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Seit Bastian als Kind in einem tiefen Keller ohnmächtig wurde, verfolgt ihn eine Hexe in seinen Träumen. Kerstin hingegen erlebt in ihren Klarträumen schon immer Visionen. Als sie sich kennenlernen erfahren sie, dass sie sich schon einmal begegnet sind. In einem Traum. Sie verlieben sich, ziehen zusammen und die Traumwelt der beiden nimmt immer realere Züge an. Beider Verstand und Wahrnehmung beginnen einen Kampf auszutragen. Existiert Bastians Hexe wirklich? Hat sie einen Plan? Sollten sie wirklich diesen einen Weg einschlagen, der sich immer deutlicher aufzeigt und auf dem sie sich irgendwie schon immer befunden haben.
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Seitenzahl: 230
Veröffentlichungsjahr: 2021
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Erster Teil - Kerstin und Bastian
Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Zweiter Teil - Rossinhol und Abaelard
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Dritter Teil - Paul
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Vierter Teil – Die Ewigkeit
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Epilog
Nachwort und Danksagung
Die Bar ist brechend voll. Das Wirrwarr von Stimmen wird gerade von Bryan Adams‘ ‚Summer of 69‘ übertönt, während Ralf im Keller am Fuß der Wendeltreppe auf diese wirklich hübsche brünette Frau wartet. Er ist ihr gefolgt und er wird sie ansprechen, sobald sie aus der Toilette kommt. Er freut sich darauf und hofft, dass sein Vorhaben von Erfolg gekrönt sein wird. Aber kaum, dass sie aus der Tür tritt, geht sie auch schon zielstrebig auf die Treppe zu. Er muss sich beeilen, sich ihr schnellstmöglich in den Weg stellen. »Hey, darf ich dich etwas fragen?«
»Ich komme gerade vom Klo. Nicht gerade der perfekte Zeitpunkt, eine Frau anzuquatschen.«
»Darum geht es auch nicht, jedenfalls nicht direkt.«
»Na, jetzt bin ich aber gespannt.«
»Also mein Freund, der spricht nie eine Frau an. Uns anderen ist deine Freundin aufgefallen und wir glauben, die beiden könnten echt gut zusammenpassen.«
»Welche?«
»Die mit den blonden schulterlangen Haaren, sie trägt ein Nirvana-Shirt.«
»Kerstin?«, sie lacht laut los und scheint völlig überrascht. »Vergiss es! Das ist ein hoffnungsloser Fall. Außerdem werde ich sie nicht irgendeinem Kerl überlassen. Sie ist wirklich ein sehr besonderer Mensch.«
»Okay. Dann schau dir Bastian wenigstens einmal an. Nur aus der Ferne und gib mir ein Zeichen. Du wirst sehen, was ich meine. Er trägt auch so ein Nirvana-Shirt.«
»Ihr Typen werdet immer eigenartiger. Wegen eines T-Shirts glaubt ihr, Gemeinsamkeiten zu erkennen? Na gut, aber das kostet dich ein Bier.«
»Das ist mir sogar eine ganze Runde wert. Schau ihn dir an!« Ralf wendet sich ab und greift in hoffnungsvoller Voraussicht schon nach dem Treppengeländer.
»Hey! Verrätst Du mir wenigstens deinen Namen?«
»Oh! Entschuldige, ich bin Ralf, ein Freund von Bastian, und Du?«
»Mandy, Kerstins beste Freundin und die Mörderin von Bastian, wenn er ihr wehtut.«
»Das tut er nicht. Dafür lege ich meine Hand ins Feuer. Nein, dafür lege ich mich ins Feuer.«
»Na, ich bin gespannt! Und vergiss mein Bier nicht!«
»Keine Bange!«, sagt Ralf und verschwindet in wenigen Augenblicken über die Wendeltreppe nach oben.
Mandy sieht ihm hinterher, sieht seinem von einer Jeans perfekt eingepackten Hintern hinterher und lächelt. Er wartet auf der oberen Stufe auf sie, damit sie weiß, in welche Richtung er gehen wird. Langsam folgend und nach einem Nirvana-Shirt suchend, findet sie Bastian und traut ihren Augen nicht. Da steht tatsächlich die männliche Ausgabe von Kerstin. Schon von hinten erkennt sie, wen Ralf gemeint haben muss. Er hat sich neben ihn gestellt, aber das wäre tatsächlich nicht nötig gewesen. Diese Rühr-mich-nicht-an-Körperhaltung spricht Bände. Mandy geht in einem Bogen um die Gruppe aus vier Männern und jede Vermutung bestätigt sich. Ganz auf seine drei Freunde fixiert, nimmt er sonst niemanden in der Bar wahr. Sie sind sein Halt in dieser Welt. Hübsch ist er, keine Frage. Aber in sich gekehrt und er scheint damit durchaus zufrieden zu sein, dass seine eigene Welt eine kleine ist. Mandy steuerte auf die Gruppe zu und hält direkt vor Ralf an.
»Ralf!? Du hier? Damit habe ich echt nicht gerechnet. Hast Du Lust auf ein Bier mit einer alten Freundin?«
»Mandy! Was für eine Überraschung. Klar, das sind übrigens Mirco, Jens und Bastian.«
»Hallo Jungs, ist es okay, wenn ich ihn euch entführe?« Ihr Blick bleibt auf Bastian ruhen, und erwartungsgemäß gibt er ein freundliches »Macht ihr nur« zur Antwort. Ganz so, wie sie es von Kerstin erwartet hätte, freundlich, zuvorkommend mit einem Hauch von Lockerheit, welche seine Unsicherheit kaschieren soll. Aber sie weiß noch mehr, und sie ist sich sicher. Wenn man ihn losließe, von der Leine ließe, wenn man ihm jede Hemmung nehmen und er aus sich herausgehen könnte, dann gäbe es kein Halten mehr. Das kennt sie von Kerstin. Diese Abende voller Alkohol und Mädchensachen. Niemand sonst kennt Kerstin derart ausgelassen wie Mandy. Niemand. Bis heute. Ihre Freundschaft würde weniger intensiv sein, sie müsste Kerstin nicht nur teilen, sie müsste sie hergeben. An Bastian, den einzigen Mann auf dieser Welt, der zu Kerstin passen würde, den einzigen, an den sie sie hergeben würde, und gerade steht sie vor ihm. Kerstin sehnt sich nach Liebe, nach wirklicher, echter, hingebungsvoller Liebe, und so oft schon hatte sie ihr Männer vorgestellt und jedes Mal war ihr schon vorher klar, dass es wieder ein Schuss in den Ofen sein würde. Wenn einer dazu in der Lage wäre, Kerstins Herz zu erobern und sie zu lieben, dann er. Nur er. Am Tresen angekommen und mit ihren Bieren anstoßend, fragt Ralf: »Na, habe ich zu viel versprochen?«
»Hast Du nicht. Sind das Geschwister?«
»Scheint so, was?«
»Wie geht es jetzt weiter? Wenn ich es richtig vermute, könnten wir sie gemeinsam in einen Raum sperren und keiner von beiden würde auch nur einen Mucks von sich geben.«
»Das befürchte ich auch. Aber wir sollten sie wenigstens miteinander bekannt machen, oder?«
»Auf jeden Fall. Irgendwie könnten sie wirklich perfekt zusammenpassen.«
»Das denke ich auch. Wenn das klappen sollte, war das wohl der letzte Abend, den ich mit Bastian zusammen in diese Bar gegangen bin. Eigentlich mag er das hier alles gar nicht. Aber ich kann ihn einfach nicht allein zu Hause versauern lassen. Also, was tun wir?«, fragt Ralf und macht ein sehr angestrengtes Gesicht. Ihre Blicke treffen sich.
»Ich gebe Mandy und ihren Freundinnen eine Runde aus. Kommt ihr mit?«, fragt Ralf.
»Klar«, gebe ich gleichzeitig mit Jens und Mirco zurück und wir setzen uns in Bewegung. Auf dem Weg zum Tresen erzählt mir Ralf etwas über diese Mandy, die er wohl vor ein paar Wochen hier auf der Toilette kennengelernt hat. Dabei betont er ‚Toilette‘ derart, dass man denken könnte, sie hätten sich tatsächlich eine Kabine geteilt. Ich muss schmunzeln und wünsche ihm viel Erfolg bei seinem Vorhaben. Die Frauen warten schon am Tresen und Mandy winkt uns etwas theatralisch zu, als ob wir sie hätten übersehen können. Bei ihnen angekommen, wenden sich uns auch ihre Freundinnen zu. Die eine, ziemlich klein, brünett und ... Mein Blick fällt auf ihre andere Freundin. Schulterlange, blonde Haare, sehr weiche Gesichtszüge, große freundliche Augen schauen mich kurz an, während sie mir zunickt und mich anlächelt, um gleich darauf Mirco und Jens ebenso freundlich zu begrüßen. Ich muss noch einmal in diese Augen schauen. Einmal noch. Danach werde ich mich den anderen zuwenden, mit demselben Interesse und demselben Lächeln. Sie soll nicht denken, ich würde gleich etwas von ihr wollen. Niemand soll das denken. Aber ja, ich will. »Schönes Shirt«, sage ich und unterbreche sie dabei, als sie Jens zunickt. »Dito«, antwortet sie und tut mir den Gefallen. Schaut mir ein zweites Mal kurz in die Augen und lächelt. Was? Das war es schon? Ich wende mich den anderen zu, lächelnd, nickend und sie im Augenwinkel nicht verlierend.
»Das sind Sophia, Lena und Kerstin, und das sind Ralf, Mirco, Jens und Bastian, wenn ich mich recht erinnere«, höre ich Mandy sagen. Kerstin. Sie heißt Kerstin. Ein normaler Name, aber mit einem schönen Klang. Sie weiß jetzt, dass ich Bastian heiße. Bastian, wie dieser komische Junge aus diesem Kinderfilm. Prima, wieder einmal ist dieser Name der erste Eindruck, den jemand von mir hat. Ich hasse es. Ralf hält derweil ein Bier nach dem anderen in unsere recht große Runde. Das brauche ich jetzt auch, ich muss den Gedanken an meinen Namen herunterspülen. Wir werden anstoßen, jeder mit jedem. Auch ich mit Kerstin. Ein drittes Mal werde ich ihr gleich in die Augen schauen dürfen. »Ein Traum«, sage ich, während Ralf mir das ersehnte Glas gibt, und werde unterbrochen. »Ein großes Wort für ein so kleines Bier«, dringt Kerstins helle Stimme an mein Ohr. Mandy macht große Augen und sieht Ralf an. Warum ist mir nicht klar und ich hinterfrage es nicht. Wollte ich eben noch in diese Augen schauen, so will ich jetzt erneut diese Stimme hören. Beides. Ich will beides und antworte, ohne zu überlegen: »Mit Träumen kenne ich mich aus. Ich darf das.« Verdammt! Was war das denn? Ja, meine nächtliche Traumwelt ist anders als bei den meisten Menschen, aber das gehört nicht hierher, das geht niemanden etwas an. Großartig, Bastian. Beim Start schon verloren. Wie immer. Prima! »Was träumst Du denn so?«, klingt ihre Stimme wieder in meinen Ohren. Das hat sie jetzt nicht wirklich gefragt, oder doch!? Ich denke - lange - zu lange über eine Antwort nach, blamiere mich mit meiner fehlenden Schlagfertigkeit. Ehrlichkeit ist das Einzige, was mir jetzt noch einfällt. »Das würdest Du mir sowieso nicht glauben.«
»Versuch es einfach, vielleicht erzähle ich dir dann auch von meinen Träumen.«
Ich stehe da wie ein Idiot. Was passiert hier? Ich rede mit einer Frau. Einfach so. Und dann auch noch über dieses Thema. Dieses eine Thema, von dem ich dachte, dass es einzig meinem kranken Hirn entspringt. Dieses eine Thema, über das ich noch nie mit jemandem gesprochen habe. Wieder überlege ich zu lange. Wieder gebe ich eine Antwort, ohne sie vorher ausreichend zu hinterfragen. »So viel Zeit hast Du nicht, um dir das anzuhören.« Jetzt überlegt sie, kurz nur, aber sie tut es. »Nun, es ist Freitag Abend. Genau genommen habe ich zwei Tage Zeit.« Das will sie nicht! Ich glaube nicht, dass sie das wirklich will. Aber warum sonst sollte sie es sagen? Ist sie tatsächlich daran interessiert? Dieses Interesse schmeichelt mir, lässt mich alle Vorsicht vergessen. »Na dann sei dieses Wochenende mein Gast.«
Stille.
Ralf, Mirco und Jens schauen mich an. Kerstins Freundinnen schauen mich an. Und Kerstin? Sie lächelt mich an. »Das könnte wirklich interessant werden. Gerne.«
Jetzt ist es aus und vorbei. Jeder Ton erstickt in meinem Hals. Ich kann gar nichts mehr sagen. Ein Date, direkt ausgemacht und direkt umgesetzt, keine Zeit, um mich vorzubereiten, um ein Hemd anzuziehen und nicht dieses alberne Shirt. Keine Zeit. Es ist so weit. Jetzt! Die Bar hat einen Lounge-Bereich. Bisher saß ich dort immer allein, um auch hier ab und an meinen Gedanken nachgehen zu können. »Gehen wir in die Lounge? Da kannst Du entscheiden, ob es sich lohnt, dein Wochenende zu opfern.« Ralf klopft mir auf die Schulter. »Wir sind dann jetzt weg. Habt einen schönen Abend.« Im Wegdrehen raunt er mir mahnend ins Ohr: »Versau das nicht! Sie ist super!« Auch Mandy und die anderen Frauen, deren Namen und Gesichter ich schon wieder vergessen habe, wenden sich zum Gehen ab. Mandy wedelt Kerstin noch kurz mit ihrem Smartphone zu und zack, stehen wir allein an der Bar.
»Die Lounge?«, frage ich und sie nickt, lächelt dabei. Ich möchte mich von diesem Anblick gar nicht abwenden. Aber jetzt zu warten und nicht einfach loszugehen, wäre das Allerdämlichste, was ich tun könnte. Also drehe ich mich um und gehe. Auf dem Weg möchte ich mich vergewissern, ob sie noch da ist, wirklich hinter mir bleibt und nicht doch noch schnell zu ihren Freundinnen flüchtet. In der Lounge ist kein Mensch, der Abend ist noch zu jung, als dass hier die Ersten eine Pause vom Feiern bräuchten oder zu zweit allein sein wollen. Da fährt es mir wie ein Blitz durch den Kopf. Sie kommt mit mir hierher. Kein Pärchen betritt diesen Bereich, ohne am Ende rum zu knutschen. Keines. Man nennt die Lounge auch die Knutschecke. Ich kann mir kaum vorstellen, dass Kerstin das nicht weiß. Wir setzen uns auf das Sofa in der hintersten Ecke. Ich bin mit meinen Nerven völlig am Ende und habe keine Ahnung, wie ich anfangen soll, also spiele ich ihr den Ball zu. »Was willst Du denn wissen?«
»Erzähl mir von deinen Träumen, wenn sie so toll sind wie Du sagst.«
»Toll ist vielleicht das falsche Wort, gruselig und beängstigend trifft es da schon eher.«
»Dann eben die.« Sie klingt tatsächlich ernsthaft interessiert. Ich glaube, im falschen Film zu sein. Oder endlich im richtigen. »Ich muss gestehen, ich werde mich kurz sammeln müssen und überlegen, wo ich anfange. Gib mir bitte einen Moment. Magst Du mir so lange von deinen Träumen erzählen?«
»Kurz«, sagt sie, »und auch nur, damit Du überlegen kannst und einen Eindruck gewinnst, was später auf dich zukommt, wenn Du mich mit deiner Geschichte überzeugst. Es sind keine Träume, die ich habe, es sind eher Visionen. Sie umgeben mich, während ich schlafe, und ich kann sie sehen, auch sie sind eher beängstigend und gruselig und teilweise auch schon eingetreten.« Ich beobachte sie, während sie redet, lasse meine Ohren von ihre Stimme verwöhnen, meine Augen von ihrem Anblick. Sie ist keine dieser Frauen, die ins Fitnessstudio rennen, jede Kalorie zählen, etliche Euros beim Friseur lassen und ihr Gesicht unter einer Schicht Schminke verstecken. Sie sieht normal aus und genau das macht sie so hübsch. Dieser Kontrast der dunklen Augen zu dem blonden Haar ist einzigartig. Wenn sie mit offenem Mund lächelt, kann man die Spitzen ihrer Eckzähne erkennen, ein ganz leichter, kaum erkennbarer Vorderbiss lässt ihr Kinn zur Geltung kommen und gibt ihrem schönen Gesicht noch einiges an Charakter dazu. »Also«, sagt sie. »Geht‘s jetzt los?«, und reißt mich aus diesem Moment, in dem ich doch nur ihre Anwesenheit genossen habe. Wieder lächelt sie mich an, auffordernd, enthemmend, mich nach ihr süchtig werden lassend. »Ja, dann will ich mal«, sage ich und sehe sie an. Sie schaut zurück und mir direkt in die Augen, nicht kurz diesmal, sondern erwartungsvoll lang. Ich war zu keiner Sekunde in der Lage, mir Gedanken zu machen, was ich ihr erzählen soll. Wo anfangen, wo enden, welche Details sind wichtig, damit sie mir folgen kann? Ehrlichkeit. Die hat vor ein paar Minuten schon einmal geholfen. Hoffentlich kauft sie mir meine Ehrlichkeit ab. »Ich habe das wirklich noch niemals irgendwem erzählt. Nicht einmal meiner Mutter. Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll, ich habe wirklich einiges mit meinen Träumen erlebt. Du denkst jetzt bestimmt, ich druckse herum. Aber nein. Ich muss gerade viele Jahre durchdenken, den Anfang finden.« Sie sieht enttäuscht aus. Verdammt, Bastian, denk nach! Jetzt! Zeit. Irgendwie muss ich Zeit gewinnen. Zeit zum Denken. »Willst Du dieses Bier überhaupt trinken?« Enttäuscht schüttelt sie ihren Kopf. Senkt den Blick. »Okay«, sage ich, stottere ich. Auch das noch! »Was möchtest Du trinken? Ich hole es und dann geht es wirklich los. Versprochen! Wenn ich nach deinem ersten Schluck nicht angefangen habe, dann vergiss das hier einfach. Okay?«
»Ein Wasser.« Enttäuschung spricht aus ihr. Ich habe es kaum verstanden und sie hat ihren Kopf dabei keinen Millimeter bewegt.
»Lauf nicht weg! Bitte!«, bettele ich sie an und renne fast. So weit war der Tresen noch nie entfernt und noch nie so komplett voll mit Menschen. Verdammt!
»Was machst Du denn hier?«, faucht es mich von der Seite an. Mandy.
»Wasser«, ist alles, was ich stotternd herausbekomme. »Sie will ein Wasser.«
Mandy schaut mich an, ich kann sehen, wie ihre Gedanken rennen. »Alles klar«, sagt sie und nach einem letzten kontrollierenden Blick in meine Augen ruft sie über den Tresen: »Mach mal ein schnelles Wasser! Ist ein Notfall!«
Der Barmann nickt und in kürzester Zeit halte ich ein Glas Wasser in der Hand.
»Geht auf mich«, sagt Mandy.
»Danke!« Ich drehe mich um und will gehen. Mein Kopf ist leer. Oder voll? Oder beides? Ich habe keine Ahnung.
»Halt! Stopp! Komm noch mal her!«
Ich gehorche, wende mich ihr wieder zu.
»Dein Shirt, zieh es aus.«
»Was?« Verarscht sie mich jetzt? Für so etwas habe ich nun wirklich keine Zeit.
»Zieh es aus, dreh es auf links und zieh es wieder an. Vertrau mir!«
Natürlich. Ich verstehe, reiche ihr das Glas, um es zu halten, ziehe mir das Shirt über den Kopf und direkt wieder an.
»Besser!«, sagt sie, während ich mich wieder zum Gehen abwende.
Am Eingang zu Lounge sind zwei Stufen, fast verschütte ich das Wasser, weil ich sie auf einmal nehmen will. Sie sitzt noch da. Still, sich nicht rührend und sich für nichts interessierend. Natürlich habe ich vergessen, meine Gedanken zu sortieren. Jetzt ist es aus, bevor es überhaupt angefangen hat. Ich resigniere. Gehe ruhig zum Tisch und stelle das Wasser vor ihr ab. Noch während ich mich setze, nimmt sie das Glas und führt es zu ihrem Mund. Das Einzige, was mir einfällt, ist die allerkürzeste Version meiner Träume, die ich schon mein Leben lang habe, ich stottere auch hierbei, denn was nun kommt, ist eigentlich völliger Blödsinn: »Ich werde heimgesucht von einer Hexe und einer Hand. Schon immer, schon als Kind. Vorgestern waren sie auch da.« Gott, ist das peinlich. Was für einen Scheiß rede ich denn da? Ja, es ist die Wahrheit, aber ... Wie ein kleines Kind sich die Hände vors Gesicht hält, um nicht gesehen zu werden, hoffe ich, dass sie es zumindest nicht richtig verstanden hat. Sie stellt das Glas ab, schaut mich an, lächelt, grinst, versucht es zu unterdrücken, und schafft es nicht.
»Hast Du Mandy getroffen?«
»Ja«, antworte ich wahrheitsgemäß.
»Das sehe ich. Du hast es getan. Warum?«
»Es war logisch. Wer will schon beim ersten Date im Partnerlook herumlaufen.«
»Date?«
»Na ja, bislang wohl eher nicht.«
»Stimmt!« Ihr Grinsen ist verschwunden und sie sieht gelangweilt aus.
»Möchtest Du überhaupt noch etwas von meinen Träumen wissen, oder möchtest Du lieber gehen?« Ich glaube gerade, sie hat das von der Hexe und der Hand tatsächlich nicht gehört.
»Gibt es denn überhaupt etwas zu berichten?« Da war er, ein Unterton in ihrer Stimme, der mir sagt, dass sie gerade einfach nur noch von hier fortwill. Fort von mir, dem Versager, dem Schwätzer, dem Nicht-Mann. Ich bleibe ehrlich. Etwas anderes habe ich sowieso nicht zur Verfügung, und wenn ich damit nicht weiterkomme, dann war es wohl auch besser so. Scheiße! »Das gibt es, aber es ist viel. Viel zu viel. Und das hier ist eigentlich nicht die richtige Umgebung«, starte ich meinen letzten verzweifelten Versuch.
»So? Was wäre denn die richtige Umgebung?«
»Keine Bar. Draußen wäre es gut. Beim Gehen.«
»Draußen!? Beim Gehen!?«
»Das ist ein uralter Trick, um seine Gedanken zu ordnen. Ich glaube, sogar Aristoteles hat das schon so gemacht.« Ein zaghaftes Lächeln huscht über ihr Gesicht.
»Aristoteles hat also beim Gehen gedacht?«
»Ich habe davon gelesen. Ist lange her.«
»So etwas liest Du?«
»Klar, warum nicht?«
»Gut, Bastian. Gehen wir. Ich muss nur den Mädels Bescheid geben.« Sie holt ein Handy aus der Hosentasche und tippt eine Nachricht. Die Antwort scheint augenblicklich zu kommen. Sie tippt noch etwas und schaltet es direkt aus. Ich werde das Gefühl nicht los, gerade von Aristoteles gerettet worden zu sein.
Es ist der erste Freitag im August, vor der Tür empfängt uns eine der letzten warmen Sommernächte. Im Schein der Laternen gehen wir los. Einfach so aufs Geratewohl. Ich frage nicht, wo sie entlang laufen will und sie mich auch nicht.
»Lykeion«, sagt sie mit weicher Stimme und ich verstehe es nicht, schaue sie nur fragend an. »Die Schulen des Aristoteles. Sie waren als Gärten angelegt, in denen seine Schüler beim Gehen besser denken sollten. Er nannte sie Lykeion.«
»Jetzt habe ich es.« Unfassbarerweise klingt meine Stimme nun auch völlig ruhig und tiefenentspannt. Der Knoten in meinem Kopf ist geplatzt und ich sehe meine Traumgeschichte vor mir. Ich muss sie ihr nur noch erzählen. Ich warte nicht, bis sie fragt. Ich frage nicht, ob sie bereit ist. Ich fange einfach an.
* * *
Wieder einer dieser Abende in dieser Bar. Mandy, Sophia und Lena würden hier wohl am liebsten einziehen. Ich habe das noch nie verstanden. Sie lieben diesen Laden. Es ist eng, man stößt ab einer gewissen Uhrzeit ständig mit betrunkenen Menschen zusammen und ich möchte jedes Mal sofort unter die Dusche, wenn wir hier gewesen sind. Aber die Mädels sind gern hier und sie machen mir zuliebe alle paar Wochen einen Spieleabend bei mir zu Hause. Was sie allerdings nie machen, ist mich allein zu lassen. Sie schleifen mich überall mit hin, geben keine Ruhe und auch heute würde ich lieber im Schlafanzug auf dem Sofa liegen, ein Buch lesen, einen Film schauen oder zum tausendsten Mal auf einer dieser Datingseiten nach einem Mann suchen. Mandy kommt nach einer Ewigkeit von der Toilette zurück und sieht einigermaßen aufgewühlt aus. Ich werde nicht fragen müssen, was der Grund dafür ist. Sie wird es uns gleich sagen, ob wir es wissen wollen oder nicht. Und da geht es auch schon los: »Woohoo Mädels! Vier Männer nur für uns. Dieser Abend wird einer der besten überhaupt! Ich weiß es einfach!« Echt jetzt? Sie hat vier Kerle aufgetan? Das wird bestimmt ein Spaß, jedenfalls für die anderen drei. Ich trotte hinter ihnen her und versuche, nicht allzu lustlos zu wirken. Mandy schaut mich an. »Das wird dein Abend. Wirklich, Süße!«
»Das hast Du schon so oft gesagt, aber danke, dass Du dich bemühst und nicht aufgibst. Auch wenn ich dich heute bestimmt wieder enttäuschen werde.«
»Wirst Du nicht. Nicht heute!«
Ich lasse ihr die Freude und wir stellen uns an den Tresen. Mandy scheint sich zu freuen, als würden gleich der Weihnachtsmann und der Osterhase gleichzeitig kommen und uns für den Rest unseres Lebens in diese Bar einladen. Sie hebt eine Hand und winkt. Gott, wie peinlich ist das denn? Ich werde es ihr nicht sagen. Bei aller Euphorie und allem Überschwang denkt sie doch immer nur an mich, auch wenn ich es manchmal leid bin. Aber dafür liebe ich sie. Aus der Richtung, in die sie gewunken hat, sehe ich drei Männer kommen. Drei!? Gut für mich! Ach verdammt, da ist noch einer dahinter, und er trägt mein Shirt. Mandy, bitte! Echt jetzt? Wegen eines Shirts? Komm schon, das kann nicht dein Ernst sein? Sie kommen näher. Wenigstens ist er trotz seiner blonden Haare ganz ansehnlich. Mandy nimmt mir heute noch übel, dass ich einmal einen Mann abgelehnt habe, weil er ‚leider blond‘ war. Ich wusste mir damals einfach nicht zu helfen und habe irgendetwas gesagt. Seitdem ist sie nie wieder mit einem blonden Mann für mich angekommen. Dieses Shirt muss sie wohl völlig aus der Bahn geworfen haben. Er steht vor mir und sieht mich an. Nett, freundlich, keine Spur dieses Hübsche-Puppe-Gedankens in seinem Gesicht. Er sieht wirklich gut aus. Unspektakulär, aber gut. Seine Haare sind verdammt dicht. Ob er weiß, dass ihn alle Frauen darum beneiden? Ich darf ihn nicht so sehr mustern, schnell lächeln, nicken, wegschauen. Wenigstens hat er drei Gründe mitgebracht, die mir dabei helfen, mich von ihm abzuwenden.
»Schönes Shirt!«, höre ich. Natürlich von ihm. Eine angenehme Stimme hat er also auch. Ich bedanke mich mit einem weiteren Lächeln und »Dito!« Jetzt aber bloß wieder wegschauen. Dito? Etwas Besseres ist mir nicht eingefallen? Egal, Mandy ist ja Kummer mit mir gewohnt.
»Das sind Sophia, Lena und Kerstin, und das sind Ralf, Mirco, Jens und Bastian, wenn ich mich recht erinnere«, höre ich Mandy sagen. Bastian? Wo ist Fuchur? Nein, das ist nicht nett, das macht man nicht und außerdem ist es unfair. Sein Freund hat Bier geholt und verteilt es gönnerhaft.
»Ein Traum!«, sagt Bastian, als er das Glas nimmt. Mein Stichwort! Ich brauche nicht zu Mandy zu schauen, um ihren Gesichtsausdruck zu sehen. Sie ist die Einzige, der ich mich jemals anvertraut habe. Sie weiß, dass ich darauf anspringen und ihm wenigstens eine kleine Chance geben werde. Wenn er sie nutzen will, dann jetzt. »Ein großes Wort für ein so kleines Bier.« Ich ertappe mich dabei, mir zu wünschen, dass er richtig reagiert, und er tut es tatsächlich.
»Mit Träumen kenne ich mich aus. Ich darf das.«
Ich mag seine Stimme. Ich mag ihn reden hören. Gott, was geht denn hier vor? Nun gut, ganz so toll war seine Antwort jetzt doch nicht. Eine Chance bekommt er noch. »Was träumst Du denn so?«
Er überlegt. Zu lange. Tja, das war es dann wohl. Am Start die falsche Kurve genommen.
»Das würdest Du mir sowieso nicht glauben.«
Was? Wie bitte? Mandy, hilf mir! Wen hast Du da angeschleppt? Schnell! Ich muss schnell antworten. »Versuch es einfach! Vielleicht erzähle ich dir dann auch von meinen Träumen.« Sag jetzt das Richtige, Bastian, bitte sag das Richtige. Dann komme ich auch mit auf einen Flug mit deinem Drachen.
»So viel Zeit hast Du nicht, um dir das anzuhören.«
Bingo! Bastian, wer bist Du? Wo kommst Du her? Was hast Du erlebt? Erzähl mir alles. Erzähl mir alles mit deiner schönen Stimme. Jetzt gleich, ich will alles wissen. »Nun, es ist Freitag Abend. Genau genommen habe ich zwei Tage Zeit«, höre ich mich sagen. Das war ein Angebot. Ich habe ihm gerade ein Angebot gemacht. Zu allem Überfluss auch noch ein zweideutiges. Verdammt! Aus dieser Nummer komme ich nie wieder raus. Mandy!
»Na, dann sei dieses Wochenende mein Gast.«
Stille.
Was? Du lädst mich ein? Zu dir? Ich versuche, nicht zu sehr an seinen Lippen zu hängen. Lächeln ist gerade das Einzige, was ich noch hinbekomme. Alle scheinen sich vor seinem Vorstoß mindestens genauso erschrocken zu haben wie ich. Aber er scheint es ehrlich zu meinen. Noch immer ist kein Funke eines Abschleppinteresses in seinen Augen zu sehen. Kein Funke! Ich vertraue darauf und sage: »Das könnte wirklich interessant werden. Gerne«, und bereue es sofort wieder. Kind, was tust du denn da? Ein wildfremder Mann, geschickt darin, Frauen klar zu machen, und du fällst darauf rein. Ganz toll. Prima!
»Gehen wir in die Lounge? Da kannst Du entscheiden, ob es sich lohnt, dein Wochenende zu opfern.« Das war nun wirklich der Satz, der ihn glaubwürdig erscheinen lässt. Er gibt mir die Möglichkeit zum Rückzug. Das gab es wirklich noch nie. Sein Freund klopft ihm auf die Schulter und verabschiedet sich. Es sieht fast väterlich aus. Gleichzeitig drehen sich auch meine Mädels weg. Nein! Ich brauche euch! Mandy winkt mir mit ihrem Smartphone zu. Die Regel bei unbekannten Männern, wie war sie noch gleich? Jede Stunde einen Like-Daumen oder war es jede halbe Stunde? Ich weiß es nicht mehr. Es war bei mir noch nie nötig gewesen. Aber eines weiß ich noch. Beim ersten Daumen nach unten werden sie Himmel und Hölle in Bewegung setzen. Das ist sicher.
»Die Lounge?«, fragt er, als ich ihm mutterseelenallein gegenüber stehe. Nicken und Lächeln, mehr kann ich gerade nicht. Ziemlich schnell dreht er sich um und geht los. Ich folge ihm. Ich folge ihm! Ich gehe einem Mann hinterher in ... die Knutschecke. Nein! Bitte nicht das! Oh nein! Bastian, sei ein netter Kerl, bitte! Er steuert auf das hinterste Sofa zu. Gut, um ungestört reden zu können, gut, um ... ich will gar nicht daran denken.
Wir sitzen, er sieht etwas unsicher aus und fragt: »Was willst Du denn wissen?«
»Erzähl mir von deinen Träumen, wenn sie so toll sind wie Du sagst.«
»Toll ist vielleicht das falsche Wort, gruselig und beängstigend trifft es da schon eher.« Gruselig und beängstigend? Wer um alles in der Welt bist Du? »Dann eben die«, antworte ich und meine Neugier kennt keine Grenzen mehr.
»Ich muss gestehen, ich werde mich kurz sammeln müssen, überlegen, wo ich anfange. Gib mir bitte einen Moment. Magst Du mir so lange von deinen Träumen erzählen?«