Weinende Wasser - Karin Brynard - E-Book
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Weinende Wasser E-Book

Karin Brynard

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Beschreibung

"Den großen Mann aus der großen Stadt" - so nennen seine neuen Kollegen Albertus Beeslaar. Der zwei Meter große Inspector hat sich erst vor Kurzem in den Norden Südafrikas versetzen lassen, in die staubtrockene Provinz Nordkap. Nach über zwanzig Jahren bei der Mordkommission in Johannesburg wünscht Beeslaar sich nichts mehr als einen ruhigen Posten auf dem Land. Doch ein furchtbares Verbrechen bringt ihn auch hier um den Schlaf: Auf einer Farm werden eine junge Frau und ihr Kind ermordet, ihre Leichen zudem seltsam drapiert. Beim Anblick des grausigen Tatorts ahnt der Inspector, dass dieser Fall ihn bis an seine Grenzen treiben wird.

»Brillant!« Deon Meyer, Bestsellerautor

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Seitenzahl: 661

Veröffentlichungsjahr: 2016

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Inhalt

Cover

Über die Autorin

Titel

Impressum

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Danksagungen

Über die Autorin

Seit Jahren arbeitet die Südafrikanerin Karin Brynard als Journalistin für die renommiertesten Zeitungen ihres Landes. 2009 erschien ihr Debütroman Weinende Wasser, der mit gleich zwei Literaturpreisen ausgezeichnet wurde und die Bestsellerlisten eroberte. Auch ihr zweiter Kriminalroman um Inspector Albertus Beeslaar erhielt mehrere Preise und wurde von der Presse euphorisch gefeiert. Die Autorin lebt in der Nähe von Kapstadt.

Karin Brynard

Inspector Beeslaars erster Fall

WEINENDE WASSER

KRIMINALROMAN

Aus dem Englischen von Dietmar Schmidt

BASTEI ENTERTAINMENT

Vollständige E-Book-Ausgabe des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

Für die Originalausgabe: Copyright © 2009 by Karin Brynard Titel der aus dem Afrikaans übersetzten englischen Originalausgabe: »Weeping Waters« Erstveröffentlichung in Afrikaans unter dem Titel »Plaasmord« bei Human & Rousseau

Für die deutschsprachige Ausgabe:Copyright © 2016 by Bastei Lübbe AG, KölnLektorat: Judith MandtTextredaktion: Christiane Geldmacher, WiesbadenTitelillustration: © Johannes Wiebel | punchdesign, München, unter Verwendung von Motiven von photocase.de/***jojo; photocase.de/schiffner; und Shutterstock.com/woaissUmschlaggestaltung: Johannes Wiebel, punchdesign, MünchenE-Book-Produktion: two-up, Düsseldorf

ISBN 978-3-7325-2290-3

www.bastei-entertainment.dewww.lesejury.de

Für Rien

1

Der Anruf kam kurz nach zwei.

Er saß an seinem Schreibtisch in der Station und verzehrte zum Mittagessen Vetkoek mit Hackfleischfüllung. Wie üblich spülte er die frittierten Teigbällchen mit starkem schwarzem Kaffee herunter. Drei Stücke Zucker pro Tasse.

Er hatte fast zu Ende gegessen, als das Telefon klingelte.

Einer der wachhabenden Constables kam zu ihm ins Büro. »Es hat einen Mord gegeben. Zwei Tote auf einer Farm. Frau und Kind. Weiß. Huilwater-Farm an der Straße nach Upington, ungefähr vierzig Kilometer.« Er schwieg kurz. »Der Anrufer ist noch dran. Möchten Sie ihn sprechen, Inspector?«

Inspector Albertus Markus Beeslaar schob sein Vetkoek beiseite.

Eine Männerstimme, zittrig und heiser. »Zu spät«, wiederholte der Mann immer wieder, »ein Verrückter … ein Teufel …«

Die Stimme verstummte für einen Moment.

»Wie Tiere. Beide einfach abgeschlachtet. Blut. Auf allem. Überall.«

Der Mann sagte, er stehe darin. Dann fing er an zu schluchzen und stammelte, es sei zu spät.

Es bedurfte einigen Zuredens, bis Beeslaar einen Namen von ihm erfuhr. »Boet Pretorius«, hörte er schließlich. »Von der Nachbarfarm.«

Das Kind war gerade vier Jahre alt geworden. »Vier, nur vier«, sagte Pretorius immer wieder.

»Wo ist der Ehemann der Frau?« Beeslaar musste die Frage mehrmals stellen.

»Es gibt keinen Scheißehemann«, bekam er endlich zur Antwort. Einen Vormann, ja, den gebe es, aber der sei nirgendwo aufzufinden.

Von wo genau er anrufe, wollte Beeslaar wissen.

Eine lange Stille folgte, als müsste der Mann darüber nachdenken.

Als Beeslaar es hörte, herrschte er ihn an: »Gütiger Himmel, Mann! Machen Sie, dass Sie aus dem Haus kommen. Sofort! Ich bin unterwegs.«

Einen Augenblick lang rührte Beeslaar sich nicht. So viel zu einem friedlichen Leben auf dem Land, zu seinem Traum von einem ruhigen Posten in einer Kleinstadt. Er warf den Vetkoek-Rest in den Mülleimer und befahl dem wachhabenden Constable, Verstärkung nach Huilwater zu schicken. Dann sammelte er seine beiden Kollegen ein und besorgte sich ein Auto. Den Citi Golf. Von zwei Fahrzeugen das einzige verfügbare. Keine Klimaanlage, hundertachtzigtausend Kilometer auf dem Tacho.

Sie quetschten sich hinein, für vierzig Kilometer Fahrt auf einer unbefestigten Straße.

Sergeant Pyl musste nach hinten, Sergeant Ghaap durfte auf den Beifahrersitz. Beeslaar klemmte seinen Zweimeterleib hinter das Lenkrad. Er fluchte leise vor sich hin, wie jedes Mal, wenn er mit dem winzigen Wagen fahren musste: das Lenkrad zu dicht an den Knien, der Sitz zu schmal, keine Beinfreiheit, den Kopf beinahe am Dach – er fühlte sich eingekeilt. Die Fahrt an diesem Nachmittag bildete keine Ausnahme. Beeslaar hatte schon schlechte Laune, als sie die Landstraße erreichten.

Mehr als das enge Auto ärgerte ihn allerdings, dass er sich auf seinem neuen Posten noch immer nicht richtig zurechtfand: ein echter Stadtjunge ohne jeden Bezug zur Welt der Farmer und des Viehs, der Feldwege und des Sandes, der Schlangen und der sengenden Hitze ohne Klimaanlage. Kaum war er hier eingetroffen, in der Annahme, er trete einen ruhigen Job im friedlichen Hinterland an, hatte es keinen Tag gedauert, und die Kacke war am Dampfen.

Ausgerechnet mitten in einer Welle von Viehdiebstählen nie gekannten Ausmaßes hatte man ihn hierhergeschickt. Und entweder war ihm alles abhandengekommen, was einen guten Ermittler ausmachte, oder er hatte es mit einer besonders gerissenen Bande zu tun: Er fand nicht die geringste Spur von diesen Kerlen, ganz gleich, wie sehr er sich anstrengte.

Die Farmer wussten sich nicht mehr zu helfen. Und sie waren wütend, denn sie trugen den Schaden. Jeder wollte Ergebnisse, Verhaftungen – während Beeslaar kaum noch seinen Hintern von seinem Ellbogen unterscheiden konnte, geschweige denn eine clevere Viehdieb-Bande zur Strecke bringen.

Als wäre das nicht schlimm genug, waren vor nur zwei Wochen auf Vaalputs zwei Farmarbeiter brutal ermordet worden. Sie mussten die Viehdiebe auf frischer Tat ertappt haben. Die ganze verdammte Nacht hindurch hatten Schafe mit durchtrennten Kniesehnen dort zwischen abgeschlachteten Tieren mit durchgeschnittenen Kehlen gelegen und geschrien vor Schmerz, bis der Farmer sie am nächsten Morgen fand und von ihrem Elend erlöste. Erst danach entdeckte er die Leichen der Arbeiter unter den Kadavern. Die Toten waren die Jacobs-Brüder; die panischen Tiere hatten sie fast bis zur Unkenntlichkeit zertrampelt.

Aber vorher war beiden Männern die Kehle durchgeschnitten worden.

Und er, Inspector Albertus Beeslaar, stand wie ein verdammter Idiot da. Alles schaute auf ihn, den Neuen mit der jahrelangen Erfahrung. Den großen Mann aus der großen Stadt. Ausgebildet von den Besten im ehrwürdigen Johannesburger Raub- und Morddezernat. Aber jetzt war er hier und eierte rum wie ein verirrter Furz, ohne die geringste Ahnung, was als Nächstes zu tun war.

Wenn er die Diebe nur gefunden hätte, würden die Huilwater-Frau und ihr Kind noch leben und …

In letzter Sekunde wich er einem Schlagloch aus, stieß sich den Kopf an und dachte: Hör auf zu brüten und konzentrier dich auf die Straße. In diese Schlaglöcher passten Gefriertruhen.

Mit halbem Ohr hörte er Sergeant Pyl hinter sich zu – dem Hyperaktiven, der seine Klappe nicht für eine Sekunde halten konnte. Pyl war es egal, dass er brüllen musste, um den Lärm zu übertönen, mit dem der Schotter gegen das Fahrgestell prasselte. Es gebe viel Gerede, schrie er: über die alleinstehende Frau auf Huilwater, eine exzentrische Künstlerin aus Johannesburg. Auch über das Mädchen, das sie adoptiert hatte, eine Griqua, ein Mischling aus Buren und Ureinwohnern. Vor allem aber über den merkwürdigen Buschmann, den sie als Vorarbeiter beschäftigte. Pyls Stimme ging fast komplett unter, als sie über ein welliges Straßenstück ratterten, und Beeslaar konnte seinen Ausführungen nicht immer folgen.

Eine halbe Stunde Gerüttel, Geschüttel und Kopfanstoßen. Pyl quatschte auf dem Rücksitz unerschütterlich weiter. Ghaap, der seinen langen, mageren Körper auf dem Beifahrersitz wie eine Stabheuschrecke zusammengeklappt hatte, war zum Glück weniger gesprächig. Endlich kamen sie zur Einfahrt nach Huilwater und hielten vor der Hintertür des Farmhauses.

Boet Pretorius saß auf der Treppe hinter dem Haus, eine große, vorgebeugte Gestalt mit Blut an der Kleidung. Große Flecken auf den Knien und Unterarmen. Sogar in seinem Haar. An seinem Hemd klebte Erbrochenes und an der Hand, mit der er die Zigarette hielt, ein dunkler Schmierstreifen.

Um ihn herum stand wortlos eine Schar Männer: Farmer aus dem ganzen Distrikt, die von weiß Gott woher gekommen waren.

Wer hatte ihnen Bescheid gesagt?, fragte sich Beeslaar. Pretorius?

Einer stand noch in der Küchentür, das Gesicht blass vor Angst. Wahrscheinlich reingegangen, um seine zynische Neugierde zu befriedigen, dachte Beeslaar, während er auf die Gruppe zutrat.

»Inspector Beeslaar«, stellte er sich vor, »und die Sergeants Pyl und Ghaap. Wie viele von Ihnen sind da drin gewesen?«

Die betretene Antwort bestand in gesenkten Köpfen und Händen, die an einem Pistolenholster an der Hüfte oder einem Hut nestelten.

»Himmel«, brummte er und ging an ihnen vorbei.

Der Mann an der Tür trat rasch beiseite. »Ist keiner mehr da«, sagte er zu Beeslaar, der einen Augenblick brauchte, um zu begreifen, was der Mann ihm mitteilen wollte.

»Von jetzt an halten Sie sich alle von diesem Haus fern«, sagte Beeslaar laut. »Das ist ein Mordschauplatz, kein Gruselkabinett, verdammte Scheiße!« Er schluckte seinen Ärger herunter und schlug einen ruhigeren Ton an. »Bitte achten Sie darauf, dass niemand von hier fortgeht, ehe ich mit allen gesprochen habe. Verstanden?« Er wartete, bis sie ihre Zustimmung bekundeten. Dann wandte er sich um und ging ins Haus. Über die Schulter hinweg befahl er Pyl, die Hintertür zu bewachen – niemand außer der Spurensicherung aus Upington durfte eintreten –, während Ghaap Aussagen aufnehmen sollte. Sobald die Streifenbeamten eintrafen, sollten sie sich auf die Suche nach den Farmarbeitern machen.

Der Anblick war besonders grauenhaft. In zwanzig Jahren beim South African Police Service hatte er so etwas noch nicht gesehen. Das Kind entdeckte er zuerst. Im ersten Zimmer. Das Mädchen lag in einer Blutlache auf der Seite. Er sah deutlich, dass das Blut frisch war – höchstens ein paar Stunden alt.

Die Leiche der Frau befand sich in einem zweiten Schlafzimmer. Sie saß auf dem Boden, mit dem Rücken an einen Stuhl gelehnt. Ihre Arme hingen schlaff herunter, die Hände entspannt, die Handflächen offen nach oben. Wie eine Puppe, die man aufrecht auf ein Kinderbett gesetzt hat. Nur fehlte ihr der Kopf. Zumindest konnte ihn Beeslaar von seiner Position an der Tür aus nicht sehen. Aber er wollte nicht zu nah herangehen, sondern auf das Spurensicherungsteam warten.

Nicht dass er einen unberührten Tatort vor sich gehabt hätte: Die beiden Zimmer und der Flur waren mit den blutigen Fußabdrücken der Farmer übersät. Beeslaar merkte, wie sein Blutdruck stieg.

Das Spurensicherungsteam aus Upington erwies sich als einköpfig. »Tut mir leid, dass ich so spät dran bin«, sagte der Mann und stellte sich als Hans Deetlefs vor. »Ohne Navi hätte ich nie hierhergefunden!« Er wirkte recht zufrieden mit sich und seinem Navi, dieser Mann mit dem jugendlichen Gesicht und der großen Brille. Er war klein, doch er litt offensichtlich nicht unter Komplexen. Und er machte einen cleveren Eindruck. Er trug bereits einen Plastikoverall und Überschuhe, in der linken Hand hielt er die Tasche mit seinem Zauberwerkzeug, die Kamera hatte er sich um den Hals gehängt. »Willkommen im wilden Nordwesten, Inspector!«, sagte er und blinzelte selbstzufrieden mit den kleinen Augen. »Wie ich höre, sind Sie aus dem fernen Johannesburg hergekommen.«

Beeslaar murmelte eine Antwort. Er war nicht in Plauderstimmung.

Fröhlich packte Hans Deetlefs seine Tasche aus und begab sich an die Arbeit. Hin und wieder machte er Beeslaar auf etwas aufmerksam. Zum Beispiel auf den Umstand, dass der Kopf durchaus noch vorhanden war. Es verhielt sich ganz einfach: Man hatte ihr die Kehle so tief zerschnitten, dass ihr Kopf nach hinten auf die Sitzfläche des Stuhls gekippt war. Gemeinsam inspizierten sie das Chaos im Schlafzimmer. Die Schubladen waren aus der Kommode gezogen und auf den Fußboden geleert worden, ein Durcheinander aus Unterwäsche, Schmuckstücken und Kosmetikbehältern. Die Matratze war halb vom Bett gerissen. Anscheinend hatte jemand etwas gesucht. Ein niedriges Bücherregal lag umgeworfen auf dem Boden, mehrere Bücher waren blutbefleckt; die Durchsuchung hatte offenbar vor dem Mord stattgefunden.

»Sie muss dabeigesessen und es beobachtet haben«, verkündete Deetlefs munter. »Ich wette mit Ihnen um einen Hunderter, dass man ihr K.-o.-Tropfen gegeben hat, bevor man sie ermordete.« Er blinzelte zu Beeslaar hoch.

»Ich wette nicht«, knurrte Beeslaar.

Das Blut war überall: Wände, Fußboden, Bett. Das lange Sommerkleid der Frau, ursprünglich hellblau, war von dunklen Flecken bedeckt. Und die Veranda an der Vorderseite des Hauses sah ebenfalls aus wie ein Schlachtfeld: Drei Schäferhunde und ein Mischling lagen in Blutlachen auf den Holzdielen.

Deetlefs störte sich nicht sonderlich daran, dass der Tatort verunreinigt worden war. »Dumm gelaufen«, sagte er grinsend und blinzelte wieder. Seine Worte hingen noch in der Luft, als noch mehr Dummheit anmarschiert kam: Sergeant Ghaap trat ohne Überschuhe in die Tür, in der Hand eine brennende Zigarette.

»Inspector, die Typen draußen wollen wissen, ob Sie … Na, ob es noch lange dauert. Die wollen weg.«

Beeslaar begann innerlich bis zehn zu zählen, kam aber nicht einmal bis drei. »Raus mit Ihnen und Ihrer Scheißzigarette! Und sagen Sie den Kerlen: Wenn sie Lust auf eine Nacht in der Zelle haben, dann sollen sie bloß versuchen, von hier zu verschwinden, bevor ich es ihnen erlaubt habe!«

Als Beeslaar endlich überzeugt war, alles gesehen zu haben, ließ er Deetlefs allein und ging nach draußen, um frische Luft zu schnappen. Und sich Pretorius’ Geschichte anzuhören.

Doch vor dem Haus herrschte Unruhe, und noch mehr Gewalt drohte.

Der Vormann der Farm war eingetroffen. Ehe Beeslaar es verhindern konnte, zerrte ihn eine Gruppe junger Farmer aus seinem Pick-up, schleuderte ihn zu Boden und wollte ihn zusammentreten. Und danach erschießen. Ghaap, Pyl und zwei Streifenbeamte mussten einschreiten.

Er hieß Adam de Kok. Eine interessante Figur, dieser Vormann, von dem schon Ghaap gesprochen hatte. Ein San, einer der Jäger und Sammler, die man heute nicht mehr als Buschmänner bezeichnen sollte. Mit der Haushälterin von Huilwater, Johanna Beesvel, war er den ganzen Tag im Ort gewesen, um den Wocheneinkauf zu erledigen und die Bestellung aus dem Co-op abzuholen, dem Laden, der von der Landwirtschaftlichen Genossenschaft betrieben wurde. Beeslaar nahm de Kok und Mevrou Beesvel beiseite und ging mit ihnen zum Haus des Verwalters, das ungefähr dreißig Meter vom Haupthaus entfernt stand. Sie setzten sich auf die Veranda hinter dem Gebäude, und Beeslaar befragte sie. Beide waren sie zu schockiert und wussten nichts zu sagen – die bedauernswerte ältere Frau brachte kaum ein Wort heraus, so verstört war sie. Sie sackte zusammen, sprach in den Pausen zwischen ihren Schluchzern über »ihre Kleinen«, die »schlechte Welt«, »zu spät« und »böse Menschen«. Stimmt, die Welt ist schlecht, dachte Beeslaar, während de Kok sie tröstete.

Im Moment hatte es wenig Sinn, sie weiter zu bedrängen. De Kok sagte, er nehme Mevrou Beesvel – Outanna nannte er sie – auf eine Tasse Tee mit ins Haus, während Beeslaar auf der Veranda seine Befragungen durchführen könne. Der Inspector ließ den Rest der Farmarbeiter zu sich bringen. Von allen hörte er das Gleiche – »Nichts gesehen«, »Nichts gehört«. Alle waren sichtlich erschüttert. Zwei weitere mussten aus einem Camp hergeholt werden; sie waren unterwegs gewesen, um Zäune zu flicken. Auch sie wussten von nichts.

Dann wandte Beeslaar sich den wartenden Farmern zu. Er begann mit Boet Pretorius.

»Bin heute Morgen in die Stadt gefahren, nur das Übliche, Co-op und Bank. Nach einem schnellen Burger im Rooi Duin habe ich mich gegen halb eins wieder auf den Rückweg gemacht. Und unterwegs …« Er verzog das Gesicht. »Ich wohne auf der Farm nebenan, auf Karrikamma«, sagte er. Und nein, er habe keine fremden oder ungewöhnlichen Fahrzeuge in der Nähe der Farm gesehen, und unterwegs auch nicht.

»Ich wollte nur kurz vorbeischauen. Das Haus liegt so nah an der Straße, wissen Sie, dass man einfach mal eben reinspringen und Hallo sagen kann, ohne einen großen Umweg zu fahren.«

Sieben Uhr, fast fünf Stunden nach dem Anruf von Boet Pretorius. Deetlefs hatte grünes Licht für den Abtransport der Toten gegeben. Der Leichenwagenfahrer, ein ungewaschener Kerl mit einer Alkoholfahne, hatte Mühe, sie einzuladen. Der nächste verfügbare Gerichtsmediziner war in Postmasburg.

Dann, urplötzlich, herrschte Stille auf der Huilwater-Farm. Die Farmer waren fort, das Ein-Mann-Team aus Upington ebenfalls, und Ghaap und Pyl befanden sich mit den Streifenbeamten auf dem Rückweg zur Polizeistation.

Beeslaar war allein. Er setzte sich auf die Treppe hinter dem Haus, wo er am frühen Nachmittag Boet Pretorius vorgefunden hatte. Er blickte über den Hof auf die beiden riesigen Eukalyptusbäume, die der Hintertür Schatten spendeten. Eine Reihe Kareebäume trennte das Haus des Verwalters vom Hauptgebäude.

Huilwater, dachte er. Weinende Wasser. Seltsamer Name für eine Farm.

In der Nähe des Hauses stand ein großes Wasserbecken aus Zink, daneben ein Windrad, das eine Pumpe antrieb. Während sie quietschend Wasser schöpfte, hoben sich ihre metallenen Schaufeln stumpfgrau vom Himmel ab. Die Dämmerung brach herein. Die sinkende Sonne strahlte rot in dem feinen Staub, der über dem Hof schwebte.

Beeslaar war übel. Nicht nur wegen des Blutbads, das er am Nachmittag gesehen hatte. Es lag am Wasser. Zwei Monate war er nun in dieser gottverdammten Einöde, aber er hatte sich noch immer nicht an das bittere Wasser gewöhnt – Wasser, von dem Seife ausflockte und das in jedem Glas kalkige Ränder hinterließ. Sein Körper sehnte sich nach dem schalen Schwimmbeckengeschmack, den das Leitungswasser in Johannesburg hatte.

Er versuchte, nicht an Johannesburg zu denken. Dieses Leben lag hinter ihm. Er war jetzt hier. Auf dieser Farm, in dieser Hitze.

Und schwitzte wie ein Schwein. Und war durstig, immerzu durstig.

Er wusste aber auch, dass der Durst im Moment das geringste seiner Probleme war.

2

Sara Swarts suchte vor dem Haus Nummer 3 auf der Driedoringstraat nach einem Baum oder etwas anderem, das Schatten spendete. Das Haus gehörte Yvonne Lambrechts – Tannie Yvonne, wie sie sie immer genannt hatten, obwohl sie keine echte Tante war, sondern eine alte Freundin ihrer Mutter. Sie war einer der wenigen Menschen im Distrikt, die Sara noch kannte.

Tannie Yvonne hatte sie gestern angerufen und ihr das von Freddie erzählt. Und von dem Kind.

»Meine Süße, du musst jetzt stark sein. Ich habe dir etwas Schreckliches mitzuteilen.«

Sara traf es wie ein Blitzschlag. Freddie … und dann so.

Und das Kind. Das kleine Mädchen, das sie hatte adoptieren wollen. Freddie hatte ihr sogar ein Foto geschickt. Damals hatte Sara das Bild kaum betrachtet: wieder so ein verrücktes »Projekt«. Die Sache war noch nicht ausgestanden gewesen, die Sache zwischen Freddie und ihr … O Gott!

Sara stellte den Motor ab und stieg aus. Sie war müde vom Nachdenken. Die ganze Nacht durchgefahren, Kilometer für Kilometer gnadenlose Straße – von Kapstadt bis hierher. Sie hatte nur gegrübelt und bereut. Die komplette Westküste hoch nach Vanrhynsdorp, dann nach Osten und wieder nach Norden. Den ganzen Weg lang war ihr Freddie nicht aus dem Sinn gegangen. Und die Auseinandersetzungen, die sie mit ihr geführt hatte, diese bitteren, endgültig letzten Worte …

Den Höhenrücken des Plateaus hinauf nach Hantam. Dann Buschmannland, weit und flach. Zwei, drei Stunden Fahrt von einem verschlafenen Nest zum nächsten. Die gerade Straße wie ein Tunnel in der Dunkelheit. Hier und da flackerten Tieraugen auf oder huschte ein gräulicher Schatten über die Fahrbahn. Ein Schakal, eine Manguste, eine Antilope. Keine andere lebende Seele in Sicht. Nur die finstere Nacht und die beiden Lichtstrahlen, die ihr kleiner Corsa auf den nie endenden schwarzen Teer warf. Bei Sonnenaufgang sah sie die ersten Köcherbäume, unruhige Silhouetten, die vor der Dämmerung tanzten. Dann die roten Dünen zwischen Schirmakazien und weitem Grasland und die Kameldornbäume mit ihrem typischen Regenschirmumriss. Zum ersten Mal, seit sie die Nachricht erhalten hatte, kam sie sich wirklich vor. Hier, wieder in der vertrauten Welt des Tages, erschien ihr die Nacht nur als schrecklicher Albtraum, in dem sie auf der Suche nach wer weiß was durch ein finsteres Labyrinth geirrt war.

Sie klopfte an Tannie Yvonnes Tür, und schrilles Kläffen begrüßte sie. Die Tür hatte sich kaum einen Spaltbreit geöffnet, als drei kleine flauschige Hunde auf sie zuhetzten und an ihren Waden hochsprangen.

Tannie Yvonne umarmte Sara wortlos. Sie trug noch ihren Schlafanzug und roch nach Talkumpuder und Bett. Mit trockenen Augen starrte Sara an ihr vorbei in den vertrauten Korridor und in das altbekannte Wohnzimmer.

»Komm herein«, sagte Tannie Yvonne. »Ich mache uns Tee.«

»Eigentlich muss ich doch vorher zur Polizei gehen«, wandte Sara ein.

Doch die ältere Frau nahm sie fest beim Arm und führte sie auf die Veranda hinter dem Haus. »Hier ist es noch kühl. Streck eine Weile die Beine aus, ich bringe den Tee. Ich habe das Wasser schon aufgesetzt. Und du musst etwas essen, ehe du heute loslegst.«

Widerstrebend nahm Sara Platz und blickte sich um. Betrachtete die betonierte Veranda mit dem Wellblechdach, die Topfpflanzen, die die kleine Fläche noch kleiner machten, die abgewetzten Sessel aus Bambusrohr mit den schlaffen Kissen. Sie war angespannt: Sich auf einen Tee hinzusetzen erschien ihr als Zeitverschwendung. Doch vielleicht war es besser, wenn sie erst ihre Gedanken ordnete und dann zur Polizei ging. Vielleicht sollte sie vorher baden und sich umziehen. Sich das Haar bürsten.

Sie schaute hinunter auf ihre nackten Beine und Füße. Sie trug den Jeansrock, den sie gestern zur Arbeit angezogen hatte. Ihre Flipflops lagen vermutlich noch im Auto. Auf ihrem T-Shirt war ein Kaffeefleck. Sie befeuchtete einen Finger und rieb lustlos darüber. Dann nahm sie das Gummiband vom Handgelenk, senkte den Kopf, raffte das Haar hoch und band es zu einem Pferdeschwanz nach hinten.

Eine halbe Stunde später machte sie sich auf den Weg zur Polizeistation, die in Gehweite lag. Der Ort war winzig – eine lange geteerte Hauptstraße, die von einer Handvoll staubiger, unbefestigter Querstraßen gekreuzt wurde. Die Polizeistation war an der Hauptstraße, einen halben Block von der Driedoringstraat entfernt.

Sara beeilte sich. Sie spürte bereits, wie die Hitze sich auf dem Teer sammelte. Und dabei war es noch früh. Kurz nach acht, als sie eben auf die Uhr geschaut hatte. Einen Moment lang blieb sie auf den Stufen vor der Polizeistation stehen und strich mit feuchten Händen die Falten ihres Jeansrocks glatt. Dann holte sie tief Luft, schob sich die Sonnenbrille auf die Stirn und ging hinein.

»Mein Name ist Sara Swarts«, sagte sie zu der Beamtin hinter der Theke. »Ich bin hier wegen … äh … dem Tod meiner Schwester. Swarts. Frederika. Sie ist gestern … ähm …«

Sara musste schlucken, als sie die Bestürzung und das Mitgefühl in den Augen der stämmigen Polizistin entdeckte. Ihr kurzes, straff zurückgekämmtes Haar zeigte silbrige Strähnen. Sara fragte sich, was diese Frau – Kgomotse stand auf dem Namensschild an ihrer Brust – in ihren Dienstjahren schon alles gesehen haben mochte.

»Oh!«, sagte die Polizistin und schnalzte mit der Zunge. »Warten Sie einen Moment, Jouffrou. Ich rufe rasch jemanden.« Sie streckte eine Hand vor und berührte Sara sanft am Arm – als hätte sie Angst, dass Sara der Mut verlassen könnte. Mit der anderen Hand nahm sie den Telefonhörer und sagte etwas auf Tswana.

Gleich darauf trat ein schlanker junger Mann aus einer Tür zu Saras Rechten. »Begleiten Sie ihn, Jouffrou«, sagte Constable Kgomotse leise, »er bringt Sie zum Inspector.«

Der Mann führte Sara an die offene Tür eines Büros. »Jouffrou Swarts ist hier«, sagte er ruhig, wandte sich Sara zu und bedeutete ihr einzutreten.

Sie rückte den Schulterriemen ihrer Handtasche zurecht, nahm die Sonnenbrille vom Kopf und ging hinein. Der Raum war groß. Stahlschränke zogen sich an einer Wand entlang, gegenüber blickte man aus Fenstern auf die heiße Hauptstraße. Sie ging auf einen Riesen von Mann zu, der sich aus dem Stuhl wuchtete, um sie zu begrüßen.

»Beeslaar«, murmelte er in geduckter Haltung, eine Hand an die rote Krawatte gedrückt, bis Sara sich ihm gegenübersetzte.

»Danke, Sergeant Pyl«, sagte er zu dem jungen Mann, der Sara von der Empfangstheke abgeholt hatte. Der Sergeant zögerte und musterte sie einen Moment, dann verschwand er durch die Tür.

»Vielen Dank, dass Sie hierherkommen«, sagte der Inspector. Er klang etwas außer Atem. »Ich wollte mich gerade auf den Weg zu Mevrou Lambrechts machen. Ich habe gehört, dass Sie hier sind. Kleinstädte …«, fügte er mit einem Lächeln hinzu.

Sara nickte.

»Darf ich Ihnen einen Kaffee anbieten?« Mit einer großen Hand wies er auf das Tablett am Ende seines Schreibtischs: zwei Tassen und eine Thermosflasche auf einem fein gehäkelten Tuch, dazu eine Untertasse mit Blumenmuster und Ingwerplätzchen. Sara lehnte zuerst ab, dann überlegte sie es sich anders.

»Danke sehr«, sagte sie leise.

Der Inspector stemmte sich wieder vom Stuhl hoch. Diesmal hatte er mehr Erfolg und stand aufrecht. Mit steifen Fingern schraubte er die rote Kappe von der Thermosflasche und schenkte mit schwach zitternder Hand die starke, schwarze Flüssigkeit ein.

Wie viel Milch und Zucker, wollte er wissen. Sie bat um zwei Stücke, doch er gab drei Zuckerwürfel in die Tasse, rührte bedächtig um und stellte die Tasse vor sie hin. Die Untertasse mit dem Gebäck setzte er neben ihre Tasse, dann nahm er sich zwei Kekse.

Er war noch größer, als sie zuerst gedacht hatte. Vielleicht hatte er früher Rugby gespielt und war in den Jahren danach ein wenig außer Form geraten. Sein schwarzes Haar wich aus der Stirn zurück und war an den Schläfen graumeliert. Sein Gesicht ließ darauf schließen, dass er oft schlechte Laune hatte: Es war blass, und aus der Mitte ragte eine große gerade Nase unter buschigen schwarzen Augenbrauen, die zu einem permanenten Stirnrunzeln zusammengezogen waren. Auch sein Mund war breit, aber weicher, und er hatte ein ausgeprägtes Kinn mit Grübchen.

Er räusperte sich und rührte in seinem Kaffee, während er sie kurz unter seinen dicken Brauen hinweg musterte.

»Mein aufrichtiges Beileid«, sagte er. »Fühlen Sie sich … ähm, dem gewachsen? Sie müssen die ganze Nacht durchgefahren sein.«

»Ja. So kurzfristig bekam ich keinen Flug von Kapstadt nach Upington.« Sie beugte sich ein wenig vor, weil sie Schwierigkeiten hatte, ihn zu verstehen. Seine gedämpfte Stimme wies auf einen Mann von wenigen Worten hin, der nicht zum Plaudern neigte. Oder vielleicht waren ihre Ohren noch leicht betäubt von der Neunhundertkilometerfahrt, besonders von dem Lärm auf dem letzten, ungeteerten Stück Straße.

»Ich würde zuerst gern ein paar Formalitäten erledigen.« Er zog eine braune Aktenmappe näher zu sich heran.

Sara trank einen Schluck Kaffee. Er war unerwartet heiß. Sie schluckte ihn rasch und spürte, wie er ihr die Kehle verbrühte.

»Sie sind die ganze Strecke allein gefahren?« Es war mehr eine Feststellung denn eine Frage. Er wartete ihre Antwort nicht ab und gab ihr damit zu verstehen, dass er sich kurzfassen werde.

»Sie sind die einzige Verwandte der Verstorbenen?« Seine Stimme war etwas lauter, als fühlte er sich jetzt, nachdem er die Nettigkeiten hinter sich gebracht hatte, wohler. Er legte ein Notizbuch aufgeschlagen neben die Akte.

»Sie war meine Schwester.«

»Ihr voller Name?«

»Frederika Cornelia Swarts.«

Er nickte, ohne aufzublicken, und schrieb den Namen mit einer krakeligen Handschrift nieder.

»Kurz Freddie«, fügte Sara hinzu, und der Inspector sah eine Sekunde lang auf.

»Geburtsdatum, Geburtsort?«

»Huilwater, die Farm, wo … wo es passiert ist. Wir sind beide auf der Farm geboren.«

»Welches Jahr?«

»Sie wurde 1976 geboren. Freddie war dreiunddreißig.« Sie hatte gerade erst Geburtstag gehabt, erinnerte sich Sara, und ein Gefühl von Schuld durchfuhr sie. Sie hatte ihre Schwester nicht einmal angerufen.

Sie bemerkte, dass Beeslaar sie wieder unter den Augenbrauen hinweg ansah. Sein Blick war milder geworden.

»Ist es Ihnen immer noch recht, wenn wir weitermachen?«

Sie blinzelte bejahend, ein Knie zuckte nervös. Sie schlug die Beine übereinander.

»Die Farm. Huilwater …« Er blickte auf das Formular, das vor ihm lag. »War sie das Eigentum Ihrer Schwester?«

»Familienbesitz. Sie blieb dort, nachdem mein Vater gestorben war.«

»Wann war das?«

»Vor anderthalb Jahren.«

»Und Ihre Mutter?«

»Sie ist lange tot. Seit zwanzig Jahren. 1989 ist sie gestorben.« Sie fuhr sich mit der Hand über die Augen, verlegen, dass ihr plötzlich das genaue Datum nicht einfallen wollte. »Aber Freddie, nun, sie hat eigentlich in Johannesburg gewohnt. Sie hatte dort einen Job, sie war Kunstlehrerin. Hatte gerade erst angefangen, als mein Vater krank wurde. Und als er dann seine Diagnose bekam …«

Ihre Kehle schnürte sich zusammen. Damals hatten die Schwierigkeiten zwischen Freddie und ihr begonnen.

Beeslaar machte sich eine Notiz. »Sonst gibt es keine Familie?«

»Nein. Das nehme ich jedenfalls an. Mein Vater hatte einen Bruder, aber er ist vor Jahren gestorben.«

»Ihren vollständigen Namen und Ihr Geburtsdatum, bitte.«

»Johanna Susara Swarts. Der 9. Mai 1978.« Sie nannte ihm die Adresse ihrer Wohnung im City Bowl von Kapstadt. Und die Anschrift ihrer Arbeitsstelle.

Beeslaar streifte sie mit einem Blick und runzelte die Stirn. »Sie arbeiten für eine Zeitung? Sie sind Journalistin?«

»Ja, ich berichte über Umweltschutzthemen.«

Er legte den Stift hin, nahm seine Kaffeetasse und betrachtete Sara über den Rand hinweg.

»Das Kind, das Kind bei Ihrer Schwester. Klara Boois. Meines Wissens hatte Ihre Schwester die Adoption beantragt, mit großer Aussicht auf Erfolg.«

»Ich weiß nur sehr wenig über sie«, sagte Sara rasch und rutschte auf ihrem Sitz hin und her. »Ich meine …« Sie starrte auf die Schreibtischplatte. Wie sagte man so etwas, ohne wie ein herzloses Miststück zu klingen?

Der Inspector trank wieder einen Schluck Kaffee. Während sie schwieg, nahm er vorsichtig seine beiden Kekse zwischen Daumen und Zeigefinger, tunkte sie in den Kaffee und steckte sie sich auf einmal in den Mund.

»Was ich sagen will, ist, dass Freddie und ich in der letzten Zeit … Wir hatten … nicht viel Kontakt.«

Er hob die Augenbrauen, während er kaute und schluckte. Sie entdeckte aufflackerndes Interesse in seinen olivgrünen Augen.

»Ich meine, dass wir …« Sie sah auf ihre Hände, fand dort aber keine Antwort. Der rote Nagellack, stellte sie fest, war zum Teil abgeblättert.

»Was ich sagen will, ist, dass meine Schwester und ich uns vor zwei Jahren überworfen haben und ich … Wir hatten seitdem keinen Kontakt mehr.« Sara konnte hören, wie sie schluckte. Jetzt erschien er ihr albern, ihr Zorn auf Freddie, weil sie Pa damals davon überzeugt hatte, die weitere Behandlung im Krankenhaus abzulehnen und auf der Farm zu bleiben. So berechtigt ihr ihre Wut damals vorgekommen war, so erbärmlich erschien sie ihr heute – selbstsüchtig sogar. Ihr wurde klar, dass sie nur Angst gehabt hatte, Angst, dem Tod ins Gesicht blicken zu müssen. Sie war davongelaufen, als die beiden sie am dringendsten gebraucht hatten.

Als sie aufsah, musterte Beeslaar sie eindringlich, mit undeutbarem Blick.

»Inspector, wer hat es getan?«, fragte sie. »Haben Sie wenigstens einen Verdacht?«

Er betrachtete sie noch einen Augenblick lang, bevor er antwortete. »Es ist noch sehr früh.« Er zog an seinem Kragen, als kratze er ihn. Der rote Schlips hing offenbar dauerhaft schief. »Im Moment gehen wir von einem Raubüberfall aus, der aus dem Ruder gelaufen ist. Offenbar fehlen ein paar Sachen, aber nicht viel. Ein paar Kleider, eine Kette mit einem kleinen silbernen Kreuz, die Ihre Schwester um den Hals trug.«

Mas Silberkettchen. Ganz dünn mit einem schlichten Kruzifix.

»Fehlt sonst noch etwas?«, fragte sie.

»Wir hoffen, Sie können uns dabei weiterhelfen. Bisher wissen wir nur, dass der Goldring fehlt, den Ihre Schwester am Mittelfinger trug, dazu möglicherweise ein paar Dinge von geringem Wert. Es lässt sich schwer mit Sicherheit sagen, aber ihre Schmuckschatulle ist eindeutig durchwühlt worden.«

Sara hörte schon nicht mehr zu. »Farmmord«, sagte sie. Erst als sie das Stirnrunzeln des Inspectors sah, erkannte sie, dass sie das Wort laut ausgesprochen hatte.

»Äh … ja. Wir benutzen den Begriff allerdings nicht mehr.« Seine Stimme war tief und melodisch. »Ich will damit sagen« – er kratzte sich an der Kehle –, »es bleibt ein abscheuliches Verbrechen. Ich möchte nicht eine Sekunde lang behaupten, es wäre anders. Aber es unterscheidet sich von keinem anderen Gewaltverbrechen. Es …«

Sara hörte nicht mehr zu. Sie sah Freddie wieder vor sich, am Tag, an dem sie Huilwater verlassen hatte. Freddie war ihr hinterhergelaufen, hatte sie angefleht, während Sara nach dem heftigen Streit mit ihr wütend ihre Taschen gepackt und in den Wagen geworfen hatte. Freddie stand am Fahrerfenster, die Hände auf dem Metallrahmen, als wollte sie Sara physisch an der Abfahrt hindern. Ihre vielen Erklärungen, wieso es für Pa besser wäre, auf der Farm zu sterben. Sara schrie sie an: »Aber Pa muss nicht sterben!« Freddie schüttelte den Kopf, Tränen tropften ihr vom Kinn aufs Kleid. »Bleib doch, Sara, bleib bei uns. Für Pas letzte …« Sara legte den Gang ein und fuhr davon. Freddie lief ihr hinterher. Am Tor der Farm blieb sie stehen, eine schlanke Gestalt in langem, weitem Kleid aus blauer Seide, goldene Locken nach oben geweht, schwerelos in der staubigen Luft …

Beeslaar hatte aufgehört zu reden, begriff Sara. »Was genau ist denn passiert, Inspector?«, fragte sie und hoffte, seinen bohrenden Blick zu brechen.

Seine Brauen entspannten sich. Er antwortete zögernd. Sara hatte den Verdacht, dass er so wenig verraten wollte wie möglich. Während er sprach, stellte sie sich einen gefährlich aussehenden Kerl vor, ein Ungeheuer, mit dem Freddie ganz allein auf der Farm war. Wie er verlangte, dass sie ihm Geld und Schusswaffen gab – Freddie mit ihren schmalen Schultern, den dünnen Armen, den kleinen Händen. Sara war immer die Starke gewesen, die Wilde. Sie hatte es geliebt, ohne Sattel zu reiten, und nie zweimal überlegt, wenn eine Prügelei mit einem Jungen anstand. Doch Freddie war trotz ihres maskulinen Spitznamens zierlich gewesen, ein zartes Pflänzchen.

»Glauben Sie, meine Schwester hat Schmerzen erdulden müssen?«

Er zupfte an seiner Krawatte, versuchte sie zu lockern.

»Wir vermuten, dass sie unter starke Betäubungsmittel gesetzt wurde, ehe man sie ermordete.«

»Drogen!«

»Es gab kein Anzeichen für einen Kampf, Jouffrou Swarts. Kein Anzeichen, dass sie versucht hätte, sich zu wehren. Sie war auch nicht gefesselt. Im Moment gehen wir davon aus, dass sie den Täter oder die Täter kannte und ins Haus gelassen hat. Dass sie vielleicht unwissentlich eine Substanz zu sich genommen hat, die es ihr unmöglich machte, sich zu wehren. Und das Kind ebenso.«

»Aber sie … Woran genau ist sie gestorben?«

»An der Halswunde. Die Autopsie ist noch nicht abgeschlossen. Wir arbeiten zwar so schnell, wie wir können, aber … Nun, im Moment sind wir überzeugt, dass dies die Todesursache gewesen ist. Bei ihr und bei dem Mädchen – Durchtrennung der Halsschlagader mit einem scharfen Gegenstand.« Er blickte wieder in die Akte und legte die Stirn in tiefe Falten. »Wissen Sie, ob es jemanden gibt, der einen Grund gehabt hätte, ihren Tod zu wollen?«

Sara merkte, dass sie ihn anstarrte. Dann schüttelte sie den Kopf.

»Aber ich dachte … Tannie Yvonne – ich meine Mevrou Lambrechts – sagte, es seien die Viehdiebe gewesen. Sie sagte …«

Die Augenbrauen zogen sich zusammen. »Nun, sicher, Ihre Schwester könnte eines ihrer Opfer sein. Wir hatten eine Welle von Viehdiebstählen – Rinder und Schafe. Ich spreche von Diebstahl in großem Stil. Durch Leute, die wissen, was sie tun. Leute mit sehr ausgeklügelten Methoden, eine Organisation vielleicht, mit einem guten Informantennetz. Sie wissen genau, wo und wann es sich lohnt, zuzuschlagen. Und wie es scheint, sind sie skrupellos. Vor zwei Wochen haben sie zwei Arbeiter auf Vaalputs ermordet, also …«

»Sie meinen, denen wurde auch die Kehle durchgeschnitten«, hörte Sara sich selbst sagen.

Es kam ihr so unwirklich vor, dass sie fast lachen musste. Aber hier war sie, Sara Swarts. Mit einem Knie, das wieder zu zucken angefangen hatte wie ein Spielzeug zum Aufziehen mit eigenem Willen. Und sie redete über Freddie. Die sanfte, verträumte Freddie mit ihrem scharfsinnigen, leisen Humor, ihrem unvermittelten Zynismus und ihrem Abscheu vor Konvention und Anmaßung.

»Aber wieso Freddie, Inspector? Was hat sie ihnen denn getan? Gott allein weiß, sie … Ich glaube nicht einmal, dass auf der Farm noch besonders viel übrig war. Mein Vater hatte vor seinem Tod begonnen, das Vieh zu verkaufen, und ich meine, wenn überhaupt, gibt es noch eine kleine Rinderherde und ein paar Schafe. Ich bin mir aber nicht sicher.«

Beeslaar straffte die Schultern. »Wir glauben, dass es ein Raubüberfall war. Das Haus ist gleich an der Hauptstraße. Das Tor steht immer offen. Ein leichtes Ziel also. Und solche Leute sind Gelegenheitstäter. Es gab zwar in der Vergangenheit nur sehr wenige Überfälle auf Farmen in diesem Distrikt, aber es gab sie. Auch Viehdiebstahl war hier selten – besonders in dem Ausmaß wie in den letzten Wochen. Im Moment möchte ich mich allerdings nicht auf die Viehdiebe konzentrieren, sondern auf die Raubüberfall-Theorie. Aber keine Sorge: Das bedeutet nicht, dass wir andere Möglichkeiten ausschließen. Deshalb muss ich Sie fragen, ob Sie von jemandem wissen, der vielleicht einen Groll gegen Ihre Schwester gehegt hat.«

In der Anstrengung, das Bild von Freddie in ihrem langen, blauen Kleid aus dem Kopf zu bekommen, rieb Sara sich die Augen. Sie war müde, zu müde zum Reden. »Wie ich schon sagte, Inspector, Freddie und ich haben seit fast zwei Jahren nicht miteinander gesprochen. Ich kann mir trotzdem nicht vorstellen … Freddie ist – war – einfach kein Mensch, der sich Feinde macht …«

»Die Farmarbeiter – ich nehme an, Sie kennen einige davon? Zum Beispiel den Vormann? Oder die ältere Frau, die im Haus gearbeitet hat?«

»Outanna!« Himmel, sie hatte sie völlig vergessen. »Geht es ihr gut? Ich meine, ihr ist doch nichts passiert, oder?«

Der Inspector schürzte die Lippen und senkte den Blick.

»Sie hat Freddie und mich großgezogen …« Ihre Stimme versagte, und plötzlich fühlte ihre Kehle sich geschwollen und wund an. Sie biss die Zähne zusammen und schloss kurz die Augen, bevor sie fortfuhr. »Outanna hat alles für uns getan. Sie hat uns erzogen. Meine Mutter war krank.«

»Und der Vormann? De Kok?«

»Nein, den kenne ich gar nicht. Er muss später dazugekommen sein.«

»Glauben Sie, Ihre Schwester hat ihn eingestellt, vielleicht nach dem Tod Ihres Vaters?«

»Nun, mein Vater hat damals davon gesprochen, den Besitz zu verkaufen. An einen Nachbarn, glaube ich.«

»Pretorius? Boet Pretorius?«

Sie zuckte mit den Achseln. »So weit ist es nie gekommen. Der Krebs wuchs zu schnell. Und, na ja, ich weiß nicht, was nach seinem Tod passiert ist.« Sie sah wieder auf ihre Hände, beschämt über das, was dieser Mann von ihr halten musste.

»Die Arbeiter?«

»Soweit ich mich erinnere, waren es zwei Familien, aber es ist, wie ich sagte … Verdächtigen Sie jemanden von ihnen? Oder den Vormann?«

Er zupfte wieder umständlich an seinem Kragen, dann nahm er ein Taschentuch und wischte sich den Schweiß von den Schläfen. Sara hingegen fröstelte.

»Wir haben noch keine Verdächtigen, Jouffrou Swarts. Aber in diesem Stadium der Ermittlungen sieht es so aus, als hätten die Täter gewusst, dass die Arbeiter mittwochnachmittags frei hatten und der Vormann und die Haushälterin in die Stadt fuhren, um Besorgungen zu machen. Ihre Schwester und ihre Tochter waren mittwochs vermutlich allein zu Hause. Es wäre möglich, dass die Täter das Haus über einen langen Zeitraum sorgfältig beobachtet haben. Das Haus steht immerhin direkt an der Straße.«

»Ist Freddie vergewaltigt worden, Inspector?«

»Nein, Jouffrou Swarts. Das ist sie nicht. Aber wie es aussieht, hat der Täter, oder haben die Täter …«

»Sagen Sie es freiheraus, Inspector. Das ist das Beste.«

Erneut zerrte er an seinem Kragen, blickte aus dem Fenster auf das Hitzeflirren über dem Teer und wandte sich ihr wieder zu. »Es sieht danach aus, als hätten sie eine Botschaft hinterlassen wollen. Die Art, wie sie sie zurückließen. Ihre Leiche war an einen Stuhl gelehnt. In ihrem Schlafzimmer. In Sitzhaltung. Und ihr Haar war abgeschnitten. Bis auf die Kopfhaut.«

Er hielt kurz inne und betrachtete sie, als wollte er sehen, ob sie wirklich so stark war, wie sie sich gab. »Nichts ergibt Sinn, wenn es um solch eine Tat geht. Aber ich versichere Ihnen, wir bearbeiten den Fall mit aller Gründlichkeit. Es gab sehr viele Leute mit Zugang zur Farm. Und Ihre Schwester hatte sogar einmal mehrere Kinder in ihrer Obhut.«

»Himmel, darüber weiß ich gar nichts. Wie meinen Sie das – mehrere Kinder?« Zum x-ten Mal kam es Sara vor, als hätte sie sich in den Albtraum eines fremden Menschen verirrt. Freddie mit einem adoptierten Mädchen. Offenbar vier Jahre alt. Klara. Und ein Vormann. Und jetzt diese Kinder … Das war eine Freddie, die sie nicht kannte. Und nie mehr kennenlernen würde.

»Meinen Quellen zufolge«, sagte Beeslaar, »hat sie einige Jugendliche aufgenommen. Hauptsächlich aus Arbeitergemeinden im Distrikt.« Er wartete auf eine Reaktion, dann fuhr er fort: »Sie wussten das offenbar nicht.« Das Taschentuch kam wieder zum Vorschein. »Tut mir leid. Die Hitze. Ich bin nicht von hier und habe mich noch nicht daran gewöhnt.«

»Aber wer könnte denn solch eine riesige Wut auf sie gehabt haben, Inspector?«

»Genau das wollen wir herausfinden, Jouffrou Swarts.«

»Darf ich sie sehen?«

»Ja, selbstverständlich. Die Autopsie muss vorher beendet werden, was hoffentlich bis morgen geschehen ist. Aber Sie müssten nach Postmasburg fahren. Wir mussten sie dorthin schaffen – dort ist der nächste verfügbare Distriktarzt.«

»Ich fahre hin«, sagte sie und stand auf. »Ich muss meine Schwester sehen.«

3

Beeslaar hatte Sara Swarts gerade zur Tür der Station gebracht, als es ihn packte.

Er hatte während ihres Gesprächs schon gespürt, wie es nahte, aber er hatte es auf die Hitze geschoben: das Herzklopfen, das Erstickungsgefühl, das Schwitzen.

Er verabschiedete sich rasch von ihr und kehrte beinahe fluchtartig in sein Büro zurück. Er musste wieder zu Atem kommen und einen klaren Kopf behalten. Seit Johannesburg hatte er keine Panikattacke mehr erlitten und gehofft, er hätte sie dort zurückgelassen. Aber jetzt … diese Mordermittlung.

Es lag an dem Kind – jedes Mal, wenn ein kleines Kind betroffen war.

Seine Hände zitterten, und er merkte, dass ihm etwas auf die Lunge drückte und seine Muskeln zucken ließ – am Rücken, unter dem rechten Auge. Sein Gesicht und sein Rücken waren klatschnass.

Er atmete tief ein. Es sei nur Angst, hatte der Psychiater gesagt, er könne sie beherrschen.

Augen schließen. Einatmen. Halten, bis vier zählen, ausatmen.

Ruhig weiteratmen, das dämpft die Angst.

Ein Wirrwarr von Bildern schoss ihm durch den Kopf. Er sah das Kind auf Huilwater, die klaffende Wunde in der Kehle, die halb geschlossenen Augen des Mädchens, mit denen es ihn anblickte.

Es waren die Augen eines anderen Kindes, des Kindes in Hillbrow … nein, die anderen beiden: Erschossen lagen sie in ihren Betten, wie zwei tote Welpen.

Warum kommst du immer zu spät, Beeslaar?

Er stand auf. Er musste raus aus seinem Büro. Er brauchte ein kühles Plätzchen, irgendetwas mit einer Klimaanlage.

Ein paar Minuten später ließ er sich auf einen Hocker im Rooi Duin sinken, der Bar quer gegenüber der Polizeistation, die nach den allgegenwärtigen roten Dünen benannt war. In der Bar war es dunkel. Und dank der Gnade des Heilands war es auch kühl. Der Barkeeper, Koeks Koekemoer, brachte ihm eine eiskalte Cola.

»Na, ist Ihnen heute warm genug, Inspector?«

»Wie in der Hölle, Oom Koeks, wie in der Hölle«, antwortete Beeslaar mit der respektvollen Anrede für ältere Männer.

In seiner kühlen, dunklen Ecke kam ihm unversehens ein Gedanke: Als Pretorius am vergangenen Nachmittag angerufen und die Morde gemeldet hatte, hatte er immer wieder davon gesprochen, es sei »zu spät«. Jemand anders hatte das Gleiche gesagt.

Dann fiel es ihm ein: die alte Haushälterin. Sie hatte ebenfalls davon gesprochen.

4

Ein Wagen, den Sara nicht kannte, parkte vor Tannie Yvonnes Haus, ein brandneuer BMWX6.

Ihr sank das Herz. Sie hatte nicht die Kraft dazu. Unterwegs hatte sie sich gerade erst der erstickenden Anteilnahme eines alten Farmers und seiner Frau entzogen. Sie hatten sie mit Namen begrüßt, aber sie konnte sich überhaupt nicht an sie erinnern.

»Wir kannten deine Mutter und deinen Vater sehr gut«, sprach die Frau. »Wir waren froh, als Freddie wieder auf die Farm kam. Hier im Distrikt sind so wenige junge Leute, und keiner weiß mehr, was aus dem Land wird, wenn die Alten alle weggestorben sind. Aber dass so etwas Furchtbares geschehen sollte … Wohin soll das noch führen?«

Der alte Mann hielt schweigend die Hand seiner tränenüberströmten Frau. »Es ist furchtbar, was heutzutage alles passiert«, rasselte sie ihre Nöte weiter herunter. »Man ist einfach nicht mehr sicher. Menschen werden in den eigenen Betten …«

Ihr Mann brachte sie zum Schweigen. Einen Augenblick lang standen sie alle drei nur da, suchten nach den richtigen Worten, die Blicke niedergeschlagen. »Sag uns einfach, wenn wir etwas tun können«, bot die Frau an. Sara bedankte sich bei ihnen – vielleicht zu hastig. Sie wollte nur fort, ihr graute vor all dem Mitgefühl, das ihr noch bevorstand, die unbeholfenen Versuche, ihr Trost zu spenden. An dergleichen erinnerte sie sich noch allzu deutlich von der Beerdigung ihrer Mutter vor so langer Zeit: Beileidsbekundungen, die angesichts des Todes so banal erschienen. Vielleicht fielen sie bei einem so plötzlichen, gewaltsamen Tod umso heftiger aus. In einer Gemeinde wie dieser betraf ein Mord – ein Farmmord – jeden. Jeden. Sie sah es in den Gesichtern der beiden alten Leute. Die Furcht. Und die Erkenntnis, dass ein Albtraum unter ihnen war, als hätte sich die Urangst, die wir alle in uns tragen, aus den Schatten des Unterbewusstseins erhoben, um sie zu verfolgen.

Mord. Wie viele Menschen in diesem Land wurden täglich mit solch einer Neuigkeit konfrontiert? Hunderte? Irgendwo hatte Sara gelesen, dass in Südafrika täglich sechsundfünfzig Morde begangen wurden. Und ein Mord draußen auf einer Farm ist der größte Albtraum überhaupt – ein idyllisches Landleben, abgeschieden, weitab jeder Hilfe, endet brutal und unerwartet.

»Sara, meine Liebe?«, hörte sie Tannie Yvonne von der hinteren Veranda rufen, als sie das Haus betrat. »Wir sind hier!«

Eine Frau mit einem schönen Gesicht und großen müden Augen erhob sich von ihrem Sessel, als Sara auf die Veranda trat. In Pastellfarben gehüllt und mit goldblondem Haar sah sie fast so aus, als wäre sie einer Queenspark-Werbung entstiegen. Doch nur fast: Ihr mangelte es an der Femininität eines Queenspark-Models, der gerundeten Fülle, die Gesundheit versprach. Diese Frau hier war zu mager.

»Nelmari Viljoen«, stellte sie sich vor. Ihr Händedruck war fest. »Es tut mir so sehr leid, Ihr Verlust.« Sie hielt Saras Hand einen Augenblick lang gedrückt, dann ließ sie los. »Freddie hat so viel von Ihnen erzählt.« Sie setzte sich wieder.

»Ich hole dir einen Tee, Liebes«, sagte Tannie Yvonne und stand auf. Sara hatte anbieten wollen, ihn selbst zu holen, aber sie war wie gelähmt. Etwas rieb sich an ihrem Hals, und sie drehte sich erschrocken herum. Sie war an das Blatt einer riesigen dunkelgrünen Pflanze hinter ihr gekommen.

Sie erschauerte, rückte ihren Stuhl nach vorn und setzte sich.

Sie spürte die Augen der Frau auf sich und wusste nicht, was sie sagen sollte. Diese Frau: ein weiteres Phantom aus Freddies Leben, das Gestalt annahm.

Freddie hatte viel über Nelmari geredet. Damals, schon bevor sie auf die Farm gezogen war. Nelmari dies, Nelmari das, Nelmari bis zum Abwinken.

Damals hatten sich Sara und Freddie noch regelmäßig unterhalten – meistens sonntagabends, wenn das Telefonieren billig war. Sie riefen einander gegenseitig an, wann immer irgendetwas geschah. Sie führten keine langen Gespräche, aber sie wussten, was im Leben der anderen vor sich ging. Wie damals, als Sara befördert wurde und die undankbare Schinderei in der Lokalredaktion hinter sich ließ, keinen Krankenwagen mehr hinterherzuhetzen brauchte, nicht mehr über Verkehrsunfälle, Denkmalenthüllungen und todlangweilige gesellschaftliche Anlässe berichten musste. Als sie endlich ins Umweltschutzteam kam.

Die großen Veränderungen ereigneten sich in Freddies Leben. Sie hatte ihre erste Ausstellung irgendwo in Melville, eine bescheidene Angelegenheit im Haus einer Freundin, wo sie jemanden kennenlernte, der sie überzeugte, dass sie ihre ganze Zeit der Kunst widmen sollte. Freddie war wie verzaubert. Eine Geschäftsfrau, hatte sie aufgeregt erzählt. Eine von den Top-Managerinnen in Johannesburg. Und sie wollte Freddies Arbeiten der Welt präsentieren.

Freddies Träume schienen in Erfüllung zu gehen. Als Nächstes hatte Sara gehört, dass sie ihre Stelle als Lehrerin aufgab, um sich auf ihre Kunst zu konzentrieren.

»Es ist so unwirklich«, hörte sie Nelmari neben sich sagen; es riss sie aus ihrer Erinnerung. »Ich kann es ganz einfach nicht fassen. Nicht Freddie. Sie … nun, sie war wie … Sie war meine beste Freundin. Ich habe überhaupt keine Familie, wissen Sie.«

Sara wusste nicht, was sie antworten sollte, und blickte weg.

»Sie waren gerade bei der Polizei, stimmt’s?«, fragte Nelmari. Sie saß mit überschlagenen Beinen da, die Hände im Schoß.

Sara wollte bejahen, doch das Wort kam nicht heraus. Sie wusste nicht, wo sie beginnen sollte, so viele Fragen hatte sie über Freddie. Diese Frau war Freddie viel näher gewesen als irgendjemand anders, von dem sie wusste.

»Hat man schon eine Spur?« Obwohl rauchig und voller Wärme, klang Nelmaris Stimme angespannt.

Sara schüttelte den Kopf und verfluchte ihr Stummsein.

»Kann ich etwas tun, Sara? Kann ich Ihnen vielleicht irgendwie helfen?«

»Nein, danke«, hörte Sara sich flüstern. Lauter fügte sie hinzu: »Ich will sagen, dass mir im Moment nichts einfällt. Ich bin gerade erst angekommen.«

»Ich muss Inspector Beeslaar selbst noch aufsuchen. Er hat mich gebeten, dabei zu helfen, die Pflegekinder aufzuspüren und Klaras Mutter zu finden«, sagte Nelmari.

»Erzählen Sie mir von dem Mädchen, von Klara.«

»Da gibt es nicht viel zu erzählen. Ihre Mutter hat auf einer der Farmen am Fluss Trauben geerntet. Eine Trinkerin. Gelegenheitsarbeiterin. Ließ sich treiben. Irgendwann ist sie verschwunden. Ich weiß nicht einmal, ob sie noch lebt. Soweit mir bekannt ist, gibt es keinen Vater. Ich meine, die Mutter wusste nicht genau, wer er war. Klara war ein FAS-Kind. Fetales Alkoholsyndrom. Sie landete vor einem Jahr bei Freddie – direkt aus dem Krankenhaus. Sie war verwahrlost und unterernährt. Freddie erhielt die Genehmigung, Klara für eine Weile in Pflege zu nehmen. Sie verliebte sich sehr schnell in die Kleine und stellte einen offiziellen Antrag auf Adoption.«

Tannie Yvonne kam mit einem Tablett an die Tür, und Nelmari stand auf und ging ihr zur Hand.

»Himmel, Yvonne, mir war nicht klar, dass du auch für mich welchen gemacht hast. Ich bin nämlich in Eile. Die Dinge überschlagen sich gerade. Wir wollen bei Red Sands anfangen zu bauen, und alles steht auf Messers Schneide.«

»Ach, schon gut, Nelmari. Sara und ich trinken ihn«, sagte die ältere Frau.

»Ich komme vielleicht später noch einmal vorbei. Die Firma ist ein einziges Durcheinander, und ich bin die letzten beiden Tage nicht dort gewesen.«

Sie griff nach einer hellblauen Lederhandtasche – von der gleichen Farbe wie ihre Schuhe. Ein Brillantanhänger funkelte an ihrem Hals, bemerkte Sara, und an ihren Ohren Diamantohrstecker. An den Fingern trug sie einen Saphir- und einen Goldring, am Handgelenk eine Designeruhr.

»Sara«, sagte sie und schlang sich die Handtasche über die Schulter, »ich schaue heute Abend noch einmal vorbei. Bis dahin zögern Sie bitte nicht, mich anzurufen, wenn Sie etwas brauchen. Ich möchte wirklich gern helfen. Es ist das Mindeste …« Tränen glänzten in ihren Augen.

Sara brachte ein heiseres »Danke« hervor, dann gab Nelmari ihr einen flüchtigen Kuss auf die Wange und verschwand ins Haus. Ein Hauch ihres Parfüms blieb von ihr zurück.

»Mir war nicht klar, dass sie so aussieht«, sagte Sara, während sie zuschaute, wie Tannie Yvonne langsam Tee aus der Tasse auf den Unterteller goss.

»Ja«, antwortete sie und blies über den Tee, um ihn zu kühlen, dann setzte sie die Untertasse an die Lippen und trank. »Sie ist nicht gerade der Typ, den man hier draußen erwartet. Sie ist so gepflegt und fein angezogen. Aber sie hat einen klugen Kopf auf den Schultern, das kann ich dir sagen.« Sie goss den Rest Tee auf die Untertasse und stellte sie den Hunden auf den Fußboden hin. »Eine bessere Freundin kannst du kaum finden. Sie und Freddie waren wirklich wie …« – sie hielt inne – »… Schwestern.«

Das Wort zischte in Saras Kopf.

5

Beeslaar suchte Oom Koeks’ Blick. Für harte Drinks war es noch zu früh, aber er konnte ein Tafel Lager vertragen – das Bier wurde ihm in einem großen Glas serviert. Er nahm einen Schluck und sank dankbar in seine Ecke. Er mochte das Halbdunkel hier. Er konnte sich noch immer nicht recht an die merkwürdige Überflutung mit Kleinstadtleben gewöhnen. Das nie endende Gegrüße, die ellenlangen Liebenswürdigkeiten. Die außerordentliche Freude, mit der die Farmgemeinde ihn willkommen geheißen hatte – als wäre er der Messias, dessen Ankunft sie alle erwartet hatten. Dennoch, er hatte dafür Verständnis: Hier gab es wenig Unterhaltung, nur eine Handvoll Streifenbeamte, die die Saufbrüder und die prügelnden Ehemänner in Schach hielten.

Der letzte Kriminalbeamte war vor zwei Jahren gegangen – geradewegs in den Ruhestand. Danach war bei ernsteren Fällen Amtshilfe aus Upington gekommen. Mitsamt all den dazugehörigen Querelen.

Bis Beeslaar eintraf. Zwei Streifenbeamte waren ihm zugeteilt worden, samt Beförderung zum Sergeant und allem Drum und Dran: Johannes »Janus« Ghaap und Gershwin »Ballies« Pyl.

Teufel, was vermisste er die Stadt. Besonders an Tagen wie diesem. Er vermisste die Anonymität, die gewaltige Gesichtslosigkeit, in der man einfach untertauchen konnte.

Sein Handy piepste. Sergeant Ghaap sagte, er sei wieder im Büro. Der ist schon eine Nummer, dieser Ghaap, dachte Beeslaar, nachdem er aufgelegt hatte. Nach zwei Monaten hielt er noch immer Distanz zu ihm. Sprach nur, wenn er musste. War ein bisschen wie ein Buch mit sieben Siegeln. Im Distrikt geboren, redete er langsam, und sein Nordkap-Akzent verflachte die A und O in seinem Afrikaans, als zöge ein Paar Gummibänder seine Mundwinkel ständig an seine Ohren.

Beeslaar lächelte über den Gedanken. Er schob sich das Handy wieder in die Hemdtasche und blickte über den Rand seines Glases auf einen dicken jungen Mann, der gerade erst durch die Schwingtür hereingekommen war.

Beeslaar erkannte Polla Pieterse und machte sich klein auf seinem Platz. Er hatte schnell gelernt, um Polla einen weiten Bogen zu machen. Der große, blonde Fettsack, der mit seinem Vater und seinen Brüdern eine Farm betrieb, war einer der Gründe, weshalb sich Beeslaar an den Wochenenden von der Bar fernhielt, vor allem an den Abenden. Denn für Kerle wie Polla – und Kerle wie ihn gab es zur Genüge – war ein weißer Polizeibeamter entweder ein Kumpel oder ein Verräter. Und er tat seine Ansichten lautstark kund, vor allem nach zwei oder drei Kurzen.

Der Dicke hatte sich gerade an die Theke gesetzt, als eine Frau ihm von der Tür zurief: »Polla, wo ist dein Kumpel?«

Es war Nelmari Viljoen, aber sie kam nicht herein, sie blieb an der Tür des Rooi Duin stehen, der einzigen Bar im Umkreis von hundert Kilometern. Mit ihrem Bierdunst und ihrem Dekor im afrikanischen Touristikstil war sie eindeutig nichts für eine Frau wie Nelmari.

Eine interessante Frau war sie: hübsch, aber in keiner Weise affig. Eine Geschäftsfrau, und eine erfolgreiche noch dazu. Eine Selfmade-Millionärin, wie es schien, die Eisen in jedem erdenklichen Feuer hatte. Ein Immobilienbüro hier, eins in Upington und noch ein weiteres in Kimberley. Ihr Flaggschiff befand sich jedoch in ihrer Heimatstadt, in Johannesburg, hatte er gehört. Da das Nordkap nach dem Krüger-Nationalpark und Kapstadt als nächstes Touristenmekka gehandelt wurde, hatte sie dafür gesorgt, dass sie ganz vorn stand beim Kassieren von Kommissionen für Neuerschließungen und Spielplätze für die Reichen.

»Tut mir leid, Jouffrou Viljoen.« Polla rollte sein R, sprach langsam und gedehnt. Er klang dadurch wie ein zurückgebliebenes Kind. »Weiß nicht, wo er hin ist. Aber wenn Sie schon hier sind, kann ich Ihnen was bestellen?«

»Nein, danke, ich habe zu arbeiten. Bitte richten Sie Buks aus, dass ich nach ihm suche.«

Buks Hanekom war ein junger Farmer, der vor Kurzem in den Distrikt zurückgekehrt war, um das Anwesen seines Vaters zu übernehmen. Auf den ersten Blick wirkte er wie ein cleverer Bursche, und Beeslaar hatte den Verdacht, dass er nicht mit ganzem Herzen bei der Landwirtschaft war. Dazu verbrachte er zu viel Zeit in der Stadt, besonders im Rooi Duin. Es hieß, er stottere Schulden ab. Vielleicht hatte er das Land seines alten Herrn schon an Nelmari verkauft. Das wäre kaum verwunderlich; Beeslaar hörte oft, dass mit einer Farm hier nicht mehr viel zu verdienen sei. In seinen beiden Monaten im Ort hatte Beeslaar eine Menge über die Gegend und die ansässigen landwirtschaftlichen Betriebe lernen müssen. Das Land konnte Rinder und Schafe ernähren, aber der Wassermangel und die Unzuverlässigkeit des Regens machten es zu einem hohen Risiko. Die einzigen Farmer, die gut Geld verdienten, waren die, deren Land nahe am Gariep lag – dem Fluss Richtung Upington –, sodass sie Weintrauben und Steinobst anbauen konnten. Der Rest fristete sein Dasein mehr schlecht als recht oder hatte sich auf Jagd und Jagdtourismus verlegt. Beeslaar kannte einen oder zwei, deren Land in Richtung Namibia lag und bis an die Kalahari heranreichte. Und natürlich gab es Boet Pretorius.

Seine Gedanken wandten sich dem Chaos in dem Farmhaus am Tag zuvor zu. Und dem armen, liebeskranken Narren Pretorius. Irgendjemand hatte irgendwo erwähnt, dass er und Freddie heiraten wollten … Wofür war er »zu spät«?

»Ja, ja, ja, was immer Sie sagen!« Die fröhliche Stimme unterbrach seine Gedanken.

Sie gehörte Buks Hanekom, dessen untersetzter Leib geradezu strotzte vor Energie und Tatendrang. Er kam herein, als gehörte ihm die Bar, und grinste zufrieden, als er sein Abbild in den Spiegeln mit Werbeaufdrucken der Castle-Brauerei hinter der Theke entdeckte.

»Wie steht’s, Paulie?«, fragte er und schlug Polla zwischen die Schulterblätter, dann hüpfte er auf den Barhocker neben ihm.

»Nicht schlecht«, antwortete Polla mit fröhlichem Mondgesicht. Im Gegensatz zu Polla Pieterse war Hanekom eine gepflegte Erscheinung. Sein gestreiftes blaues Hemd steckte ordentlich im Bund der Khakishorts. Teure australische Wanderschuhe und ein passender Lederhut. Ray-Ban-Sonnenbrille. Sein brauner Schnurrbart und das Haar waren sauber geschnitten.

»Gieß meinem alten Freund hier dein kältestes Castle ein, Oom Koeks«, sagte Polla, und der Wirt bückte sich schweigend und öffnete den Kühlschrank unter der Theke. »Geht auf mich.«

Er musste hier raus, entschied Beeslaar, ehe sie ihn entdeckten und redselig wurden. Jeder wollte seine Meinung zum Fall loswerden. Und jeder hatte sich eine Beschwerde von der Seele zu reden.

Er zögerte, wollte gerade austrinken, da trat Hanekom zu ihm in die Ecke.

»Tag, Inspector.«

Er reichte Beeslaar die Hand, der sich missmutig hochwuchtete, um sie zu schütteln.

»Schon Neuigkeiten?«

»Wir machen Fortschritte.«

»Ich wollte Ihnen nur sagen, dass wir alle hinter Ihnen stehen.«

Beeslaar zog zur Antwort eine Braue hoch.

»Wir haben einen ganzen Haufen Jungs vom alten Kommado zusammengetrommelt. Inoffiziell natürlich. Aber seit gestern Nacht patrouillieren wir im gesamten Distrikt. Wir wollen wirklich helfen. Jeden Verdächtigen bringen wir direkt zu Ihnen.«

»Verdächtige? Wovon reden Sie, Meneer Hanekom?«

»Wir können so etwas nicht dulden … so eine Gräueltat. Sehen Sie nicht, was hier vorgeht, Inspector? Plötzlich heißt es, alles Land im Besitz von Weißen ist gestohlenes Land. Dann kommen die Räuber. Stehlen unser Vieh. Terrorisieren uns und ermorden unsere Arbeiter. Dann suchen sie nach den leichten Opfern, nach Frauen und Kindern. Das ist nichts weiter als ein offensichtlicher Versuch, uns auszulöschen, uns von unserem Land zu vertreiben.«

Beeslaar sagte nichts.

»Wissen Sie, wie viele Farmer in diesem Land schon ermordet worden sind?« Hanekoms Gesicht rötete sich. »Ich will’s Ihnen sagen: zweitausend, wenn nicht mehr. Mehr Menschen, als im Bürgerkrieg in Angola umgekommen sind! Und ich sag Ihnen noch etwas: Wir werden hier nicht däumchendrehend rumsitzen und zusehen, wie unsereins durch Mord und Terror von seinem Land vertrieben wird!«

Beeslaar hob sein Glas. Er musste etwas Kühles trinken, sonst würde er die Beherrschung verlieren. Das hatte ihm noch gefehlt: ein Haufen Männer mit mehr hormongefütterter Emotion als Verstand. Er nahm einen Schluck und stellte das Glas langsam und konzentriert wieder hin.

»Meneer Hanekom, ich verstehe, dass die Leute aufgeregt sind. Jedoch handelt es sich hier um eine polizeiliche Ermittlung. Und wir tun alles …«

»Aufgeregt! Das ist kaum das treffende Wort, Inspector!« Hanekom beugte sich über den Tisch so dicht zu ihm, dass Beeslaar das Kirscharoma seines Kaugummis riechen konnte. »Wir sind zum Ziel geworden, das wissen Sie doch, oder? Wir, die Farmer in diesem Land, und es sieht nicht danach aus, als gäbe irgendjemand einen Scheiß drauf. Die ganzen Leute in Übersee, die sich wegen der Apartheid so aufgeregt haben – wo sind die jetzt? Es ist nämlich so: Es ist nur dann eine Schlagzeile, wenn ein Weißer angeblich die Menschenrechte verletzt. Ich sag Ihnen aber was: Wir sitzen nicht still da, während unsere Familien im eigenen Haus abgeschlachtet werden!«

Beeslaar lehnte sich zurück. »Hören Sie, Meneer Hanekom, ich bin mir nicht ganz sicher, was Sie da androhen. Aber wenn Sie das Gesetz in die eigenen Hände nehmen, dann brechen Sie es. Und dann bekommen Sie es mit mir zu tun. Ich kann verstehen, dass die Menschen schnelle Ergebnisse wollen. Aber es ist Aufgabe der Polizei …«