Mattmanns Blues - Christian Koch - E-Book

Mattmanns Blues E-Book

Christian Koch

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Beschreibung

1990, Mattmann zieht aufs Land, krempelt sein Leben ein wenig um. Dort lernt er Charlotte kennen und lieben. Beide errichten sich eine gemeinsames Reich des Wohlfühlens und der Geborgenheit, aber alte seelische Wunden brechen in Mattmann wieder auf. Und dann passiert die Sache mit dem Martiniglas.

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Inhaltsverzeichnis

Mattmanns Blues

Ben

Donna Maria

Das Haus

1000 wilde Jahre

Charlotte

Angeschlagen

Tapetenwechsel

Das Bad

Fetisch und Dämon

Chérie Charlotte

Mattmanns Blues

Geh' ich mal zu Boden

oder geht es mir mal schlecht,

sag ich: Weiter Alter, bleib nicht zurück!

Stemm' die Fersen auf 's Parkett

und wart' nicht auf ein Wunder,

denn vom Warten wird man alt.

Ich will nicht der Mattmann sein, der im Abseits steht,

denn ich habe mein Leben nur einmal.

Und was man darin verliert, kehrt nie zurück.

In dunkler Nacht fliegt es davon

und war vielleicht ein ungebor'nes Glück.

Verlier' ich mal einen Freund,

der wirklich einer war,

wein' ich vielleicht und weiß auch warum.

Hast du keinen, der dich mag,

ist jeder Tag ein kalter Tag,

dein Gefühl erfriert, deine Stimme wird stumm.

Ich will nicht der Mattmann sein ….

Ben

»Hallo Ben.«

Mattmann liegt auf dem Rücken, hat die Augen geschlossen und wartet. Ben antwortet nie sofort. Nicht, dass er sich bitten läßt, aber Ben ist halt etwas eigen - ebenso wie Mattmann. Und deswegen kommen beide auch bestens miteinander aus. Ben ist weise und Mattmann weiß Bens Antworten zu schätzen.

Mattmann öffnet die Augen, starrt zur Decke, sieht diese schmutzige beige, verrauchte und verranzte Leimfarbe. Sein Blick bleibt an dem krummen Nagel hängen, neben dem ein Kabel herausragt. Eine Lüsterklemme, eine Fassung mit nackter Glühbirne dran. Neben ihm auf dem Tisch flackert eine Kerze in der Zugluft, die durch die alten Fenster streicht.

Da meldet sich Ben: »So spät am Abend? Ist es existenziell oder nur launisch?«

»Existenziell, wenn man das so sagen kann. Für mich zumindest.«

»Sprich.«

»Morgenstern ist tot. Seit gestern, ich habe es heute von der Thauerschen erfahren. Wahrscheinlich ging ihm alles an die Nieren, dort im Heim.«

»Ja, aber du lebst doch noch. Was ist da so existenziell? Morgenstern war alt.«

»Weil ich hier lebe, in seinem alten Haus. Weil er mir viel über sich erzählt hat, wie er hier gelebt hat. Weil ich denke, ich habe hier mein Reich gefunden. Und weil ich noch eine Menge von ihm wissen wollte, von der Zeit, als dieses hier noch sein Reich war.«

»Wenn du meinst, es ist jetzt dein Reich, dann musst du deine Erfahrung hier selbst machen. Diese Vergangenheit gehört dir nicht. Wolltest du etwas projezieren? Das funktioniert nicht. Weißt du, was existenziell für dich ist? Loslassen von Idealen oder jemanden kopieren zu wollen, auch wenn es nur teilweise ist. Du bist du. Nicht mehr und nicht weniger. Hier kannst du den Rest von dir finden, welchem du so vehement nachjagst. Indem du dich verwirklichst. Dich annimmst. Du wolltest doch hier her.«

Ben verstummt abrupt. Kein Laut, nicht das geringste Geräusch in den Ohren, welches auf Ben hindeuten könnte.

Mattmann lauscht angestrengt, aber er hört nur das Kratzen der Nadel über die ausgelaufene Vinyl von Pink Floyd, da sich der defekte Plattenspieler nicht mehr abstellt. Er lässt es über sich ergehen, dieses monotone Klacken, wenn die Nadel immer wieder in die letzte Runde der ablaufenden Rille gedrückt wird.

Ben ist nun mal wesensstärker als Mattmann und klüger und weiser und hat auch meistens recht. Meistens. Und deshalb läßt er Mattmann mit seinen Gedanken nun allein.

In der vierten Nacht nach seinem Einzug hörte er Ben das erste mal - plötzlich aus dem Nichts heraus, sozusagen. Mattmann lag auf seinem Feldbett und der Plattenspieler blieb wie immer schon lange in der letzten Rillenumdrehung hängen, im Lautsprecher knackste es. Mattmann dachte gerade an Donna und ob er mit ihr noch etwas geraderücken musste. Er schreckte hoch, als er Bens Stimme vernahm; sie war so laut und deutlich, dass er meinte, es sei jemand unbemerkt ins Haus gekommen. Nach einiger Irritation merkte er, dass die Stimme in seinem Kopf war.

»Du scheinst bei einer Neuordnung in deinem Leben nicht so richtig voranzukommen, kann das sein?« sagte diese innere Stimme.

Mattmann fixierte den krummen Nagel in der Decke, streckte die nackten Füße unter der Steppdecke hervor, so, wie er es immer macht, wenn er zu viel getrunken hat und den Drehwurm bekämpfen muss, aber nichts änderte sich. Rauschen in den Ohren, er schloß die Augen, schwarze Schlieren wie der krumme Deckennagel tanzten vor seinem Auge und dann sagte er laut in die Stille: »Zum Teufel, jetzt geht es los hier. Wer bist du?«

»Nenn' mich einfach Ben. Was bedrückt dich?«

»Es ist einsam hier. Ich brauche jemanden zum reden; eine Frau natürlich. Mit ihr im Bett sitzen, Rotwein trinken und erzählen; alles: Vergangenheit, Gegenwart, Träume, Wünsche, vermisste Erwartungen, Enttäuschungen, Fehler und Erfahrungen. Die Reife ausloten, sich belehren lassen, Fehler erkennen, Einsichten zulassen und sich gegenseitig in den Arm nehmen. Streicheln, trösten, Mut zusprechen, lachen, knutschen, Tränen abwischen, schweigen, sich tief in die Augen schauen und dabei sich und den anderen erkennen. Du hältst das für unmöglich?«

»Nein. Aber nicht jede Frau wird dein schmales Feldbett als komfortabel ansehen und die Romantik hier lässt auch noch ein wenig zu wünschen übrig. Na ja, wenigstens Kerzen hast du genug im Haus«

»Es gibt Frauen, die fahren auf so etwas ab - und so eine wünsche ich mir natürlich.«

»Fromme Wünsche. Außerdem grübelst du zu viel. War dir Donna denn nicht genug? Du bekommst sie doch nicht aus dem Kopf.«

»Das ist eine Geschichte, für die es mir im Moment zu anstrengend ist, sie auseinander zu klamüsern - können wir das ein anderes mal machen?«

»Gut, dann lass ich dich jetzt wieder allein. Wenn du magst, ruf mich einfach. Aber brüll nicht das ganze Dorf zusammen.«

Das Altersheim behagte dem alten Morgenstern nicht. Gerade einmal fünf Wochen hielt er es dort aus, nun hat er die Endstation erreicht. Er konnte ohne sein Reich, welches nun Mattmanns war, nicht mehr glücklich sein.

Donna Maria

Als sie sich das erste mal vor ihm die Hosen auszog - ihr dunkelbraunes Haar fiel ihr dabei ins Gesicht und ihre schmalen Hände schoben mit dem Daumen die engen Jeans über ihre Hüften abwärts - schaute er ihr gebannt zu, während er sich selbst die Hose aufknöpfte. Sie stand hinter dem Sessel, in welchem sie sich zuvor geküsst hatten, und er vor dem Sofa. Plötzlich war eine stille Übereinkunft eingetreten. Es war an der Zeit. Ihr Schamhaar schimmerte brünettrötlich im Sonnenlicht, denn es war mittags, so zwischen zwölf und halb eins. Er hatte ihr Schamhaar dunkler vermutet, so wie ihr Haupthaar und ihm fiel trotz der prickelnden Situation ein Satz von Max Frisch ein: 'Du sollst dir kein Bildnis machen'. Später, in ihrer gemeinsamen Beziehung, fiel ihm dieser Satz immer wieder mal ein; dann, wenn er seine Fehler erkannt hatte und wirklich bereit war, sie einzusehen. Er hatte sich des öfteren an der Realität vorbei ein Bildnis gemacht.

Dann saß er auf dem Sofa und Donna setzte sich rittlings auf ihn und fing an, sich schnell zu bewegen. Das gefiel ihm gar nicht. Seine Hände drückten beidseitig von hinten ihre Schultern ein wenig nach unten und stoppten ihren schnellen Rhythmus. So hatte er sie nun in ruhigem und angenehmen Tempo in seinen Armen. Einige Jahre später, als sie ihn fragte, wie er dieses erste mal miteinander empfunden hatte, sagte er ehrlich heraus: »Scheiße. Du hast so gerattert.«

Donna war von Anfang an nicht begeistert von seinem Vorhaben, seine sichere Anstellung aufzugeben und sich als Schreiberling selbständig zu machen. Mattmann aber wollte nicht länger als Kulturfuzzi unter Vorgesetzten arbeiten, die von Kultur eigentlich keine Ahnung hatten, da sie ihren Posten der Partei verdankten. Eigentlich hätte Mattmann den Posten des Leiters einer kulturellen Einrichtung ohne Parteibuch, ohne DSF- und FDGB - Mitgliedschaft nie bekommen, wenn nicht ein mit ihm sympathisierendes Ratsmitglied, deren Sohn Saxophonist war, die Kaderbefugten überzeugt hätte. Mattmann wollte nun aber frei sein und die Zeichen der Zeit standen irgendwie schon auf Freiheit. Mattmann schrieb Texte für Rockbands und eigene Lieder, nebenher noch ein wenig für die örtliche Zeitung. Er meinte, damit über die Runden kommen zu können.

»Lebenskünstler kannst du ja werden, aber ohne mich«, war Donnas trockener Kommentar. Donna wollte rüber, rüber in den Westen. Ihre Verwandtschaft lockte ständig damit, sie irgendwie rüberzuholen. Mattmann glaubte an die kommende Freiheit und wollte sich nicht in Ungewissheiten stürzen. Die Kluft der Zukunftsvisionen zwischen Donna und ihm wurde immer größer. Dann knallte eines Abends das schwere geschliffene Quarzkristall-Whiskyglas an die Wohnzimmerwand, sodass an der Einschlagstelle der Putz abfiel. Mattmann beschloß daraufhin, sein eigenes Leben unabhängig von Donna zu gestalten. Er kaufte sich im Sportgeschäft eine Campingliege und zog zum Entsetzen seiner Vorgesetzten in sein Büro. Da aber kein Weg zu einer eigenen Wohnung führte, ließ man ihn gewähren.

Donna zeigte sich von ihrer harten Seite. Nachdem Mattmann seine Habseligkeiten abgeholt hatte, war auch der Kontakt unterbrochen. Ein jeder wollte nicht nachgeben und in Mattmann saß die Enttäuschung zu tief; so viel hatten sie sich vorgenommen und dann wurde er ausgebootet - so empfand er es zumindest. Jeder wollte die Zeichen der Zeit in anderer Sichtweise für sich nutzen, die Gemeinsamkeiten schwanden dahin. Als sie noch ein Herz und eine Seele waren und ihre konträren Meinungen im Rahmen der Ästhetik des Streitens aufeinander prallen ließen, ging Mattmann vorher, wenn die Luft im Zimmer einen diskussionsreichen Abend ankündigte, in das beste Restaurant der Kleinstadt, um eine Flasche Burgkrone zu holen. Im Foyer dort war die Tür zur Küche und dem Kellnertresen stets mit einem sogenannten Sturmhaken auf Durchzug gestellt. Mattmann fasste nach innen, löste den Haken und stellte sich vor den Kellnertresen. Man kannte ihn dort, er trank schnell einen halben Liter Bier und kaufte eine Flasche zum Ladenpreis von 27 Ostmark. Donna und Mattmann saßen dann am Rauchertischchen ihres Großvaters und verteidigten ihre Ansichten zuerst sehr stoisch, bis sich eine gemeinsame Sichtweise einstellte und der Abend doch noch gerettet war. Manchmal kam es aber auch vor, dass kein gemeinsamer Nenner gefunden werden konnte. Dann sagte Donna zu ihm: »Du bist so ein Arschloch«, stand auf, ging zur Toilette und legte sich danach ins Bett. Das Bett aber war die Klappcouch neben dem Rauchertischchen und Mattmann saß noch dort und grübelte. Donna legte sich auf ihr Kopfkissen, davon hatten sie sogar zwei, und zog sich die gemeinsame Decke über die Ohren, das Gesicht ihm abgewandt. Wenn Mattmann unter die Decke kroch, drehte sich Donna demonstrativ um, zog ihre Beine an und schlief wie ein kleines Kind ein. Die Nacht verbrachten beide stur Arsch an Arsch. Am Morgen rappelten sich beide unter der Decke, blinzelten und schauten sich in die Augen. Das nächtliche Nachdenken und die Erkenntnis über die Wertigkeit des anderen hatte Früchte getragen. Vereint wie ein Wesen und ihre Körper genießend, begannen sie in sanften Wellen den neuen Tag. Die leere Flasche Burgkrone war der einzige Zeuge ihrer momentanen Missverständnisse.

Nach fast einem viertel Jahr klingelte am Vormittag in Mattmanns Büro das Telefon. Es war Donna.

»Ich komme heute Abend mal vorbei, hast du Zeit?«

Mattmann war irritiert und stammelte: »Ja, na klar doch.«

»Gut, um sieben bin ich da.«

Mattmann ging in den Konsum und kaufte eine Flasche Wermutwein der Marke Miramaro. Sie saßen beide am Tisch in seinem Büro, daneben stand das Feldbett, die Bettdecke säuberlich zugeschlagen. Donna wollte sich von Mattman verabschieden, rüber in den Westen. Bald war die Flasche Wermut fast leer, Mattmann setzte sich auf das Feldbett und sagte: »Komm, setzt dich zu mir.«

Zuerst saßen beide nur so da, auf der Bettkante und hielten sich im Arm. Dann kamen die Küsse, die Fummelei an den Jeans und ihre Nacktheit auf dem Feldbett. Die Straßenlaterne leuchtete durch das Fenster und Mattmann bemerkte Donnas rötlich schimmerndes Schamhaar wie damals beim ersten Mal.

»Das ist jetzt nur für uns beide«, sagte Donna zu ihm und Mattmann fragte sich im Geiste: Na, für wen denn sonst?

Anfangs glaubte Mattmann doch noch an eine Versöhnung, schlug sich diese dann aber nach gut drei Wochen aus dem Kopf. Er holte seinen alten Schreibtisch, den Schreibtischstuhl und den dazugehörenden Bücherschrank ab und stellte die Möbel im Schuppen bei einem Bekannten unter. Eine ehemalige Freundin in einem Ort in der Nähe gewährte ihm in einem ihrer Zimmer Asyl und Mattmann konnte sein Feldbett im Büro zusammenklappen. Sein Vorhaben nahm Gestalt an, er hielt Ausschau nach einem Domizil auf dem Lande. Nicht, weil er sich verkriechen wollte, sondern weil er frei sein wollte.

Das Haus

Das Haus steht etwas abseits vom Dorf und keiner wollte es haben. Trotz des Telefonanschlusses. Mattmann hätte es auch ohne Telefon genommen. Der Anschluß war nur möglich gewesen, weil ungefähr zwei Kilometer weiter im Wald das Forsthaus steht und die Telefonleitung genau diesen Sandweg entlang führt. Der Ort endet schon anderthalb Kilometer vor dem Haus. Rechterhand vom Sandweg ist ein Kiefernhochwald und links Heiderkraut; dazwischen stehen vereinzelte Krüppelkiefern und kurz vor dem Haus hat sich ein kleines Eichenwäldchen angesiedelt. Dann sieht man gleich den alten Staketenzaun, der sich um das ganze Anwesen zieht. Den Staketenzaun hat der alte Morgenstern selbst angefertigt und gesetzt, damals, als er noch bei der Forst gearbeitet hat. Das ist nun schon lange her und jetzt ist er ins Altersheim gezogen, nachdem Mattmann ihm das Haus abgekauft hatte.

Das Haus wollte, wie gesagt, keiner haben, denn für jene Leute, die die Zeitungen nach solch abgelegen Grundstücken abgrasen, war es erstens zu klein und zum anderen musste zu viel daran getan werden. Mattmann fiel die Verkaufsannonce erst auf, als sie bereits das zweite Mal erschien. Da fuhr er hinaus zum alten Morgenstern und überlegte nicht lange, als er das Anwesen zu Gesicht bekam. Etwa so hatte er es sich immer vorgestellt, das Reich, in welchem er sich wohlfühlen könnte.

Es war gerade Mai im Jahr 1989 und der riesige Apfelbaum hinter dem Haus stand noch in voller Blüte. Das mag mit zu Mattmanns Entscheidung beigetragen haben. Mattmann stieg also aus; oder besser gesagt, um. Er stieg vom D-Zug in den Bummelzug. Das sind so seine Ansichten. Das Leben ist ja wie eine Zugfahrt. Das letzte Ziel ist allgemein bekannt, aber die Zwischenstationen, welche die Fahrt zum Abenteuer werden lassen, nicht. Im D-Zug ist man Sklave der Geschwindigkeit, der Hektik und viele Stationen werden nicht angefahren. Dafür hat man natürlich den Luxus eines Mitropa-Abteils mit Radeberger Bier. Und eine Erste Klasse zum Reisen gibt es obendrein. Im Bummelzug gibt es ein abenteuerliches Durcheinander, keine Station wird ausgelassen, die Struktur der Mitreisenden ändert sich stetig; manchmal findet auch ein Halt auf freier Strecke statt. Mattmann liebt das Abenteuer.

Der alte Morgenstern wohnte über den nächsten Winter noch im Haus und Mitte März zog dann Mattmann ein. Die Zeiten standen mitten in der Wende und einiges, was sich Mattmann vorgestellt hatte, ließ sich nun nicht mehr so realisieren. Diese neuen Herausforderungen brachten Mattmann ein wenig aus der Bahn, aber er wollte sein Projekt nicht aufgeben - jetzt erst recht nicht.

Bei einer nochmaligen Inspektion des Hauses, nachdem der alte Morgenstern ausgezogen war, beschließt Mattmann, zunächst das Zimmer linkerhand vom Flur mit den Fenstern zum Sandweg zu beziehen. Dieser Raum musste baulich nicht verändert werden und war auch gut zu erreichen, ohne sich allzuviel Baudreck herein zu schleppen. Rechterhand vom Flur gibt es zwei Zimmer, geradezu ist die Küche und von der Küche aus ist links ein Abstellraum erreichbar. Außerdem führt aus der Küche eine Tür durch eine winzige Holzverranda auf den Hof, über den man in das angrenzende Stallgebäude gehen kann. Zwischen Abstellraum und Mattmanns auserwähltem Zimmer ist ein kleiner Raum mit Toilette und Waschbecken. Die beiden Räume auf der rechten Seite des Hauses wird er zu einem umbauen und auch einen Durchgang zur Küche herstellen. Für ein Bad hat er auch schon eine Idee im Kopf. Er wird die Wand zur Abstellkammer herausnehmen und dort ein Badebecken in den Fußboden setzen, so, wie die Römer es hatten. Eine vernünftige Heizmöglichkeit muss her, dann können die Öfen abgerissen werden, einer im Wohnraum soll aber bleiben.

Mattmann spricht bei der Sparkasse vor und beantragt einen Kredit. Obwohl er zum Anfang des Jahres seine Anstellung aufgegeben hat und nun selbständig arbeitet, gewährt man ihm eine Summe, mit der er seine Vorhaben, selbstverständlich mit viel Eigenleistung, umsetzen kann.

Genau zwei Jahre gibt sich Mattmann für sein Vorhaben, das Haus nach seinen Ideen herzurichten. Dann wird er vierzig Jahre alt. Er weiß, dass dieser Zeitraum eng gesetzt ist, aber er möchte sich nicht treiben lassen.

Den ersten Tag verbringt er damit, den Stall zu inspizieren. Hier sind noch Gartengeräte und einiges Werkzeug, sogar eine Werkbank steht in einem der Räume. Von Tieren wie Hühnern oder Kaninchen ist keine Spur. Da sind noch Kohlen und jede Menge gespaltenes Holz, ein Gartentisch und vier Gartenstühle aus Metall mit Holzlatten, die man zusammenklappen kann. Im Abstellraum findet er noch Besen, Handfeger, Eimer und einen Schrubber. Mattmann fegt die Küche und sein Zimmer, den Flur und die kleine Toilette, nimmt die Asche aus dem Kohleherd in der Küche und auch aus dem Dauerbrandofen in seinem Zimmer. Dann schleppt er den Gartentisch und zwei Stühle in die Küche, wischt alles sauber, holt sich einen Leinenbeutel mit Bierflaschen aus dem Auto und setzte sich an den Tisch. Das Bier beflügelt seine Gedanken, derweile er sich eine Einkaufsliste zusammenstellt. Es ist Nachmittag und Mattmann stellt mit Erschrecken fest, dass außer in der Toilette und auf dem Flur nirgendwo eine Lampe vorhanden ist. Warum haben die nur bei der Entrümpelung des Hauses auch alle Lampen abgeklemmt? Er geht in die Werkstatt und kramt in dem alten Schrank an der hinteren Wand. Hier wird er fündig: Zwei alte Keramikfassungen mit einem kurzen Stück Kabel daran und einer Lüsterklemme. Sogar Glühbirnen liegen dort. Er steigt auf einen Gartenstuhl und klemmt eine Fassung in der Küche an, schraubt eine Glühbirne ein und betätigt den Lichtschalter - siehe da, es ward Licht. Im Kühlschrank, welchen ihn der alte Morgenstern überlassen hatte, hat Mattmann Butter, ein Glas Leberwurst und eine Jagdwurst im Kunstdarm deponiert. Im Leinenbeutel am Haken der Tür zum Abstellraum ist ein halbes Konsumbrot. Mattmann weiß, dass in dem alten Küchenschrank mit den Glastüren in einem Schubfach noch einige Bestecke mit Aluminiumgriff liegen. Das Abendbrot ist gerettet, denn Mattmann verspürt wenig Lust, noch an diesem Tag einkaufen zu fahren.

Er geht zum Telefon, das auf dem Fußboden im ehemaligen Wohnzimmer steht und hebt den Hörer ab; es ertönt ein Freizeichen. Mattmann hatte Morgenstern gebeten, den Anschluß nicht abzumelden, er wollte ihn ummelden. Und da nun alle Zeichen auf Freiheit und Kommunikation gesetzt waren, meinte er, dass dieses keine Umstände machen würde. Er benötigt den Anschluß, um seine Kontakte aufrecht zu erhalten, die er mit Gaststätten, Kulturhäusern und anderen Veranstaltern geknüpft hatte, um Bands und Unterhaltungskünstler zu vermitteln. Von der Schreiberei allein kann er nicht leben, das ist ihm klar. Als er Donna im letzten Jahr offerierte, sich auch noch damit zu beschäftigen, verweigerte sie ihm ihren Telefonanschluß für diese Zwecke. Nun aber ist Mattmann wieder ein kleines Stück unabhängiger.

In der beginnenden Dämmerung bemerkt Mattmann, wie frisch es in der Küche geworden ist, schließlich wurde das Haus einige Wochen nicht beheizt. Er geht in den Stall, holt einen Korb voll gespaltenem Holz und heizt den Kohleherd an. Schon nach kurzer Zeit verstrahlen die Gusseisenplatten des Herdes milde Wärme, die nach verbranntem Staub riecht. Mittlerweile ist es dunkel geworden, Mattmann holt das zusammengeklappte Feldbett aus dem Auto, das er auf den Hof gefahren hat und stellt es an der Wand zum Abstellraum auf. Eine Decke gegen die aufsteigende Kälte vom gefliesten Fußboden legt er darüber, ein Sofakissen mit blauem Bezug und eine Steppdecke - das ist sein Nachtlager. Er legt Holz nach, zündet zwei Kerzen an, die er mit heißem Wachs jeweils auf einem Deckel von Einweckgläsern aus dem Abstellraum befestigt hat und löscht das elektrische Licht. Dann holt er seine Gitarre aus dem Auto; inzwischen ist der Mond aufgegangen und leuchtet ein wenig orangegelb am Südhimmel über dem Hof. Mattmann schließt die Eingangstür und auch die Tür zum Hof ab; er fühlt sich doch ein wenig unsicher hier in der Abgeschiedenheit. Nun ist er allein, allein in seinem neuen Reich, allein mit seiner angenarbten Seele, seinen Gedanken, Erinnerungen und seinen Träumen. Es gilt nun einzig und allein, seine Träume zu verwirklichen. Kein Zurück, sondern stadi sein. Was auch immer dieses Wort bedeutet, er hat es von seinen Eltern; er sollte stadi sein, wenn er krank war, stadi sein in der Schule und beim Studium, stadi sein in zwischenmenschlichen abgründigen Situationen - stadi sein heißt durchhalten. Mattmann ist sich seiner Lage sehr gut bewußt, allerdings ist er manchmal auch ein zu großer Tagträumer und läßt manche Situationen mit halsbrecherischer Leichtigkeit auf sich zukommen. Aber er liebt auch die Herausforderung. Nun weiß er, es gilt nur eines: Stadi sein.