Mauerstreifen - Jürgen Jesinghaus - E-Book

Mauerstreifen E-Book

Jürgen Jesinghaus

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Beschreibung

Rücktiteltext Mauerstreifen – das ist nicht mehr die Berliner Mauer, aber immer noch die erkennbare Schneise in der ehemals geteilten Stadt. Der Roman spielt kurz nach der Wiedervereinigung, also nach einem Ereignis, das mit „Wiedervereinigung“ schlecht umschrieben ist (einer Bezeichnung, die auf juristische, auf finanz- und bündnispolitische Neuerungen hinweist) und besser „Annäherung“ genannt zu werden verdient. In der Handlung, die auch, aber nicht nur eine Kriminalgeschichte ist (in der sich der Kalte Krieg ein letztes Mal offenbart), begegnen sich Menschen voller Vorurteile, reiben sich aneinander, schleifen sich ab und bereiten sich so - mehr getrieben als planmäßig - auf ein Zusammenleben vor. Der „Held“ des Stückes, kein Held, ein Niemand, aber kein Dummkopf, empfindet die vier Tage der Annäherung als Alb und Lust, als Wechselbad der Gefühle – und als Chance zu einer Karriere, die ihm nicht zusteht, aber zufällt. Auch die Erotik kommt nicht zu kurz, weil der Anti-Held sich gelegentlich, wie ein Fisch im Wasser, von seinem Schwanz lenken lässt. Klappentext:Jürgen Jesinghaus, der Autor des Nikolaus-Buches (das auch von jemandem handelt, der seine Position im Leben sucht), befasst sich hier erzählerisch mit einer Zeitspanne zwischen der Nachkriegszeit als Ära der Hegemonialmächte USA und UdSSR und einer im Dunkeln liegenden, für die es noch keine Schlagwörter gibt. Die Zwischenzeit wird empfunden als (wie es im Roman heißt) Auge des Orkans, akustischer Schatten, Meer der Stille, Insel der Seligen und Arsch der Welt. Der Autor weiß, worüber er spricht, denn er war zu jener Zeit in Berlin und hat sich auch später mehrere Jahre dort aufgehalten und die Stadt der Widersprüche (die „Stadt ohne Form“, wie ein Architekt sie nennt) lieben gelernt. Der Text ist eine Liebeserklärung an Berlin (aber der Leser wird es kaum bemerken).

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Jürgen Jesinghaus

Mauerstreifen

(oder Berlin im Herbst 1990)

Roman

Universal Frame

All rights reserved

alle Rechte vorbehalten

Copyright © 2009

Verlag Universal Frame GmbH, Zofingen

ISBN9783952356227

Prolog

1.

Er war um vier aufgestanden und hatte ohne Frühstück das Haus verlassen. Um sechs wartete er an der Pforte des Ministeriums. Es dauerte noch 20 Minuten, bis der Bus eintraf, der seit der Vereinigung einen Umweg über das Regierungsviertel nahm. Pünktlich 7.30 stiegen die Passagiere am militärischen Teil des Konrad-Adenauer-Flughafens aus und reihten sich in eine Schlange, die zur Abfertigungshalle kroch. Bundeswehrsoldaten, voll teilnahmsloser Würde, hielten Wache an wackeligen Abfertigungstischen, über den gebeugten Köpfen stempelnder Beamter, die beim Überreichen der Bordkarte nur flüchtig aufblickten. Es begann zu nieseln. Die aufgespannten Schirme stießen sich. Die Stimmung war schon um 7.45 gefroren. Brosheim stand eingehüllt im Regen, wie in einem kalten Glaspanzer, und dachte an die vergangene Woche, während er das Gerede der Umstehenden hörte, ohne einen Sinn zu erfassen.

Er hasste den Vorgesetzten, der die Dienstreise angeordnet hatte (vermutlich in dem Glauben, der Flug werde als Belohnung aufgefasst, als incentive, wie es im Neusprech heißt, als Ersatz vielleicht für aufgeschobene Beförderungen). Nein, ‚hassen‘ ist übertrieben, ja, er hätte ihn geohrfeigt, wenn Ohrfeigen im öffentlichen Dienst ein anerkanntes Mittel wären, seinen Unmut auszudrücken. Er ärgerte sich, dass er nie weiter gekommen war, es nicht einmal zum Unterabteilungsleiter gebracht hatte. Wäre er UAL, dürfte er Dienstreisen selbst bestimmen und von höherrangigen Beamten nur formell abzeichnen lassen. Stattdessen die butterweiche Anordnung:

„Sie sollten einmal hinfliegen und nach dem Rechten sehen. Wir müssen die Hand drauflegen, bevor alles in irgendwelchen Kanälen versickert. Stellen Sie möglichst heute noch einen Reiseantrag, sonst kriegen Sie die Donnerstags-Maschine nicht.“

„Alles? Sickert in Kanäle?“

„Naja, das Ganze halt, alles, was der Bundesrepublik zugefallen ist, eben alles, wofür Sie und ich jetzt verantwortlich sind, obwohl wir kein zusätzliches Personal haben.“

„Nicht? Die Leute drüben?“

„Achherrje, bis die Indianer das geschnallt haben! Würden Sie denen über den Weg trauen? Deshalb sollten Sie hin. Ich weiß, Sie haben hier noch was anderes zu tun. Denken Sie daran, sich ein Zimmer zu bestellen.“

Die schiere Unmöglichkeit, nicht einmal für 300 Mark unter den Linden. Die teuersten am Kudamm waren am schnellsten weg, die 500-Mark-Zimmer. Aber den Auftrag in einem Tag zu erfüllen, das sei nicht zu leisten. Dabei wusste er aus alten BRD-Zeiten, dass man morgens bequem mit einem halbleeren Linienbus zum Flughafen fährt, eine viertel Stunde zum Einchecken benötigt, eine knappe Stunde später ist man in Tegel und wird von einem Senatswagen abgeholt. Damals hätte man einen Job gut und gerne am selben Tag erledigen können!

„Erkundigen Sie sich im Haus nach jemandem, mit dem Sie ein Doppelzimmer teilen.“

Genau das hatte er nicht getan, sondern geschwindelt, er habe bereits eine Unterkunft gefunden.

Der Eintritt in das Abfertigungsgebäude der Bundeswehr, die neuerdings über Tupolew, Iljuschin und sogar Migs verfügte, ließ seine Stimmung nicht etwa hochschnellen, weil er endlich den Regen verlassen durfte, sondern verhinderte nur den Absturz in eine Depression oder, was bei seiner Stimmungslage schwer vorauszusagen war, den Ausbruch eines Wutanfalls, der angesichts der Soldatengesichter, an denen Gefühle abprallten, in Frust ersterben würde, in einer seelischen Kreuzigung durch die beiden Nägel Wut und Schwermut. Endlich stand er über dem Scheitel einer Person, die Namen aus Listen suchte und behauptete, er werde in der Primär-Liste nicht geführt. Dann fliege ich eben nicht, mein Gott! In der Sekundär-Liste, die heute früh aus Münster gekommen war, fand man ihn doch verzeichnet, und so durfte er passieren.

Er bewegte sich unter vielen Beamten, die ihre neuen Dienststellen in Ostberlin als Kommissare besuchen würden, beneidet, gehasst, verachtet von den Eingeborenen, die alle Verstecke verraten, alle Schätze abliefern und dann am Ende einer Schamfrist in einem abgelegenen Büro oder arbeitslos in der billigen Platte verschwinden mussten. Aber welch ein klägliches, frierendes Invasionsheer, diese Beamten! Sie sahen aus wie politische Gefangene, die in einem Nebengebäude des Flughafens, einem Unterstand für Feuerwehrautos, unter Arrest gestellt worden waren. In einer Ecke gab es heiße Getränke, natürlich zu überhöhten Preisen. Trotzdem kaufte Brosheim einen Plastikbecher voll Kaffee, weil ihm nach Heißem zumute war. Punkt neun eroberte er sich einen Platz auf einem Klappstühlchen. An Lektüre war nicht zu denken. Er hatte das Buch vergeblich eingesteckt (wie so oft). Er vergaß regelmäßig, dass man in Bussen nicht lesen kann, weil bei der Federung Augen und Buchstaben nicht in Phase schwingen, auch in den Zügen der Bundesbahn nicht, denn das Geschepper aus den Kopfhörern verleidet die Lektüre, und in Flugzeugen sitzt man so eingeklemmt, dass man am besten die Augen zumacht und versucht, an nichts mehr zu denken. Nur in leeren Straßenbahnen lohnt es sich, ein Buch herauszuholen, wenn man lange genug fährt. Er wurde müde. Er war fünf Stunden unterwegs, hatte die ganze Zeit über herumgestanden oder herumgesessen und sich geärgert. Die Tupolew fiel aus. Warum, das interessierte ihn nicht mehr. Es würde heißen, sowjetische Maschinen seien reparaturanfälliger oder älter oder werweißwas, oder die Herren von der fliegenden Truppe könnten noch nicht korrekt mit ihr umgehen. Er sollte das zum Vorwand nehmen, seine Dienstreise für gescheitert zu erklären, aufzustehen und fortzugehen! Er würde eine halbe Stunde verplempern, wenn er zum zivilen Teil marschierte, entnervt ein Taxi besteigen, 50 Mark zahlen, gegen Mittag zu Hause sein, sich für den Rest des Tages krank melden und die ganze Wiedervereinigung gründlich vergessen. Aber er blieb. Eine halbe Stunde Fußmarsch durch den Regen, 50 Mark aus eigener Tasche, der Tadel des Vorgesetzten – keine Perspektive. Er rückte sein Gepäck eng an die Beine, um den Druck zu spüren, dann schloss er die Augen und balancierte seinen Kopf aus.

Als man ihn anstieß, wachte er auf. Seinen Kopf fand er auf der Schulter einer Sekretärin des Innenministeriums, einer ältlichen, offenbar gütigen Dame, bei der er sich umständlich entschuldigte. Brosheim erklärte ihr, dass er seit vier auf den Beinen sei. Dabei sollte er wissen, dass es den meisten nicht anders erging. Er sorgte dafür, dass er von ihr getrennt wurde. Sie fuhr mit dem zweiten Pendelbus zur Maschine, die weit draußen auf dem Rollfeld stand, wie ein Schiff auf der Reede. Er nahm den dritten, stieg als erster ein und als letzter aus. Da im Passagierraum kein Sitz mehr frei war, geleitete ihn eine Stewardess in die Funktionärskabine, wo DDR-Arbeiter einst ein Bett, einen Tisch und zwei Sessel eingebaut hatten, so dass er sich bequem ausstrecken konnte; 11.37 hob das Flugzeug ab.

50 Minuten später. Die Iljuschin befand sich im Landeanflug auf Schönefeld. Er blinzelte und fragte sich stets dasselbe, wenn er knapp über den Wolken dahinflog: Was hätte Hesekiel oder Dante dazu gesagt, wäre ihm in seinen Visionen ein Anblick erschienen wie dieser, für den es nur abgeschmackte Wörter gibt, weil sich die Sprache auf keine Metapher hat vorbereiten können, denn selbst der Vergleich mit dem Polargebiet, einem Schnee-und Eisgewoge, von einem Luftschiff aus gesehen, wäre erst seit 60 Jahren glaubhaft zu nennen. So bleibt der Anblick, den heute jeder Beamte im Berlin-Tourismus zu sehen bekäme, wenn er nicht schliefe oder in den Akten läse, am besten unvergleichbar.

Schönefeld liegt in der ehemaligen DDR. Die Abgrenzung zur Gegenwart durch das Attribut ‚ehemalig‘ diente kurz nach der Fusion einer genauen zeitlichen Einordnung von Ereignissen: „Nachdem ich am 2. Oktober die DDR verlassen hatte, kehrte ich am 3. Oktober in die ehemalige DDR zurück“. Sauber. In fünf Jahren, spätestens in fünfzig, würde man auf das Ehemalige verzichten, denn niemand sprach vom ehemaligen römischen Reich, auch nicht vom ehemaligen Preußen, obwohl es Preußen de jure noch vor 45 Jahren gegeben hatte. Der Zentralflughafen Berlin-Schönefeld lag also in der ehemaligen DDR und hatte darum ärmlicher zu sein als der Konrad-Adenauer-Airport. Brosheim fragte sich, was der Rotarmist hier suche. Er sollte sich mit Russen die Macht über die zugefallenen Provinzen teilen? Noch lebten sie in ihren zur Heimat gewordenen deutschen Kasernen. Die Kosten für eine sowjetische Heimat und die Übersiedlung würde man zweckmäßigerweise in der neuen deutschen Währungseinheit ausdrücken: Milliarden DM, kurz MDM, denn eine Verwechslung mit Millionen DM war von nun an, seit der kurzen Revolution, der sich die SED, ihrer selbst überdrüssig, gerne gebeugt hatte, nicht mehr zu befürchten.

Hier stand er und wartete auf einen Fahrer des ehemaligen DDR-Außenministeriums, der einige ministerielle Außenstellen anfahren sollte (Genscher also auch zuständig für Außenstellen). Brosheim schüttelte für sich den Kopf. Er musste sich auf allerlei Schwierigkeiten gefasst machen. Es begann schon in Schönefeld. Der Fahrer kam, wollte aber nicht eher mit dem Barkas abfahren, als bis die zweite Maschine im Gefolge der Iljuschin gelandet wäre, „weil ich weitere Damen und Herren aus Bonn erwarte“. Brosheim hätte ihm gerne einen Befehl erteilt, aber die Berliner Art, die er aus frühen Kudamm-Zeiten kannte und die auch am Alexanderplatz zu herrschen schien, hielt ihn davon ab, und schließlich auch seine Überzeugung, dass sie gleichberechtigte Menschen seien, die einander nicht zu kommandieren hätten. Er ärgerte sich trotzdem, entfernte sich von ihm und schaute in die Auslagen der Shops, die schon so hießen und vollgestopft waren mit Gütern aus dem Westen: Marlboro, Playboy und Sony. Eine Dreiviertelstunde kam ihm nicht zu lange vor, weil er sich auf einen vergeudeten Tag eingestellt hatte. Der Kleinbus füllte sich. Einige Mitfahrende kannte er vom Sehen, und er sorgte dafür, dass ihn keiner ansprach, weil er sich auf keine Verabredung einlassen wollte, denn ihm stand das Schwierigste noch bevor: Die Suche nach einem Hotelzimmer in der wiedervereinten Stadt, die von Menschen überschwemmt wurde.

Kurz nach zwei erreichten sie die Außenstelle Unter den Linden. Er stellte sein Gepäck beim Pförtner ab, der erst nach gutem Zureden und einem langen Blick auf den Dienstausweis darin einwilligte, immer noch misstrauisch. Brosheim sagte geschäftsmäßig, er habe außerhalb dienstlich zu tun und werde sein Gepäck später abholen. Nur die Hängetasche warf er über die Schulter und ging. Er war so vorsichtig gewesen, einen Kamm und eine Zahnbürste als ständige Utensilien hineinzuwerfen. Es zog ihn nach Westen, möglichst weit weg (aber nicht zu weit, sonst stieße er wiederum an die Grenze zur – ehemaligen – DDR). Dort wollte er eine Pension suchen, wie in den alten Zeiten, als West-Berlin noch die Insel der Seligen war, von Mauern umgeben, geschützt gegen den real existierenden Sozialismus, aber auch gegen das Ladenschlussgesetz der BRD. Es hätte keinen Zweck gehabt, in den Seitenstraßen Unter den Linden vor die Schalter der Hotelrezeptionen zu treten, um nach einem Zimmer zu fragen. Also überließ er alles dem Zufall, in den er viel Vertrauen setzte.

Er ging zur Friedrichstraße und fuhr mit der S-Bahn weit nach Westen, stieg dann in ein Taxi, nur um den Fahrer zu fragen, ob er keinen Geheimtipp wisse. Selbst der wusste keinen.

„Dann fahren Sie mich zu der nächsten seriösen Bar, die bis morgens offen hat.“

„Seriös?“

„Es darf nichts kosten, der Bedienung in den Ausschnitt zu kucken.“

2.

Brosheim war der erste Gast. Die Frau hinter dem Tresen sagte:

„Du kannst bleiben.“

„Ich geh nur kurz um die Ecke und esse was.“

„Niemand hält dich fest, aber wenn es das ist, mach ich dir eine Bohnensuppe.“

„Aus der Büchse?“

„Was denn sonst.“

Sie war eine Rothaarige in einem hochgeschlossenen schwarzen Kleid. Er schätzte sie auf vierzig, mochte sich aber nicht festlegen.

„Willst du jetzt schon oder später?“

Er gefror und schaute sie an, so dass sie mit ihrer Raucherstimme auflachte.

„Wollen Sie jetzt einen Drink oder möchten der Herr warten, bis er gespeist haben?“

„Jetzt ein Guinness.“

„Nee, ich geb dir eine Weiße mit Schuss. Du bist zum ersten Mal hier. Ich kenne jeden, der reinkommt, und wenn nicht, muss ich schnell entscheiden, ob ich ihn rausschmeiße oder nicht.“

„Danke“, sagte er, „hast du schon mal einen rausgeschmissen?“

„Lassen. Ich seh es den Leuten an.“

„Was siehst du ihnen an?“

„Ob sie Stunk machen wollen. Ich seh es auch daran, was sie anhaben. Du zum Beispiel bist auf der Schreibstube.“

„Ich zum Beispiel bin Großmarktvertreter. Das soll ich jedenfalls – auf Rat eines Bekannten hin – behaupten, wenn ich in die Halbwelt abtauche.“

„Also hör mal!“

„Ich bin auf der Schreibstube, du hast recht.“

„Bei Vatern Staat? Geht mich nichts an. Du hast den ganzen Tag gearbeitet, willst was für die Gemütlichkeit tun und trotzdem deiner Frau später in die Augen sehen können, in die Kuckerchen.“

„Ich bin nicht verheiratet.“

Sie stellte ihm die Weiße auf den Tresen, frottierte sich die Hände an einem Tuch und verschwand in einer schwarzen Ecke. Er kam jetzt dazu, sich in der Bar umzusehen. Sie war einem Wohnzimmer vergleichbar, einer Straußenwirtschaft, ihrer Größe nach zu urteilen, ausstaffiert allerdings mit rötlich schimmerndem Mobiliar. Er tippte auf Kirsche oder Mahagoni und beschloss, die Bardame zu fragen (vergaß es aber). Die wenigen Tische standen auf einem Podium, gegeneinander abgegrenzt durch Messing-Geländer. Sehr spät, nachdem er sich an das indirekte Licht gewöhnt hatte, bemerkte er, dass der Boden voller Münzen lag. Er wunderte sich, dass er sie beim Hereinkommen übersehen hatte, und traute sich nicht, vom Hocker zu steigen, um die Währung festzustellen. Er würde es in Gegenwart der Dame tun.

Sie reichte ihm in einer dicken, roten Tasse die Bohnensuppe und drückte ihm eine halbe Schrippe in die Hand.

„Du bist nicht aus dem Osten“, sagte sie.

„Wieso? Hätte jemand aus dem Osten die Nüsse vom Boden geklaut?“

„Blödsinn.“

„Aus Bonn“, sagte er.

„Ah, von ganz von oben! Der Westen wimmelt jetzt von Ossis, aber ich habe hier noch keinen gesehen. Darum frage ich, ob du von drüben bist. Wäre ein Jubiläum.“

„Du hast es vielleicht nur noch nicht gemerkt.“

„Ich merke das, ich rieche es, ich sehe das und höre es auch.“

„Bei mir warst du aber nicht sicher?“

„Dich kann man schwer erraten.“

„Trotzdem hast du mich hereingelassen, ohne einen Knopf zu drücken und deinen Rausschmeißer zu rufen?“

„Instinkt mit Restrisiko.“

„Ist das schmeichelhaft für mich?“

„Das ist doch nicht wichtig für dich“, sagte sie, ließ dabei ihre Stimme rauh durch die Kehle und beugte sich zu ihm:

„Nun iss!“

Die Tür wurde aufgerissen und herein schneite, zu schwungvoll für den kleinen Kellerraum, ein aufgedunsener Mann in eleganter Kleidung.

„Lässt dich auch mal sehen?“ fragte die Frau und erhob sich von ihren Ellbogen.

„Hi“, sagte er, „gib das Telefon rüber. Hast du einen Drink für mich übrig?“

Er schien Brosheim nicht zu beachten. Die Dame erfüllte ohne Gemütsregung die Wünsche des Mannes, der sich den Apparat herangezogen hatte und sich verrenkte, um eine Zigarette anzuzünden. Brosheim war froh, sich mit der Bohnensuppe beschäftigen zu dürfen. Er hatte Angst, von ihm angesprochen und herumkommandiert zu werden. Ihm war nicht nach Schlägerei. Jemand, der seit vier Uhr morgens herumhängt, schlägt sich nicht gerne, darum vermied er alles, was das Interesse des Mannes auf ihn ziehen könnte. Dieser wählte zum wiederholten Mal, dann nahm er die Zigarette aus dem Mund. Brosheim spürte, wie er ihn als Blickfang benutzte, als wäre er ein Plakat an der Wand oder eine Fliege auf dem Tisch. Er spürte die Wut hochkriechen. Jetzt brauchte es nicht viel, und er würde selbst eine Schlägerei beginnen! Der Mann hatte sich wieder abgewandt und telefonierte. Dabei lächelte er die Barfrau an, die hinter dem Tresen zwischen den beiden Männern stand, von jedem gleich weit entfernt. So bekundete sie ihre Neutralität. Obwohl Brosheim nicht zuhören wollte, achtete er doch auf das Gespräch und schaute dabei auf die Barfrau, die wie ein heiliges Opfer die Blickspeere auf sich zog. Der Mann orderte telefonisch eine Pizza in die Wohnung seiner Freundin, soviel war klar. Dann wählte er ein zweites Mal und bestellte weiße Rosen zu derselben Adresse, aber für eine halbe Stunde früher als die Pizza. Bei der Blumenbestellung gab es Schwierigkeiten. Der Mann wurde barsch, er sprach aber leiser. Dann fand er plötzlich zu seiner lauten Höflichkeit zurück und legte zufrieden auf.

„Die Leute wollen nicht immer, wie man will“, rief er zu Brosheim hinüber.

„Kein Wunder bei den Zeiten.“

„Schwere Zeiten, Sie sagen es, wird bestimmt besser, seh ich schon vor mir, die von drüben. Aber das große Geld fehlt noch! Wird schon werden, wenn Vater Staat mit den Piepen rüberkommt.“

Er schwang sich vom Hocker und legte einen Zehner auf den Tresen. „Ciao“ und verschwand in der geschäftigen Eile, wie er gekommen war. Brosheim versöhnte sich mit ihm. Sie hatten wie ordentliche Geschäftsleute miteinander gesprochen.

„Weiße Rosen“, sagte die Bardame, „sind in, rote Rosen sind out.“

Das wusste Brosheim nicht und nahm es deshalb wortlos zur Kenntnis.

„Früher hat mir der Kerl nur Moosröschen mitgebracht.“

„Kennst du ihn?“

„War mein Mann, habe ihn rausgeschmissen wegen Geldgeschichten. Ich bin aus Hamburg. Ich war zu alt für meinen Job und habe mich hier zur Ruhe gesetzt.“

Sie wandte sich ab und hantierte an der Kasse, als wollte sie Brosheim Zeit lassen, alles richtig zu begreifen.

„Ich hätte“, meinte Brosheim, „dir jedenfalls keine Moosröschen mitgebracht, sondern richtige Rosen, nicht so kleine.“

„Ach du großer Gott! Steck ihn wieder in die Hose. Du machst mir doch keine Komplimente?“

„Ich könnte einen Aquavit vertragen.“

„Na also.“

Wie gerufen trat ein Thai herein und bot Rosen zum Verkauf. Die beiden Anwesenden lachten, und der Thai lächelte in seiner geduldigen Güte.

„Du bist zu früh dran“, sagte die Barfrau. Brosheim machte keine Anstalten, einen Rosenstiel zu kaufen (er hatte sich eben albern benommen). Er kam sich vor wie ein Inspizient. Die Kellerbar war eine kleine Bühne. Die Schauspieler traten durch den Vorhang, der die Eingangstür von dem warmen Raum trennte. Sie hatten ihre kleinen Auftritte und verschwanden wieder. Und die Bardame war der Gegenstand des Stückes. Der Aquavit wärmte ihn, er verlor seine Müdigkeit, ein schlechtes Zeichen für den nächsten Tag, den er in einem Büro der neuen Dienststelle dösend würde zubringen müssen. Die Aussichten, von hier aus ein Zimmer zu bestellen, waren fast Null. Vielleicht hätte er den Exgatten der Bardame danach fragen sollen. Der sah ihm so aus, als hätte er sofort eines organisieren können. Er musste es wenigstens noch einmal versuchen.

„Ich komme gleich wieder“, sagte er.

„Geh nur.“

Am Vorhang angekommen, schlug er beide Hände gegen die Jacke.

„Ich habe nicht bezahlt. Entschuldige! Ich hatte es vergessen. Wie viel macht es?“

„Geh nur, zahl später.“

„Das ist mir peinlich, aber jetzt bezahle ich. Ich muss nur kurz telefonieren.“

„Du gehst raus, nur um zu telefonieren?“

„Ich muss mich um ein Zimmer kümmern.“

„Du gehst raus, nur um zu telefonieren? Geh nur, du kannst hier auch telefonieren, aber geh nur!“

Er schlug sich gegen den Kopf.

„Ich habe doch kaum getrunken, trotzdem bin ich aus der Rille, ich bin einfach zu lang auf den Beinen. Wenn ich bei dir telefonieren dürfte?“

„Du darfst.“ Sie war beleidigt. „Fluchtverhalten“, sagte sie.

„Nein wirklich, du musst mir glauben, ich wollte nicht abhauen, ohne zu bezahlen. Ich bin ja gottseidank selbst drauf gekommen. Gib es zu.“

„Du wolltest einfach raus, weg von hier. Mit dem Bezahlen hat das gar nichts zu tun.“

Sie trocknete Gläser und hielt sie gegen das Licht, um zu prüfen, ob Flusen daran hafteten.

„Ich wäre bestimmt wiedergekommen. Ich hatte plötzlich das Gefühl, ich sollte mir ein Zimmer besorgen, jetzt sofort, weil ich sonst keines mehr kriege.“

Sie lächelte und sagte nichts.

„Es war blöd von mir. Wichtig ist nur, dass du mir glaubst, ich wollte nicht ohne Bezahlung abhauen.“

Er nahm sein Portemonnaie aus der Jackentasche und warf es ihr zu.

„Behalt es, bis ich bezahlt habe.“

„Nimm das wieder oder ich schmeiß es dir an den Kopf!“

Sie warf es ihm gegen die Brust.

„Wenn du willst, kannst du gehen. Ich halte dich nicht.“

„Ich will ja gar nicht gehen.“

„Du kannst aber. Niemand hält dich.“

„Ich möchte hier bleiben“, sagte er kleinlaut.

„Er möchte hier bleiben, weil er draußen auf der Straße kein Zimmer findet!“

„Willst du, dass ich gehe?“

„Ich denke, du willst telefonieren? Du bist ja nicht der erste, der von hier aus telefoniert!“

Sie stellte ein Glas ab, reichte ihm das Telefon und zog das gelbe Buch hervor. Dann stützte sie sich auf den Tresen und schaute ihn an.

„Hast du Angst vor mir?“

„Nein, Virginia Woolf. Ich bin übermüdet, nur etwas durcheinander.“

„Mit dir ist also heute nicht mehr zu rechnen?“

Er blickte sie an. Die Hitze stieg in seinen Kopf und verteilte sich brennend über die Backen.

„Bestimmte Sachen kann ich immer.“

Sie nickte einige Male.

„Nur telefonieren kannste nich.“

„Ich habe keine Nummer.“

„Draußen auf der Straße hättest du eine gehabt?“

Der Vorhang wurde auseinandergeschlagen. Eine Mischung aus Boxer und Schäferhund zog einen Mann hinter sich her, der Mühe hatte, das Tier festzuhalten.

„Namt. Sauwetter.“

„Hallo. Regnet es?“

„Das nicht.“

„Kalt geworden?“

„Nicht eigentlich.“

„Ungemütlich?“

„Könnte man sagen.“

Er schaute sich um. Brosheim wählte eine Nummer. Absage. Er musste sich anhören, wie man ihn auslachte: Aussichtslos, Sie hätten sich viel früher darum kümmern sollen! Der Neue hakte den Hund von der Leine. Nachdem der Boxer (oder was es sein sollte) an Brosheim geschnüffelt hatte, irrlichterte er durch den Keller und scharrte in den Münzen, dass es klingelte wie auf dem Weihnachtsbasar. Die Dame schien an diesen Vorgang gewöhnt zu sein. Sie protestierte nicht über den umtriebigen Gast, der sich in den Schankraum verdrückte. Hinter der Theke stöberte er einen verpackten Broiler auf, zerriss das Papier, ohne dass jemand versucht hätte, ihn daran zu hindern. Dann floh er unter einen Tisch. Brosheim blätterte lustlos in dem gelben Buch.

„Wo ist die Karlstraße?“

„Kennst du die Karlstraße?“ fragte die Dame den Hundebesitzer, der sich die Hände rieb.

„Die Karlstraße? Ich kenne keine. Der Herr meint die Karlsruher Straße.“

„Die Karlstraße.“

„Sie meinen sicher die Karlsruher oder die Karl-Marx-Straße, wau, nichts für ungut.“

Brosheim ließ die Blätter zwischen Zeigefinger und Daumen hindurchgleiten.

„In Bonn gibt es eine Karl-Max-Straße.“

„Da hat der Kohl das R rausnehmen lassen, politisch korrekt, völlig wau-wau“, entgegnete der Herr.

Brosheim reichte das gelbe Buch zurück. Er tat ihr leid, und daher sagte sie entschuldigend zu dem Hundebesitzer:

„Er kommt nämlich aus Bonn.“

„Wau. Der Karl Marx kommt doch auch aus der Gegend. Was habt Ihr denn mit dem?“

„Gar nichts. Ich brauche ein Zimmer.“

„Versuch es doch mal im Charlottenburger Hof“, warf die Dame beschwichtigend ein, „und dann nochmal hier vorne in Arnulfs Pension.“

„Nein, die heißt anders, liegt aber drei Häuser weiter.“

Brosheim sagte:

„Wenn sie hier vorn ist, schau ich doch selbst nach.“

„Nur ein paar Häuser weiter links.“

„Soll ich nun zahlen?“

„Du zahlst nachher und schaust, dass du rauskommst. Vergiss diesmal den Mantel nicht, es ist ungemütlich draußen.“

Brosheim ging hinaus und schöpfte tief Luft. Er überlegte, ob er rein theoretisch gesehen abhauen könnte, und tastete seinen Mantel und die Jacke ab, ob er nichts dagelassen hätte. Die Hängetasche. Werde nicht vergesslich, alter Junge! Aber selbstverständlich hatte er gar nicht vor abzuhauen. Er blickte in die Straße, nach links, nach rechts. Nichts, was auf ein Hotel oder eine Pension hindeutete. Er fragte eine Frau nach einer Pension Arnulf oder so ähnlich, aber sie schüttelte unwirsch den Kopf, als wollte sie sagen, dass sie auf der Straße nichts kauft. Er schritt fünf Häuser nach links und kehrte dann in die Bar zurück. Nun hatte er seinen eigenen Auftritt auf der kleinen Bühne. Der Hundebesitzer rieb sich noch immer die Hände oder schon wieder. Er ließ Brosheim auf dem Hocker Platz nehmen, bevor er sagte:

„Die Pension ist in der Parallelstraße. Sie müssen, wenn Sie rauskommen, zuerst nach links, dann über die Ampel, dann kommen Sie auf den Holtzendorffplatz, dann halten Sie sich links und da ist dann die Pension Arnold, in der Karlsruher Straße.“

„Es ist kalt“, versetzte Brosheim nur.

„Ja, ungemütlich draußen.“

„Bleib hier“, sagte die Barfrau, „ein Hotel kriegst du sowieso nicht mehr. Du müsstest dir ein Zimmer schon mit zwei anderen teilen. Berlin ist voll bis obenhin.“

Alle drei bestätigten sich gegenseitig, dass Berlin voll sei und dass Berlin eine Veränderung durchgemacht habe, dass die Preise gestiegen und die Hotels trotzdem monatelang im voraus ausgebucht seien. Aber Brosheim verspürte keine Lust, die Veränderung beim Namen zu nennen. Er fühlte sich müde und wollte die Meinung der anderen über die Wiedervereinigung nicht hören. Den anderen erging es ebenso. Sie waren leer von Politik. Der Mann erzählte, dass Aquavitfässer jahrelang übers Meer gefahren würden, um sie durchzuschütteln, bis der Schnaps aus den Eichenbrettern der Fässer den berühmten Goldstich gesogen hätte. Die Dame ließ sich abwechselnd von beiden zu Likören einladen und berichtete, dass sie, solange sie im Dienst ist, noch nie besoffen war.

„Ab und zu reißt mir der Faden, wenn ich morgens mit einem guten Kunden losziehe, um bei einem Bekannten, außerdienstlich sozusagen, einen Schlaftrunk zu nehmen, nur so zum Vergnügen.“

„Wau!“

Die beiden Männer hörten ihr zu, als berichtete sie über Abenteuer und schreckliche Bräuche in einem fremden Erdteil. Der Hund lag auf den Münzen und schlief. Um Mitternacht kam ein Mann zum Schweigen herein. Er bestellte einen Chablis und versank in Schwermut.

„Der einzige Ort in Berlin, wo man nicht totgetrampelt wird“, sagte der Hundebesitzer zu ihm.

Nach Theaterschluss fanden sich noch vier Gruppen ein, die dafür sorgten, dass sich der Keller füllte und laut wurde. Aus einer Tür hinter dem Tresen trat eine junge Person, eine schöne Frau, die ein hochgeschlossenes schwarzes Kleid anhatte. Die Lippen sahen in ihrem bleichen Gesicht schwarz aus, eine Tochter Juliette Grécos gewissermaßen, die sich am Tresen zu schaffen machte. Die beiden Damen sprachen leise miteinander. Die junge Person beendete das Gespräch mit einem energischen Kopfnicken und blickte die Gäste an, die hinter dem Lichtvorhang, der zwischen Deckenleuchte und Tresen im Zigarettenrauch schwankte, über ihren Gläsern sannen, als warteten sie auf ein Ereignis, das ihr Leben ändern würde. Brosheim spekulierte, dass die junge Person, eine Aushilfe, die auch nach Mitternacht prompt eingesetzt werden konnte, wenn die Nachfrage es erforderte, die ganze Zeit über im Hinterzimmer auf den späten Andrang der Gäste gewartet und sich mit Lesen die Zeit vertrieben hatte. Bonjour Tristesse. Er hielt es für ausgemacht, dass sie die Tochter der Bardame und eine Studentin war.

Die Bardame erschien ihm nun milde und mütterlich. Sie hatte ihre Wachsamkeit an die junge weitergereicht und wirkte alt. Aber plötzlich war es ihm, als machte sie ein Zeichen mit dem Kopf, ihr ins Hinterzimmer zu folgen. Brosheim unternahm mehrere Versuche, sich zu vergewissern. Er hob die Brauen, zeigte mit dem Finger gegen sich. Sie zog schließlich mokant ihre Lippe hoch und trat unter den Lichtvorhang, dass ihr Haar in reinem Kupfer erstrahlte.

„Wenn ich dir sage: komm, musst du kommen.“

Er stand auf und folgte ihr. Vor der Toilettentür hielt sie ihn auf, fasste das Revers seiner Jacke und sah ihn alt an.

„Hör mal zu, Schmusekater, ich gebe dir einen Schlüssel.“

Sie hob mit der anderen Hand kurz zwei Schlüssel vor seine Augen und stopfte sie dann in seine Hosentasche, dabei stieß sie durch das Futter auf etwas wie einen aufgepumpten Schlauch.

„Du machst jetzt Rechnung bei mir, gehst dann in die Dahlmannstraße, die dritte Querstraße rechts, wenn du rauskommst. Kannst du das behalten? Bei der Nummer 319 nimmst du den Schlüssel mit der Delle, hast du verstanden, und schließt die Haustür auf. Nimm nicht den Fahrstuhl, um diese Zeit benutzt du nicht den Fahrstuhl, sondern schleppst dich selber in die vierte Etage, vergiss das nicht, die vierte Etage!

Sie zischte ihn an.

„Du hörst mir nicht zu!“

Brosheim konzentrierte sich auf ihre Augen, die ihn schwarz anschauten.

„Bleib mit deinen Kuckerchen bei mir und rühr sie nicht von der Stelle, damit ich sehe, ob du begreifst, was ich sage. Ihr Männer seid zu dämlich. Du schließt die Etagentür auf.“

„Welche Etagentür?“

„Du denkst mit, Schmusekater, es gibt nur die eine Etagentür, direkt vor deiner Nase, wenn du aus dem Aufzug rauskommst, aber du nimmst den Aufzug nicht, hast du das verstanden? Du schließt sie auf und gehst leise, wie gehst du? ganz leise durch den Flur und machst kein Licht an. Du schleichst dich durch den Flur und stößt mit deinem Döskopp gegen eine Zimmertür, durch die du dich dünn machst. Hast du das kapiert? Du machst die Tür hinter dir zu und kannst meinetwegen Licht anknipsen. An der Wand hängt ein Van Gogh, das ist dein Zimmer für die Nacht. Pipi machst du, wenn du rauskommst erste Tür rechts. Ist das zu viel für dich? Das Zimmer mit den Gladiolen, du musst es auf Anhieb finden, okay? Du hast das alles verstanden?“

Er grinste und bestätigte ihr, dass er alles verstanden hatte.

Brosheim fand alles so vor. Das Zimmer enttäuschte ihn. Es sah zwar besser aus als ein Hotelzimmer, eher wie ein selten und dann ungern aufgesuchtes Wohnzimmer, in dem alles akkurat an seinem Platz stand. Ihr Zimmer war es nicht. Genau genommen hatte er das auch nicht erwartet. Es war nur eine Hoffnung zweiten Grades, die ihn daran denken ließ. Hoffnungen zweiten Grades gehen niemals in Erfüllung oder bestenfalls nur einmal im Leben, und das hier war nur eine Hoffnung übungshalber, denn was erhoffte er sich von einer vierzigjährigen Ex-Nutte? Das Vertrauen, ihn in ihr eigenes Zimmer zu lassen? Er hatte gehofft, dass sie ihm vor allen anderen Gästen vertraut. Frauen geben ihren Schlüssel nicht so schnell aus der Hand, und wenn sie es endlich tun, hat man schon zweimal mit ihnen geschlafen. Brosheim suchte das Bild, das sie extra erwähnt hatte, nach Mustern und Zeichen ab, die etwas bedeuten könnten. Aber der Kunstdruck, aus einem Kalender gerissen und gerahmt, blieb ausdruckslos, reine Oberfläche. Er zog sich aus und legte sich ins Bett, nachdem er eine schwere bestickte Schondecke aufgeschlagen hatte.

Erster Tag

3.

Brosheim wachte kurz vor Mittag auf und hörte Schritte auf dem Flur. Er stieg aus dem Bett und zog sich an. Er hatte einen halben Arbeitstag verschlafen, denn er war einen Tag mit Reisen und Zimmersuche beschäftigt gewesen. Ihm blieb noch dieser Nachmittag, und morgen würde er zurückfliegen. Brosheim trat beherzt aus der Tür und traf auf eine Dame, die dabei war, die Wohnung zu verlassen. Sie drückte die Tür wieder ins Schloss und wünschte guten Morgen.

„Haben Sie gut geschlafen? Ich habe Sie nicht mehr kommen hören.“

Sie ging an ihm vorbei in die Küche und zeigte ihm eine Thermoskanne und wo das Brot zu finden war.

„Aufstrich im Kühlschrank. Übernachtung inklusive Frühstück macht 60 Mark. Legen Sie es dort in die Schublade, ich habe es leider eilig, eine Verabredung, die ich nicht verpassen darf. Die Schlüssel, die Ihnen meine Tochter gegeben hat, legen Sie am besten dazu.“

„Natürlich“, sagte Brosheim, „selbstverständlich. Könnte ich mir, vielleicht heute Abend, eine Quittung abholen und gleich zum Übernachten dableiben?“

Die Frau blieb in der Küchentür stehen und sah ihn belustigt an.

„Wer den Schlüssel hat, der hat das Zimmer. Behalten Sie den Schlüssel, aber ich bin auf jeden Fall zu Hause. Sie können auch morgen zahlen, wenn Sie wollen, macht dann 120.“

Sie war bereits an der Wohnungstür, als sie ihm zurief:

„Ich habe keine Rechnungsvordrucke, ich bin noch nicht dazu gekommen. Wegen der Abrechnung mit der Firma, nicht wahr?“

Die Tür schlug zu und Brosheim blieb, wie er wähnte, allein in einer fremden Wohnung. Er fühlte sich als Einbrecher. Er wollte nicht wahrhaben, dass diese Frau von vorhin ein so großes Vertrauen in ihre Tochter haben sollte, und diese Tochter ein so großes Vertrauen in ihn. Ein Riesenbluff, dachte er. Er machte auf dem Gästeklo Katzenwäsche und putzte sich die Zähne. Dann setzte er sich, nachdem er alles zusammengetragen hatte, was zu einem Frühstück gehört, und saß und kaute in einer stillen Wohnung, in einer Nebenstraße des Westens. Dass Berlin überlaufen sein sollte, mochte er in diesem Augenblick nicht glauben.

Als Brosheim darüber nachdachte, wie er sich aus dieser Lage befreien könnte, ohne eine Spur in diesem seltsamen Gasthaus zu hinterlassen, und als er die nächstliegende Lösung dieses Problems in die Tat umsetzen wollte, nämlich das Geld zu hinterlegen, aus dem Haus zu fliehen und nie wieder zurückzukehren, da bewegte sich die Küchentür, die nur angelehnt war. Jemand stieß sacht die Türe auf, so dass es aussah, als öffnete sie sich von selbst. Herein schlurfte ein Mann, etwa im Alter der Frau, die vor zwanzig Minuten die Wohnung verlassen hatte, aber viel gebrechlicher. Er stützte sich auf einen Stock, dessen Bodenende aus einem wuchtigen Gummipfropfen bestand. Der Mann blickte Brosheim entgeistert an. Brosheim hielt im Kauen inne und riss die Augen auf. Für was musste der Alte ihn halten? Der Mann in Pantoffeln trug eine Weste über einem blaukarierten Hemd. Um seinen Hals schlang sich ein Schal. Alles an dem Mann hing herab, die Haare, die Tränensäcke, die bläulichen Wangen, die Lippen. Die Hosenbeine wurden durch keine Falte gestützt. Sie hingen am Gürtel, der über keinen Bauch zum Umspannen verfügte. Der Mann war mager. Es sah aus, als hätte er sich gerade jetzt, zur Frühstückszeit, dazu entschlossen, sein Krankenlager zu verlassen. Er bewegte sich vorsichtig auf den Küchenschrank zu, wie um Brosheim nicht zu reizen, nicht zum Aufspringen anzustacheln. Er bewegte sich fast seitlich und hielt dabei seinen Kopf gesenkt. Brosheim beschloss, gar nichts zu tun, und vergaß darüber, einen Gruß auszusprechen. Der Alte kannte die Stelle, wo Brot und Aufstrich zu holen waren. Er versorgte sich mit den Restbeständen und schlurfte zum anderen Tischende. Dort ließ er sich auf dem Stuhl nieder. Und wie verwandelt durch die Berührung des Stuhls, der ihm Selbstvertrauen und Kraft verlieh, sagte er auf einmal, ohne Brosheim anzusehen:

„Bring mir eine Tasse und einen Teller.“

Brosheim tat, als hörte er nicht, und kaute auf dem längst zu Ende gekauten Brotbrei in seinem Mund, hoffend, der Mann möge ihn für ein Gespenst halten und in Ruhe lassen. Der Alte seufzte tief und wollte sich erheben, was ihm sichtlich Mühe bereitete, als Brosheim ein Einsehen hatte und möglichst bestimmt wirkend rief:

„Bleiben Sie sitzen, ich hole Ihnen Teller und Tasse.“

Der Alte sah ihn dankbar an.

„Sie sind der Mann?“ fragte er.

„Welcher Mann?“

Der Alte erschrak und überlegte. Fürchtend, er könne als Antwort hören, was ihn enttäuscht, schwieg er und wartete, bis Brosheim alles vor ihn hingestellt hatte. Dann fragte er fast flehend:

„Die Messer?“

Brosheim vergewisserte sich, ob noch mehr fehlte, und brachte ihm das Messer und die Thermoskanne. Er fand sich plötzlich in der Lage eines Pflegers. Er bediente den Alten, und der dankte es ihm durch freundliche Blicke.

„Ich wohne hier“, sagte er auf einmal, „ich habe vergessen, wie ich heiße.“

„Haben Sie denn keinen Ausweis?“

„In meinem Ausweis steht nicht der richtige Name.“

„Wie lautet denn der Name in Ihrem Ausweis?“

Der Alte deutete mit magerem Finger auf die offene Tür und bewegte ihn auf und ab.

„Hol mir die Jacke.“

„Lassen Sie nur, keine Umstände, wenn es doch nicht der richtige Name ist.“

„Hol mir die Jacke!“

„Darf ich zu Ende frühstücken? Dann werden wir weitersehen.“

Der Alte machte wieder seine Anstalten, sich zu erheben und auf die Hilfe seines Pflegers zu verzichten. Brosheim kam ihm abermals zuvor. Im Stehen nahm er noch einen Schluck aus der Tasse. Kauend bequemte er sich in den Flur und brachte die einzige Jacke, die dort hing. Der Alte griff gierig nach ihr und nestelte nach einer Brieftasche. Aber statt eines Ausweises zog er eine Fotografie hervor und reichte sie Brosheim zum Anschauen. Der erkannte die Bardame, die auf dem Bild etwa zwanzig Jahre jünger aussah. Er blickte abwechselnd auf das Bild und den Mann, um eine verwandtschaftliche Ähnlichkeit zu erkennen. Die Lüsternheit in dessen Augen erschreckte Brosheim.

„Sie ist eine Hure“, sagte der Alte, „sie ist verdammt.“

Er nickte bekräftigend und sein Grinsen entzerrte sich zu einem freundlichen Lächeln, das über jeden Zweifel in dieser Frage erhaben war.

„Du bist falsch informiert“, sagte Brosheim, „sie ist natürlich keine Hure. Du bist ein Hurenbock und hast dir beim Wichsen eine Gehirnerweichung geholt.“

Er sprach leise und nachlässig, weil er es nicht darauf anlegte, von dem Alten verstanden zu werden. Brosheim steckte das Bild in seine eigene Jackentasche. Der Alte kicherte.

„Ich hab noch mehr davon.“

Er stand auf, behender als bei seinen vorausgegangenen Versuchen, und lief in kleinen Schritten aus der Küche. Brosheim wollte unter diesen Umständen kein Geld zurücklassen. Daher schrieb er auf einen Zettel, den er aus seiner Tasche geholt hatte, seine Privat-Adresse und die Zusicherung, dass er heute Abend wiederkommen werde. Er legte den Zettel in die vereinbarte Schublade und, obwohl neugierig auf weitere Bilder der Bardame, zog er seinen Mantel an, nahm die Tasche und wollte verschwinden, als der Alte aus einem Zimmer in den Flur zurückkehrte und statt Bilder zu bringen eine rote Plastikpistole auf Brosheim richtete und fragte:

„Hast du bezahlt?“

Brosheim entgegnete:

„Ich zahle morgen, wenn ich abreise. Das ist so üblich.“

„Aha.“

Der Alte senkte das Spielzeug. Er überlegte, dann fiel ihm ein, dass er Bilder hatte holen wollen.

„Sie hat meine Fotos versteckt oder vernichtet. Sie nehmen mir alles ab“, sagte er tonlos. Brosheim holte die Fotografie hervor und gab sie dem Alten zurück.

„Sie ist keine Hure, sie wird in den Himmel kommen.“

Der Mann nahm zögernd das Bild entgegen und bedankte sich, dann bat er Brosheim zum Frühstück in die Küche. Brosheim lehnte vorsichtig ab, in die Küche zu folgen, und verabschiedete sich.

„Sind Sie ein Gast des Hauses?“ fragte er den Alten noch.

„Ein Gast?“

Der Alte dachte nach, er fühlte sich überfordert und antwortete im gereizten Ton:

„Ein Gast bin ich auf jeden Fall, denn ich wohne hier. Ein Gast, das kann man sagen. Ja, ich bin der Gast.“

Der Alte memorierte: ein Gast, der Gast, und ging eilig in die Küche, als müsste er sein neuerworbenes Wissen hinüberretten an einen sicheren Ort der Verwahrung, den er in der hellen Küche zu finden hoffte.

4.

Brosheim fragte sich durch zum S-Bahnhof Charlottenburg. Er ging durch eine Poterne zu der Treppe, die ihn auf den zugigen Bahnsteig brachte, von wo laut Plan ein Zug Richtung Erkner fährt. Ein Bahnhof und zugig. Brosheim erwog die Doppelbedeutung, grinste für sich, schaute sich um und dachte: Wie der Bahnhof einer Mittelstadt, in Niedersachsen beispielsweise. Der Bonner HBF erschien ihm gedrängter. Dieser war auseinander gezogen, auf einer Ebene gut verteilt. Kein Fremder vermutet eine brandende Großstadt im Umkreis einer Autostunde. Brosheim begab sich unter das T-Dach und stolzierte zu einer Bank mit hoher Rückenlehne aus Holz. An Bonner Verhältnisse gewöhnt, richtete er sich auf eine lange Wartezeit ein und packte sein Paperback aus der Umhängetasche, blätterte es auf und begann zu lesen.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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