergrund, und dieses Mal ging es Mira gewaltig auf den Keks.

»Hm. O.k. Da beneide ich euch nicht drum.«

Mira fiel ein, dass Anne sich immer vor dem Sportunterricht gedrückt hatte, weil sie Angst hatte, sich Frisur und Fingernägel zu ruinieren. Mira schluckte. Die meisten ihrer Mitschüler vermisste sie nicht.

»Ich muss zum Glück erst wieder zu Beginn des neuen Halbjahres in die Schule.«

»Du, soll ich dich am Wochenende mal anrufen? Wir haben morgen Abgabetermin und kaum was geschafft bis jetzt.«

In dem Moment quietschte Anne los und Alex lachte. Mira wurde wütend. Anne sollte bloß nicht auf den Gedanken kommen, mit ihrem Alex zu flirten.

»Oh, o.k. Klar. Ruf einfach an, wenn du Zeit hast. Bye.« Sie legte auf.

Nun war sie wieder allein im Dunkeln. Auf ihrem Schreibtisch stand ein Bilderrahmen, in dem sich ein Foto von Alex, Tim, Lena und ihr am See befand. Lena lag auf ihrer quietschgelben Luftmatratze, Alex und Tim spielten Ball, und sie selbst stand am Wasser und schaute über den See. Der Anblick tat weh.

Sie schob die Lamellen der Jalousie auseinander und lugte noch einmal hinaus. Die Fohlen hatten sich mittlerweile beruhigt. Das kleinere von beiden hatte den Hals lang ausgestreckt und saugte am Euter seiner Mutter.

Diese Pferde machten sie noch verrückt. Mira spürte, wie ihre Wangen feucht wurden. Die Tränen waren stärker als ihr Wille und sie konnte nichts dagegen machen. Sie wollte hier nicht wohnen. Hier gab es nur Bäume, Pferde und Langeweile. Alex, Lena und Tim waren viel zu weit weg. Abwehrend hob sie die Hand, als könne sie die Pferde damit verscheuchen.

Es klopfte an ihrer Tür. Mira wischte sich über die Augen. Niemand sollte sie weinen sehen. Sie zupfte ein Taschentuch hervor und trocknete damit die Wangen.

»Mira, bist du da?«

»Nee, Papa, ich bin gerade beim Joggen. Komm später wieder.«

Die Tür öffnete sich und Johannes Anders trat mit hochgezogenen Augenbrauen ein. Er knipste das Licht an.

»Kein Grund, sarkastisch zu werden, Kleines. Ich wollte nur nach dir schauen. Wir fahren nachher zu Tante Emma’s, brauchst du etwas?«

»Nein.« Mira machte sich nicht die Mühe, ihren Vater anzuschauen.

»Tante Emma’s« war der winzige Dorfladen, in dem es so ziemlich alles zu kaufen gab. Egal ob Dosenravioli, Kopfhörer, Schulhefte, Damenbinden oder die neueste Ausgabe der »Mädchen«. Aber der Laden war ziemlich alt und somit auch alles andere. Das bedeutete schmutzig, gammelig und ekelig, und gehörte in eine andere Zeit, ein anderes Jahrhundert. Damit wollte sie nichts zu tun haben. Sie wollte zurück in die Stadt, zu ihrem sauberen und gut sortierten Edeka, dem Aldi um die Ecke und der Konditorei mit den preisgekrönten Himbeertörtchen.

»Vielleicht eine Packung Duplo? Oder eine Tüte Chips?«

Die Stimme ihres Vaters riss sie aus ihren Gedanken. Verwirrt blickte sie ihn an und verzog den Mund.

»Nee, ich brauch nichts.«

»Neulich habe ich sogar Toffifee im Regal gesehen. Oder vielleicht lieber was Gesundes? Ich glaube, da stehen Erdbeerjoghurts in der Kühltheke. Obwohl ich besser das Mindesthaltbarkeitsdatum prüfe, Frau Krämer macht nicht den Eindruck, als würde sie ihre Produkte regelmäßig durchgehen.«

Das sollte witzig klingen, aber Mira winkte müde ab. Sie fixierte ihren Blick auf den Bilderrahmen auf dem Schreibtisch und ihre Gedanken waren weit weg, an einem Ort, an dem sie jetzt lieber wäre. Ein Ort in der Vergangenheit, an dem sie mal glücklich gewesen war.

Ein Sprichwort sagte: »Je stiller ein Mensch ist, desto lauter ist es in ihm.« Mira war sehr ruhig geworden in letzter Zeit. Aber nur nach außen hin. In ihr brodelte es und die Verzweiflung wuchs immer mehr. Sie zuckte zusammen, als sich eine Hand auf ihre Schulter legte. Sie stieß sie weg.

»Was?«

»Was willst du nun?«

»Nichts. Doch, Schlafen oder Sterben. Ist mir beides recht.«

Ihr Vater überhörte den zweiten Teil geflissentlich.

»Sicher, dass du nichts brauchst? Ich könnte dir auch ein paar Dosen Cola mitbringen?«

»Sag mal, hörst du mir überhaupt zu? Ich will nichts. Und wenn ich was brauche, hole ich es mir selbst.«

Das hatte schärfer geklungen als beabsichtigt. Eigentlich wollte ihr Vater ja nur helfen, aber es regte sie auf, ständig wie ein Kleinkind umsorgt zu werden.

»Hm«, machte Johannes Anders und schaute sie durchdringend an.

»Kein Grund, sich so aufzuregen. Ich wollte dir nur einen Gefallen tun.«

Er wirkte ratlos und kratzte sich am Kopf. Mira wusste, dass er nach den richtigen Worten suchte. Hörbar atmete er aus und beging dann einen Fehler: Sein Blick senkte sich auf Miras Beine und verharrte dort. Sie hob eine Augenbraue und wartete, aber ihr Vater rührte sich nicht. Das war zu viel für sie. Mira explodierte.

»Ihr traut mir auch gar nichts mehr zu, was?«, brüllte sie so laut, dass ihr Vater zusammenzuckte. »Wenn ich eine Cola will, dann frage ich entweder selbst oder fahre meinetwegen den ganzen Weg zum Laden. Geht doch sowieso nur abwärts. Und wenn ich gegen einen Baum krache, ist das auch egal. Da habe ich schließlich Übung drin. Macht eh alles keinen Sinn mehr.«

Bei diesen Worten hatte sie sich auf ihren Vater zubewegt, der mit erhobenen Händen zurückwich. Sie griff nach dem erstbesten Gegenstand und warf ihn in seine Richtung. Es war der Bilderrahmen mit dem Foto von ihren Freunden. Dicht neben ihrem Vater krachte er gegen die Wand und das Glas zersplitterte. Ihr Vater guckte sie entsetzt an.

»Sag mal, spinnst du?«

Er beugte sich herunter und zog das Foto vorsichtig aus den Splittern hervor.

Mira kochte. »Raus aus meinem Zimmer!« Entschlossen rollte sie vorwärts. »Das ist mein Reich.«

Sie glühte vor Zorn und bewegte sich geradewegs auf ihren Vater zu. Dieser trat einen weiteren Schritt rückwärts, beugte sich unter dem niedrigen Türrahmen durch und Mira schlug ihm krachend die Tür vor der Nase zu.

»Lasst mich in Ruhe! Einfach in Ruhe! Ich will niemanden sehen. Ist doch nicht so schwierig!«

Sie trommelte noch eine Zeit lang mit ihren Fäusten auf der Tür herum und schrie, bis sie hörte, dass sich Schritte von ihr wegbewegten. Dann sackte sie in ihrem Rollstuhl in sich zusammen und fing an, hemmungslos zu weinen.

»Kathi, kannst du Mira holen? Abendessen ist fertig.«

Kathi guckte ihre Mutter unglücklich an. »Mum, du weißt, dass Mira nicht aus ihrem Zimmer kommt.«

»Aber das geht nicht, sie muss irgendwann etwas essen. Sie verhungert mir noch, wenn sie weiter das Essen verweigert.«

»Sie hat gesagt, ihr sei alles egal.«

»Aber mir ist es nicht egal.« Maria Anders strich ihrer jüngeren Tochter liebevoll über den Kopf. »Seit zwei Tagen hat sie nichts zu sich genommen, nicht mal die Butterbrote, die ich ihr auf den Schreibtisch gestellt habe.«

Kathi knibbelte an der Raufasertapete herum und machte ein langes Gesicht. Bis vor Kurzem war Mira der Fels in der Familie gewesen und sie hatte ihre große Schwester für so ziemlich alles bewundert, was sie gemacht hatte. Jetzt war alles anders.

»Mum? Glaubst du, Mira will sterben?«

Etwas zu heftig schüttelte ihre Mum den Kopf, die unerwartete Frage schockierte sie.

»Nein! Nein, das denke ich nicht. Sie macht sich nur fürchterliche Vorwürfe. Der Unfall ist erst vier Monate her, es wird lange dauern, bis sie lernt, zu akzeptieren, dass sie … dass sie …«

»… im Rollstuhl sitzt«, beendete Johannes den Satz. Er nahm beim Eintreten den Hut ab und fuhr sich mit einer Hand durch seine gewaltige Mähne. Seine Haare waren zwar leicht ergraut, aber immer noch dicht und voll.

»Ja, das meinte ich«, murmelte Maria Anders. »Aber seit wir hier wohnen, hat sich ihr Zustand sehr verschlechtert. Sie ist ein Fliegengewicht geworden und ist so … launisch. Man kann nicht mehr vernünftig mit ihr reden. Vielleicht hätten wir nicht umziehen sollen.«

»Ach, papperlapapp! Ihr Zimmer lag im dritten Stock, hätten wir sie da jedes Mal hochtragen sollen? Die Türen waren zu schmal für den Rollstuhl und überall waren Stufen. Sie wäre allein nicht mal auf die Veranda gekommen.«

Kathi verzog das Gesicht. »Faktencheck: Bisher hat Mira ihr Zimmer nicht wirklich verlassen. Ist doch auch nicht besser.«

»Und sie hatte ihre Freunde dort.«

Maria Anders hob eine dampfende Schüssel auf den Tisch. Sie sah traurig aus.

»Wo waren ihre Freunde, als sie im Krankenhaus lag? Außer Lena hat sich dort niemand blicken lassen. Und Alex, na, da sag ich besser nichts dazu. Der ist ersetzbar. Sie wird hier neue Freunde finden. Die Luft ist hier deutlich besser als in der Stadt. Das Landleben wird ihr guttun.«

Maria Anders nickte, aber ihre Stirn war in Falten gelegt. »Es ist nur, dass sie so dünn geworden ist, seit wir umgezogen sind. Sie reagiert überhaupt nicht mehr auf mich, guckt regelrecht durch mich durch, wenn ich mit ihr rede. Wenn das so weitergeht, muss ich den Arzt rufen oder wir müssen in die Klinik fahren.«

Kathi schaufelte sich den duftenden Gemüseauflauf auf ihren Teller. Dicke Käsefäden hingen von dem Holzlöffel herab.

»Mjamm … lecker«, sagte sie verträumt und sah dann schuldbewusst auf. Der strenge Blick ihres Vaters fiel auf sie.

»Was denn? Darf es mir nicht mehr schmecken, nur weil Mira depressiv ist?«

»Kathi!«

»’tschuldigung. War nicht so gemeint. Ich hab einfach Hunger.«

Johannes Anders seufzte.

»Ist schon gut, Kathi. Das ist für uns alle nicht einfach. Ich regle das. Maria, gib mir doch bitte einen Teller für Mira.« Seine Frau füllte eine Portion auf den Teller und reichte ihn ihm zusammen mit einer Flasche Wasser. Er atmete tief aus und bereitete sich innerlich auf die nächste Konfrontation mit seiner Tochter vor. In seinem Hals steckte ein Kloß.

In Miras Zimmer war es stockdunkel. Die Jalousien waren heruntergezogen und der einzige Spalt an der Fensterbank, der noch Licht reingelassen hätte, war mit einer Decke verstopft. Trotzdem, die Finsternis reichte Mira nicht. Sie saß zusammengesunken im Rollstuhl, dem Fenster den Rücken zugewandt und hielt die Augen fest geschlossen. Lediglich ein düsterer und verloren wirkender Schemen in den Schatten ihres kleinen Reichs.

Es knarrte und plötzlich blendete ein grelles Licht sie durch ihre Lider hindurch. Sie öffnete die Augen und brauchte ein paar Sekunden, um sich zu orientieren. Ihr Vater stand im Türrahmen, eine Hand auf dem Lichtschalter.

»Was soll das? Mach das Licht aus!«, schrie Mira ihn an und riss die Hand vors Gesicht. »Das tut weh.«

»Nein. Das kommt überhaupt nicht infrage, Mira. Zu viel Dunkelheit macht schwermütig.«

»Zu spät.«

Die beiden schauten sich an. Miras Vater wirkte müde, aber entschlossen. In seinen Händen hielt er einen Teller und Mira wusste, was nun kam. Sie schloss die Augen und wappnete sich innerlich. Sie wollte nichts essen. Warum auch – alles war schrecklich und hoffnungslos.

»Na super. Ich hoffe, das ist nicht für mich.« Sie deutete auf den Teller. »Ich will nichts essen.«

Die Prognose der Ärzte war nicht gut. Vielleicht, hatten sie gesagt, geschieht ein Wunder. Aber selbst wenn sich ihr Zustand verbessern sollte, würde ihr Leben nicht mehr sein wie zuvor.

»Mach dir keine Hoffnung. Erspar dir die Enttäuschung«, hatte ein Arzt ihr geraten und der Physiotherapeut war noch direkter gewesen: »Stell dich darauf ein, dass du dein ganzes Leben lang auf den Rollstuhl angewiesen sein wirst.«

Was für einen Sinn machte es da noch, zu essen und so zu tun, als sei alles in Ordnung?

Johannes kniete vor ihr hin und nahm ihre Hände in seine.

»Mira, du musst essen.«

»Nein. Sieht aus wie schon mal gegessen.«

»Doch. Und sei nicht so gemein. Deine Mutter hat sich viel Mühe mit diesem Auflauf gemacht.«

»Ist mir egal«, platzte es aus ihr heraus.

Sie versuchte, es ruhig und bestimmt zu sagen, aber es kam irgendwie trotzig heraus. Mist. Mira sträubte sich gegen den Gedanken zu essen. Ihr wurde richtig schlecht beim Anblick des Tellers und sie würde keinen Bissen herunterbekommen.

»Ich schau mir das nicht mehr länger an. Deine Mutter läuft dir seit Tagen mit dem Essen hinterher. Du kannst dich nicht ewig weigern.«

»Ich habe aber keinen Hunger.«

»Nein, du hast keinen Appetit, das ist was anderes. Wenn du heute Abend nichts isst, Mira, dann wirst du wieder ins Krankenhaus müssen. Ich meine das ernst. Ich fahre dich morgen persönlich in die Klinik. Du siehst furchtbar aus und ich will nicht, dass du einen Kreislaufzusammenbruch bekommst. Ist dir das lieber?«

Mira schüttelte sich. Der Gedanke an den Krankenhausgeruch, die leidenden Gesichter der anderen Patienten und diese pausenlose Unruhe und die andauernden Störungen durch Ärzte, Schwestern und Pfleger. Nein, da wollte sie mit Sicherheit nicht wieder hin. Sie bekam eine Gänsehaut. Die Erinnerungen leuchteten wie Blitzlichter in ihr auf. Alles hatte damals wehgetan, nur nicht ihre Beine. Sie hatte sofort gewusst, dass etwas nicht stimmte. Die anderen hingegen waren mit ein paar Kratzern davongekommen. Im Gegensatz zu ihr waren sie angeschnallt gewesen.

Mira schaute ihren Vater an, der immer noch vor ihr hockte. Er sah traurig aus. Ihre Eltern gaben sich so viel Mühe. Und ins Krankenhaus konnte sie einfach nicht mehr zurück. Sie seufzte, lehnte sich etwas nach vorn und ergriff mit einer Hand die Lehne des Rollstuhls. Die andere hielt sie ausgestreckt.

»Gib mir den Teller.« Lustlos biss sie in ein Stück Kartoffel. »Aber nur, weil ich nicht ins Krankenhaus will.«

»Geht doch. Danach wird es dir besser gehen.« Ihr Vater schien zufrieden. »Wenn du noch mehr willst, ruf einfach, dann bringe ich dir eine weitere Portion.«

Sie kaute und schluckte. Es tat weh, ihr Hals war so trocken, dass sie das Essen kaum hinunterbekam.

»Und du solltest wirklich mit deinem Rehabilitationsprogramm anfangen. Die Übungen machen, die Doktor Reinhard dir verschrieben hat, sie werden dir guttun. Du sitzt im Rollstuhl, aber das heißt nicht, dass du deinen Körper nicht mehr benutzen kannst.«

Mira nickte. »Mhm.«

Das Wort Rollstuhl aus dem Mund ihres Vaters zu hören, tat weh, und sie schauderte. Diese zwei Silben enthielten eine furchtbare Voraussage für ihre Zukunft, zerstörten alles, was sie sich je vorgenommen hatte. All ihre Träume von Reisen und Abenteuern, von Fahrradtouren im Sommer und einer Alpenüberquerung mit Freunden. In ihrem Magen rumorte es und ihr wurde schlecht.

Als ihr Vater das Zimmer verließ, wartete sie einen Moment und rollte ins Badezimmer. Dort kippte sie den Auflauf kurzerhand in die Toilette.

»Verrücktes Vieh, beruhig dich! Verdammter Gaul!«

Etwas stimmte da draußen nicht. Die Jalousien waren immer noch heruntergelassen, aber Mira hatte das Fenster gekippt, weil die Luft so stickig gewesen war. Der Wind trug die Geräusche vom Reiterhof herüber und sie hörte, wie dort etwas bollerte und trampelte.

»Hey, du Mistvieh, beruhig dich!«, rief ein Mann mit starkem Akzent.

Das Trampeln wurde lauter und wirkte ausdauernd, so, als würde jemand mit aller Gewalt eine Wand eintreten wollen. Mira rollte ans Fenster. Sie schob die Lamellen auseinander und lugte durch den Schlitz. Auf der kleinen Zubringerstraße zu der Wiese, die ihrem Fenster am nächsten lag, parkte ein Geländewagen mit Pferdeanhänger. Direkt neben dem dunkelblauen Schild mit dem Wappen, auf dem in verschnörkelter Schrift Gut Falkental geschrieben stand. Das war der Name des Reiterhofs nebenan.

»Verdammte Hacke! Kann doch nicht wahr sein!«

Der Hänger wackelte, als würde ein Löwe versuchen, aus ihm auszubrechen. Etwas schnaubte und dann wurde wieder von Innen gegen die Wand getreten, dass es nur so schepperte.

»Gleich geschafft, gleich kannst du raus.« Der breitschultrige Mann hatte rote Flecken im Gesicht und wirkte gehetzt. Hektisch fummelte er an den Riegeln des Hängers herum.

»Warte, Boris!«, rief ein weiterer Mann, der sich bisher auf der anderen Seite des Hängers befunden hatte und für Mira bis jetzt somit unsichtbar gewesen war. »Ich helfe dir.«

Der zweite Mann war ziemlich klein und ziemlich dick. Er trug gelbe Gummistiefel, die einen starken Gegensatz zu seinem grauen Arbeitsanzug darstellten. Lehmbrocken klebten an ihren Absätzen. Der Mann trug eine Wollmütze und erinnerte Mira ein wenig an einen Gartenzwerg, den sie ihrer Oma vor vielen Jahren zum Geburtstag geschenkt hatte.

»Bin ich froh, wenn wir hier weg sind!«, rief der Mann namens Boris und wischte sich den Schweiß von der Stirn.

Der Gartenzwerg antwortete: »Macht alles kaputt, der Klepper. Lass uns schneller machen.«

Der Hänger schwankte gefährlich, als erneut etwas von Innen gegen die Wand krachte. Mira war neugierig geworden. Was auch immer da für ein Pferd drinsteckte, es musste vollkommen irre sein. Oder sehr schlechte Laune haben. Sie schob die Lamellen noch etwas weiter auseinander und rollte so nahe an das Fenster heran wie sie konnte. Ihr Zimmer war ebenerdig und ihr Blick daher etwas eingeschränkt. Wie gerne wäre sie jetzt ein Vogel gewesen, der versteckt in den Zweigen des Apfelbaumes, der am Rand des Hofes stand, die Szene von oben beobachten konnte.

Mittlerweile waren ein älterer Mann mit weißem Haar und ein Junge in einer verschmutzten Gummilatzhose angerannt gekommen. Der Junge grüßte die Arbeiter freundlich. Er schien etwas älter als Mira zu sein und hatte wirre, dunkle Locken, die in alle Richtungen abstanden.

»Ein richtiges Landei«, ging es Mira durch den Kopf.

Sofort musste sie an Alex denken, der immer sehr gepflegt auftrat und dessen Haarschnitt der aktuellen Mode entsprach. Ihm war es unglaublich wichtig gewesen, wie er auf andere wirkte.

»Guten Morgen, schön, dass Sie es so zeitig geschafft haben. Haben Sie den Weg gut gefunden?«

»Geht so. Viele enge Straßen hier.«

Versonnen kaute Mira auf einer Haarsträhne herum und beobachtete die Szene.

»Ja, hier in der Gegend …«, setzte der Junge an, aber der alte Mann mit dem weißen Haar unterbrach ihn laut: »Halt!« Er hatte sich vor den Arbeitern aufgebaut und einen Arm gehoben, als sei er ein Streifenpolizist. Zu Miras Verwunderung klang die Stimme des Alten weder brüchig noch schwach. Es war eine angenehm tiefe Stimme, die es gewohnt war, Befehle zu geben. Die beiden Männer hielten sofort inne.

»Ab hier übernehme ich. Das ist ja nicht mitanzusehen. Du …«, er wies mit dem Finger auf den kleineren Mann, »stehst mir im Weg.«

Der Mann trat ein paar Schritte zur Seite. Der Alte öffnete die Seitentür des Hängers. Es polterte immer noch heftig im Inneren.

»Habt ihr noch nie ein Pferd transportiert? Alles muss man selbst machen.«

Er wartete einen Moment, lugte in das Dunkel hinein, fasste mit einer Hand in den Schatten und zog an etwas. Mira konnte von hier aus nicht viel erkennen, aber etwas Weißes blitzte ihr aus dem Hänger entgegen. Der Alte verharrte und es wurde still.

Der Breitschultrige und der dicke Gartenzwerg schauten erwartungsvoll zu dem Alten. Der schloss die Seitentür wieder und hob zu einer Rede an: »Das Entladen eines Pferdes ist eine Kunst. Ihr könnt nicht einfach die Klappe aufmachen, wenn ein Pferd im Inneren angebunden ist. Es würde versuchen, nach hinten auszubrechen und sich das Genick brechen. Pferde sind Fluchttiere, die denken nicht nach, wenn sie wegwollen. Merkt euch das: Erst das Pferd losbinden, dann die Klappe auf!«

Der dicke Mann nickte.

»Sorry, Chef. Der Gaul hat einfach zu viel Ärger gemacht. Die ganze Fahrt über. Überall sind Dellen im Hänger.«

Er zeigte auf die vielen Stellen im Metall, die von den Tritten des Pferdes eingebeult waren. Das Tier musste völlig außer sich gewesen sein.

Der Alte ignorierte den Schaden. »Das ist kein Gaul. Das ist überhaupt kein gewöhnliches Pferd. Das ist – oder besser war – ein berühmtes Springpferd. International bekannt. Und jetzt ist Marwani der neue Stolz meines Hofes. Meine neue Zuchtstute.« Er sagte das selbstzufrieden und mit Überzeugung.

Die beiden Arbeiter schauten sich an.

»Ist trotzdem gefährlich, dieses Pferd«, sagte der eine und im nächsten Moment polterte es im Hänger wieder laut. Dieses Mal schepperte etwas gegen die Heckklappe. »Verdammt, Ihr Zuchtpferd tritt gleich durch die Wand.«

Der Name klang in Miras Kopf nach. Marwani. Was für ein schöner Name für ein Pferd. Er fühlte sich weich und samtig an und trotzdem wild und frei wie … wie ein Indianer vielleicht. Marwani, das klang nach Wildem Westen und endlosen Prärien, nach Tausenden von Büffelhufen, die den Boden aufrissen und zum Beben brachten. Solch ein wohlklingender Name sollte diesem tobenden Pferd gehören?