Mathew Crawley - Dirk Jäger - E-Book

Mathew Crawley E-Book

Dirk Jäger

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Beschreibung

Klappentext: Mathew Crawleys Geschichte ist finster. Seine frühe Kindheit wird bestimmt von der Liebe seiner Mutter und den Gewaltausbrüchen seines Vaters. Nachdem sein Vater für den Mord an seiner Mutter verurteilt wurde, scheinen seine Adoptiveltern sein Leben in bessere Bahnen zu lenken. Bis er des Mordes verdächtigt wird. Mehrfach. Auf der Suche nach einer besseren Zukunft lässt Kim Harolds ihr altes Leben hinter sich. Sie nimmt eine neue Stelle in der abgelegenen Kleinstadt Riverside an, findet neue Freunde, trifft auf Mathew und verliebt sich ... Aber ist Mathews Vergangenheit wirklich abgeschlossen?

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Seitenzahl: 270

Veröffentlichungsjahr: 2020

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Inhaltsverzeichnis

Prolog

Kaffee

San Diego

Neue Freunde

Dieser eine Tag

Mein Herz

Neue Kollegen

Der Eimer

Bill

Dieses eine Mal

Hochwasser

Das Ende der Unschuld

Mrs. Crawley

Moon River

Vergangenheit und Zukunft

Die Wanderung

Tagebücher

Bruce

Dr. K. Schultz

Stacey

Erkenntnis

Moon River

Epilog

Prolog

Der dumpfe Ton des sich entfachenden Feuers fühlte sich gut an. Ein flammender Schlag in die vielen Gesichter, die sie so sehr hatten leiden lassen. Es war das gleichzeitige Aufstoßen einer neuen und Zuschlagen einer alten Tür. Dieses Feuer sollte einen Schlussstrich ziehen. Die Seiten krümmten sich, als wollten sie die Vergangenheit in einem letzten verzweifelten Versuch wieder aufleben lassen. „Fuck You!“ Heute begann ihr neues Leben. 900 Meilen entfernt am Arsch der Welt, den man Riverside nannte.

Das Leuchten des Scheiterhaufens im Rückspiegel wurde kleiner. Für einen Moment befürchtete sie, zu viel Benzin über die Bücher gegossen zu haben. Niemals! Sie mussten komplett verbrennen! Nichts - überhaupt nichts durfte übrig bleiben. Der Schein des Feuers verfolgte sie noch eine Weile, dann eine Kurve und die letzten Schatten der endenden Nacht verschluckten ihren Wagen auf der noch leeren Landstraße. – Kickdown.

Kaffee

2016

Hoffentlich können die hier besseren Kaffee kochen, dachte Kim, als sie die kleine Tankstelle betrat. Dass sie dabei den Kopf einziehen musste, bemerkte sie gar nicht. Bei ihrer Größe war das längst zur Gewohnheit geworden. Den letzten Tankstopp hatte sie auf dem Highway eingelegt. An einer dieser riesigen Rastanlagen, mit Angeboten für die ganze Familie. Nur nicht für jemanden, der lediglich einen heißen Muntermacher mit etwas Milch und einem annehmbaren Geschmack wollte. Nach nur einem Schluck hatte sie die Instant-Automaten-Brühe in den nächsten Gully geschüttet. Nun betrat sie das genaue Gegenteil davon. Hier, an der Landstraße kurz vor Riverside. Vor 93 Meilen hatte sie den Highway verlassen und seit 25 Meilen leuchtete das Reservelämpchen vom Tank. Sie erklärte sich mittlerweile selbst für bescheuert, den Job hier, am gefühlten Ende der Zivilisation, antreten zu wollen. Und so kurz vor dem Ziel drohte ihr nun auch noch der Sprit auszugehen. Fast hätte sie die uralte Tür beim Eintreten aus den Angeln gerissen. Das kleine Glockenspiel überschlug sich beinahe beim Klingeln, als ob es den Eintretenden davor warnte, auch nur einen Fuß hier hineinzusetzen. Aber kaum hatte sie die Schwelle überschritten, fühlte sie sich schon wohler. Hier wurde kein Parfum über die Klimaanlage verteilt, hier herrschte der Geruch von Bier und altem Zigarettenqualm. Sie hätte genauso gut in einer Kneipe stehen können. Je weiter sie eintrat und sich der sehr zierlichen Frau mit Kopftuch am Tresen näherte, desto mehr wurden Alkohol und Tabakduft von etwas anderem überschattet. Jemand musste vergessen haben, die Dose mit den Bohnen zu schließen. Nun konnte sie auch das leise Zischen und Gurgeln des altmodischen Brühautomaten hören, der wohlversteckt in einer Ecke seinen Dienst verrichtete. „Der wird helfen!“, sagte sie und deutete, jede Form einer Begrüßung vergessend, mit den Augen auf die Kaffeemaschine.

„Wollen Sie sich nur helfen lassen oder auch die Tankfüllung bezahlen?“, peitschte es ihr im besten mexikanischen Akzent entgegen. Erstaunlich, wie klein sie sich vor dieser winzigen Frau vorkam. Ihre 1,91 m und etwas markanten Gesichtszüge brachten überhaupt nichts, wenn sie auf jemanden traf, den das überhaupt nicht beeindruckte. „Natürlich möchte ich auch den Sprit bezahlen.“ Sie versuchte allen Charme und Höflichkeit, die sie aufbringen konnte, in diesen Satz zu packen.

„Nichts für ungut!“, bekam sie weiter zu hören. „Die Zeiten sind hart und fremde Gesichter verheißen bei uns nicht immer Gutes. Bekannte übrigens auch nicht.“ Bei diesem Tonfall erwartete Kim, dass die kleine Frau gleich in alter Wild-West-Manier ihren Kautabak zielgenau in einen Eimer an der anderen Wand spucken würde. Diese Vorstellung machte es ihr leichter, freundlich zu sein. So konnte sie ihr Schmunzeln als pure Nettigkeit tarnen.

„Das macht dann 48,70 $!“

„Kann ich bitte noch eine Tasse Kaffee mit etwas Milch dazu bekommen?“

„Hab ich schon mitberechnet. Wir sind hier nicht so blöd, wie man uns vielleicht nachsagt. Den Kaffee gibt es nach dem Kassieren.“

„Nehmen Sie auch Kreditkarten?“

„Wir sind hier auch nicht so altmodisch, wie man uns vielleicht nachsagt.“ Im selben Augenblick stibitzte sie Kim die Karte schon aus den Fingern und zog sie durch das hinter Rubbellosen getarnte Kartenlesegerät. Ein Mundwinkel der kleinen Frau verzog sich zu einem Lächeln und ihr Blick wurde etwas weicher.

„Ich möchte nicht aufdringlich sein, aber gibt es hier vielleicht eine Sitzgelegenheit, vor der kein Lenkrad ist? Ich bin heute schon eine gefühlte Ewigkeit gefahren und brauche dringend einen Stuhl, der nicht unter meinem Hintern brummt.“

Die kleine Frau nahm die Tasse und trug sie wortlos hinter dem Tresen hervor, ging damit zwischen zwei Regalen hindurch und stellte sie hörbar auf einen Tisch. Kim folgte ihr. Der Tisch war ein alter V8-Motorblock, auf dem ein Blech als Tischplatte geschweißt war. Dahinter standen eine Rückbank und daneben die Vordersitze eines Autos. Uralt und durchgesessen.

„Oh, gut! Ganz etwas anderes als die letzten 10 Stunden“, stellte sie fest und lächelte die kleine Frau hilfesuchend an.

„Kein Lenkrad - brummt nicht - nicht mehr jedenfalls. Ich wecke Sie in einer Stunde, falls Sie einschlafen sollten.“

Kim gab sich geschlagen. Eine andere Wahl hatte sie sowieso nicht. Irgendwie gefiel ihr die kleine Frau. „Vielen Dank! Ich heiße übrigens Kim. Kim Harolds.“

„Ich bin Maria“, sagte die kleine Frau jetzt schon mit fast mütterlicher Stimme. „Maria Hernandez. Trinken Sie erst mal Ihren Kaffee und ruhen sich ein wenig aus. Small Talk können wir auch danach noch halten. Wir haben es hier tatsächlich nicht so eilig, wie man es uns vielleicht nachsagt.“ Sie schenkte Kim noch ein Lächeln und verschwand wieder zwischen den Regalen in Richtung Tresen.

Kim zog sich die Jacke aus, setzte sich auf einen der Vordersitze und ließ den Kopf so weit nach unten zwischen die Beine sinken, dass ihre schulterlangen blonden Haare den Boden berührten. Sie fing an, sich die Schläfen und den Nacken zu massieren. Nachdem sie sich wieder aufgerichtet hatte, fand sie nach einigem Hin und Her tatsächlich eine bequeme Sitzposition, nahm die Tasse vom V8, trank ein paar Schlucke und schlief ein.

„Sind Sie die Neue?“, rief Maria, als galt es einen Einbrecher zu verjagen.

Kim schreckte auf. Kurze, sich überschlagende Gedanken brachten ihr die Erinnerungen an das Hier und Jetzt zurück. Die Uhr zeigte Viertel nach sieben. Also hatte sie nur etwa 20 Minuten geschlafen, es kam ihr wie eine kleine Ewigkeit vor. Woher weiß sie, dass ich wach bin?

„Die neue Polizistin, meine ich“, legte Maria nach.

Oder hat sie gar nicht mitbekommen, dass ich eingeschlafen bin?

„Bei Sheriff Crawley. - In der Stadt. - Schlafen Sie tatsächlich?“

„Nicht mehr“, antwortete Kim leicht gequält, „und ja.“

Maria kam durch die Regale zu ihr, stellte eilig Kims Kaffeetasse auf den Boden und setzte sich auf den Motor. Das Kopftuch hatte sie abgenommen und unendlich viele dunkle Locken wippten bei der kleinsten Bewegung um ihren Kopf herum. Sie lächelte verschmitzt und ihre großen dunklen Augen fielen vor Neugier fast heraus, während sie versuchte, mit Blicken Informationen aus Kim herauszusaugen. „Kommen Sie aus New York? Alle die zu uns kommen, kommen aus den großen Städten. Meistens, weil sie etwas ausgefressen haben.“

„Nein, ich komme nicht aus New York“, erklärte Kim. „Meine Heimatstadt ist nicht viel größer als Riverside. Nur vielleicht nicht ganz so abgelegen. Und ausgefressen habe ich auch nichts.“

„Oh! Unser Sheriff ist ein toller Mann. Bestimmt gefällt er Ihnen. Er hat es nie leicht gehabt, wissen Sie. Obwohl …“, sie hielt inne und musterte Kim für einen Moment noch eindringlicher, als sie es sowieso schon die ganze Zeit tat, „Er könnte Ihnen vielleicht zu klein sein. Ich glaube, alle Männer bei uns könnten Ihnen zu klein sein. Vielleicht gehen Sie besser nach New York. Da ist alles groß. Bestimmt auch die Männer.“

Kim war es gewohnt, wegen ihrer Körpergröße gehänselt zu werden. Aber Maria war anders. Bei ihr klang es ehrlich und ohne jeden Ansatz von Bösartigkeit. Sie beschloss, zu lächeln und sich darauf einzulassen. „In New York wollten sie mich nicht. Ich bin wohl sogar denen zu groß. Ihr Sheriff war der Einzige, der mich einstellen wollte. Dabei war ich auf der Akademie eine der Besten.“

„Ach“, erwiderte Maria, „die Menschen sind dumme Tiere! Die wollen alles immer nur nach Schablonen haben. Wenn jemand nicht wie eine Schablone ist, haben sie Angst. Unser Sheriff kennt keine Angst! Einmal gab es eine große Schlägerei in unserer Kneipe, da ist er ganz allein dazwischen gegangen und hat zwischen den betrunkenen Halbstarken schlichten können. Nein, Angst hat er bestimmt nicht. Dafür hat der Arme keine Tränen. Kein guter Tausch, wenn Sie mich fragen.“ Marias Augen musterten Kim nicht länger. Sie sah nun einfach durch sie hindurch, als hätte sie gerade das Traurigste erzählt, was sie hätte erzählen können.

Kim hatte schon befürchtet, sie würde nie wieder aufhören zu reden. Aber keine Tränen zu haben. Das machte sie neugierig. „Wie? Er hat keine Tränen?“

„Niemand hat ihn jemals weinen sehen. Auch nicht, als er noch ein Kind war. Am Grab seiner Mutter hat er nicht geweint und am Grab seiner Frau auch nicht. Man erzählt sich, er habe sogar gelächelt“, erklärte Maria und flüsterte vielsagend hinterher: „Jedenfalls beim Tod seiner Mutter.“

Kim hob die Hände, als könnte sie sich damit gegen das Gehörte wehren. „Oh nein! Bitte! Ich hätte nicht gedacht, so schnell mit dem Klatsch Eurer Stadt konfrontiert zu werden. Ich mag Sie, Maria. Wirklich. Aber bitte hören Sie auf. Ich bin noch nicht einmal richtig angekommen und weiß schon viel mehr als mir lieb ist“, bat sie sehr eindringlich. „Ich muss erst mal klarkommen und eine Bleibe finden.“

„Tut mir sehr leid. Mein geschwätziges Ich ist wieder einmal mit mir durchgegangen. Sie haben im Moment ganz andere Sorgen.“ Sie kramte in ihrer Hosentasche und reichte Kim eine Visitenkarte. „Das ist ein alter Freund. Er kam vor vielen Jahren mit mir zusammen hierher. Er hat eine Pension und eine Autowerkstatt. Gar nicht weit von der Polizeistation. Ich rufe ihn an und sage ihm, er soll Ihnen sein schönstes Zimmer geben. Bitte nehmen Sie es als Entschuldigung für mein Geschwätz an.“

Kim nahm das Angebot gern an. Sie hätte sich tatsächlich auf gut Glück ein Hotel suchen müssen, sah auf die Karte und las die Adresse:

José Nuñez

Pension und Werkstatt

38 Potter Street, Riverside

Sie musste lachen: „In der Potter Street? Ist das nicht gleich neben der Winkelgasse?“

„Ja, genau! Woher wissen Sie das?“

Beide sahen sich an, lächelten und Kim durchfuhr eine warme Woge der Verbundenheit. „Sind wir schon so weit, dass wir uns gegenseitig veralbern? Das ging ja schnell!“

„¡Eso es correcto!“, antwortete Maria, überlegte kurz und fügte hinzu: „¡Mi amiga!“

Es dämmerte, als Kim die Tankstelle verließ und es begann zu regnen. An der Tür ihres Wagens drehte sie sich noch einmal um. „Wenn Sie mir jedes Mal helfen, nachdem ich mir Ihren Klatsch angehört habe, komme ich gern öfter zum Tanken.“

Maria versuchte, ein böses Gesicht zu machen. Es gelang ihr nicht. Sie lachte stattdessen und rief: „Sie werden kommen müssen. Das hier ist die einzige Tankstelle.“

San Diego

1994

„Mr. Crawley, mit Ihren Leistungen stehen Ihnen so viele Türen offen. Glauben Sie mir, Sie könnten es beim FBI weit bringen“, erklärte der Agent, dessen Namen Matt schon wieder vergessen hatte. In Gedanken war er schon in Riverside und arbeitete mit Bill zusammen. Er wollte dieses Gespräch nur noch beenden und sagte: „Sir, wenn meine Stiefmutter nicht darauf bestanden hätte, dass ich das College besuche, um mir Möglichkeiten offenzuhalten, würde ich schon längst in einem Streifenwagen sitzen und bei uns zu Hause die Betrunkenen aus dem Mic's holen. Mehr wollte ich nie werden, aber auch nicht weniger. Sollte ich mich jemals langweilen oder zu Höherem berufen fühlen, verspreche ich, werde ich zu Ihnen kommen. Ein paar Jahre bleiben mir ja noch, Sir.“

„Schade, wirklich schade!“, bekam er noch zu hören, stand aber auf, nahm Haltung an und bat darum, gehen zu dürfen. Er verließ das Büro und lief in Richtung Appellplatz, da die Abschiedszeremonie bald beginnen sollte.

Charlene und Bill waren auch irgendwo da draußen. Sie waren seine Stiefeltern. Diesen Ausdruck verwendete er aber nur, wenn er ohne viele Umschweife einem Fremden seine Familienverhältnisse erklären musste.

Bill Smith war Sheriff in Riverside, wollte es allerdings nicht mehr allzu lang bleiben. Er war 58, hatte einen kleinen Wohlstandsbauch, graue Haare und seine Schäfchen im Trockenen. Er trug immer seine altmodische Hornbrille, womit er Charlene regelmäßig auf die Palme brachte. Sie konnte reden, wie sie wollte, er sagte nur, dass er damit nach wie vor noch bestens sehen könne.

Charlene arbeitete ein paar Stunden in der Woche im Rathaus und half dort im Archiv aus. Sie achtete stets auf ihre Figur und hätte durchaus als Model arbeiten können. Sie war eine sehr gepflegte Frau, die kein Make-up nötig hatte und dieses nur sehr sparsam benutzte. Alle Frauen in Riverside, außer Rosie Newman, ihre beste Freundin, beneideten Charlene um ihr langes, dunkles Haar.

Rosie hatte zwar nicht so langes, aber dafür lockiges Haar, sie war eine ziemlich korpulente Afroamerikanerin mit einem Lächeln, dem niemand auch nur für Sekunden standhalten konnte. Sie besaß einen Gemischtwarenladen, der es in letzter Zeit nicht leicht hatte, da ein Supermarkt in der Stadt eröffnet hatte.

Matt stand nun mit den anderen frisch gebackenen Deputies in Reih und Glied auf dem Appellplatz und beobachtete Bill und Charlene aus den Augenwinkeln. Sie hatten sich in der Menge der Angehörigen keinen wirklich guten Platz ergattern können. Bill kämpfte die ganze Zeit mit seiner Kamera, um ein paar gute Schnappschüsse zu machen, während Charlene neben ihm weinte. Sie hatte Matt die letzten 18 Jahre ihres Lebens geopfert und alles dafür getan, ihm eine gute Mutter zu sein. Sie wäre für ihn durchs Feuer gegangen, obwohl sie wusste, dass er sie niemals Mum nennen würde. Diesen Anspruch hatte sie auch nie gehabt. Alle hatten Rebecca, Matts leibliche Mutter, gekannt und gemocht und waren vom frühen Tod dieser liebenswerten Frau erschüttert gewesen.

Jetzt warfen die Absolventen ihre Uniformhüte in die Luft. Die Stille, die während der Zeremonie herrschte, wurde von Jubel abgelöst. Im Anschluss gab es noch eine Feier, zu der Matt nicht gehen wollte. Nicht weil er seine Kameraden nicht mochte, sondern weil er lieber für sich blieb. Den heutigen Tag wollte er allein mit Charlene und Bill genießen. Er war schon immer ein introvertierter Eigenbrötler gewesen.

Charlene hatte ihrem Matt eine schöne Kindheit und Jugend mit wirklich allem, was dazu gehörte, ermöglichen wollen. Leider waren ihre Versuche meist nach hinten losgegangen. Überall, wo sie ihn hingeschleppt hatte, hatte er nur in einer Ecke gestanden und war für sich geblieben. Glücklicherweise war Riverside klein genug, um stets auf Verständnis zu stoßen. Alle kannten Matts Geschichte. Erfolg hatte Charlene nur im Schwimmverein, hier war Matt zwar auch meist für sich geblieben, aber das Schwimmen hatte ihm wenigstens Freude bereitet.

Die Anzahl der Menschen, die es überhaupt geschafft hatten, eine engere Beziehung zu Matt aufzubauen, konnte man an einer Hand abzählen. Da gab es zunächst Bill und Charlene, dann noch Rosie, Maria, die mexikanische Aushilfe in Rosies Gemischtwarenladen und Stacey.

Stacey war Matts Freundin aus der Grundschule. Irgendwann war sie einfach nach der Schule mit ihm zu den Smiths nach Hause gekommen und fortan nicht mehr aus Matts Leben wegzudenken. Zu Beginn war Charlene Feuer und Flamme gewesen, gab es doch endlich auch jemanden in seinem Alter, dem er sich öffnete. Mit den Jahren wurde sie allerdings immer skeptischer, hatte sich aber selbst nie erklären können, woran es lag. Stacey konnte heute nicht dabei sein, sie hatte von ihrem Chef keinen Urlaub bekommen.

Matt lief auf Charlene und Bill zu und winkte mit seinem Abschlusszeugnis. Bei diesem Anblick bekam Charlene weiche Knie. Sie liebte ihn abgöttisch und gerade jetzt, in dieser schicken Uniform, mit seiner athletischen Statur vom Schwimmen, den großen dunklen Augen unter dem Uniformhut und seinen leicht weiblichen Gesichtszügen, sah er einfach nur umwerfend aus.

„Und du bist sicher, dass du nicht zu der Feier mit den anderen willst?“, fragte Bill, um sich zu vergewissern.

„Alles gut, Bill. Ich möchte wirklich nur mit euch beiden etwas essen gehen und danach fahren wir gemütlich nach Hause. Mein Koffer steht schon bereit.“

Bill warf Charlene einen vielsagenden Blick zu: „Drei Tage, maximal!“, und auf Matts fragenden Gesichtsausdruck sagte er: „Sie hat mal wieder etwas für dich und ich darf es nicht verraten.“

Später beim Essen bekam Matt ein Update davon, was während seiner Abwesenheit in Riverside passiert war. Charlene redete ununterbrochen: „Und stell dir vor, der Supermarkt hat wieder zugemacht. Fast alle sind demonstrativ weiterhin zu Rosie in den Laden gegangen. Bis zu dem Tag, an dem der Supermarkt sein gesamtes Sortiment an Elektronik zum halben Preis angeboten hatte. An dem Tag waren wir alle dort, sogar Rosie. Die halbe Stadt hat jetzt neue Fernseher und José hat sich für seine Pension gleich acht Stück gekauft. Er sagte, es wären wirklich gute Geräte, die bestimmt in zwanzig Jahren noch funktionieren werden. Danach sind alle wieder zu Rosie gegangen und haben bei ihr die Lebensmittel gekauft. Wir sind schon eine großartige Stadt.“

Matt unterbrach sie: „Charlene, hol doch mal Luft!“, und zu Bill gewandt sagte er: „Wann und wie hast du ihr das Atmen abgewöhnt?“

Ohne darauf zu achten, fuhr Charlene fort: „Von Maria gibt es auch Neuigkeiten! Sie arbeitet nicht mehr in Rosies Laden. Ob du es glaubst oder nicht, sie hat die Tankstelle vom alten Walter gekauft. Ist das nicht toll?!“ Charlene hatte eine Antwort erwartet und machte eine Pause.

Aber Matt sah sie nur an, anschließend Bill und fragte: „Hat es aufgehört?“

„Du bist unmöglich, Mathew Crawley“, schmollte sie und machte, wohl wissend was als Nächstes passieren würde, ein trauriges Gesicht.

Matt stand auf, lief um den Tisch herum und umarmte und küsste sie mit den Worten: „Was sich neckt, das liebt sich.“

Charlenes Herz machte einen kleinen Sprung und sie war glücklich.

„Was ist denn aus den Mädchen geworden, die im Supermarkt gearbeitet haben?“, fragte Matt.

Charlene hatte diese Frage erwartet. Matt dachte oft weiter als manch anderer. „Das, mein Lieber, ist die nächste gute Nachricht. Da Maria nicht mehr bei Rosie arbeitet und Rosie in Zukunft kürzertreten will, arbeiten sie nun beide im Gemischtwarenladen. Die anderen, die der Supermarkt selbst mitgebracht hat, sind mit ihm zusammen wieder verschwunden.“

Bill saß die ganze Zeit still am Tisch, aß seine Pizza und konzentrierte sich darauf, Charlene ab und an etwas von ihrer Pasta zu stehlen, wenn er glaubte, sie bekäme es in ihrem Redeschwall nicht mit. Da sie sich nun wieder ihrem Essen widmete, befürchtete er, davon nichts mehr abzubekommen, und gab das Signal, um sie erneut von der wirklich guten Pasta abzulenken: „Deine Lieblingsstiefmutter hat dir noch etwas mitgebracht.“

„Stimmt!“, sagte sie, während sie noch einen Bissen herunterschluckte. „Matt, mein lieber Junge, wir haben uns etwas überlegt.“

„Sie hat es sich überlegt“, unterbrach Bill und genoss einen weiteren Bissen von Charlenes Pasta.

„Also ich habe mir überlegt, dass du, bevor es so richtig mit der Arbeit losgeht, noch einmal Urlaub machen solltest, und deshalb habe ich lange mit Jeanette aus dem Reisebüro …“

„Und meiner Kreditkarte“, unterbrach Bill sie erneut, was sie jedoch gekonnt ignorierte.

„Mit Jeanette aus dem Reisebüro überlegt, was wohl das Beste sein könnte. Und wo ist es immer am schönsten? Am Meer.“ Sie reichte Matt einen Umschlag.

Er öffnete ihn. Egal wohin es ging, er wollte Charlene die Freude daran nicht nehmen. Während er las, sagte er: „San Diego? Zwei Wochen? Mit Flug? Morgen geht es los? Ihr müsst verrückt sein!“

„Das hat meine Bank auch gesagt“, warf Bill noch immer Pasta kauend ein.

Charlene hatte darauf geachtet, dass die Reisezeit mit dem Spring Break zusammenfiel. Bill hatte von solchen Dingen keine Ahnung und die wollte er auch nicht haben. Nachdem sie ihn in ihre Pläne eingeweiht hatte, war sein einziger Kommentar dazu: „Der Junge ist nach spätestens drei Tagen wieder da. Ich möchte fast darauf wetten.“ Charlene war auch froh, dass Stacey heute nicht dabei war.

Sie hätte Matt diese Reise bestimmt madig geredet, aber Charlene wollte unbedingt, dass Matt auch noch andere Frauen kennenlernte. Bill sah das alles eher pragmatisch. Er kannte Stacey und war durchaus damit zufrieden, dass die Dinge offensichtlich von selbst ihren Lauf nahmen.

Matt ging abermals um den Tisch zu Charlene, um sie zu umarmen. Er bedankte sich zwar, erklärte aber in liebevollem Ton, dass ihre Mühen nicht nötig gewesen wären, da es in Riverside alles gäbe, was er brauche. Natürlich war ihm der eigentliche Zweck dieser Reise sofort klar. Charlene zuliebe würde er sie auch antreten. Er würde versuchen, sich ein paar ruhige Tage am Meer zu machen.

„Lass es nochmal ordentlich krachen!“, hatte Charlene ihm ins Ohr geflüstert, als sie sich am Flughafen von ihm verabschiedete.

Nun stand der frisch gebackene Deputy von Riverside inmitten feierwütiger Jugendlicher, die sich auf dem Weg nach Tijuana befanden. Hier war er eindeutig fehl am Platze. Sein Gepäck hatte er im Hotelzimmer deponiert und wollte erst einmal die Gegend erkunden. Er beschloss, so lang zu gehen, bis er eine hübsche, abgeschiedene Stelle am Meer finden würde, um im Sand zu sitzen, und sich von der Brandung die Gedanken einschläfern zu lassen. Nachdem er etwa zwanzig Minuten gegangen war, wurde es endlich ruhiger und das Schreien der Möwen war zu hören. Er sah einen sehr kleinen Leuchtturm und hielt darauf zu. Dort angekommen suchte er sich sein ruhiges Plätzchen in einer kleinen Bucht, die nach Sonnenuntergang wohl eher von Pärchen bevölkert wurde. Jetzt zur Mittagszeit war hier kein Mensch.

Seine Ruhe währte etwa eine Stunde. Ein junger Mann in Badeshorts stand plötzlich vor ihm. Groß, blond, gut gebaut und mit einem Gesicht wie aus einem Hollywood-Film. „Na, du hast es auch lieber ruhiger, was? Für mich ist der Trubel auch nichts“, sagte er und streckte Matt seine Hand entgegen. „Bruce“, gab er kurz dazu.

Matt musste blinzeln, um ihn gegen die Sonne erkennen zu können. „Matt“, gab er ebenso kurz zurück.

Bruce setzte sich neben ihn und fragte: „Magst du auch ein Bier?“

„Klar, eins wird nicht schaden.“

„Ich hole uns zwei Flaschen aus dem Wagen.“ Bruce sprang wieder auf und kam ein paar Minuten später mit zwei Flaschen zurück.

Sie stießen an und tranken.

Stromschläge durchfuhren ihn, als er aufwachte und jede Bewegung löste einen Weiteren aus. Die Augen zu öffnen, war fast so anstrengend wie ein Marathonlauf. Aufstehen zu wollen, versuchte er gar nicht erst. So gut es ging, konzentrierte er sich auf seinen Körper. Der Kopf dröhnte, in Armen, Beinen und Bauch schien er wahnsinnigen Muskelkater zu haben. Nachdem er es geschafft hatte, eine Hand zu seinem Gesicht zu führen, um es zu betasten, bemerkte er, dass sein rechtes Auge und die Oberlippe geschwollen waren. Sein rechtes Ohr schien gänzlich von verkrustetem Blut bedeckt zu sein. Am schlimmsten jedoch war sein Hintern. Entweder war alles in ihm kaputt oder jemand hatte ihm eine Bowlingkugel eingeführt. In Zeitlupe ließ er sich aus dem Bett gleiten. Der Raum war abgedunkelt, aber auf dem Boden liegend erkannte er den Bettvorleger seines Hotelzimmers. Schon bei seiner Ankunft war er ihm aufgefallen. So weiche Teppiche gibt es? Nun war er froh, dass es sie gab. Trinken! Wasser! Er kroch auf allen vieren zur Wand, um sich an dieser entlang bis ins Bad zu hangeln. Den Hebel des Wasserhahns zu betätigen, war eine kräfteraubende Tortur. Irgendwann konnte er endlich das kühlende und lebenspendende Element in seiner Kehle spüren. Er versuchte, sein T-Shirt auszuziehen. Da er seine Arme kaum über den Kopf heben konnte, schien es fast ein aussichtsloses Unterfangen zu werden. Beim Blick in den Spiegel erschrak er vor sich selbst. Sein Körper war von blauen Flecken übersät. Es war ein Wunder, dass er durch das geschwollene Auge überhaupt noch etwas sehen konnte. Blut! Überall an ihm war getrocknetes Blut. Ungläubig und vorsichtig betastete er sein Gesicht und seinen Körper vor dem Spiegel, als wollte er testen, ob nicht doch alles nur geschminkt sei. Als er sich auf die Toilette setzte, bemerkte er, dass auch seine Hose von Blut durchtränkt war. Übelkeit schoss in ihm hoch. So gut und so schnell es irgendwie ging, drehte er sich um, kniete sich vor die Toilette und erbrach sich schwallartig. Es war so anstrengend und schmerzhaft, dass er sich abwechselnd übergab und vor Schmerzen schrie. Zumindest gab er einen gequälten Ton von sich, da die Schreie seine Schmerzen noch zu verstärken schienen.

Er hangelte sich wieder an der Wand entlang zu seinem Koffer. Charlene, die fürsorglichste Frau der Welt, hatte natürlich nicht versäumt, ihm eine Reiseapotheke zu packen. In der Hoffnung, die Tabletten nicht gleich wieder in die Toilette zu erbrechen, nahm er eine zitternde Hand voll ein. Zurück auf dem Bett sitzend schaltete er den Fernseher an. Die Nachrichten waren vom Dienstag. Er war am Sonntag angekommen. Sich an irgendetwas zu erinnern, war unmöglich. Da war nichts mehr. Gar nichts. Das Letzte,was ihm noch einfiel, waren die vielen Jugendlichen und ein Spaziergang bei einem Leuchtturm.

Der Lokalsender berichtete über einen Toten am Strand, welcher möglicherweise ein weiteres Opfer eines Serientäters war. Die Opfer waren ausnahmslos junge Männer, die die Stadt zum Feiern besucht hatten. Alle waren schwer misshandelt und einige auch vergewaltigt worden. Dies allerdings war das erste Todesopfer. Wieder wurde ihm übel. Aber dieses Mal schaffte er es nicht bis zur Toilette und erbrach sich auf dem Bettvorleger. Ein paar Tabletten musste er wohl bei sich behalten haben, denn langsam schienen sie etwas Wirkung zu zeigen und er schlief wieder ein.

Als er erneut aufwachte, waren die Schmerzen einigermaßen erträglich. Das Zimmer war noch dunkler geworden, da es draußen schon wieder dämmerte. Er schleppte sich ins Bad und duschte, so gut es irgendwie ging. Als er fertig war, ging er zum Telefon und rief die Rezeption an: „Matt Crawley, Zimmer 237, schicken Sie mir bitte die Polizei.“

Es war Samstagmorgen, 2:45 Uhr, als Charlene den Schlüssel in der Tür hörte. Bill sollte eigentlich beim Dienst sein. Sie stand auf und lief in den Flur, um zu sehen, was er wollte und sagte laut ins Halbdunkel: „Hast du etwas vergessen?“ Dann sah sie Matt und konnte sich nicht mehr rühren. Matt! Die zweite Liebe ihres Lebens war übel zugerichtet, verprügelt, geschunden, vielleicht sogar gefoltert worden. Er stand vor ihr wie damals. In der Nacht, in der sie zueinanderfanden. Derselbe Junge, derselbe Blick, nur Jahre später und das ganze Blut fehlte. Ein Auge war fast zugeschwollen, nichts an ihm schien noch heil zu sein.Millionen Dinge schossen ihr durch den Kopf, die am Ende zu einem einzigen Gedanken verschmolzen, der sich wiederholte, immer und immer wieder: Ich habe ihn dort hingeschickt! Ich habe ihn dort hingeschickt! Ich habe ihn dort hingeschickt! … Ihre Knie wollten ihren Dienst verweigern, ihr Kinn begann zu zittern. Kurz darauf liefen Tränen über ihre Wangen und sie weinte tonlos. Sie wagte es nicht, zu reden oder auch nur einen Laut von sich zu geben, weil sie glaubte, es könnte ihm noch zusätzliche Schmerzen bereiten und flüsterte: „Oh mein Gott! Matt! Was ist geschehen?“ Sie wollte ihn umarmen, schreckte aber aus Angst, ihm wehzutun, gleich wieder zurück. „Ich rufe Bill an!“, sagte sie hektisch.

Aber Matt entgegnete: „Nein, nein, es ist so weit alles in Ordnung. Ich brauche nur Ruhe.“

Charlene hielt sich die zitternden Hände vor den Mund und schluchzte: „Matt, mein Schatz, es tut mir ja so leid! Ich habe dich dorthin geschickt!“

„Ich sollte es krachen lassen, hast du gesagt. Nun, ich war erfolgreich.“ Er versuchte, zu lächeln. „Kannst du mir nur bitte einen Gefallen tun?“

„Jeden, mein Junge. Jeden.“

„Würdest du heute Nacht bitte bei mir bleiben? So wie damals?“

Wortlos nahm sie seinen Arm und führte ihn in sein Zimmer. Er setzte sich auf das Bett und ließ sich von ihr ausziehen. Sie war so vorsichtig, wie sie nur konnte. Sie holte einen frischen Schlafanzug aus dem Schrank und half ihm beim Anziehen.

Matt legte sich auf die Seite und sah mit leeren Augen zum Fenster hinaus in den Sternenhimmel.

Charlene legte sich so dicht hinter ihn, dass er sie spüren konnte. Ihren Arm um seinen geschundenen Körper zu legen, wagte sie nicht. Schlaflos und wortlos verbrachten sie so die Nacht.

Neue Freunde

2016

Es dämmerte und man konnte nun auch sehen, wie die Regentropfen gegen die Scheibe klopften. Kim war seit zwei Stunden wach. Sie war einen Tag eher gefahren, um am Sonntag noch einmal so richtig ausschlafen und entspannen zu können.

José, der nur wenig größer als Maria war, aber genauso dichtes schwarzes Haar hatte, dazu eine rote Nase und einen kleinen Bauch von Wein und Bier, hatte ihr gestern Abend noch angeboten, heute ein Frühstück zu machen. „Als Willkommensgeschenk in unserer schönen Stadt“, hatte er gesagt. Sie einigten sich auf 9:00 Uhr.

Jetzt war es 6:30 Uhr. Kim saß auf dem durchgesessenen Sofa und begutachtete den Fernseher. Ich hoffe nicht, dass das wirklich sein bestes Zimmer ist. Wir haben 2016 und hier steht ein Röhrenfernseher. Ist das womöglich, noch ein Schwarz-Weiß-Gerät?, dachte sie und lächelte. Sie hätte ihn einschalten können, aber dann wären vielleicht die anderen Gäste wach geworden. Aus demselben Grund war sie auch noch nicht im Bad gewesen. Sie saß da nun seit 5:00 Uhr und machte sich über alles Mögliche Gedanken. Wie die neuen Kollegen wohl sein würden und ob sie mit noch mehr Menschen so gut in Kontakt kommen würde wie mit Maria. Vor allem aber quälte sie eine Frage. Wie sehr würde man sie hier wegen ihrer Größe hänseln? Dass es passieren würde, war ihr klar, denn das war schon immer so. Die Frage war nur: Wie schlimm würde es werden? Sie kannte alle Sprüche und mittlerweile auf die meisten auch eine Antwort. Am schlimmsten war es auf der High School gewesen und es gipfelte an einem Frühlingstag. Dieser eine Tag! Dieser eine beschissene Tag! Zu dieser Zeit hatte sie beschlossen, die Sache mit der Liebe sein zu lassen. Ab und an hatte es später mal jemanden in ihrem Leben gegeben, aber etwas Ernstes erwuchs nie daraus. Auch mit Frauen hatte sie es versucht. Das machte sie aber auch nicht glücklich. Ähnlich wie auf der High School war es ihr bei etlichen weiteren Versuchen ergangen, in der Arbeitswelt Fuß zu fassen. Irgendwann war sie auf die Idee gekommen, eine Polizeiuniform könne ihr dabei helfen, fehlendes Selbstvertrauen zu kompensieren. Auf der Polizeiakademie schien es vom ersten Tag an zu gelingen. Ganz offensichtlich hatte sie gefunden, wonach sie jahrelang gesucht hatte. Es gab noch eine Sache, die ihr immer wieder in den Sinn kam. Maria hatte es geschafft, sie besonders auf Sheriff Crawley neugierig zu machen. Sie sagte, er hätte keine Angst, keine Tränen und es nicht immer leicht gehabt. Keine Angst und keine Tränen zu haben, hätte ihr in ihrem bisherigen Leben gut weiterhelfen können.

Jemand klopfte gegen die Tür. Wieder und wieder. „Kim, du Schlafmütze! Wach auf! Der Kaffee wird kalt!“

Ach du Scheiße! Ich bin wieder eingeschlafen!, fuhr es ihr wie ein Blitz durch den Kopf. Sie wollte vom Sofa aufspringen, um ins Bad zu rennen. „Mome…“, mehr konnte sie nicht rufen. Ein Stich fuhr ihr in den Rücken. Die Position, in der sie auf dem Sofa eingeschlafen war, war alles andere als gut gewesen. „Au!“ Sie stolperte, versuchte, sich zu fangen, hatte damit keinen Erfolg und lag nun eingeklemmt zwischen Sofa, Sessel und Tisch. Das geht ja gut los.

Es klopfte wieder. Diesmal noch penetranter als zuvor. „Kim? - Alles in Ordnung da drinnen? - Kann ich dir helfen? - Ich bin es. - Maria. - Von der Tankstelle. - Von gestern Abend.“

Ich habe schon beim ersten Ton gehört, wer da vor der Tür steht, und wenn sie aufhören würde zu reden, könnte ich ihr auch antworten, ging es ihr leicht genervt durch den Kopf. Auf einmal war es still. Sie war sich nicht mehr sicher, ob sie das eben nur gedacht oder laut gesagt hatte, und rief in Richtung der Tür: „Alles ist gut, Maria. Ich bin in fünf Minuten draußen.“

„Okay, Schätzchen. Die Zeit läuft.“