Mau Loa 'Ohana - Michael Bulling - E-Book

Mau Loa 'Ohana E-Book

Michael Bulling

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Beschreibung

Der 12-jährige Johannes reist seinem Vater, dem schwerreichen Hotelmagnaten, ständig hinterher. Sei es nach Singapur, New York, Jakarta, Tokyo oder Vancouver. Für ein paar Wochen oder gar Monate wohnt er dann meist allein in Hotels. Seinen Vater sieht er dabei kaum. Nun führt ihn seine Reise in die bezaubernde Welt des vulkanischen Südseeparadieses Hawaii. Dort ist alles irgendwie ganz anders.

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Seitenzahl: 422

Veröffentlichungsjahr: 2016

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‘O ka ho‘omanawanui, ‘o ke akahai, ‘o ia ka mea ei hiki pono ai.

Geduld und Sanftmut sind die Dinge, die alles gut werden lassen.

(Sprichwort aus Hawai‘i)

Obwohl teilweise von wahren Begebenheiten inspiriert, sind Handlungen, Dialoge und Personen, sowie deren Reaktionen frei erfunden.

Aus der Reihe

„Vom Erwachsenwerden und Anderssein“

Kapitelübersicht

E komo mai

Kama‘aina-Style

Manoa Falls

Aloha Swap Meet

Hau‘oli la hanau

Kapi‘olani Park

Hawanawana Moana Hotel

Kumu Hula Alika

Ambassador Lu‘au

Kaho‘okaulana

Kamehameha Schools

Ha‘awina O Ke Hula

Wai‘ale‘ale

Noho Paipai

Lumaha‘i Beach

‘Au‘au mit Honu

Hana Hou!

Mo‘opuna Ka Uluwehi

Waimea Valley

Pilikia im Hawanawana

Kipa hou mai

Mahalo nui loa – Danke schön!

Na Puke Hua Mele – Liederbuch

Hua Mele – Ku‘u Ipo I Ka He‘e Pu ‘e One

Liedtext - Ku‘u Ipo I Ka He‘e Pu‘e One

Hua Mele – Noho Paipai

Liedtext – Noho Paipai

Hua Mele - Maika‘i Kaua‘i Hemolele I Ka Malie

Liedtext - Maika‘i Kaua‘i Hemolele I Ka Malie

Hua Mele - He Mele Inoa O Kalakaua

Liedtext - He Mele Inoa O Kalakaua

Text – E Ho Mai (Gebet)

Na Puke Wehewehe ‘Olelo – Wörterbuch

E komo mai

Eigentlich soll ich Papa am Flughafen treffen, aber wieder einmal ist ihm ein Geschäftstermin dazwischengekommen. So sagt es zumindest die SMS, die mich soeben auf meinem Handy erreicht hat. Also warte ich wie angekündigt auf seine Assistentin Heidi, damit sie mich hier aufliest und dann ins Hotel verfrachtet. Vermutlich wieder so ein nobler 5-Sterne-Schuppen, der zu Papas Konzern gehört. So lief es bisher immer - in Dubai, Singapur, New York, Phoenix, Jakarta, Peking, Tokyo, London, Moskau, Vancouver und noch vielen anderen Orten auf der Welt. Papa arbeitet den ganzen Tag und ich sitze wahrscheinlich wieder ganz allein im Hotel.

Tolle Aussichten! Dabei hat er versprochen, dass es dieses Mal anders wird. Er würde sich Zeit für mich nehmen – ganze zwölf Wochen lang, bevor es für uns beide dann weiter nach Melbourne gehen soll.

Ich hätte es eigentlich besser wissen müssen!

Um halb sieben soll ich seine Assistentin treffen. Ich sehe auf meine Uhr – erst kurz vor sechs Uhr abends und die Luft hier ist noch angenehm warm. Ganz anders als in Vancouver, meiner letzten Station. Dort wäre es jetzt schon kalt, zumal wir erst Mitte April haben. Gut, dass ich meine Zip-off-Hose angezogen habe. So kann ich mich jetzt wenigstens an die Temperaturen hier anpassen. Als ich vor gerade einmal 40 Minuten noch im Flieger saß, war es draußen noch relativ hell – jetzt wird der Flughafen von einem Lichtermeer erhellt.

Das Flughafengebäude ist irgendwie anders, als ich es erwartet hätte und ich habe durch Papas Job schon so viele gesehen. Es hat ein Flachdach, weite Flure und an den Wänden sind tolle Gemälde von herrlichen Landschaften und Tänzern in seltsamen Gewändern. Man könnte glatt meinen, es handelt sich um eine Kunstgalerie und nicht um einen Flughafen. Überall sind kleine Sitzgruppen mit grünen Pflanzen, die ich teilweise noch nie gesehen habe, und man kann bequem nach draußen schauen.

Trotz der vielen Flugzeuge scheint hier irgendwie kein Stress aufzukommen. Die Menschen – ja sogar die Sicherheitsleute – wirken völlig entspannt. Und die meisten tragen dabei lustige Hemden mit bunten Blumenmustern. Definitiv der falsche Ort für Papa. Der ist immer korrekt mit Zweiteiler und Krawatte unterwegs, sogar im Urlaub. Aber vielleicht ist das ja so, weil morgen Samstag ist.

Ich sitze auf einer schicken Holzbank vor der Statue eines Ruderers. Er kniet auf einem Bein in seinem Kanu – denke mal, dass das hier auch so heißt – und paddelt durch die Wogen. Wasser habe ich beim Anflug eine Menge sehen können. Ist ja auch verständlich: Hawai‘i ist schließlich eine Inselgruppe mitten im Pazifik.

Beim Anflug auf den internationalen Flughafen von Honolulu auf der Insel O‘ahu habe ich schon ein bisschen von der Insel sehen können. Blaues Meer, Sandstrände, bergiger Urwald. Irgendwie richtig cool hier. Habe gelesen, dass die Inseln vulkanischen Ursprungs sind.

Die Einheimischen glauben, dass die Feuergöttin Pele all das erschaffen hat. Sie wohne noch immer im Halema‘uma‘u, einem Krater des Kilauea an den Flanken von Mauna Loa und Mauna Kea auf der Hauptinsel Hawai‘i. Die Insel wird auch Big Island genannt. Von dort aus erschafft sie auch heutzutage neues Land für ihre Wahlheimat.

Es ist jetzt kurz vor sieben. Von der Assistentin ist noch immer nichts zu sehen. Mittlerweile bin ich ziemlich hungrig. Das Essen an Bord war nicht so mein Fall. Also schnappe ich mir meine zwei Koffer und den Rucksack und laufe zur Burger King-Filiale, an der ich vorhin vorbeigegangen bin. Immerhin müsste ich auch im Inselparadies nicht auf meine geliebten Burger und Fritten verzichten müssen.

Plötzlich packt mich jemand an der Schulter! Mit dem Tablett in der Hand drehe ich mich um und schmeiße dabei fast mein Getränk um. Vor mir steht eine junge kräftige Frau mit langen dunklen Haaren in einem schicken Blumenkleid, das ihr vom Hals bis kurz über die Knöchel reicht. Sie lächelt freundlich, was ihre Grübchen um die dicke Nase noch mehr zur Geltung kommen lässt. In ihrer linken Hand hält sie ein leicht zerknittertes Foto.

„Hallo, bist du Keoni?“

Ich muss wohl ziemlich verwirrt schauen. Sie zeigt auf das Foto in ihrer Linken.

„Bist du Keoni? Ich meine Djohennes?“

Ich nicke nur stumm. Ihre Aussprache meines Namens klingt lustig. Aber das bin ich schon gewohnt. In den letzten Jahren habe ich die unterschiedlichsten Formen zu hören bekommen. Die meisten haben sich irgendwann auf Jo beschränkt.

Was auch ok war.

„Hallo Keoni. Ich bin Ulani. Dein Vater schickt mich, dich abzuholen. Habe dich in der letzten halben Stunde fast überall gesucht und auf deinem Handy angerufen. Ich hoffe, mit dem Zoll und der Einwanderung hat alles soweit funktioniert? Er meinte, wenn ich dich nicht finden könne, soll ich es beim Burger King versuchen.“

Holt sie eigentlich auch mal Luft beim Reden?

Und wieso eigentlich Keoni?

„Ähm ja, alles bestens. Guten Abend, ich bin Johannes Ferber. Es freut mich sehr, Sie kennenzulernen, Ma‘am. Bitte entschuldigen Sie die Umstände, ich habe mein Handy nicht gehört. Eigentlich hatte ich auch mit seiner Assistentin Heidi gerechnet.“

Etwas unsicher sehe ich mich um.

„Wie ist Ihr Name bitte nochmal?“

Sie nimmt meine Koffer und lächelt mich an.

„Heidi ist mit deinem Vater noch geschäftlich unterwegs. Mein Name ist Ulani. Das bedeutet die Fröhliche in der Sprache meiner Vorfahren. Sag ruhig du zu mir.“

Der Name ist gut getroffen, fröhlich wirkt sie in der Tat und sie holt definitiv keine Luft.

„Auf jeden Fall lass das Ma‘am weg!“

Während ich esse - ich biete ihr mehrfach vergeblich etwas an – erzählt sie mir ein bisschen, was heute noch auf mich zukommen wird.

„Draußen wartet ein Wagen auf uns. Der fährt uns dann ins Nu‘uanu Valley. Dort hat Mr. Ferber dich in unser kleines Haus eingemietet. Es ist wirklich toll oben in den Bergen. Fernab von den Touristen und mitten in der wunderschönen Natur. Er wird dich allerdings erst morgen sehen können und lässt dich deshalb lieb grüßen.“

Warum auch sollte man seinen einzigen Sohn nach mehrstündigem, anstrengendem Flug und vier Wochen Abwesenheit sofort begrüßen?

Bin aber kein Geschäftstermin, also...

Etwas enttäuscht schiebe ich das Tablett von mir und wische mir die restlichen Speisereste aus den Mundwinkeln. Ulani beginnt sofort, das Tablett wegzuräumen. Dann nimmt sie sich, obwohl ich protestiere, wieder meine schweren Koffer und schiebt sie Richtung Ausgang. Immerhin darf ich meinen Rucksack selbst tragen.

Über der Glastür steht in großen Buchstaben:

Aloha! Welcome to Hawai‘i

Vielen Dank.

Vor der Tür wartet tatsächlich schon ein Wagen im leichten Abendregen. Ein schwarzer SUV mit getönten Scheiben. Typisch Papa! In der Natur leben und dann so eine Dreckschleuder fahren. Trotzdem steige ich ein. Am Rückspiegel hängt eine Kette aus rosa Blüten. Mein Gepäck legt Ulani in den großen Kofferraum, dann setzt sie sich ans Steuer des Monstrums und fährt durch die hell erleuchteten Straßen der Inselmetropole.

Was vorhin beim Anflug noch nicht so deutlich war, ist jetzt zu erkennen: Honolulu leuchtet hell!

Im Vorbeifahren kann ich hier und da Hotels und Tankstellen, Supermärkte und Wohnhäuser entdecken. So richtig konzentriere ich mich nicht auf die Strecke, viel zu berauschend sind die Eindrücke der vorüberfliegenden Straßen. Ulani könnte sonstwo mit mir hinfahren, ich würde es nicht einmal merken.

Aber das wird schon nicht passieren.

Nach einer knappen halben Stunde sind wir in den Bergen angekommen und verlassen den Pali-Highway, um in den Nuuanu Pali Drive abzubiegen. Sie fährt nun etwas langsamer, so dass ich die Straßennamen lesen kann. Kurz darauf biegen wir zweimal rechts ab, bevor wir im Kaohinani Drive durch eine Einfahrt fahren. Erst einige Meter weiter oben kommt der Wagen dann zum Halten. Ulani öffnet die Autotür. Was sich meinen müden Augen im Halbdunkel bietet, ist kaum beschreibbar.

Umgeben von Palmen und Büschen, selbst teilweise so hoch wie Häuser, steht das kleine Haus, naja eigentlich eher eine Villa. Sie thront auf einer kleinen Anhöhe, besteht aus zwei Gebäudeteilen und hat zwei Stockwerke. Auch scheint sie nahezu komplett aus Holz zu sein. Hinter dem Haus ist noch die Silhouette einer Bergkette zu sehen, für Details ist es allerdings zu dunkel.

Der geschotterte Weg führt um das gesamte Haus herum. Überall fantastisch duftende Pflanzen, als hätte man das Haus einfach nur mittendrin abgesetzt. Ich stehe vor einer Art Farn, der meine 149 Zentimeter um einiges überragt. An seiner Spitze sind die gleichen rosa Blüten wie im Auto von Ulani. Bei der Größe muss es eine spezielle Züchtung sein! Das Rauschen eines Flusses ist zu hören und erinnert mich daran, dass ich zur Toilette sollte.

Vor der Tür haben sich die Bewohner des Hauses versammelt. Mit einem letzten Fünkchen Hoffnung versuche ich meinen Papa zu erspähen. Aber Ulani hat Recht – er ist natürlich nicht da. Ein älterer Mann, der sicherlich an die 190 Zentimeter groß und mindestens 120 Kilo schwer ist, kommt mit einem freundlichen Lächeln auf mich zugelaufen. Er trägt etwas in seiner Hand.

„Aloha! E komo mai! Herzlich Willkommen im Nu‘uanu Valley, junger Keoni. Mein Name ist Kenai und ich kümmere mich um nahezu alles, was hier im und ums Haus anfällt. Und ich bin der hiesige Sicherheitschef deines Vaters. Er hat verlangt, dass wir auf dich achten.“

Ich kenne nur einen Kenai – den Indianerjungen und Bären aus dem Disneystreifen Bärenbrüder. Wie ein großer Bär wirkt er allerdings.

Ich muss unvermittelt grinsen.

Dann legt er mir eine Kette aus runden, braunen Kugeln um den Hals und drückt seine Stirn und Nase an meine. Dass er dafür in die Knie gehen muss, scheint ihn überhaupt nicht zu stören. Ulani und zwei andere Frauen kommen nun auf mich zu.

Ich bekomme drei Blumenketten umgelegt und dufte nun wie eine ganze Packung Lufterfrischer im Auto.

„E komo mai!“

Die beiden Frauen drücken ebenfalls ihre Stirn und Nase an meine und nehmen mich in den Arm. Das nennt man einen Honi, habe ich im Reiseführer gelesen. Sie stellen sich als Leilani und Hokulani vor. Gemeinsam kümmern sie sich um die Küche. Das klingt schon mal gut, die beiden sehen nicht so aus, als müsste ich hier Hunger leiden.

Leilani hat ihre schwarzen Haare zu einem langen Zopf nach hinten gebunden, während die bereits etwas ergraute Hokulani wie eine gemütliche Großmutter wirkt.

„Nach so einer anstrengenden Reise bist du doch sicher hungrig, junger Keoni. Komm, wir haben eine Kleinigkeit in der Küche für dich vorbereitet.“

„Danke, Ma‘am.“

Ich traue mich nicht zu widersprechen. Kenne das ja schon aus Asien, dass man eine Einladung zum Essen nicht ablehnt, selbst wenn man keinen Hunger hat. Und im Moment bin ich von den Eindrücken noch viel zu überwältigt, um zu widersprechen. Gefolgt von Kenai und den drei Frauen, betrete ich das Haus.

Es ist auch im Inneren nahezu komplett aus Holz und anderen Naturmaterialien. Alles ist sorgsam verarbeitet. Die Fenster bestehen nur aus dünnen Glaslamellen, die sich einzeln verstellen lassen. Viel mehr braucht es hier vermutlich auch nicht. Der klobige Kamin im Wohnzimmer wirkt aber wirklich fehl am Platz.

Auch das Bad ist mit gewebten Matten versehen, lediglich der Boden ist gefliest. Die Dusche ist gigantisch groß – da passen locker vier Leute rein! Und obwohl wir uns in einem Haus befinden, sind die Decken einem Hüttendach nachempfunden. Immerhin in der Küche sind Edelstahlmöbel zu finden. Ein offenes Lagerfeuer würde aber sicher auch gut passen.

Der große Esstisch ist ebenfalls als Holz. An den Wänden im Ess- und Wohnzimmer sind auf alt gemachte Gemälde und Fotos von Tänzern, Tänzerinnen und wundervollen Landschaften, ähnlich denen am Flughafen.

Gemeinsam setzen wir uns an den großen Tisch – Stühle suche ich allerdings vergeblich. Sie wären aber für den Tisch auch zu hoch. Und so sitzen wir auf weichen Kissen auf dem Boden. Die von Leilani und Hokulani vorbereitete Kleinigkeit entpuppt sich als eine größere Anzahl von Schalen mit frischen Früchten, gebratenem und rohem Fisch. Daneben etwas, das wie dampfende Knödel aussieht. In der Mitte steht ein großer Kuchen. Alles riecht verdammt lecker und so lasse ich es mir nicht nehmen, nach dem Burgermenü auch hier kräftig zuzugreifen.

Schließlich bin ich ja im Wachstum!

Genüsslich stopfe ich ein großes Stück Mango und einen der dampfenden Knödel in meinen Mund. Er ist mit Schweinefleisch gefühlt und schmeckt wie eine Dampfnudel – nur sehr viel leckerer. Einer nach dem anderen verschwindet in meinem Mund.

Absolute Suchtgefahr!

„Wieso nennen Sie mich eigentlich Keoni?“

Die drei Frauen wirken amüsiert über meine Frage. Auch der gemütliche Riese Kenai lacht. Seine tiefe Stimme lässt den kompletten Boden unter uns vibrieren. Ich möchte nicht wissen, wie es klingt, wenn er mal laut wird.

„Keoni bedeutet Djohennes in unserer Sprache. Wenn du einverstanden bist, würden wir dich gern so nennen, während du hier bei uns bist.“

„Wow, das klingt irgendwie viel schöner. Einverstanden! Bedeuten eigentlich Ihre Namen auch etwas?“

„Das musst du schon selbst herausfinden, Keoni. Aber nicht mehr heute. Dazu hast du noch reichlich Gelegenheit. Dein Gepäck steht bereits in deinem Zimmer. Geh bitte Zähne putzen und dann ab ins Bett.“

„Es ist gerade mal Neun und ich bin noch gar nicht müde. Außerdem bin ich doch schon zwölf!“

Ulani schaut mich freundlich, aber bestimmt an. Sie streicht mir über mein dunkelblondes, beinahe schulterlanges Haar und zeigt mit dem Finger die Treppe hinauf. Zu diskutieren hat vermutlich keinen Sinn. Zugegeben, ein bisschen müde bin ich schon und mein neues Zimmer will ich mir auch noch in Ruhe ansehen können.

Also steige ich die Treppe hinauf. Auf jeder Seite des Ganges sind jeweils zwei Türen, an denen geschnitzte Schilder hängen. An der ersten Tür auf der linken Seite sind ein Speer und eine Art Helm mit Vogelfedern dargestellt, darunter steht Nakoa. Gegenüber sind Ozeanwellen und ein Surfbrett – der Name darauf lautet Moana. Ich laufe weiter zur nächsten Tür auf der rechten Flurseite. Hier ist über dem Namen Kenai tatsächlich ein Bär eingeschnitzt. Unwillkürlich muss ich wieder grinsen.

An der vierten Tür schließlich klebt ein Zettel mit meinem Namen in Hawaiianisch. Vermutlich hatten sie noch keine Zeit, ein Schild zu schnitzen. Aber das muss dann mein Zimmer sein. Wer wohl die anderen sind?

Ist Papa auch hier abgestiegen oder hat er mich nur hier geparkt, wie es bisher üblich war?

Vorsichtig öffne ich die Tür zu meinem neuen Reich und trete ein. Am Fenster steht ein schöner Holzschreibtisch mit einem bequemen Stuhl, gleich daneben eine Kommode aus Rattan. Ein Flachbildfernseher mit bestimmt 60 cm Diagonale und einem DVD-Player stehen darauf. In der Mitte der langen Wand steht das Bett – ebenfalls aus Rattan und ganze vier Quadratmeter groß. Doppelt so groß wie mein altes Bett in Vancouver. Über dem Bett hängt ein großes Schwarz-Weiß-Foto, das Strand und in den Wellen tollende Kinder zeigt. Gleich daneben steht ein kleines Tischchen, auf das ich meinen Wecker stelle.

Mamas Foto kann ich im Rucksack leider nicht finden, bestimmt liegt es irgendwo im Koffer zwischen T-Shirts, Hosen und Socken. Auf der anderen Seite des Zimmers ist ein Schrank mit Lamellentüren in die Wand eingelassen, gleich daneben die Tür zu meinem eigenen Bad.

Da hat sich Papa mit der Unterkunft ja richtig Mühe gegeben. Kein anonymer Hotelklotz irgendwo mitten in der City. Aber für nur drei Monate finde ich das schon etwas übertrieben. Vor allem mit all dem Personal!

Mein Gepäck steht tatsächlich schon mitten im Zimmer - meine zwei großen Koffer. In der Ecke stehen einige Kartons und meine Gitarre, die schon vor ein paar Tagen per Frachtpost nach Hawai‘i geschickt wurden.

Erschöpft von den Eindrücken und der Reise krame ich meinen Schlafanzug aus dem Koffer. Wenn ich es mir recht überlege, ist der dicke Flanellanzug wohl doch eher ungeeignet. Also müssen für heute Nacht T-Shirt und Boxershorts reichen. Schnell noch Zähne putzen und dann ins Bett. Die Blumenketten habe ich sicherheitshalber vorsichtig auf den Schreibtisch gelegt. Muss morgen nachfragen, was ich mit ihnen machen soll. Zum Wegwerfen sind die duftenden Geschenke auf jeden Fall viel zu schade.

Zusammen mit Hoppel, meinem Plüschhasen, verkrieche ich mich unter die dünne Bettdecke. Ich habe ihn zu meinem dritten Geburtstag von Mama bekommen und er begleitet mich seitdem durch die ganze Welt. Sein linkes Ohr ist zwar etwas eingerissen und das rechte Auge fehlt, aber er ist ja auch nicht mehr der Jüngste. Hoppel hat mich schon unzählige Male getröstet, vor allem wenn mir wieder einmal ein Unglück passierte und ich meine Bettsachen am frühen Morgen heimlich wechseln musste.

Naja, Papa hatte es bisher noch nie mitbekommen. Wie denn auch, ist er doch jeden Morgen spätestens um 5 Uhr aus dem Haus und kommt nie vor 10 Uhr abends heim. Selbst am Wochenende steht er nie nach 7 Uhr auf. Auch sonntags arbeitet er meistens bis in den frühen Nachmittag. Für mich hat er dabei kaum Zeit. Seit Mama vor acht Jahren gestorben ist, bin ich – wenn man mal Privatlehrer, Nannys, Hausmädchen und Assistenten nicht berücksichtigt – fast ständig allein.

Vielleicht wird es ja hier im paradiesischen Nu‘uanu Valley tatsächlich endlich anders. Versprochen hat er es mir zumindest vor seinem Abflug.

Ob er‘s hält …

An das Rauschen des Windes in den Pflanzen vor dem Fenster muss ich mich allerdings erst noch gewöhnen. Mir fehlt ein bißchen der stetige Straßenlärm Vancouvers. Trotzdem schlafe ich wohl irgendwann ein.

Kama‘aina-Style

Ich habe meinen Alarm wie jeden Morgen auf 6 Uhr gestellt, obwohl ich ausschlafen könnte. Das gibt mir immer genügend Zeit, meine Bettwäsche zu wechseln, ohne dass es großartig auffällt. Im Hotel in Vancouver hatte Papa sogar draufzahlen müssen, weil durch mich die Wäsche beinahe täglich gewechselt werden musste. Ich glaube, er hat die Rechnung einfach von Heidi bezahlen lassen, ohne groß nachzufragen.

Wenn er sie überhaupt gesehen hat.

Auch an diesem Morgen ist es leider nicht anders. Als ich meine Augen aufschlage, kann ich die miefend aufsteigende Feuchtigkeit deutlich spüren. Ich muss schon lange nicht mehr deswegen weinen, auch wenn es mich noch immer runterzieht. Schnell stehe ich auf, wechsle meine Boxershorts und prüfe das Bettlaken.

Wie erwartet ist es feucht, wenn auch etwas weniger als üblich. Also schnell runter damit. Frische Laken habe ich am Abend zuvor im Kleiderschrank gesehen. Das besudelte Tuch muss ich jetzt nur noch loswerden. Die Matratze ist zum Glück trocken geblieben.

Immerhin eine kleine Erleichterung.

Vorsichtig schleiche ich auf der Suche nach der Waschküche die Treppe hinunter. Das untere Stockwerk scheint genauso aufgebaut zu sein, wie das obere, in dem sich mein Zimmer befindet. Aber die Waschküche finde ich hier nicht. Vielleicht im anderen Gebäudeteil.

In der Küche herrscht bereits Hochbetrieb. Es duftet herrlich nach frischem Kaffee und – nein, das kann nicht wirklich sein – Pancakes!

Zum Glück bin ich barfuß, so dass sie nicht bemerken, wie ich mich an der offenen Tür vorbeidrücke. Als ich die Waschküche endlich erreiche, laufe ich der fröhlichen Ulani geradewegs in ihre breiten Arme.

„Aloha kakahiaka, Keoni! Guten Morgen. Hast du in deinem Zimmer gut schlafen können?“

„Guten Morgen Ulani. Ja, danke, es war hervorragend. Diese Düfte von den ganzen Pflanzen und all dieses Vogelgezwitscher am Morgen. Einfach herrlich!“

Dann sieht sie das zusammengerollte Laken in meinem Arm. Mist, erwischt. Jetzt gibt es sicher ein Donnerwetter oder sie lacht mich aus.

Weiß nicht, was schlimmer ist.

„Danke, dass du die Wäsche bringst. Dann muss ich sie schon nicht selbst holen. Vielen Dank, Keoni, mahalo.“

Sie zwinkert mir zu und streicht mir wie am Abend zuvor durch die Haare. Dann nimmt sie mir das Laken ab und stopft es zu anderem Bettzeug in die Waschmaschine. Kein böses Wort, kein Gelächter.

„Du möchtest vor dem Frühstück bestimmt noch duschen. Wir sehen uns dann um Sieben. Einverstanden?“

„Aber…“

„Bis nachher.“

Sie lächelt mich freundlich an und schiebt mich rückwärts aus dem Raum. Dann zeigt sie bestimmt zur Treppe. Sprachlos und ein wenig verwirrt steige ich die Stufen hinauf, schnappe mir frische Sachen aus dem Schrank und gehe zur Dusche. In meinem eigenen Bad!

Ob sie etwas ahnt? Was, wenn sie es Papa erzählt?

Während das warme Wasser meinen Körper umspült, sinke ich auf die Knie und beginne zu weinen. Um Ulani und die anderen nicht noch mehr zu enttäuschen, wasche ich mich schnell. Dann schlüpfe ich in eine frische Boxershorts. Darüber eine kurze Hose und ein orangenes Poloshirt. Barfuß steige ich die Treppe hinunter.

Leilani und Hokulani bereiten die letzten Speisen in der Küche vor. Ich schiebe meinen Kopf durch die Tür und begrüße sie. Sie strahlen mich an und bedeuten mir, zum Esszimmer zu gehen. In Kürze würden sie nachkommen. Bevor ich die Küche verlasse, drücken sie mir noch eine große Schüssel mit leckerem Obstsalat in die Hand.

„Aber nicht naschen!“

„Keine Sorge“, beruhige ich.

Im Esszimmer genießt Kenai bereits eine Tasse Kaffee und unterhält sich leise mit Ulani. Als ich den Raum betrete, verstummen sie und lächeln mich beide freundlich an.

Na toll, jetzt weiß der Riese auch gleich, dass der Sohn seines Bosses ein Bettnässer ist!

„Aloha kakahiaka, guten Morgen!“

Seine tiefe Bassstimme bringt den Boden unter meinen Füßen zum Beben. Er scheint überhaupt nicht verstimmt zu sein, vielleicht hat sie ihm doch nichts gesagt. Wäre schade, wenn ich gleich am ersten Tag rausfliege.

„Guten Morgen Kenai, hallo Ulani.“

Plötzlich heftiges Gepolter auf der Treppe. Ich drehe mich herum und werde von einem dunkelhaarigen Mädchen in Surfshorts und Bikinioberteil über den Haufen gerannt. Gleich dahinter folgt ein ebenfalls dunkelhaariger Junge mit nacktem Oberkörper und den gleichen Surfshorts. Beide sind ungefähr in meinem Alter. Ich verliere das Gleichgewicht und lande auf meinem Hintern.

„Aloha kakahiaka!“

Die Kinder fallen Kenai um den Hals und begrüßen anschließend auch Ulani mit einem Kuss auf die Wange. Der Junge zeigt mit einem abfälligen Blick auf mich.

„Was will denn der Haole hier?“

Für diese Frage erntet er Ulanis böse Blicke und von Kenai eine deftige Kopfnuss.

„Was haben wir dir über den respektvollen Umgang mit einem malihini beigebracht?“

Das Mädchen kommt auf mich zu, zieht mich nach oben und drückt ihre Stirn und Nase an meine. Dann bekomme ich wie Ulani ein Küsschen auf die Wange.

„Aloha, ich heiße Moana. Ich bin die Tochter von Leilani und Kenai. Willkommen in unserem Heim.“

Sie zeigt auf den Jungen hinter sich.

„Der freche Stinker da hinten ist mein Zwillingsbruder Nakoa. Nimm ihn bitte nicht allzu ernst. Eigentlich ist er ja ein ganz Lieber. Das hält er nur sehr gern geheim.“

Kenai packt seinen Sohn Nakoa an den Schultern und schiebt ihn auf mich zu. Er brummelt eine kleine Entschuldigung und drückt mir dann Stirn und Nase an meine. Immerhin verzichtet er auf den Wangenkuss.

„Kamali‘i, das ist Keoni. Er wird die nächsten Wochen bei uns verbringen. Er ist der Sohn von Mr. Ferber. Seid bitte nett zu ihm. Und jetzt lasst uns frühstücken.“

Hokulani und Leilani stehen mit dem restlichen Frühstück in der Tür. Es duftet fantastisch – Pancakes mit Sirup, Eier mit Speck, frisches Toastbrot, dazu ein großer Kanister mit Guave-Passionsfruchtsaft. Sieht zwar ungesund aus, schmeckt aber teuflisch lecker. Schweigend stopfen wir die Köstlichkeiten in uns rein. Ob es hier jeden Morgen so viel gibt oder, weil ich da bin oder, weil es Samstag ist?

Ich erfahre, dass Hokulani tatsächlich eine Großmutter ist – die von Nakoa und Moana nämlich. Kenai und Ulani sind zwei ihrer drei Kinder. Ihre zweite Tochter Noelani lebt leider nicht mehr auf Hawai‘i.

„Keoni, erzähl mal - woher kommst du, und was machst du, wenn du dich nicht gerade von Mädchen umrennen lässt? Das mit dem Haole vorhin tut mir leid.“

Ich bin überrascht, dass Nakoa das Wort an mich richtet und dabei sogar fast höflich ist. Sogar Leilani muss kurz schlucken und schmunzelt. Moana vergisst beinahe ihr Honigtoastbrot und starrt mich gebannt an. Schnell nehme ich noch einen großen Schluck vom Fruchtsaft.

„Ja also, ich heiße Johannes - zumindest wurde ich bisher so genannt. Also, ähm … also jetzt … Keoni … irgendwie. Ist doch richtig, oder? Ich bin zwölf Jahre alt und wurde in Frankfurt am Main in Deutschland geboren. Aufgewachsen bin ich quasi auf der ganzen Welt. In meiner Freizeit lese ich gern, ich interessiere mich ein bisschen für Kunst und Kultur, skate und radle gern und spielte bis letztes Jahr Gitarre in einer Schulband.“

Ich erzähle, dass meine Mama starb, als ich vier war und meinen Papa seitdem kaum noch zu Gesicht bekommen habe. Er stürzt sich seitdem noch mehr in seine Arbeit. Auch von den vielen Reisen rund um den Globus berichte ich ihnen. Sie hören mir gespannt zu, während wir weiter frühstücken.

Die beiden fast Dreizehnjährigen treiben viel Sport, besuchen gemeinsam die Kamehameha High-School und eine Halau – eine Schule für den traditionellen Tanz der Hawaiianer. Außerdem erfahre ich, dass sie selbst ihre Inseln noch nie verlassen haben. Auch Kenai war bei seinem Militärdienst nur bis nach Samoa gekommen, aber nie auf das amerikanische Festland oder gar nach Europa.

Nach einer gefühlten Ewigkeit unterbricht Ulani schließlich unsere Unterhaltung. Sie bittet mich, in meinem Zimmer nach Kleidungsstücken zu suchen, die noch gewaschen werden müssen und diese in die Waschküche zu bringen. An Moana und Nakoa richtet sie den gleichen Wunsch. Danach sollen sie mich mit zum Ala Moana Center nehmen und ein bisschen die Gegend zeigen.

„Und nehmt reichlich Sonnencreme mit!“

Während Nakoa erwartungsgemäß versucht, sich noch gegen die Sonnencreme zu wehren, nimmt mich seine Schwester in den Arm und schleift mich die Treppe hinauf. In meinem Zimmer suche ich kurz meine dreckigen Klamotten zusammen – viel ist es nicht, habe ja vor meiner Abreise in Vancouver waschen lassen.

Dann schnappe ich mir meinen Rucksack; stecke Geldbeutel und Sonnenbrille ein. Auf dem Weg nach draußen hole ich mir eine große Flasche Wasser aus der Küche.

Ich will mich draußen noch umsehen, bei meiner Ankunft gestern war es ja bereits dunkel.

Das Haus ist umringt von Farnen und Palmen in verschiedenen Größen und exotisch duftenden Blumen mit roten Blüten, die ein bisschen an Kerzen erinnern. Die Blüten der Hibiskussträucher leuchten in den unterschiedlichsten Farben. Die Begrenzung des Grundstückes bildet eine Mauer aus Vulkansteinen, auf denen kleinere Sträucher mit grünen Blättern wuchern. Diese wachsen auch hinter dem Haus – die Blätter sind oval und fast einen Meter lang.

Der Platz zwischen den beiden Gebäudeteilen ist mit Steinplatten, vermutlich auch vulkanischen Ursprunges, ausgelegt. Weiter hinten kann ich eine Art Feuerstelle erkennen. Sie wird von drei Holztischen mit Bänken umsäumt. Ringsherum stehen lange Fackeln.

Es ist so idyllisch hier, dass ich schon jetzt weiß, wie schwer mir in zwölf Wochen die Trennung von diesem ungewöhnlichen Ort fallen wird.

Meine Gedanken werden durch die lärmenden Geschwister unterbrochen. Nakoa trägt zu seinen Surfshorts nun noch Flipflops und ein Muskelshirt, Moana bedeckt ihr Bikinioberteil mit einem „Red Dirt Shirt“, ihre Füße stecken in Flipflops mit Blütenornamenten. Da komme ich mir mit meinen teuren Sneakers und der schicken Cordhose dann doch etwas overdressed vor.

Mit mir im Schlepptau laufen die beiden zur nächsten Bushaltestelle. Schon praktisch, wenn man sich hier auskennt, ich hätte die Haltestelle im Leben nicht gefunden. Nach knapp zehn Minuten Fußweg die Straße hinunter und über den kleinen Fluss, den ich auch von meinem Zimmer aus hören kann, sind wir am vielbefahrenen Pali Highway angekommen. Weit und breit kann ich keine Bushaltestelle sehen. Obwohl es erst kurz nach neun am Morgen ist, herrschen bereits angenehme Temperaturen.

Moana packt mich am Arm und zerrt mich über die vierspurige Schnellstraße. Nur ein kleines unscheinbares Schild weist darauf hin, dass hier demnächst ein Bus fährt – den Zahlen auf dem Schild nach sogar insgesamt sechs Linien. Nicht einmal ein Fahrplan ist angebracht.

„Woher weiß man dann, welchen Bus man nehmen muss und wann der fährt?“

Nakoa schnaubt abfällig durch die Nase.

„Dafür gibt‘s natürlich einen Fahrplan. Gibt‘s sowas bei euch in Deutschland nicht?“

„Doch, klar. Dort hängen die Fahrpläne der Busse gut sichtbar an den Haltestellen aus.“

„Du meinst so richtig aus Papier?“

„Ja. Aber in Deutschland war ich schon seit fünf oder sechs Jahren nicht mehr! Und hier auf Hawaii bin ich erst seit gestern.“

„Das heißt Hawai‘i!“

„Was?“

„Hawai‘i, nicht Hawaii.“

Keine Ahnung, warum er so feindselig eingestellt ist. Ich habe ihm doch gar nichts getan. Seine Schwester ist da um einiges freundlicher. Sie lächelt mich an und erklärt, dass es für die Busse einen Einzelfahrplan und zur Übersicht einen Gesamtfahrplan gibt. Hier an der Haltestelle Pali Highway und Dowsett Avenue würden die Busse 4 zur Universität und ihrer Schule und die Busse 55 bis 57 und 65 in die Stadt fahren.

Wobei die Busse 55 bis 57 am besten geeignet wären, da hier alle zehn Minuten jeweils eine der drei Linien kommt und alle auch zum Ala Moana Center fahren.

Und da wollen wir ja auch hin.

Mehr oder weniger freiwillig.

Kaum hat sie ihre kurze Einführung beendet, kommt auch schon ein Bus der Linie 56. Ich habe irgendetwas Exotisches erwartet. Aber im Prinzip ist es ein ganz normaler weißer Omnibus mit blauem Fahrgestell, lediglich der Regenbogen von der Mitte zum Heck des Fahrzeuges hebt ihn ein bisschen ab.

Moana und Stinker zeigen ihre Fahrausweise, ich muss hingegen einen Fahrschein lösen. Die Fahrerin lächelt freundlich und trägt ein bräunliches Hawai‘i-Hemd, auf dem statt Blumen lauter kleine Busse abgebildet sind.

Sieht verdammt cool aus!

Moana bestellt den Fahrschein für mich.

„Aloha awakea. Ala Moana Center e‘olu‘olu.“

Ich zahle gerade einmal zwei Dollar dafür. In Vancouver waren die öffentlichen Verkehrsmittel wesentlich teurer. Dann schaukelt der Bus auch schon los. Im Inneren läuft die Klimaanlage bereits auf Hochtouren. Man kommt sich vor wie in einem Gefrierfach. Bergab hält der Bus an mehreren Stationen, meist steigen Leute ein. Erst im sogenannten „Financial District“ - so erklärt mir Moana – rund um Bishop, South King und Merchant Street steigen die ersten Leute wieder aus. Von hier aus kann man bereits deutlich das bläulich schimmernde Meer sehen.

An der Haltestelle Bishop & Queen Street steht ein Turm vor uns. Nebendran ist ein dreistöckiges Gebäude, dahinter ein Kreuzfahrtschiff, das das Haus davor um einige Meter überragt. Auf dem Platz vor dem Haus spielt eine Band und ringsherum herrscht emsiges Treiben.

„Das ist der Aloha Tower, das Wahrzeichen von Honolulu und Teil des Hafens“, erklärt Nakoa.

Für den Hafen einer Metropole wie Honolulu wirkt das Gebäude irgendwie sehr klein. Ja geradezu winzig im Vergleich zu anderen Häfen.

„Hier legen jede Woche so ungefähr fünf bis zehn Kreuzfahrtschiffe an. Je nachdem wie viel die Passagiere zahlen, spielt schon mal die Royal Hawaiian Band für sie. Unsere Halau tanzt hier auch gelegentlich. Dann werden die Touristen von uns mit Leis begrüßt.“

Ich nicke interessiert.

„Früher nannte man das Boat Day.“

Auch links des Aloha Towers liegt ein modernes Kreuzfahrtschiff – die „Star of Honolulu“ – vor Anker. Gleich daneben ein Viermaster aus dem späten 19. Jahrhundert.

„Das ist die Falls of Clyde“, weiß Nakoa.

Viel Zeit zum Schauen bleibt allerdings nicht, der Bus rollt unaufhörlich weiter. Vorbei an Bürokomplexen, Warenhäusern, Tankstellen und immer wieder Palmen, farbenfrohen Blumenbeeten und Sträuchern fahren wir den scheinbar nicht enden wollenden Ala Moana Boulevard entlang. Ich fühle mich wie Charlie in der Schokoladenfabrik, die Eindrücke dieser Insel sind im Moment einfach viel zu überwältigend.

Ala Moana heiße „Am Ozean“ erklärt Nakoa weiter.

„Dann heißt deine Schwester also Ozean?“

Moana, die fast die gesamte Fahrt verträumt in der Gegend umherschaut, lächelt mich an und nickt.

„Cooler Name! Und wie heißt du?“

„‘O Nakoa ko‘u inoa! Das weißt du doch! Bist du eigentlich dumm oder sowas?“

„Hey Stinker! Woher soll Keoni denn bitte hawaiianisch können? Er heißt Nakoa. Das bedeutet mutiger Krieger. Davon ist der hier aber weit entfernt.“

Nakoa schnaubt wütend durch die Nase. Er scheint sein heutiges Guthaben an Freundlichkeit aufgebraucht zu haben, ist wieder ganz der Alte.

Moana gibt ihrem Bruder eine Kopfnuss – vielleicht hilft es ja mal.

Ich schaue frustriert aus dem Fenster. Unsere Fahrt führt gerade an einer Parkanlage mit direktem Meeresanschluss entlang. Ich habe beinahe Tränen in den Augen - so wunderschön ist es hier. Mama hätte es hier bestimmt gefallen, sie liebte das Meer.

Kurz darauf sind wir am Ziel angekommen – dem Ala Moana Center – einer großen Shopping Mall mit knapp 290 Geschäften. Sogar hier ist alles etwas anders. Die Mall verteilt sich auf zwei Flügeln – Ewa und Diamond Head Wing - über drei Stockwerke, wirkt dabei aber durch die vielen Pflanzen, das offene Dach und ihre kleineren Läden und Cafés sehr einladend, ja regelrecht gemütlich.

Sogar eine Bühne gibt es hier.

Dass draußen der Highway vorbeirauscht und knapp dreißig verschiedene Buslinien hier halten, merkt man im Inneren der großen Mall nicht.

Den Mittelpunkt bildet der Makai Food Court im Erdgeschoss. Hier sind jede Menge Imbissstände aneinandergereiht – von italienisch über japanisch, chinesisch, mexikanisch, ja selbst griechisch und natürlich hawaiianisch – gibt es hier für jeden Geschmack Leckereien zu verhältnismäßig günstigen Preisen. Dazwischen sind Tische und Stühle für die hungrigen Gäste aufgebaut. Hunger verspüre ich keinen, die Gerüche lasse ich dennoch auf mich wirken.

„Wie viel Geld hast du dabei?“

Moanas Stimme reißt mich aus den Gedanken.

„Was?“

„Wie viel Geld hast du dabei?“

„Weiß nicht, einiges.“

„Komm, wir gehen shoppen. Du brauchst definitiv andere Klamotten!“

Sie zupft an meinem Polo und zeigt auf meine Hosen. Dann packt sie mich auch schon am Arm und schleift mich in den erstbesten Laden. Ich kann ihr kaum folgen, als sie bereits fünf verschiedene Aloha-Shirts – kurzarmige Hemden mit bunten Motiven – und ebenso viele Surfshorts ausgesucht hat. Energisch drückt sie mich Richtung Umkleidekabine. Meine hilfesuchenden Blicke Richtung Nakoa werden mit einem breiten Grinsen beantwortet. Er wird mir wohl eher nicht helfen.

Also ergebe ich mich meinem Schicksal und probiere die Hemden und Hosen an. Ich muss meinen Begleitern alle Kombinationen zeigen. Sie nicken schließlich zustimmend. Nakoa spreizt Daumen und kleinen Finger seiner Hand ab und wackelt damit hin und her.

Was auch immer das bedeutet.

Moana besteht darauf, dass ich ein blaues Hemd mit Surfbrettern und grüne Surfshorts mit braunen und weißen Streifen gleich anbehalte. Wenigstens meine Sneakers darf ich behalten; sie sind hu‘ihu‘i genug. Sie schleppt mich mit allen Klamotten zur Kasse und ich bezahle fast vierhundert Dollar ohne mit der Wimper zu zucken; Geld spielt zum Glück nie eine große Rolle.

Es ist schon fast elf, als wir uns vor der Bühne niederlassen. Nakoa hat uns allen etwas zu trinken besorgt. Wir quatschen ein bisschen über ihre Schule, während auf der Bühne aufgebaut wird.

Sie erzählen mir, dass die Kamehameha-Schulen von der hawaiianischen Prinzessin Bernice Pauahi Bishop gegründet wurden. Dort dürfen nur Schüler lernen, die mindestens einen Vorfahren hawaiianischer Abstammung nachweisen können. Seit dem Kindergarten – in Deutschland entspricht das der 1. Klasse Grundschule - besuchen sie die Schule am Kapalama Canal und werden dort auch ihren Abschluss machen.

Bis dahin haben sie aber noch etwas Zeit.

Während Nakoa vor allen in Naturwissenschaften und Englisch sehr gute Noten verbuchen kann, trumpft Moana in Kunst, Musik, Geschichte und Mathematik gegenüber ihrem Bruder auf. In Sport sind beide spitze.

Auf der Bühne haben zwischenzeitlich ein paar Rentner Aufstellung genommen. Sie alle tragen bunte Hawaii-Hemden und Blumenketten. Sie werden Lei genannt, wie mich Moana aufklärt. Zum Klang von Ukulelen, die zumeist von den Männern gespielt werden, schwingen die älteren Damen ihre Hüften. Sie tanzen, singen und lachen ausgelassen. Fast wie kleine Kinder.

Ich möchte im hohen Alter auch noch so viel Spaß an meinem Leben haben können.

Abwechselnd erklären mir Nakoa und seine um dreizehn Minuten ältere Schwester die einzelnen Tanzschritte: Kaholo, ‘Ami, Hela - und wie sie alle heißen. Die Bewegungen der Arme und Hände beschreiben die Geschichte, die durch den Liedtext erzählt wird. So gibt es Gesten für das Kämpfen, für Blumen und natürlich auch für die Liebe.

Mein Kopf brummt schon durch die vielen Infos.

Es fällt mir schwer, still zu sitzen und nicht wenigstens mit den Füßen zu wippen. Die Melodien reißen irgendwie mit. Vielleicht liegt es auch daran, dass sie für europäische Ohren nicht so fremd klingen, wie z. B. die Musik Indonesiens oder Japans.

„Früher hätte Moana keinen Hula tanzen dürfen. Das war reine Männersache! Aber durch die Haoles – die Weißen – hat sich hier sehr vieles verändert. Sie haben uns Kama‘aina alles weggenommen!“

Nakoa klingt ein bisschen verbittert, so als wäre er selbst dabei gewesen, als weiße Siedler und amerikanische Großgrundbesitzer mit Hilfe des Militärs 1893 die letzte hawaiianische Königin Lili‘uokalani zum Abdanken gezwungen haben. Seine Vorfahren waren es jedenfalls.

Ich komme mir vor, als müsste ich die gesamte Kultur und Geschichte des Inselreiches noch heute kennenlernen und auch begreifen. Zumindest geben mir die beiden durch ihre umfangreichen Erzählungen dieses Gefühl.

„Hey Leute, seid mir bitte nicht böse. Aber ich kann nicht mehr. Mein Schädel tut schon weh!“

„E kala mai ia‘u, entschuldige bitte. Das soll es fürs Erste gewesen sein.“

Moana grinst und zerrt wieder an meinem Arm.

„Los, lasst uns was essen gehen!“

Nakoa stürmt bereits Richtung Makai Food Court und steuert dort geradewegs auf den Pizzastand zu. Ich muss mich erst einmal umsehen, was mich denn interessieren würde. Durch die Aufenthalte in verschiedenen Ländern habe ich bereits einige Eindrücke gewinnen können. Ich könnte ja eigentlich die einheimische Küche versuchen.

Also stehe ich nun vor dem Ala Moana Poi Bowl und lasse meinen Blick etwas ratlos über die Speisekarte wandern. Es klingt alles exotisch und dennoch sehr lecker. Ich entscheide mich schließlich für eine gemischte Platte mit Kalua Pork, BBQ-Chicken, Coconut-Shrimps, Lomi Lomi Salmon, Reis und gemischtem Salat. Zum Nachtisch ein Stück Macadamianuss-Kuchen und eine große Cola. Serviert wird das umfangreiche Menü auf Plastikgeschirr mit ebensolchem Besteck.

Nakoa hat sich eine Pizza mit Fleischbällchen und extra viel Käse geholt, seine Schwester hat sich bei Senor Pepe mit vorzüglich duftenden Hähnchen-Quesadillas eingedeckt. Gemeinsam stopfen wir die leckeren Speisen in uns rein – ausnahmsweise einmal schweigend.

Das Fleisch schmeckt ungewohnt, vor allem da es kaum gewürzt zu sein scheint. Trotzdem ist es schön saftig und zart. Das Hühnchen fällt beinahe von allein vom Knochen. Auch das Schwein umwickelt mit gekochten Blättern schmeckt sehr lecker. Die Schrimps sind ein Gedicht – ich liebe Schrimps und in Kokosnussfett gebacken schmecken sie nochmal um einiges besser. Auch der Tartar aus Salmon - also Lachs - ist köstlich. Moana erklärt mir, dass Lomi Lomi dabei für zupfen steht.

Reis ist zwar nicht so mein Ding, aber ich finde Spaghetti oder Süßkartoffelbrei passen irgendwie noch viel weniger dazu. Zumal der lilafarbene Brei doch etwas gewöhnungsbedürftig aussieht.

Wie verfärbter Babybrei oder Schlimmeres.

Nachdem wir auch unsere Desserts verputzt haben, treten wir mit dem Bus die Heimreise an. Nakoa und Moana haben heute noch Training in ihrer Halau. Und ich sollte mal meine Koffer und Kisten auspacken. Dann will ich versuchen, Papa zu erreichen. Vielleicht wartet er ja aber schon auf mich – möglich wäre es zumindest.

In der Villa angekommen, bringe ich zunächst meine neuen Kleidungsstücke in die Waschküche. Auch das Hemd und die Shorts, die ich trage, werfe ich in den Wäschekorb. Nur in Socken und Boxershorts laufe ich durch das Haus – geradewegs in Hokulani. Im ersten Moment ist sie etwas sprachlos, dann aber lächelt sie liebevoll.

„Lass dich nicht von Kenai erwischen. Er mag es nicht, wenn ihr Kinder hier allzu freizügig rumlauft.“

Durch das große Fenster im Wohnzimmer kann ich ihn im Garten hinter dem Haus arbeiten sehen. Ich sprinte also weiter, die Treppe hinauf und in mein Zimmer. Meine Koffer und Kisten sind verschwunden, neben dem Schreibtisch steht meine Gitarre, die Leis hängen sorgfältig um das Bücherregal drapiert. Sogar mein Laptop steht schon auf dem Schreibtisch.

Als ich den Kleiderschrank öffne, sind dort alle meine Sachen ordentlich eingeräumt. Beinahe wäre ich wieder aus meinem Zimmer gestürmt, um den „Übeltäter“ zu finden und zur Rechenschaft zu ziehen.

Ich mag es überhaupt nicht, wenn jemand in meinen Privatsachen wühlt!

Doch zum Glück fällt mir noch rechtzeitig ein, dass ich nur Unterwäsche trage. Schnell krame ich meine Klamotten vom Vormittag aus dem Rucksack und steige hinunter zur Waschküche. Ulani hat meine neuen Sachen bereits gefunden und ist dabei, sie in die Maschine zu stopfen.

„Hallo Keoni. Wie ich sehe, hat Moana dir Kama‘aina-Style verordnet. Hattet ihr Spaß?“

„Ja, war ok“, brumme ich nur.

„Stimmt etwas nicht?“

„Warst du an meinen Klamotten?“

„Ja, wieso fragst du?“

„Wieso warst du … ach vergiss es!“

Mit verdutztem Blick erklärt sie mir, dass sie meine Koffer und Kisten ausgeräumt hat. Ich solle meinen Aufenthalt hier schließlich genießen und nicht aufräumen müssen. Dafür sei sie doch da. Eigentlich will ich sie anschreien, so wie ich es schon mehrfach mit Hotelangestellten gemacht habe. Aber ich bringe es nicht übers Herz. Seit ich hier angekommen bin, hat sie sich um mich gekümmert und das ist für Angestellte nicht selbstverständlich.

Also murmele ich ein kleines Dankeschön und verkriech mich wieder auf mein Zimmer. Auf dem Weg dorthin begegne ich Kenai und frage ihn, ob er schon etwas von meinem Vater gehört habe. Er schüttelt den Kopf und wischt sich den Schweiß von der Stirn.

Wie immer, wenn ich verärgert oder traurig bin, greife ich zu meiner Gitarre und spiele etwas darauf herum. Nach einer Weile merke ich, dass ich die Melodien der Rentnertanzgruppe aus dem Ala Moana Center nachspiele. Einer der langsameren Songs hat es mir dabei besonders angetan. Wieder und wieder spiele ich ihn, bis ich endlich damit zufrieden bin. Dann spiele ich ihn noch einmal komplett und versuche mich an den Text und dessen Übersetzung, die mir Moana während der Aufführung ins Ohr geflüstert hat, zu erinnern.

Weil er mir nicht recht einfallen will, setze ich mich an meinen Laptop und suche den Song in Internet. Relativ schnell finde ich eine sehr schöne Version. Mit nur einem Stöpsel im Ohr spiele und singe ich den Song nach. Einzelne Stellen des Textes kann ich nach relativ kurzer Zeit schon einigermaßen – zumindest für meinen Geschmack - richtig klingend nachsingen.

Mein Handy vibriert und erst jetzt fällt mir auf, dass es bereits kurz nach fünf Uhr am Nachmittag ist. Wie die Zeit vergeht. Als ich die Nachricht lese, werfe ich mein Handy frustriert durch den Raum.

Sie ist von Papa – er kann heute wieder nicht bei mir sein. Es tue ihm furchtbar leid.

Schon lange glaube ich ihm diese Sätze nicht mehr.

Dennoch bin ich meistens bereit, ihm neue Chancen zu geben. Obwohl ich dagegen ankämpfe, kullern Tränen.

Mein zweites Abendessen im Paradies verläuft im Großen und Ganzen unspektakulär. Moana und ihr Bruder sind vom Training zurück und sitzen - frisch geduscht - mit uns anderen am großen Tisch im Wohnzimmer. Leilani berichtet von ihrem Tag auf dem Swap Meet – einer Art Flohmarkt - im Aloha Stadium. Schon auffällig, in wie vielen Dingen auf diesen Inseln Aloha steckt - Aloha dieses, Aloha jenes. Fehlt ja eigentlich nur noch Aloha Cola, Aloha Bettwäsche und vielleicht auch noch Aloha Bratwurst.

Beim Gedanken daran muss ich plötzlich laut lachen. Verdutzt schauen mich meine Gastgeber an. Ich habe nicht einmal mitbekommen, dass Nakoa gerade vom Training und den Wettkampfvorbereitungen erzählt.

"Sorry, das war wegen etwas Anderem", versuche ich mich zu entschuldigen.

Wütend schnaubend verlässt Nakoa das Zimmer. Er brummt etwas von Respekt gegenüber fremden Kulturen und verwöhnten reichen Snobs. Ich glaube, damit meint er wohl mich. Dabei habe ich doch wirklich nicht über ihn und seine Erzählung gelacht. Was ich bisher über Hawai‘i und seine Kultur erfahren durfte, fasziniert mich ungemein.

„Es tut mir aufrichtig leid. Ich habe nicht wegen Nakoa gelacht. Ehrlich … wirklich!“

Dann erzähle ich kurz, worüber ich zuvor gelacht habe.

Selbst Leilani muss schmunzeln und verspricht, mit ihrem Sohn reden zu wollen.

Den restlichen Abend verbringe ich Musik hörend in meinem Zimmer. Zuvor hole ich mein Handy aus der Ecke, in die ich es gepfeffert habe und schreibe Papa eine Nachricht. Ganze dreimal beginne ich sie von vorn – und schicke sie dennoch nicht weg. Meist bekomme ich ja doch keine Antwort. Er ist immer so beschäftigt. Vielleicht schreibt er die Nachrichten nicht einmal selbst.

Manoa Falls

Am Morgen weckt mich das Dudeln der Musik. Der routinierte Griff Richtung Matratze – der nächste Tag im Paradies beginnt abermals feucht. So ein Mist! Ich kann doch nicht jeden Tag ein Bettlaken zur Waschküche schmuggeln. Das fällt irgendwann jedem auf und dann ... ich möchte gar nicht daran denken.

Eine andere Wahl habe ich jedoch nicht, das Laken muss weg. Also springe ich aus dem Bett und wechsle es mit einfachen Handgriffen. Wenn es eine Meisterschaft im Laken wechseln gäbe, hätte ich prima Chancen auf den Titel. Hoffentlich ist an einem Sonntag um kurz vor sieben noch keiner von ihnen wach.

Ich gönne mir eine kurze erfrischende Dusche, bevor ich mit dem Laken barfuß die Treppe hinunterschleiche. Im Waschraum stopfe ich es schnell in einen der vier großen Körbe. Aus der Küche hole ich mir ein großes Glas Guave-Passionsfrucht-Saft und setze mich hinaus in den Garten.

Die Vögel in den Bäumen sind schon eine Weile wach und haben ihren morgendlichen Gesang angestimmt. Im Hintergrund säuselt der nahe Bach, der Wind streift durch die Zweige. Die Blumen versprühen einen herrlichen Duft und man möchte einfach nur mit geschlossenen Augen genießen. Beinahe wäre ich wieder eingeschlafen, so schön ruhig und entspannend ist es hier.

Vielleicht machen genau diese kleinen Dinge Hawai‘i zu dem so viel besungenen Inselparadies.

Kurz vor acht öffnet sich das große Schiebefenster zum Wohnzimmer. Ulani tritt in den Garten und reckt sich wie eine Blume der Morgensonne entgegen.

Als sie mich entdeckt, kommt sie auf mich zu.

„Aloha kakahiaka Keoni. Wie geht es dir?“

Sie setzt sich neben mich und schaut in die Sonne.

„Guten Morgen Ulani. Es geht mir sehr gut, konnte nur nicht mehr schlafen und habe mich deshalb hier draußen hingesetzt. Ich hoffe, das ist in Ordnung.“

„Selbstverständlich. Solange du nicht ganz allein in der Gegend herumläufst.“

Sie streicht mir übers Haar und fragt, ob ich bereits Hunger hätte. Dann grinst sie über ihre eigene Frage und summt vergnügt vor sich hin.

„Natürlich hast du. Du bist ja im Wachstum.“

Dann verschwindet sie Richtung Küche. Kurz darauf kommt sie mit einer Handvoll der warmen, duftenden Dampfnudeln zurück. Sie drückt mir drei in die Hand, während sie sich über die anderen hermacht. Zusammen genießen wir die Ruhe im wunderschönen Garten. In Vancouver oder auch in Singapur wäre dies unmöglich gewesen. Selbst an einem Sonntag würde dort auch in den kleineren Straßen bereits der Verkehr brummen.

Unsere Zweisamkeit wird wenig später durch Kenai unterbrochen. Sich streckend und dehnend tritt er auf die Terrasse. Ohne uns zu beachten, läuft er in den hinteren Teil des Gartens. Sein muskulöser Oberkörper ist mit Öl eingerieben und glänzt in der Sonne. Um seinen Unterleib trägt er ein dunkelbraunes mit Ornamenten geschmücktes Tuch, das er wie eine Art Windel um sich gebunden hat. In jeder Hand hält er ein oval geformtes Paddel von etwa 30 cm Größe. Ringsherum ragen scharfe Zähne heraus.

Zunächst steht er nur still und atmet mit geschlossenen Augen tief ein und aus. Dann stampft er mit seinen kräftigen Beinen auf den Boden. Dabei atmet er deutlich hörbar aus. Die Paddel in seinen Armen lässt er dabei wild und dennoch anmutig vor seinem Körper kreisen. Sieht ein bisschen nach einem Schaukampf beim Jiu-Jitsu aus.

„Ich habe ihn schon lange nicht mehr Kapu Ku‘ialua trainieren sehen“, flüstert Ulani beinahe ehrfürchtig.

„Kapu was?“

„Kapu Kau‘ialua. Ein traditioneller Kampfsport der Hawaiianer. Früher wurde er ausschließlich von Häuptlingen und Königen und deren Angehörigen oder ausgewählten Kriegern ausgeübt. Heutzutage machen es viele nur noch, um sich fit zu halten.“

„Was hält er da in seinen Händen?“

„Das sind Hoe Leiomano – Paddel mit Haifischzähnen. Besonders geübte und kräftige Krieger konnten damit einen Gegner spalten.“

Ulani erklärt sehr anschaulich, wie das Leiomano dabei zwischen den Beinen des Gegners angesetzt und mit kräftigem Ruck nach oben gezogen wurde. Das wäre mir dann doch zu blutig gewesen.

Allein die Vorstellung schmerzt.

Nach fast zwanzig Minuten beendet Kenai sein Training und kommt auf uns zu. Die Schweißperlen lassen den geölten Körper noch mehr glänzen. Der eigentlich gemütliche Riese schaut grimmig und ist sogar ein bisschen außer Atem. Das Training war anstrengend.

„Aloha kakahiaka! Sitzt ihr schon länger hier?“

Ulani grinst und nickt.

„Das sah ziemlich cool aus“, schwärme ich.

Kenai erzählt, dass Nakoa normalerweise mit ihm trainiert, er ihn allerdings nicht wach bekommen habe. Mit dem Handrücken wischt er den Schweiß von der Stirn und verabschiedet sich von uns – duschen - wie er sagt. Das hat er aber auch dringend nötig.

Eine Stunde später sitzt die ganze Familie am Frühstückstisch. Es werden Pläne für den heutigen Sonntag geschmiedet. Die Zwillinge wollen sich am frühen Nachmittag mit ein paar Freunden am Strand treffen und hoffen, von einem der Erwachsenen gefahren zu werden.

„Ihr könnt den Bus nehmen. Aber seid um sieben Uhr wieder pünktlich daheim!“

„Aber mit dem Bus brauchen wir fast 40 Minuten!“

„Ich weiß, Schatz. Aber dein Vater und ich haben schon etwas Anderes vor. Ulani und kupuna wahine sind mit ihrem kahuna verabredet.“

„Nehmt doch Keoni mit“, schlägt Ulani vor.

Ich lehne dankend ab. Schließlich möchte ich mich nicht zu sehr in das Familienleben drängen. Und Nakoa ist immer noch sauer auf mich.

„Wenn ich darf, würde ich gern die Gegend ein bisschen zu Fuß erkunden.“

Ulani nickt, bestimmt aber, dass ich mein Handy mitnehme, in das ich zuvor ihre Nummern einspeichern soll. Außerdem wolle sie mir eine Karte mitgeben.

„Ich bin doch kein Baby mehr und in Vancouver habe ich mich auch nie verlaufen!“

Kenai lacht und verschluckt sich beinahe am Kaffee. Er erklärt, dass es hier durchaus vorkommt, mehreren Stunden keiner Menschenseele zu begegnen. Es sei also ratsam, für den Notfall eine Karte und das Handy dabei zu haben – auch bei einem so selbständigen Zwölfjährigen wie mir. Außerdem seien sie meinem Vater gegenüber für mich verantwortlich und der würde garantiert sehr traurig sein, wenn ich irgendwo auf O‘ahu verloren ginge.

„Da bin ich mir, ehrlich gesagt, nicht so sicher!“