Masken der Furcht - Karin Brynard - E-Book
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Masken der Furcht E-Book

Karin Brynard

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Beschreibung

Ein neuer Krimi der südafrikanischen Bestsellerautorin Karin Brynard

Als Captain Albertus Beeslaar nach Stellenbosch bei Kapstadt reist, um Urlaub zu machen, ahnt der Polizist nicht, was ihn dort erwartet: Arbeit statt Vergnügen. Denn Beeslaar wird in einen Fall hineingezogen, der es in sich hat: die Frau eines reichen Bauunternehmers wurde erschlagen, im eigenen Wohnzimmer. Anders als seine Vorgesetzten glaubt Beeslaar nicht an einen Einbruch, der eskalierte, dafür sieht der Tatort zu "persönlich" aus - als ob der Täter damit eine Botschaft hinterlassen wollte. Nur welche? Und warum? Gemeinsam mit der jungen Polizistin Quebeca sucht Beeslaar Antworten auf diese Fragen - und stößt auf eine Welt voller Gewalt und Gier hinter der schönen Fassade der Universitätsstadt.



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EPUB

Seitenzahl: 671

Veröffentlichungsjahr: 2017

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Inhalt

Cover

Über das Buch

Über die Autorin

Titel

Impressum

Widmung

Prolog

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Danksagungen

Über das Buch

Ein neuer Krimi der südafrikanischen Bestsellerautorin Karin Brynard Als Captain Albertus Beeslaar nach Stellenbosch bei Kapstadt reist, um Urlaub zu machen, ahnt der Polizist nicht, was ihn dort erwartet: Arbeit statt Vergnügen. Denn Beeslaar wird in einen Fall hineingezogen, der es in sich hat: die Frau eines reichen Bauunternehmers wurde erschlagen, im eigenen Wohnzimmer. Anders als seine Vorgesetzten glaubt Beeslaar nicht an einen Einbruch, der eskalierte, dafür sieht der Tatort zu »persönlich« aus – als ob der Täter damit eine Botschaft hinterlassen wollte. Nur welche? Und warum? Gemeinsam mit der jungen Polizistin Quebeca sucht Beeslaar Antworten auf diese Fragen – und stößt auf eine Welt voller Gewalt und Gier hinter der schönen Fassade der Universitätsstadt.

Über die Autorin

Seit Jahren arbeitet die Südafrikanerin Karin Brynard als Journalistin für die renommiertesten Zeitungen ihres Landes. 2009 erschien ihr Debütroman Weinende Wasser, der mit gleich zwei Literaturpreisen ausgezeichnet wurde und die Bestsellerlisten eroberte. Auch ihr zweiter Kriminalroman um Inspector Albertus Beeslaar erhielt mehrere Preise und wurde von der Presse euphorisch gefeiert. Die Autorin lebt in der Nähe von Kapstadt.

Karin Brynard

MASKEN DER FURCHT

Albertus Beeslaars zweiter Fall

KRIMINALROMAN

Aus dem Englischen von Dietmar Schmidt

BASTEI ENTERTAINMENT

Vollständige E-Book-Ausgabedes in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

Für die Originalausgabe:Copyright © 2016 by Karin BrynardTitel der aus dem Afrikaans übersetzten englischen Originalausgabe: »Our Fathers«Erstveröffentlichung in Afrikaans unter dem Titel »Onse Vaders« bei Human & Rousseau

Für die deutschsprachige Ausgabe:Copyright © 2017 by Bastei Lübbe AG, KölnLektorat: Judith MandtTextredaktion: Christiane Geldmacher, WiesbadenTitelillustration: Johannes Wiebel | punchdesign, München, unter Verwendung von Motiven von © shutterstock.com/John Wollwerth; shutterstock.com/holbox; shutterstock.com/woaissUmschlaggestaltung: Johannes Wiebel | punchdesign, MünchenE-Book-Produktion: two-up, Düsseldorf

ISBN 978-3-7325-3964-2

www.bastei-entertainment.dewww.lesejury.de

Für Rien

Prolog

Vor ihm erstreckte sich die karge, ins Licht des Spätsommers getauchte Landschaft so weit das Auge reichte. Kein Zeichen von Leben war zu sehen, nur ein Gaukler glitt träge auf der Luftströmung dahin.

An die Motorhaube seines Wagens gelehnt musterte Captain Albertus Markus Beeslaar seine Umgebung. Er hatte am Aussichtspunkt auf dem Vanrhynspas haltgemacht und aß nun das Frühstück, das er sich in Nieuwoudtville gekauft hatte, der letzten Ortschaft, ehe die Straße sich vom achthundert Meter hohen Bokkeveld-Steilhang nach Vanrhynsdorp hinunterwindet. Von dort aus führt sie fast bis ans Kap der Guten Hoffnung. Kauend blickte Beeslaar über die Knersvlakte, die öde Ebene, die sich unter ihm ausbreitete. In der Ferne lagen das Hardeveld und der Berg Maskam. Struppige schwarze Büsche tüpfelten die Landschaft wie Flecke auf der Kopfhaut eines alten Mannes.

Als Vorspeise biss er in eine frische, warme Hähnchenpastete, dann kam das Sandwich mit Speck und Ei, das er mit einem Becher süßem schwarzem Kaffee hinunterspülte. Zum ersten Mal empfand er Vergnügen an seiner Fahrt nach Westkap. Bis gestern war er zu beschäftigt gewesen, um viel darüber nachzudenken. Heute Morgen aber, tatsächlich genau seitdem er den Kalaharistaub in der Dunkelheit der vergangenen Nacht abgeschüttelt hatte, war irgendwo hinter seinen Rippen ein Funke von Vorfreude erwacht.

In Westkap war er noch nie gewesen. Den Tafelberg, Robbeneiland und Bloubergstrand kannte er nur von Fotos. Für ihn waren es Bilder mit angenehmen Assoziationen. Nelson Mandela, der das Gefängnis verließ, die Seilbahn auf einem der berühmtesten Berge der Welt, die Strände mit ihren Pinguinkolonien, der Spielplatz von Millionären und Filmstars. Und Stellenbosch kannte er auch nicht. Der ganze Wein, die Kultur. Ein Disney-Wunderland für jeden, der zwischen giftigem Minenabraum in East Rand aufgewachsen war.

Aber jetzt konnte er sich jede einzelne Sehenswürdigkeit ansehen. Vor allem müsste er es nicht allein tun, sondern hätte Blikkies dabei, den einzigen Freund, der ihm nach mehr als zwanzig Jahren im South African Police Service geblieben war. Blikkies hatte nach seiner Pensionierung ausgerechnet nach Stellenbosch ziehen müssen. Weil seine Tochter dort wohne, hatte er erklärt.

Als er das Sandwich gegessen und einen zweiten Becher Kaffee getrunken hatte, stieg Beeslaar wieder ins Auto und begann die steile Abfahrt vom Gebirgspass.

Sein Handy klingelte. Ohne den Blick von der Straße zu nehmen, wühlte er in dem Sammelsurium auf dem Beifahrersitz herum. Eine Fleecejacke, die er im letzten Augenblick noch ins Auto geworfen hatte, für alle Fälle. Eine Zeitung mit der Wettervorhersage für Westkap.

Die Anruferanzeige verriet ihm ehe er abnahm, dass Blikkies am Apparat war.

»Ja, ja, ja! Hat der Oom den Wein schon kaltgestellt?«, fragte er, ehe Blikkies ein Wort herausbrachte.

»Albertus?« Eine fremde Stimme.

»Ja?« Die Stimme hatte einen merkwürdigen Unterton. Sie klang gebrochen.

»Hier ist Tertia, Albertus. Ich fürchte, ich habe schlechte Neuigkeiten.«

»Ja?« Ihm schauderte. Er bekam eine Gänsehaut.

»Er ist tot, Albertus, mein Vater ist tot. Seit drei Tagen. Es tut mir leid, dass ich erst jetzt anrufe, aber alles war … Es ist so plötzlich passiert, am frühen Morgen und …«

Beeslaar tauchte geistig ab. Den Rest des Satzes hörte er nicht mehr.

1

»Tod, wo ist dein Stachel? Hölle … wo ist dein Sieg?«

Der Prediger blickte nach oben, als spreche er zu jemandem, der im Dachstuhl saß. Er schloss die Augen und schüttelte leicht das bejahrte Haupt.

Beeslaar schaute sich um. Alte Leute, stellte er fest. Ooms in Jacken von der Farbe ausgebleichter Schildkrötenpanzer, die lose an zusammengeschrumpften Leibern herunterhingen. Tannies mit Hängebusen konzentrierten ihren trüben Blick auf den Prediger, der auf seinem Podest die Gemeinde überragte. Vermutlich waren die Trauernden allesamt Einwohner von Great Gables, Blikkies’ Seniorenresidenz. Alle bis auf Tertia, die Tochter. Sie saß auf der vordersten Bank zusammengekauert neben dem gelackten Sarg. Holzpyjama hatte Blikkies die Dinger genannt. Auf dem Deckel lagen ein steifes Bukett aus weißen Blumen und ein gerahmtes Foto des »Von-uns-Gegangenen«, wie der Prediger Blikkies immer wieder nannte.

»Wir alle«, sagte der ältere Mann mit einem trauernden Blick auf seine winzige Gemeinde, »wir alle fürchten den Tod. Durch alle Zeiten war die Begegnung mit ihm die eine Verabredung, die keiner von uns absagen kann. Bedenken wir, was Hiob uns im Alten Testament mitteilt, in Kapitel vierzehn. ›Der Mensch, vom Weibe geboren, lebt kurze Zeit und ist voll Unruhe, geht auf wie eine Blume und fällt ab, flieht wie ein Schatten und bleibt nicht.‹«

Beeslaar starrte das Foto auf dem Sarg an. Ein neues Foto, kein Zweifel. Er erinnerte sich an weniger Leberflecke, weniger Furchen um den ernsten Mund, Ohren, die weniger hingen, festere Haut. Wann hatten sie einander zum letzten Mal gesehen? Vor drei Jahren? Vier?

»Aber, geliebte Brüder und Schwestern«, drang ihm die Stimme wieder ins Bewusstsein, »heute haben wir uns hier versammelt, um des Lebens von Balthazar van Blerk zu gedenken. Heute dürfen wir froh sein. Jawohl, wir sollten uns freuen.«

Eine kurze Pause.

»Freuen an dem Wissen, dass Gott seinen eigenen Sohn gesandt hat, auf dass er für uns den Tod besiege.«

Beeslaar verschob sein Gewicht, und die hölzerne Kirchenbank knarrte laut. Jemand drehte sich um und sah ihn streng an, eine Frau mit einem dicken weißen Flechtzopf. Ihr Blick war mehr forschend als missbilligend, fiel ihm auf.

»Denn, Freunde, dies ist die frohe Botschaft: Nachdem Christus auf Golgatha seinen letzten Atem ausgehaucht hatte, fuhr er hinab in die untersten Tiefen der Erde.«

Bis auf Tertia kannte Beeslaar keinen einzigen Trauergast – und auch sie nur flüchtig. Nach Blikkies’ Scheidung hatte Tertia lange den Kontakt zu ihrem Vater abgebrochen.

Bei seiner Ankunft in der Kirche war sie auf ihn zugetreten und hatte sich ihm vorgestellt, voller Trauer, mit grauem Gesicht, müde, die Nase fiebrig rot. Schockartig war Beeslaar klargeworden: Diese Frau hatte ihren Vater wirklich liebgehabt. Jemand betrauerte Bliksem van Blerk von ganzem Herzen.

»Mein Vater hat sich so auf Ihren Besuch gefreut«, sagte sie mit einem matten Lächeln. »Er hatte so viel geplant. Ein Cricketspiel in Nuweland, die Seilbahn auf den Tafelberg, vielleicht einen Abstecher nach Robbeneiland.« Sie reichte ihm eine schmale weiße Hand, und er umschloss sie mit seiner Rechten. »Er war überzeugt, dass er Sie überreden könnte, sich um eine Versetzung zu bemühen.«

Ihr versagte die Stimme.

Aus der Kirche drangen gedämpfte Orgelklänge, und Tertia drehte sich um und ging hinein. Beeslaar zupfte seinen Kragen zurecht und folgte ihr.

Ob das Geschäft das Jackett zurücknimmt?, fragte er sich, als er sich setzte und seinen Zweimeterleib ins Ende einer Kirchenbank klemmte. Das Jackett war ihm an den Schultern zu eng. Er hatte es am Vortag überhastet gekauft. Mit den Gedanken war er ganz woanders gewesen. Er hatte über die bittere Ironie nachgedacht: Da fuhr er unschuldig ans Kap und wollte seinen alten Freund besuchen, nur um – ha, ha, ha, zum Schießen komisch – vor der dooiemansdeur zu stehen. Der Tür des toten Mannes. Niemand zu Hause. Er hatte Spezialitäten aus der Kalahari mitgebracht, Kudu-Biltong, das luftgetrocknete Wildfleisch von der verbreiteten Antilopenart. Dazu Wein vom Gariep. Ein Tigerauge, den schönsten Schmuckstein dieses Teils der Erde, so geschnitten und poliert, dass seine gelben und goldenen Bänder leuchteten. Er hatte einen Stein ausgewählt, der zu einer hübschen Tischlampe verarbeitet worden war. Hatte sich gesagt, dass dem alten Blikkies so etwas gefallen würde.

Aber jetzt war Blikkies nicht mehr da. War einfach abgereist.

»Ich habe die Schlüssel der Hölle und des Todes, sagt Jesus Christus in Offenbarung Kapitel eins, Vers achtzehn«, rief der alte Prediger plötzlich mit neuer Energie, neuer Begeisterung. »Denn seht, liebe Hinterbliebene, Christus nahm diese Schlüssel dem Teufel weg, als er in die Hölle hinunterstieg. Jawohl, Christus war in der Hölle, vor seiner Wiederauferstehung, vor seinem Aufstieg in den Himmel. Und deshalb verspreche ich euch hier und heute, dass wir uns freuen sollten. Oom Balthazar hätte nicht gewollt, dass wir trauern. Denn heute ruht er in den Armen des Schöpfers, des …«

Oom Balthazar.

Dieser Prediger hatte den »Oom« eindeutig nicht gekannt. Andernfalls hätte er eines gewusst: Blikkies hatte niemals jemandem gestattet, ihn mit dem Namen anzusprechen, auf den er getauft worden war. Vor allem hatte er weder an den Himmel noch an die Hölle geglaubt. Der Himmel, pflegte er zu sagen, war so stinklangweilig, dass alte Frauen ihn sich ausgedacht haben mussten. Hinter der Hölle steckten die Kirchenoberen – Typen, die schon lange wussten, dass sie und ihre Kirche auf die Abschussliste kämen, sobald die Leute herausfänden, dass hinter dem Vorhang nichts war. Kirchenväter und Politiker. Alles das gleiche Gesocks: Leute, die sich von anderen Menschen die Schmutzarbeit erledigen ließen.

Menschen wie dieser Oom: Balthazar »Bliksem« van Blerk. Ein Polizist von blauem Blut, dessen tägliche Pflicht darin bestanden hatte, den Stachel des Todes niederzuringen, von dem der Prediger sprach. Der es sein ganzes Leben lang mit diesem Stachel aufgenommen hatte. Dieser Sünde. Stell dich ihm und bring ihn zur Strecke. Aber das hatte seinen Preis. Stück für Stück richtete es einen zugrunde. Langsam, unbemerkt. Zermalmte einem das Herz, immer nur am Rand, aber immer wieder. Äußerlich wurde man natürlich immer härter. Das verstand sich von selbst. Aber innerlich starb man immer mehr ab, jedes Mal ein kleines bisschen. Tagein, tagaus: die unerbittliche Registrierkasse der Brutalität. Der Dinge, zu denen menschliche Wesen fähig waren.

»Diese Welt«, hörte Beeslaar den Prediger, »ist nicht unser Zuhause. Sie ist nur der Weg – der Weg, der jeden von uns in die Ewigkeit führt. Der Tod, meine Lieben, wurde vom Satan eingerichtet. Als Eva im Garten Eden der Schlange nachgab, brachte sie den Tod über die Menschheit. Aber wir, liebe Gemeinde …« Er trank einen Schluck Wasser. »Wir, die Kinder Jesu, brauchen den Tod nicht zu fürchten. Jawohl, jeden Tag sterben Menschen. Es wirft uns aus der Bahn, wir gedenken erschrocken unserer eigenen Sterblichkeit. Aber Jesus Christus hat uns erlöst. Er hat uns den Weg zum ewigen Leben gezeigt.«

Beeslaar hatte Schwierigkeiten mit dem Bild in seinem Kopf. Blikkies auf einer kleinen Wolke, zusammen mit den geschätzten achtundfünfzig Milliarden Menschen, die gelebt hatten, seit der erste Affe aufrecht zu gehen lernte. Wie sollte man solch eine Riesenzahl handhaben? Er verschränkte die Arme vor der Brust und die Nähte des Jacketts klangen, als würden sie gleich reißen. Er löste die Arme wieder und griff nach dem Handzettel der Trauerfeier – zum x-ten Mal. Eine purpurne Lilie zierte die Vorderseite, dazu Blikkies’ voller Name und das Datum seines Todes vor vier Tagen. Darunter stand in Druckschrift: Sag nicht im Kummer: »Er ist nicht mehr.« Sag in Dankbarkeit: »Er war.« – Hebräisches Sprichwort. Der Text der Predigt stand darunter, zusammen mit den Versen eines Kirchenliedes, das vermutlich noch gesungen werden sollte. Mein Morgenlied ist Dankbarkeit. Beeslaar steckte den Zettel wieder in den Bibelhalter. Das Papier glitt heraus und segelte zu Boden. Beeslaar bückte sich und hob den Zettel auf. Die Kirchenbank knarrte. Diesmal runzelte die Frau mit dem Zopf die Stirn, als sie ihn über die Schulter hinweg ansah.

Die Trauergäste verließen die Kirche und versammelten sich vor dem stattlichen, alten kapholländischen Haus nebenan zum Tee.

Unsicher stellte sich Beeslaar in der Schlange vor dem Teetisch an. Zwischen diesen grauhaarigen Liliputanern kam er sich vor wie ein Riese. Er war gut doppelt so groß und doppelt so schwer wie diese Altchen. Waren sie immer so klein gewesen? Oder lag es am Alter? War Blikkies auch so geschrumpft? Am Telefon hatte er geklungen wie immer. Und eigentlich war er noch recht jung gewesen, auf der richtigen Seite der siebzig.

»Sind Sie der Polizist?«

Die Frau mit dem Zopf stand in der Schlange hinter ihm. Sie ließ ihm keine Gelegenheit zu antworten. »Blikkies hat mir viel von Ihnen erzählt. Ich bin übrigens Trula.«

»Freut mich, Sie kennenzulernen«, murmelte Beeslaar, trat beiseite und ließ ihr den Vortritt. Sie dankte ihm und wartete auf ihren Tee, dann begleitete sie ihn in den Schatten einer Eiche.

»Wann sind Sie angekommen?«, fragte sie.

»Vorgestern.«

»Sich vorzustellen, dass er so gehen musste …«

Beeslaar hob die Tasse an den Mund. Der Tee war lauwarm und schmeckte bitter.

»So verdammt plötzlich.« Vorsichtig blies sie über den Tee. Ihr Mund war schön, ihr Gesicht davon abgesehen recht normal. Eine spitze Nase, graublaue Augen hinter einer Brille mit goldenem Gestell, weiche weiße Haut. Ihr Haar war glatt gekämmt, sauber in der Mitte gescheitelt und straff nach hinten zum Zopf gezogen.

»Blikkies und ich waren gute Freunde.« Sie nippte am Tee. »Wir waren die jüngsten Bewohner – beide noch unter siebzig.« Wie zum Beweis schaute sie in die Runde. »Er war meine Rettung, verstehen Sie? Ohne ihn würde ich vielleicht auch schon am Rollator umherhumpeln. Ein Altersheim bewirkt …«

Eine der alten Damen war zu ihnen getreten und blieb neben Trula stehen.

»Das also ist Balthies Sohn.« Die Frau blinzelte, den Kopf in den Nacken gelegt, als beobachtete sie eine Katze auf einem Baum. Beeslaar hielt sie für Mitte siebzig. Gut gehalten, makellose Frisur, ein zweiteiliges schwarz-weißes Kostüm mit einer teuren Brosche, altmodische weiße Handschuhe.

»Nein, Rea, Balthie hat nur eine Tochter. Tertia. Das ist Albertus. Er kommt aus der Kalahari. Er und Blikkies haben zusammengearbeitet.«

Beeslaar neigte den Kopf.

»Und das ist Reana du Toit«, sagte Trula. »Sie ist eine Bewohnerin.«

»Dann sind Sie der Polizist?«, rief die alte Dame aus. »Der ihn besuchen kommen wollte?«

»Das ist richtig, Mevrou. Blikkies und ich kannten uns schon sehr lange.«

Die Frau rückte ein wenig dichter an Beeslaar heran. »Sagen Sie, übernehmen Sie vielleicht auch Privataufträge?«

»Rea, nicht!« Trula klang ungeduldig, ein wenig zu laut, als hörte die andere Frau nicht mehr gut. »Er ist Polizist. Vollzeit. Er ist nur wegen der Beerdigung hier!«

»Aber gerade, weil er Polizist ist«, erwiderte Rea du Toit. »Vielleicht kann er uns helfen. Der Tod sucht Great Gables heim, er geht umher wie ein brüllender Löwe.«

Trula wischte sich die Stirn mit dem Handrücken ab. »Himmel, Rea, wie melodramatisch. Und dein Bibelzitat stimmt auch nicht. Es ist der Teufel, der wie ein brüllender Löwe umhergeht, nicht der Tod. Bitte entschuldigen Sie mich«, wandte sie sich an Beeslaar, »ich muss Oom Dolfie zur Hand gehen. Er zittert zu sehr, er kann keine Tasse Tee mehr halten.«

Rea du Toit trat noch näher an Beeslaar heran. Ihm stieg ein Geruch von Mottenkugeln, Haarspray und Hustensaft in die Nase.

»Soll sie spotten, so viel sie will, aber hier streicht etwas Böses umher.« Sie senkte die Stimme. »In der Seniorenresidenz. Es geht jetzt schon eine ganze Weile so. Kleinigkeiten, für sich betrachtet. Aber zusammengenommen …« Sie kam noch näher. »Mit Jan van Riebeeck ging alles los.«

»Verzeihung?« Es rutschte ihm heraus, ehe er sich bezwingen konnte.

»Er verschwand, verstehen Sie? Und wir glauben, er … na, dass er ermordet wurde!«

Beeslaar trank noch einen Schluck von dem widerlichen Tee und bereute es auf der Stelle. Er drehte sich um, suchte nach einer Möglichkeit, die Tasse loszuwerden.

»Sie müssen uns helfen, Albertus. Balthie wollte uns nicht zuhören. Aber als Jan van Riebeeck …«

Er sah sich hilfesuchend um, aber Trula stand neben einem Oom mit einem eiförmigen Bauch und Hosenträgern und half ihm mit seinem Tee. »Tannie Rea, ich nehme an, wir reden über … äh?«

»Ach, niemand kennt seinen echten Namen. Er lebte in der Wohnung neben uns. Er besuchte alle auf dem Korridor. Und jeder stellte ihm eine Untertasse mit einer Kleinigkeit hin.«

Beeslaar lächelte erleichtert: eine Katze! »Vielleicht besucht er jetzt die Zimmer auf einem anderen Korridor. Wo die Untertassen größer sind.«

»Das ist kein Scherz, hören Sie? Wir dürfen keine Tiere halten. Jan van Riebeeck war ein wichtiger Besucher. Unsere Heimleiterin wollte ihm verbieten, uns zu besuchen, aber er ist ein Kater und versteht nur zwei Dinge: Futter und Liebe. Und er kam jeden Tag, weil er von uns so viel Liebe bekam. Und jetzt ist er weg. Ganz plötzlich. Und das ist noch nicht alles.« Sie sah ihn aus aufgerissenen Augen an. »Es ist noch mehr passiert. Erst vergangene Woche wurde der alte Dominee Potgieter, die gute Seele, mit seinem Kaktuskasten umgetreten.«

Beeslaar hustete in seine Faust.

»Er ist Antoinettes verstorbener Mann«, erklärte sie und zeigte mit dem Kinn auf eine attraktive Frau Anfang siebzig. »Sie waren beide ganz verrückt mit ihrem Garten. Aber dann hat er Krebs bekommen. Sie hat ihn allein in ihrer Wohnung gepflegt. Bis er in ihren Armen gestorben ist. Die Kinder wollten seine Asche in den Bergen verstreuen, aber Antoinette wollte ihn nicht weggeben. Sie vergrub die Asche am Boden eines großen Blumenkastens und pflanzte darin Kakteen. Eine Aloe, Mittagsblumen, Wüstenrosen und Bokpootjies. Die Pflanzen, die er geliebt hat. Aber dann hat jemand den Kasten umgetreten. Wahrscheinlich war es er gleiche Dieb, der am gleichen Tag bei Arnold Sebens eingebrochen ist. Hat seine Krügerrandsammlung gestohlen. Und das war der Moment, als auch Jan van Riebeeck verschwand.«

Beeslaar hob die Hand, um den Wortschwall zu stoppen.

»Tannie Rea, warten Sie mal. Lassen Sie mich zuerst etwas fragen. Haben Sie den Einbruch und den Vandalismus der Polizei gemeldet?«

»Der alte Arnold hat es angezeigt, aber nichts ist geschehen. Erst gestern hat er …«

Seit einigen Sekunden klingelte in ihrer Handtasche ein Handy. Beeslaar wies darauf, und sie klappte es auf.

»Hallo!«, bellte sie in die Trauerversammlung. »Wer ist da?« Sie schwieg, schüttelte das Telefon und reichte es Beeslaar. »Nehmen Sie es. Vielleicht können Sie etwas verstehen.«

»Hier Captain Beeslaar. Kann ich Ihnen helfen?«

Schweigen. Dann: »Sind Sie von der Polizei? Sie … äh, sie weiß es schon?«

»Verzeihung?«

»Meine Mutter. Haben Sie es ihr gesagt? Meine Frau … ihr Tod?«

Beeslaar stellten sich die Nackenhaare auf. Diesen Tonfall kannte er besser, als ihm lieb war. »Meneer, Ihre Mutter und ich sind bei der Beerdigung eines gemeinsamen Freundes. Sie hat mir ihr Handy gegeben, weil sie Sie nicht gut verstehen konnte. Was muss sie wissen? Soll ich ihr das Telefon zurückgeben?«

»Uns ist etwas Schreckliches passiert. Meine Frau, meine Mutter – meine Frau …«

»Hallo?« Beeslaar trat aus dem Stimmengewirr der Trauergäste hinaus.

»Es geht um meine Frau, Elmana. Sie ist ermordet worden. Gerade eben. Hier bei uns zu Hause.«

Er hörte der Stimme des Mannes an, dass noch mehr kam. »Ein Überfall …«

»Ist die Polizei bei Ihnen? Und sind Sie in Sicherheit?«

»Was?« Der Mann schien Beeslaars Fragen nur langsam zu verarbeiten.

»Die Polizei. Haben Sie die Polizei verständigt?«

»Ja, sicher. Aber unsere Tochter. Ellie. Sie ist noch im Haus. Sie hat sich eingeschlossen, und ich kann nicht zu ihr. Meine Mutter muss bitte kommen und uns helfen. Können Sie die Heimleiterin suchen und ihr sagen, sie soll es ihr schonend beibringen?«

»Selbstverständlich. Ich tue, was ich kann. Wo sind Sie?«

»Hier, zu Hause. Ich bin hier …«

»Sie wohnen in Stellenbosch?«

»Unserem Sohn ist nichts passiert. Es ist nur … Es ist nur meine Frau. Und unsere Tochter.«

Die Leitung war tot.

Beeslaar stand reglos da, starrte auf die strahlend weiße Kirche nebenan und hörte die Schläge des Glockenturms – halb fünf. Die Geräusche rissen ihn in die Gegenwart zurück.

Rea du Toit stand noch immer da. Ihre Handtasche war offen, ihr Gesicht hatte einen fragenden Ausdruck. Erst als er näher trat, sah er das Zittern, die weiten, gespannten Nasenlöcher. Sie hat es bereits erraten, begriff er und streckte die Arme nach ihr aus.

Tod. Der Gedanke scharrte in Beeslaars Kopf. So sieht das aus. Prediger. Keine Spur von Freude oder Jauchzen.

2

Ghaap folgte leichtfüßig dem unteren Rand einer niedrigen Düne. Kurz blieb er stehen, nahm eine Handvoll feinen, trockenen Sand und warf ihn in die Luft. Sein Blick folgte seinem Flug. Gut, er war noch immer sicher auf der windabgewandten Seite.

Ringsum streckte sich die sandige Savanne bis zum endlosen Horizont. Hier und da wurde das monotone Grasland von einer roten Düne unterbrochen, dem dunkelgrünen Geflecht einer Schirmakazie oder dem Regenschirm eines Kameldornbaums.

Er folgte einer Spur im roten Sand. Einer Blutspur. Der Fährte eines angeschossenen Tieres.

Eines Gemsbocks.

Sergeant Johannes Ghaap ärgerte sich. Es hätte ein Blattschuss sein müssen.

Mit solcher Sorgfalt hatte er gezielt. Das 30-06-Gewehr hatte in der Gabel einer Akazie geruht. Zweihundert Meter, hatte er geschätzt. Mit Gegenwind. Nahe genug. Der Schuss hätte genau treffen müssen. Das Tier war deutlich sichtbar gewesen. Die schwarz-weiße Gesichtszeichnung, der kräftige Hals. Die massigen Schultern, die stramme Brust. Hörner von über einem Meter Länge, zwei tödliche Speere über der abstrakten Maske des Gesichts.

In aller Ruhe hatte er den Schuss planen können. Nur ein leichter Wind ging, um ihn brauchte er sich keine Gedanken zu machen. Ein sauberer Treffer unterhalb der Schulter, genau in den großen Maschinenraum, die Abwärtsdrift des Geschosses einberechnet.

Er hatte gezielt, den Kolben des Musgrave-Gewehrs kühl und glatt an seiner Wange, der Mauser-K98-Verschluss gespannt. Geladen nur mit dem besten: drei 180-Grain-Kugeln. Die Patronen hatte er von Hand mit Norma-Hülsen hergestellt. Sie hatten eine anständige Durchschlagskraft. S365-Pulver von Sochem hinter den teuren Partition-Geschossen von Nosler. Kugeln, die nicht am Schlüsselbein und den Sehnen solch eines gewaltigen Tieres zersplitterten. Der Rolls-Royce unter den Kugeln. Er hatte sie eigens für solch eine Gelegenheit aufgespart.

Er musste sich beeilen. Das Auge der Sonne rötete sich schon.

Aber dieser Tag, das wusste er, ging noch nicht zu Ende. Nicht ehe Blut auf dem Sand war. Es würde entweder von ihm stammen – weil ihn der Bulle mit seinen tödlichen Hörnern aufgeschlitzt hatte – oder vom Fürsten der Wüste.

Ghaap hatte nur leichtes Gepäck.

Wie seine Ahnen. Lediglich das schier Notwendige. Seine Velskoene, die Lederschuhe, waren fest an den Fußgelenken verschnürt, um Sand, Gras und Erdsternchen draußen zu halten. Er trug nur Khakishorts, an seinem Gürtel hingen ein Messer und eine Feldflasche. Sonst gab es nur ihn, sein Gewehr und diese majestätische Antilope.

Es war eine Frage der Ehre. Nur so würde er den Respekt der Älteren erlangen.

Sein nackter Oberkörper war unempfindlich gegen die Sonne. Sein Herz war gestärkt vom Blut eines schneeweißen Hahns, das er sich am frühen Morgen über den Kopf gegossen hatte. Direkt aus dem zuckenden Herz des Vogels. Der Geruch hing ihm in der Nase, und er schmeckte ihn noch immer ganz hinten auf seiner Zunge.

An der nächsten Düne kauerte er sich hin. Die Fährte der Antilope verriet, dass sie sich dahinschleppte. Neben der Spur lag ein kleiner Klumpen Lehm. Er nahm ihn vorsichtig auf und zerquetschte ihn zwischen den Fingern. Er lächelte, und die Blutkrusten an seinen Mundwinkeln und auf seinen Wangen platzten auf. Die Ahnen waren zufriedengestellt. Sie zeigten ihm …

»Hey, Dushy! Du bist an der Reihe!«

Sergeant Ghaaps Kopf zuckte hoch, und mit einem Schnauben wachte er auf. Einen Augenblick lang wusste er nicht, wo er war. Dann sank ihm das Herz. Scheiße, war er es leid, der Handlanger zu sein. Und sich von zwei Schwarzen »Dushy« nennen zu lassen – Farbiger. Ärgerlich schnalzte er mit der Zunge.

»Basop! Maye wena! Zeig ein bisschen Respekt vor deinen Vorgesetzten. Vergiss nicht, wir könnten dich einfach hier lassen! Dann können dich die Jackrollers abstechen!«

Der Sprecher war Sibusiso Mthethwa, genannt »S’bu«. Er zog sich den Finger über die Kehle, um Ghaaps wahrscheinliches Schicksal zu signalisieren. Er war der Lustige von beiden. Bandile Mabusela, der ältere Cop, hatte es nicht so mit Scherzen. Ghaap hatte das »Vergnügen«, von den beiden erfahrenen Warrant Officers aus dem Polizeirevier Orlando East gezeigt zu bekommen, wie in Soweto »der Hase lief«. Was bedeutete, dass er hier nie und nimmer lebendig und in einem Stück herausfinden würde.

Mabuselas Haar ergraute schon. Ghaap schätzte ihn auf Ende vierzig. Ein breites Kinn und große Ohren. Er stamme ursprünglich aus KwaZulu-Natal, seine Muttersprache sei Zulu, hatte er Ghaap erzählt, als sie einander vorgestellt wurden.

S’bu war erheblich jünger, hatte mehr Energie, alberte herum und machte Kak. Er war trotzig und misstraute allem Neuen und Unvertrautem. Reines »Modell D« war er – im Township geboren und aufgewachsen. Und stinksauer darüber. Er weigerte sich, mit Ghaap normales Englisch zu sprechen. Mthethwa zog sich daran hoch, ihn dumm dastehen zu lassen, indem er bei seinem Township-Slang blieb, der allgemein als Kasi bekannt war.

S’bu war auch der Kopf hinter Projekt Ghaap: Ihn einarbeiten, ihn durch die Mühle drehen, damit die Skebengas des Kasi – die Schläger des Townships – mit ihm nicht umsprangen, wie sie es wollten.

Mabusela war okay. Aber er unternahm nichts gegen S’bus Herausforderungen.

Weil Ghaap so grün hinter den Ohren war, hatten sie nicht lange gebraucht, um seine schwachen Punkte zu finden. Gestern Abend hatten sie versucht, ihn zu bewegen, Smileys und s’kop zu essen: gekochten Schafskopf und Rinderfüße, die Sehnen und Hufe, die die Leute im Township in Plastikeimern anboten und portionsweise in Butterbrotbeuteln verkauften. Sie hatten gesagt, sie würden ihn mit zu einem shisa nyama nehmen – einem braai im Township –, aber das Grillfleisch müsse er besorgen. Sie hatten Ghaap zu einem Kerl mit so einem Eimer geschickt. Er schauderte vor Widerwillen.

Und wenn es nicht das Essen war, war es die Sprache. Kasi ist ein Mischmasch aus so ziemlich allen elf südafrikanischen Amtssprachen, aber hauptsächlich besteht es aus Afrikaans, Englisch und Zulu. Wenigstens wusste Ghaap mittlerweile, dass »basop« so viel wie »pas op« bedeutete – Afrikaans für »pass auf«. Und »ukuhlaba« bedeutete »mit einem Messer niederstechen«. Er hatte noch immer keine Ahnung, was ein »Jackroller« sein sollte. Er vermutete jedoch, dass es sich um Verbrecher handelte, denen man nicht einmal bei hellem Tageslicht über den Weg laufen wollte. Die ihn umlegen würden. Und er hatte kein Interesse, umgelegt zu werden. Nicht hier.

Ghaap entknäulte seine Glieder aus dem Toyota Corolla. Die kühle Spätnachmittagsluft des High Veld traf ihn, und er griff nach hinten in den Wagen und schnappte sich seinen Parka. Fast hätte er das Gleichgewicht verloren, weil er vergaß, dass er eine kugelsichere Weste trug. Zusätzliche zweiundzwanzig Kilogramm an seinem hochgewachsenen, langgliedrigen Leib.

Es war wirklich das Letzte. Seine Vorgesetzten behandelten ihn wie einen blougat mampara, einen Trottel, frisch von der Farm. Er hatte die ganze Scheißarbeit zu machen, zum Beispiel schickten sie ihn min’ral kaufen, gekühltes Wasser. Und dann riefen sie ihm noch hinterher, gota mitzubringen – ein Viertelfladenbrot gefüllt mit Pommes frites und Lyoner. Und die ganze Zeit musste er die Schutzweste tragen.

Er kam sich vor, als wäre er auf einem fremden Planeten gelandet, wie im Film. Denzel Washington in The Book of Eli, der DVD, die Beeslaar ihm zu Weihnachten geschenkt hatte. Nur dass Ghaap nicht der Held in dieser Geschichte war. Trotzdem fühlte er sich wie der alte Denzel: in der leibhaftigen Hölle gefangen. Einer Welt, in der die Trennlinie zwischen Kinderlachen und Irrsinn verschwamm, unergründlich war. Er schauderte und legte die Hand auf die Z88 an seiner Hüfte, die Finger am Sicherungshebel. Eine Patrone war immer in der Kammer. Hier warnte man niemanden, bevor man schoss. Man feuerte erstmal fünfzehn Schuss ab, dann warnte man. Während man nachlud.

Er ging los. Es war ihr dritter Nachmittag hier, vor dem Koppie, den die Einheimischen Motor Mountain nannten, ein Hügel aus Steinen und Müll: Papier, tote Hunde, Dosen und Glas. Haushaltsmüll. Seine beiden Vorgesetzten liebten diesen Platz, aber er hatte noch nicht herausbekommen, wieso. Vielleicht, weil sie hier einfach friedlich im Auto sitzen und ihre Zeit vertrödeln konnten, mit ihren Handys herumspielen, whatsappen, Mist reden. Es war Ghaaps dritte Tagschicht in Soweto. In Gesellschaft der Big Ms, wie sie sich nannten: Mabusela und Mthethwa. Der dritte Tag, an dem sie ihn Essen holen schickten. Geduckt ging er auf den kleinen Spaza Shop in der Kuhle zu.

Weiter draußen lag die grenzenlose Weite von Soweto, Millionen von Hütten und gleichförmiger Häuschen ebenso wie größere, ansehnlichere Behausungen, die von Tausenden von Kilometern Straßen und Stromleitungen verbunden waren. Der Kohlenrauch, der wie eine Wolke in der Spätnachmittagsluft hing, wirkte wie ein Weichzeichner. Hier und da ragten die hohen Masten der Apollo-Straßenbeleuchtung über dem Smog auf. Jeder von ihnen erhellte mehrere Häuserblocks. Sie waren ein Überbleibsel aus der Apartheid-Ära – als hier der Bürgerkrieg getobt hatte.

Der Rauch stammte von Millionen Feuern. Von Menschen, die Essen zubereiteten oder es einfach nur warm hielten. An Straßenecken und an Taxiständen brannten Feuer in leeren Benzinfässern und Blechdosen. Von der kalten, frühabendlichen Luft am Boden gehalten, leuchtete der Rauch unheilvoll im schmutzig gelben Licht der untergehenden Sonne und der Apollo-Giganten. Alles roch nach Anthrazit und Ruß, ein trockener, beißender Gestank, der kaum aus Haar, Kleidung und Nase zu bekommen war.

Also das ist Soweto, sinnierte Ghaap, als er mit immer längeren Schritten dem unebenen Weg folgte. Von dem er so viel gehört hatte. SOWETO – eine Abkürzung für South Western Township. Die gefährlichste Stadt der Welt. Schlimmer als Bagdad. Vor seiner Ankunft hatte Ghaap einen langen Vortrag über den Ort und seine Geschichte erhalten. Und eines wurde ihm immer wieder eingeschärft: dass Soweto Polizisten verschlang. Zum Frühstück, zum Mittagessen, zum Abendbrot – ganz gleich. Nur die Yster, die erfahrenen Veteranen, konnten hier überleben. Blougatte wie er starben wie die Fliegen.

Hinter ihm brüllte der Motor des Corollas auf, und Ghaap fuhr herum. Wenn die beiden Drecksäcke ihm einen schmutzigen Streich spielten und ihn hier zurückließen, würde er sich seine Papiere abholen.

Aber diesmal standen keine Scherze auf der Speisekarte.

»Autoraub in Dube!«, brüllte Mabusela, als Ghaap auf den Rücksitz krabbelte. Vergeblich tastete er nach dem Sicherheitsgurt, die Augen auf der raucherfüllten Stadt, in die sie zurückfuhren. Die Straße, die den Koppie hinunterführte, war schlecht. Mabusela fuhr als Scheibenbremse – Jargon für den Beifahrer. Mthethwa ging auf der holprigen Piste kein Risiko ein, aber kaum kamen sie auf die geteerte Straße, trat er aufs Gas. Ghaap wurde nach hinten geschleudert. Er warf einen Blick aufs Armaturenbrett. Die Tachonadel schoss auf achtzig, dann hundertzehn Stundenkilometer. Vor ihnen strahlte eine rote Ampel durch den Smog, aber Mthethwa hielt den Fuß eisern auf dem Gaspedal. Mabusela hatte sich mittlerweile das Blaulicht gegriffen und befestigte es auf dem Dach. Ghaap schätzte die Sichtbarkeit im dicken, senffarbenen Rauch auf höchstens fünfzig Meter. Am Straßenrand standen Häuser und Hütten dicht aneinandergedrängt wie die Körner in einem Maiskolben. Schiefe Mauern aus Faserbetonplatten und Maschendrahtzäunen, beide mit Klingendraht an der Oberseite, leicht verschwommen im Dunst. Ghaap hielt sich an dem Türgriff fest, als hinge sein Leben davon ab, und sein Hintern zerkaute förmlich den Sitz.

Der Polizeifunk knisterte unablässig, aber er verstand kein Wort von dem, was gesagt wurde.

Mabusela hielt den Handgriff über dem Seitenfenster umklammert, als der Toyota im Zickzack ein Schlagloch umfuhr. Er nahm das Mikro in die Hand und rief etwas hinein, das damit endete, dass er eine Zulassungsnummer wiederholte. »Citi Golf, weiß! Victor, Pappa, Bravo, Sechs, Null, Acht, Sieben.«

Mthethwa bremste abrupt, als die Kaltlichtreflektoren eines Fahrzeugs vor ihnen aufleuchteten. Ghaap verlor den Halt am Türgriff, und sein Oberkörper schoss nach vorn, sodass er mit der Stirn schmerzhaft gegen Mabuselas Nackenstütze prallte.

»Hey, Mann!«, brüllte er, ehe er sich in die Gewalt bekam.

Die beiden lachten ihn aus. Ihre schrillen Stimmen erinnerten ihn an paarungswillige Hengste im Adrenalinrausch.

Auf der Straße sahen sie die verstreuten Teile eines Eselkarrens. Die Achse war gebrochen, ein Rad lag mitten auf der Straße. Mthethwa ließ die Sirene zweimal kurz aufheulen und nahm die Hand nicht von der Hupe. Dann schoss er an dem Karren vorbei, und Ghaap wurde wieder nach hinten geschleudert, knallte gegen den Sitz. Er spürte, wie in seinem Bauch die Übelkeit aufstieg, und war sich nicht sicher, ob sie von der Angst, der Aufregung oder dem übermäßigen Colagenuss während des Tages herrührte. Was immer es war, es interessierte ihn einen Scheiß. Er wollte nur nach Hause. Er hatte die Nase gestrichen voll.

»Hoppla!«, rief Mabusela plötzlich, und mit quietschenden Reifen kam der Wagen zum Stehen.

Ghaap sah das Rot der Ampel weiter vorn an der Straße – und ein schwarzer Schemen mit Antennen auf dem Dach zischte durch ihr Blickfeld.

»Trackers!«, rief Mabusela. »Ihnen nach!«

Mthethwa zog den Wagen nach links und beschleunigte. Ghaap schloss die Augen, aber er riss sie wieder auf, als Mthethwa scharf herumschwenkte, um einer gräulichen Silhouette auszuweichen. »Jissus, S’bu«, rief er, »woher weißt du, dass das kein Kind war!«

Die einzige Antwort, die er bekam, war das irre Licht, das im Rückspiegel in Mthethwas Augen tanzte.

Ghaaps Handy klingelte. In seiner Hemdtasche, unter der kugelsicheren Weste. Auf keinen Fall würde er jetzt antworten.

»Dein Handy, Sergeant!«, rief der Mann am Steuer. »Das ist bestimmt deine Mammie!« Toller Witz. Ghaap sah Mthethwas spöttischen Blick im Spiegel. Himmel, er hatte von alldem die Schnauze voll. Er hatte einfach nicht die Eier, um hier zu überleben. Beeslaar hatte ihn gewarnt.

Der konnte auch zur Hölle fahren!

Der Wagen schlitterte. Ghaap verlor keine Zeit. Er drückte seine Tür auf, ehe sie standen. Teufel, er musste hier raus.

Die Tür wurde ihm aus der Hand gerissen, und etwas prallte gegen ihn.

Ein Mensch!

Ghaap schrie auf und versuchte, sich in den Wagen zurückzuziehen, aber seine Beine wurden fest umklammert. Sein Hintern schleifte über den Sitz. Er warf sich hin und her, versuchte, die Gestalt wegzutreten, sah in dem Gewirr von Armen und Beinen eine Pistole. Zu spät. Der Kolben traf ihn gegen den Kiefer. Er schmeckte Blut und schlug blind mit den Fäusten zu, traf den Kerl in die Rippen, hörte einen Schmerzensschrei. Die Gestalt taumelte von ihm zurück, aber Ghaap packte mit beiden Händen zu und erwischte den Mann an den Kleidern. Alles geschah so schnell. Keine Chance zum Nachdenken.

Mit aller Kraft sämtlicher Sehnen und Muskeln in seinem Körper hielt er sich fest und fragte sich, wo die Pistole war. Dann bekam er seine Antwort: Ein scharfer Schmerz an seiner Stirn, der ihn nach hinten warf. Ein dunkler Nebel senkte sich auf ihn hinab. Einen Augenblick lang sah er eine zweite Person, zwei Gestalten in der offenen Tür an seinen Beinen, mit wirbelnden Gliedmaßen, während sie kämpften.

Ein Schuss peitschte durch die Luft, und alles wurde still.

3

Trula Momberg wies Beeslaar den Weg, als sie von der Trauerfeier wegfuhren.

Sie saß hinten im Wagen und hielt Rea du Toits Hand. Beeslaar fuhr mit Bleifuß und bremste nur leicht ab, wenn er sich einer der vielen Kreuzungen auf dem Weg zum Mordschauplatz näherte. Das Felsmassiv des Stellenboschbergs war rechts von ihnen, sie fuhren also in östlicher Richtung.

Die Straße gabelte sich, und Trula führte ihn nach links.

Beeslaar sah kurz den Straßennamen: Jonkershoek Avenue. Sie überfuhren eine Reihe tückischer Temposchwellen. Noch ein paar Kreuzungen. Dann sollte er nach rechts abbiegen. Ein anderer Berg kam in Sicht. Seine beiden bleigrauen Gipfel schimmerten in der Mittagshitze. Wieder rechts wurde ihm befohlen, dann geradeaus, an mehreren Seitenstraßen vorbei, bis die Straße an einer T-Kreuzung endete. »Gleich da, um die Ecke.« Er befolgte die Anweisungen und entdeckte die vielen Fahrzeuge, die sich an der Straße drängten – Polizeibusse und ein Krankenwagen. Kleinere Streifenwagen mit blitzenden Blaulichtern.

»Das große Weiße«, sagte Trula und zeigte auf das riesige zweistöckige Gebäude auf der rechten Seite.

Beeslaar hielt neben einem Streifenpolizisten an und ließ das Seitenfenster hinunter.

»Ich habe ein Familienmitglied bei mir.« Er ließ die Augen zum Rücksitz zucken. »Eine ältere Dame. Ich setze sie nur ab und fahre gleich wieder.«

Der Mann winkte ihn durch, und Beeslaar fädelte sich zwischen den Fahrzeugen durch. Eine bienenstockartige Betriebsamkeit herrschte, als hätten sämtliche Polizeibeamten der Provinz sich hier versammelt. Die Hälfte von ihnen hatte hier nichts zu suchen. Verdammte Neugier. Er knirschte mit den Zähnen vor emporwallender Wut auf den nachlässigen befehlshabenden Beamten vor Ort.

Aber er unterdrückte die Wut. Das war nicht sein Fall. Er setzte nur seine beiden Passagiere ab, und dann hieß es nichts wie raus hier.

Zurück in den Norden. In die Kalahari, wo er hingehörte.

Als direkt hinter ihm die Krankenwagensirene aufheulte, fuhr er hoch. Er stieg aus dem Wagen, nur um dem Fahrer die Sirene in den Rachen zu stopfen. Aber wieder schluckte er seine Wut hinunter.

Seine Passagiere waren ebenfalls ausgestiegen.

»Wollen Sie mich nicht begleiten?« Rea du Toit klang flehend.

In ihren Augen stand die Angst. Ihre Handtasche baumelte an ihrem Arm, ohne dass sie es bemerkte.

»Trula begleitet Sie doch, Mrs du Toit. Ich muss den Wagen wegfahren.«

Sie schüttelte den Kopf.

Innerlich stöhnte er, aber er ging mit ihnen zum Haus.

»Oumaaaa! Hilf mir!«

Die Stimme gehörte einem Mädchen, einem Teenager, die im zweiten Obergeschoss blutüberströmt im offenen Fenster saß. Sie drehte sich um und versuchte die Fassade hinunterzuklettern. Augenblicklich trat sie daneben, schrie und hing nur noch mit einer Hand am Fensterbrett.

»Ach, du lieber Gott! Ellie!«, schrie Rea du Toit und rannte los. Sie ließ die Handtasche fallen, schleuderte die Kirchenschuhe von den Füßen und humpelte auf Strümpfen weiter.

Beeslaar schoss vor. Mit den Schultern drängte er sich zwischen erstarrten Gestalten durch. Das Mädchen trat gegen die Wand und suchte nach einem Halt. Sie klammerte sich jetzt mit beiden Händen am Fensterbrett fest, aber ihre Finger rutschten ab.

»Ouma!«

Sie stürzte, und Beeslaar war noch nicht ganz da. Er warf sich nach vorn und federte ihren Aufschlag mit seinem Leib ab.

Er hörte die Panik ringsum, während Menschen versuchten, ihr aufzuhelfen. Rasch fuhr er ihr über Arme und Beine. Nichts gebrochen. Aber Blut klebte an ihr. Frisches Blut.

Ihre Augen waren offen. Leeren Blickes starrte sie ihn an.

»Gebt sie mir!« Ein Mann in mittlerem Alter drängte sich durch die Menge, kniete sich neben Ellie und riss sie von Beeslaar weg. Er war ebenfalls voller Blut. »Ellie!« Er drückte sie fest an sich. »Es ist schon gut, Süße, es ist gut, ist gut. Alles ist gut. Alles. Pappa ist jetzt da.«

Der Mann stand auf, das Mädchen in den Armen. Ein schwarzer Sanitäter streckte die Arme nach ihr aus.

»Verpiss dich!«, fuhr der Mann ihn an.

»Malan!« Rea du Toit hatte sie erreicht. Sie strich dem Mädchen das Haar aus dem Gesicht und blickte erschrocken auf das Blut, das nun an ihren Handschuhen klebte.

»Ma, ich bringe sie ins Krankenhaus. Du musst Dawid-Pieter drinnen helfen. In meinem Büro. Ellie kommt wieder in Ordnung.«

Damit ging er zu einem schwarzen Range Rover, der in der breiten Grundstückszufahrt parkte.

Der starke Motor brüllte auf. Aggressiv setzte der Mann rückwärts hinaus und erzwang sich einen Weg durch die Gaffer.

Beeslaar ging zu seinem Auto, um es wegzufahren, und bedeutete dem Krankenwagen mit einer Handbewegung, das Gleiche zu tun. Sobald die Straße frei war, würde er fahren. Doch dann hörte er ein Klopfen, sah einen weißen Zopf und fuhr die Seitenscheibe hinunter.

»Sie können nicht weg«, sagte Trula. »Rea braucht Sie jetzt. Da drin ist alles schwarz.« Sie bedachte ihn mit einem vielsagenden Blick.

Er schüttelte den Kopf. Betont ignorierte er den Rassismus der alten Dame. »Ich muss zurück. Und die Leute hier haben genügend Erfahrung.«

»Nein! Bitte.«

Er zögerte.

»Bitte, Albertus. Sie wissen nicht, wie das ist.« Sie sah ihn wieder vielsagend an.

Beeslaar legte den Rückwärtsgang ein. Seine Brust schnürte sich zusammen. Schweiß tränkte den steifen Kragen seines Oberhemds. Neues Hemd. Begräbnishemd. Er musste hier weg.

»Bleiben Sie!« Jetzt hatte sie die Hand auf der Tür. »Nur eine Stunde. Nur bis wir wissen, was hier passiert ist. Sie wissen genau, dass Balthie das Gleiche getan hätte.«

Beeslaar fluchte innerlich, aber er stellte den Motor ab und stieg aus. Er entdeckte Rea du Toit, die nach ihren Schuhen suchte. Neben ihr stand eine merkwürdige Gestalt, die ihre Handtasche aufgehoben hatte. Seine Biografie stand ihm in Form primitiver Tattoos auf Gesicht und Stirn geschrieben, mit schwarzen Tränen unter einem Auge. Typische Knasttattoos. Er schien Mitglied in einer der berüchtigten Mitchells-Plain-Gangs in Westkap zu sein. Beeslaar marschierte entschlossen auf ihn zu. Als der Mann ihn bemerkte, stellte er eilig die Handtasche ab, zog sich die Kapuze über den Kopf und verschwand in der Menge.

Beeslaar nahm die Tasche auf und sah sich um, aber der Knastbruder hatte sich in Luft aufgelöst.

»Kommen Sie, Mevrou«, sagte er und nahm Rea du Toit bei der Hand. Ihre Unterlippe bebte. Ein Speicheltropfen landete auf ihrem Revers. Sie wischte sich mit der Hand die Nase ab, und der Handschuh hinterließ eine schwache blutige Schmierspur. Sie atmete wie ein verängstigter Vogel, flach und schnell.

Jemand reichte ihr die Schuhe, und Beeslaar kniete sich hin und half ihr, sie sich anzuziehen. Ihre Strümpfe waren zerrissen.

Zu dritt gingen sie schweigend auf das Haus zu. Rea hielt den Kopf wieder hoch – sie hielt ihre Pose, nachdem ihre Würde wiederhergestellt worden war. Trula führte sie am Ellbogen, und Beeslaar bildete voller Unbehagen die Nachhut. Er fühlte sich wie eine zahme Gans an einer Leine.

Der Gartenweg teilte sich vor einem Zierspringbrunnen in zwei Pfade, die links und rechts daran vorbeiführten. Ein Fisch aus Zement streckte den Kopf aus dem Wasser und spritzte silbrige Tropfen. Stattliche Palmen ragten hinter dem Brunnen auf, wo beide Pfade sich wieder vereinten und zu den Verandastufen führten.

Eine uniformierte Polizistin erwartete sie oben an der Treppe. Ihr Gesicht war ernst, ihre Augen betrachteten die Welt nüchtern. Ihre Hose spannte sich ein wenig um ihre Oberschenkel, die nicht dick waren, aber großzügig. Sie hatte eine schmale Taille, umfasst von einem breiten Stoffgürtel, an dem ihre Schusswaffe, Handschellen und Munitionstasche hingen.

Sie streckte die Hand auf traditionelle afrikanische Art nach Mrs du Toit aus: Die linke Hand berührte den Ellbogen der grüßenden Hand. Ein Zeichen des Respekts.

»Mein Beileid, Mevrou.« Sie neigte ehrerbietig den Kopf. »Es tut mir sehr leid …«, begann sie, aber Rea ergriff das Wort, als hätte die Polizistin nichts gesagt, und ignorierte die Hand.

»Wo ist mein Enkel?« Ihre Stimme klang gebieterisch, brüsk. »Wer führt hier den Befehl?«

Der Gesichtsausdruck der schwarzen Polizistin änderte sich. Ihr Blick zuckte zu Beeslaar, dann wieder zu der Frau vor ihr. Sie verlagerte fast unmerklich das Gewicht und blockierte die Tür.

»Ihr Enkel ist in Sicherheit«, antwortete sie ruhig. »Er ist im Arbeitszimmer seines Vaters. Eine Polizistin und ein Sanitäter sind bei ihm. Ich führe Sie hinein.«

»Wo ist Elmana? Was ist hier geschehen?«

»Kommen Sie, Mevrou. Gehen wir hinein, dort können wir reden. Ich bin Captain Vuyokazi Quebeka. Ich leite die Untersuchung.«

Ihre Stimme war angenehm und freundlich ungeachtet der frostigen Atmosphäre. Das Schnalzen, mit dem sie den ersten Konsonanten ihres Nachnamens aussprach, klang warm und weich, wie ein Kiesel, der in einen tiefen Brunnen ploppte.

»Beeslaar … äh«, sagte er unbehaglich. Er war schon wieder wütend auf sich selbst.

»Ein Verwandter?«, fragte Captain Quebeka.

»Nein, äh …«

»Er gehört zu mir. Er ist ein Polizist. Und er wird meiner Familie zur Seite stehen.« In Rea du Toits Stimme lag Trotz. »Er ist hier auf ausdrückliche Anweisung des Hauseigentümers, meines Sohnes. Kommen Sie, Albertus!«

In Quebekas Augen strahlte Härte auf. Sie wandte sich wortlos um und erteilte einem Constable hinter ihr eine Anweisung auf Xhosa. Er winkte ihnen, dass sie ihm nach links durch die Eingangshalle folgen sollten.

Beeslaar warf über die Schulter einen Blick auf Quebeka. Sie starrte ihn mit erhobenem Kinn an. Er wusste nicht recht, ob er Arroganz oder Verärgerung in ihren Augen las. Nicht, dass es ihn auch nur einen Deut interessiert hätte. Er wollte sich noch bei der alten Dame verabschieden, dann würde er sich auf den Weg machen.

Die Eingangshalle sah teuer aus. Fußboden aus gesprenkeltem Marmor. Ein Orientteppich. Große moderne Gemälde. Originale – eins von einem Nguni-Bullen. Rechts ein Esszimmer. Beeslaar zählte vierzehn Stühle. Zwei Kristalllüster hingen tief über dem Tisch. Die Decke zeigte den Sternenhimmel.

Eine Treppe. Vermutlich führte sie zu den Schlafzimmern im Obergeschoss.

Blutspritzer an den Wänden und auf dem dicken Teppichbelag der Treppenstufen.

Beeslaar merkte, wie sich seine Magengrube regte. Ein Strick, der sich spannte, ein Schwirren, das langsam erwachte.

Der Schauplatz eines Mordes. Ein Menschenleben war hier genommen worden. Brutal. Eine Familie zerstört.

Was hier geschehen war, rief nach Vergeltung. Das war die Botschaft seines Körpers.

4

Der Junge hatte sich in die Ecke des Zweisitzersofas gequetscht, damit er so weit wie möglich von der Polizistin entfernt saß. Er hielt einen Kaffeebecher, der mit Tee gefüllt zu sein schien. Die Polizistin stand auf und räumte für Rea du Toit den Platz neben ihrem Enkel.

»Ach, mein Kleiner!« Rea du Toit drückte ihn an sich. Er ließ es mit sich geschehen und stierte mit starrem Ausdruck ins Leere. Eine Weile saßen die beiden so da, das Gesicht der alten Frau verzerrt im Kampf um ihre Beherrschung, das des Jungen ausdruckslos, mit weit geöffnetem Mund. Er befand sich in dieser unangenehmen Phase zwischen Kind und Mann. Lange, spindeldürre Gliedmaßen, knubbelige Knie und Schultern. Der erste Anflug eines Bartes zwischen den Aknepickeln.

Beeslaar hielt sich an der Tür, während Captain Quebeka einen Stuhl an der Lehne heranzog und sich zu den beiden setzte. Sie wartete kurz, ehe sie das Wort ergriff, dann beugte sie sich vor, die Hände auf die Knie gestützt.

»Würden Sie uns bitte allein lassen?« Rea du Toits Stimme war voller Feindseligkeit. Ihre gepuderten Wangen zitterten, und in ihren Augen glänzten Tränen.

»Es tut mir leid, Mevrou, aber wir müssen mit dem Jungen sprechen. Es wird nicht …«

Der Junge rührte sich plötzlich. Er löste sich aus der Umarmung seiner Großmutter. »Pa sagt, ich brauche nicht zu reden.«

»Dein Vater hat recht«, sagte Quebeka ruhig, »aber du willst uns doch helfen, den Täter zu fassen, oder?«

Der Junge sah sich forschend um. Ein Bein begann zu zucken, und in seinen Augen stand Angst. Er sah zu Beeslaar hoch, dann zu Quebeka, die direkt vor ihm saß.

»Ich weiß nicht, was passiert ist«, murmelte er, den Blick wieder auf seinen Teebecher gerichtet. Große ungeschickte Jungenhände mit Warzen auf einem Daumen. Beeslaar erinnerte er an ein frischgeschlüpftes Straußenküken: Er wusste nicht wohin mit den Beinen.

»Und er muss auch nicht mit Ihnen reden«, sagte die Großmutter. »Er wird reden, sobald ein richtiger Polizist hier ist.« Sie sah Quebeka drohend an, die ihrem Blick mit herabgezogenen Mundwinkeln und geblähten Nasenlöchern begegnete. Im Boxring kennt sie sich aus, dachte Beeslaar.

»Mevrou, ich bin die richtige Polizei. Ich leite die Untersuchung. Und es würde wirklich …«

Rea schnitt ihr das Wort ab. »Es nützt überhaupt nichts, mit Ihnen zu reden – zu irgendeinem von euch. Denn euch bringt ja niemand um wie die Fliegen. Euch ist es egal, wenn wir alle abgeschlachtet und massakriert werden. Im Gegenteil, ihr freut euch noch, wenn ein Weißer stirbt!«

Quebeka schien etwas entgegnen zu wollen, dann aber beherrschte sie sich. Ihr Mund klappte zu. Sie lehnte sich zurück und ließ die giftige Wut der alten Frau über sich hinwegspülen.

Beeslaar trat näher. »Ich würde es für das Beste halten, wenn der Junge uns sagen könnte, was passiert ist, Mevrou du Toit.«

»Ja, das weiß ich, Albertus. Mit Ihnen rede ich. Aber nicht mit einer … mit einer von denen!« Sie sah an Quebeka vorbei; ihre Augen hielt sie auf Beeslaar gerichtet.

Quebeka versuchte es noch einmal. »Mevrou, ich kann wirklich verstehen …«

»Gehen Sie weg! Ich rede nicht mit Ihnen. Sie … Sie … raus mit Ihnen, Sie …!«

Quebeka blieb noch einen Augenblick lang sitzen, als warte sie auf das Wort »Kaffer«. Dann stand sie abrupt auf, und die alte Frau zog den Jungen beschützend an sich, einen wilden Ausdruck in den Augen.

»Auf ein Wort bitte«, sagte Quebeka, als sie an Beeslaar vorbeiging.

Sie gingen durch zwei große Schiebetüren auf eine kleine Veranda, die eine gestreifte Leinwandmarkise überspannte. Zwei Liegestühle standen auf den Fluss gerichtet. So, sagte sich Beeslaar, lebte die andere Hälfte des Volkes. Links von der Veranda erstreckte sich ein prächtiger Garten. Büsche blühten in strahlendem Orange und Rot. Ein langer Swimmingpool, von einem Deck aus Kap-Teakholz umgeben, an den beiden fernen Ecken Zypressen in Kübeln.

»Was genau tun Sie hier?«, fragte Quebeka mit versteinertem Gesicht.

»Nichts. Absolut nichts. Ich war zufällig auf der gleichen Beerdigung wie die alte Dame. Ich bin nur hier, um sie abzusetzen.«

»Dann haben Sie keinen Grund, hierzubleiben.«

Er wollte sich gerade umdrehen und gehen, als sie fortfuhr. »Ich dachte, ich bin anständig und respektabel genug für die Weißen, aber …« Sie sah ihn tadelnd an, dann ging ihr Blick an ihm vorbei zum Arbeitszimmer, wo Trula Momberg nun auf dem Stuhl saß, den sie geräumt hatte.

Beeslaar zupfte sich am obersten Hemdknopf. Er wollte sich nicht einmischen, wusste aber nicht, was er sagen sollte. Er wollte eigentlich nichts weiter als endlich weg.

»Beerdigung, sagen Sie?« Ihre Frage erwischte ihn unvorbereitet.

»Früherer Kollege. Er kam nach seiner Pensionierung nach Stellenbosch.«

»Oom Blikkies.«

»Sie haben ihn gekannt?«

»Bring den Zirkus in Bewegung, aber vergiss bloß nicht die Flöhe auf dem Trampolin.«

Einer von Blikkies’ Sinnsprüchen.

Hitze stieg in Beeslaars Brust auf und trieb ihm das Blut in die Ohren.

»Dann müssen Sie Kwartel sein«, fuhr Quebeka fort. »Albertus Markus Aurelius Kwartel. Der vierte hoch fünf hoch unendlich.«

Das war die Art des alten Blikkies, an Beeslaars unrühmliche Herkunft aus den Abraumhalden von East Rand anzuspielen.

Beeslaar wandte den Blick ab, fürchtete, dass sein Schmerz sich zeigen würde.

»Höchstselbst.« Seine Stimme war rau. Er räusperte sich. »Habe ich das richtig verstanden? Das war … was? Ein Einbruch, der eskaliert ist? Ein Raubüberfall?«

»Wer hat Ihnen das gesagt?«

»Der Eigentümer. Du Toit.« Er blickte auf die Szenerie drinnen, wo Rea noch immer den Jugendlichen in den Armen hielt. »Ich war zufällig dabei, als er seine Mutter anrief. Bei der Beerdigung. Sie hat mir das Handy gereicht.«

»Und er sagte, es sei ein Raubüberfall gewesen.«

»Etwas in der Richtung, ja. War es etwas anderes?«

»Wenn ich das wüsste. Aber das ist noch nicht so wichtig. In erster Linie ist es ein Desaster. Es sieht aus, als ob …« Sie zögerte kurz. »Kommen Sie und sehen Sie es sich selbst an.«

Zum zweiten Mal an diesem Tag war er ein zahmes Hündchen. Nur diesmal störte es ihn nicht. In seinem Kopf hatte sich eine tiefe Stille gesenkt. Ein vertrautes Schweigen. Es war, als lauschten alle seine Sinne lautlos irgendwo tief in ihm und testeten die Atmosphäre auf Spuren von Bösem, die noch in der Luft hingen. Hauchdünne Spinnfäden, schwache Echos der Gewalt, unsichtbar und ungreifbar, es sei denn, man wüsste, wie man zuhörte. Es war, als stelle sich sein ganzer Körper darauf ein, als fingen die Saiten zwischen seinem Herzen, seinem Kopf und seinem Körper an, im Einklang zu schwingen.

Sie führte ihn durch das piekfeine Esszimmer. Sie gingen behutsam, auf Zehenspitzen, und hielten sich an der Wand abseits vom Esstisch. Die Ermittler vermaßen und markierten den Tatort schon fleißig. Blikkies hatte sie immer Libellen genannt. Sie landeten, begutachteten die Scheiße und flogen weiter. Und man konnte es absolut vergessen, aus ihnen etwas Nützliches herauszubekommen. Sie brauchten Wochen, bis sie Ergebnisse hatten. Und die waren dann auch wieder nur Scheiße.

Ein Bogen trennte das Esszimmer von einem großen, gemütlichen Wohnzimmer. In zahlreichen Wandnischen alterten Weinflaschen anmutig vor sich hin.

Der weiße Teppich im Esszimmer war voller Blutflecken, aber das Blut war aus dem Wohnzimmer hereingetragen worden. Es gab mehrere Fußabdrücke. Jemand mit viel Blut auf seiner Kleidung war am Esstisch vorbei der Wand gefolgt und hatte dabei die Tapete beschmiert.

Beeslaar folgte Quebeka am Esstisch vorbei zum Eingang des Wohnzimmers, wo die Libellen in ihren Plastikanzügen umherwimmelten. Links waren eine Frühstücksecke und eine Bar, rechts eine Couch und ein großer Fernsehbildschirm an der Wand. Überall lagen Pflanzen auf dem Boden. Viele. Und Keramikscherben.

Dann sah Beeslaar das Opfer: eine Frau, die auf einer breiten Couch saß. Ihr Hinterkopf war mit solcher Gewalt eingeschlagen worden, dass graue Hirnmasse durch Knochensplitter und Haar sickerte. Er zuckte zusammen, als ihm die Haarfarbe auffiel: rot. Beeslaar schüttelte den Kopf, um den Schock zu vertreiben. Nicht alle rothaarigen Frauen waren Gerda.

»Der Schauplatz wurde verändert«, hörte Beeslaar sich sagen.

Ein Lächeln Quebekas belohnte ihn. Ihm gefiel das Licht in ihren Augen: ein Jagdhund, der die Witterung eines Springhasen aufnahm.

»Kommen Sie.« Sie drehte sich um. »Sehen wir es uns von der anderen Seite an.«

Sie kehrten zur Haustür zurück und verließen das Haus. Um das Gebäude herum gingen sie nach hinten. Dort stand ein weiterer Brunnen. Diesmal war es eine auf der Seite liegende Keramikvase, aus der Wasser tröpfelte. Blikkies hätte dazu eine beißende Bemerkung parat gehabt. Für Reicheleuteschnickschnack hatte er stets eine gesunde Verachtung empfunden.

Sie kamen zu einer großen Veranda hinter dem Haus. Es gab eine Feuergrube, und in der Ecke stand ein Gasgrill, groß genug, um eine Rakete zum Mond abzufeuern.

Die Rückseite des Hauses, erkannte Beeslaar, war tatsächlich die Vorderseite. Der Teil, wo die Bewohner den Großteil ihrer Zeit verbrachten – die Veranda, teilweise überdacht und mit luxuriösen Rattanmöbeln voller Plüschkissen und einem großen Esstisch in Holz und Chrom ausgestattet, führte zu einem Swimmingpool mit einem weiteren Springbrunnen. Alles kündete sehr laut von sehr viel Geld.

Am teuersten von allem: der private Ausblick auf den Eersterivier und den Stellenboschberg. Beeslaar kam es vor, als bräuchte er nur die Hand auszustrecken, um eine Handvoll Fynbos und Zuckerbüsche zu pflücken, oder späte Trauben aus den roten Weinbergen an den Hängen des Stellenbosch.

Eine Reihe von Türen verband das Wohnzimmer mit der Veranda. Zwei davon standen offen. Quebeka reichte Beeslaar Handschuhe und Hüllen für seine Schuhe, die sie »Oortjies« nannte, »Öhrchen« – noch ein Begriff, den Blikkies geprägt hatte. Wie seltsam, den Stempel des Alten bei einer Fremden gespiegelt zu sehen.

Der Kupfergeruch von rohem Fleisch und etwas Chemischem hingen noch in der Luft. Frischer Tod, war der Gedanke, der Beeslaar durch den Kopf schoss. Und gleichzeitig nahm er den modrigen Höhlengeruch der Erde wahr, der von den zerschlagenen Blumentöpfen stammte, die über den Marmorboden verstreut lagen.

Beim Anblick des roten Haares machte Beeslaars Herz wieder einen Satz. Die Frau auf der Couch war groß und knochig. Dünn an der Grenze zur Magersucht. Das genaue Gegenteil von Gerda. Er folgte Quebeka. Der Fernseher an der Wand war eingeschaltet, der Ton stummgestellt.

»Sehen Sie«, sagte sie und wies auf das Blut rings um die Couch: Flecke, tränenförmige Spritzer, verschmierte Schuhabdrücke. Zwischen Sofa und Fernseher stand ein langer Tisch mit einer Glasplatte. Das Glas war zerschlagen. Zwischen den Scherben lag eine kleine Bronzestatue. Ein Brahman-Bulle, erkannte Beeslaar, blutverschmiert und halb unter irgendwelchen Hochglanz-Bildbänden versteckt. Eines der Bücher zeigte einen Löwen auf dem Umschlag. Sein starrender goldener Blick war mit Blut befleckt.

»Sie ist nicht auf der Couch gestorben, oder?«, fragte Beeslaar, als sie wieder draußen standen.

»Wir haben sie so vorgefunden.«

»Wann?«

»Der Anruf kam kurz nach vier. Wenn die Kinder aus der Schule kommen. Die Tochter, wie heißt sie …« Sie kniff die Augen zu. »Emmie, Evvie?«

»Ellie.«

»Offenbar kam sie als Erste nach Hause. Dann der Junge. Er hat den Vater angerufen.«

»Der wo war?«

»Ein spätes geschäftliches Mittagessen. Im Restaurant Volkskombuis.«

»Und er hat Sie angerufen?«

»Nein, sein Anwalt. Er war bei ihm im Restaurant.«

Beeslaar sagte nichts. Er stand da, betrachtete den Garten, die Hände in den Hüften. Über den Fluss auf die graue Felswand des Berges. Ein Raubvogel segelte weit oben auf warmen Luftströmen. Dann schaute er zum Haus zurück.

Entscheide dich, sagte er zu sich selbst, und zwar jetzt. Ehe du die nächste Frage stellst. Ehe du an der Angel bist. Mit dem Haken in der Backe wie so eine Forelle, die in dem Fluss da schwimmt.

Aber sie machte den ersten Schritt. »Er war ein Colonel, richtig?«, fragte sie. Ihr Blick ruhte ebenfalls auf dem Berg. Sie sprach von Blikkies.

Beeslaar nickte.

»Sie hatten Glück.«

Sie war tatsächlich verdammt attraktiv, stellte er fest. Feine glatte Haut in der Farbe dunkler Schokolade. Ausgeprägte Jochbeine. Gewölbte Augenbrauen wie die Flügel eines anmutigen Vogels. Ein großzügiger Mund. Aber ihre Augen waren es, die an ihr hervorstachen. Braun mit goldenen Flecken. Klare Augen. Intelligent. Er hatte eine Schwäche für intelligente Augen. Und große ausdrucksvolle Münder. Wie Gerdas Mund.

»Einen Mann wie Oom Blikkies gekannt zu haben, meine ich.« Sie lächelte. Funkelnde weiße Zähne. »Ich habe gehört, Sie sind nicht mehr in Johannesburg.«

Er schüttelte den Kopf und blickte auf seine Schuhe. »Gott sei Dank«, sagte er. Mehr fiel ihm nicht ein.

Und dann tat er es: Er überschritt die Linie, gab dem Sog des Rätsels nach. Er stellte die Frage.

»Dieser Tatort – er ist ein bisschen zu privat für einen Raubüberfall, oder?«

5

Sein Schienbein schmerzte unerträglich.

Es kam vom Kampf mit dem Autodieb, dem Kerl, den Ghaap versehentlich mit der Tür erwischt hatte, ehe der Wagen zum Stehen gekommen war. Der Kerl war schnurstracks in die Tür hineingeknallt, gefolgt von jemandem, der ihn hetzte. Ein Gerangel begann, bei dem zwei kämpfende Männer um Ghaaps Füße und Schienbeine herumgetänzelt waren.

Und dann war der Schuss gefallen.

Der Autodieb hatte blind gefeuert, als er unterlegen war. Genau hier, auf Ghaaps Schienbein. Ghaap hatte davon zum Glück nichts abbekommen – er war bewusstlos geworden, vor Angst vielleicht. Zu sich gekommen war er erst, als ihm jemand mit einer Taschenlampe in die Augen geleuchtet hatte, um zu schauen, ob er tot wäre. Er lag noch immer auf dem Rücksitz des Wagens, während seine Beine herausbaumelten, und hörte ein Stimmengewirr und viel Gebrüll. Afrikaans, Englisch und wahrscheinlich Zulu. In der Kalahari gab es keine Zulus, daher fiel es Ghaap schwer, es von anderen afrikanischen Sprachen zu unterscheiden. Mabusela und Mthethwa sprachen Zulu, das wusste er. Aber damit endeten seine Kenntnisse auch schon.

Er fühlte sich wie der Idiot des Jahrhunderts. Überfordert, fehl am Platz.

»Holt ihn aus dem Wagen«, hatte jemand gerufen. »Er hat die Kugel abbekommen. Und ruft einen Arzt!«

Ghaap hatte sich aufrecht hingestellt. »Alles okay«, hatte er gequietscht. Lauter hatte er hinzugefügt: »Lassen Sie mich. Mit mir ist alles in Ordnung!« Und das stimmte, es wurde kein Blut und keine Schusswunde gefunden. Nur ein angeknackstes Ego und ein wundes Schienbein, auf dem zwei kräftige Kerle herumgetrampelt waren.

Es war kurz vor sechs, und es wurde sehr schnell dunkel, aber sie waren noch immer an der gleichen Stelle. Warteten, dass der Schauplatz protokolliert würde. Warteten, dass die Fingerabdruckheinis mit dem gestohlenen Golf fertig würden, damit jeder abmarschieren und mit seinem Leben weitermachen könnte.