Nikolaus, der Mann aus Myra - Jürgen Jesinghaus - E-Book

Nikolaus, der Mann aus Myra E-Book

Jürgen Jesinghaus

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Beschreibung

Covertext: Fernab von allen Heiligenlegenden, hat Jürgen Jesinghaus ein wunderbares Buch geschrieben, das Jugendlichen und Erwachsenen gleichermassen hohen Lesegenuss bietet. Dieser Nikolaus ist ein rechtschaffener und praktischer Mann, der die Werte des Christentums lebt, bevor es ihm bewusst ist. Sein Amt als Bischof nimmt er anscheinend nur beiläufig, neben seiner Tätigkeit als Spediteur wahr, vertritt seine Überzeugung aber klug und unerschütterlich, selbst unter der Folter des römischen Geheimdienstes. Dieses Buch ist überdies ein moderner Bildungsroman, wie selbstverständlich bereichert um mathematische, astronomische und philosophische Themen, Leckerbissen für Wissbegierige. Jürgen Jesinghaus schildert das Leben im griechischen Lykien, das zur Zeit des Bischofs von Myra, im 4. Jahrhundert nach Christus, zum römischen Reich gehörte, intelligent, feinsinnig und mit hintergründigem Humor. Ein Roman, der auch durch seine unaufgeregte, gekonnte Sprache zu einer Entdeckung wird. Klappentext: Dieser Nikolausroman räumt nicht nur mit allen bisherigen Darstellungen des heiligen Nikolaus auf, das Buch ist eine inhaltsreiche, konkrete und spannende Darstellung des Protagonisten in seiner Zeit. Schon früh fällt Nik durch seine Redegewandtheit auf, die ihm bei vielen Gelegenheiten hilfreich ist, begonnen bei der drohenden Verurteilung wegen Mordes, bei seiner ersten Wahl zum Bischof, bei einer Begegnung mit Piraten, die sein Schiff kapern wollen, anlässlich des Konzils von Nizäa vor Kaiser Konstantin und auch bei den Auseinandersetzungen mit dem Geheimdienst-Offizier der römischen Herrschaft nach Folterungen, deren ‹intelligente› Methoden dem Repertoire der Jetztzeit gleichen. Sein Verhalten in diesem Fall lässt ihn an sich selbst – als Christ – zweifeln. Hier, wie in anderen Zusammenhängen auch, werden Fragen des richtigen Verhaltens, bis hin zur Frage der Befehlsverweigerung, wie Nikolaus sie gesehen haben könnte, aus christlicher und philosophischer Sicht, spannend dargestellt. Der geschickte Kaufmann und Bischof sah in der Nächstenliebe die eigentliche Aufgabe als Christ. Er distanzierte sich daher von theoretischen theologischen Disputen und gründete lieber Waisen- und Leprosenheime und beschaffte in Notzeiten Getreide für die Hungernden. So findet hier eine der vielen Nikolaus-Legenden, das Weizenwunder, beispielhaft seine praktische Erklärung. Ein Höhepunkt in seinem Leben ist die Entdeckung eines Briefes seines Lieblings-Evangelisten Lukas in den Felsengräbern von Myra. Wunderbar, geheimnisvoll und traurig sind seine besonderen Beziehungen zu Frauen, von seiner Frau Zenia, der Fischfrau, bis zur „Königin von Ägypten“. Seine Vertrautheit mit dem Wissen der griechischen Philosophen fliesst in faszinierende Gespräche ein.

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Jürgen Jesinghaus

Nikolaus,

der Mann aus Myra

Warum er wollte, dass der Johannistag in den Juni fällt, und

andere Kleinigkeiten (nebst einem wiedergefundenen

und abermals verloren gegangenen Brief des Evangelisten Lukas)

Roman

Mit einer Landkarte zum historischen Geschehen

und einem ausführlichen Glossar

Universal Frame

All rights reserved

Alle Rechte vorbehalten

Copyright © 2008

Verlag Universal Frame GmbH, Zofingen

ISBN: 9783952356265

Präambel

Meine Grossmutter, die einer Sekte in Wuppertal angehörte und ständig mit der Bibel herumfuchtelte und darin so häufig hin- und herblätterte, dass sich die arme Frau von der Zugluft einen Schnupfen hätte holen können, sagte einmal zu mir: «Genaugenommen, Junge, sind alle Heiligen vor der Reformation ebenso gut unsere wie dem Papst Pius oder dem Kardinal Frings seine. Auf einige verzichten wir gerne, woll, denn dat waren Filous. Aber von einigen, Junge, kannste dir ’ne Scheibe von abschneiden.» Jeweils am Vorabend des Nikolaustages tauschte sie ihre Wolljacke gegen einen Mantel und stieg in hohe Stiefel, die mit ihr durch den Flur bis zur Wohnzimmertür polterten. Dort pochte sie dreiige Male, möchte man sagen, so feierlich war mir zumute, und Schauer rannen mir über den Rücken wie warmes Wasser.

1

Epifan war fischen. Wenn er mal gebraucht wurde, fiel er durch Abwesenheit auf. Dabei hätte er jetzt dabei helfen können, das Essen aus der Küche vor die Gäste zu stellen, die an dem langen Tisch unter Olivenbäumen sassen und nach Bedienung riefen. Statt seiner balancierte Nik einen Teller durch das Küchenloch ins Freie und stolperte über die Wiese bis kurz vor den Tisch – unter dem Rufen der Gäste, die das Kind anspornten und eine Belohnung aussetzten, wenn es ihm gelänge, einem Hungrigen den Teller hochzureichen, ohne den Inhalt zu verschütten. Da sah der Junge den Hund Zefir, wie er zuerst die Nase hob und wie dann der schmale Kopf der Nase zu folgen schien und wie der Hals immer länger wurde, während der Hundebauch in der warmen Lehmkuhle liegen blieb – solange bis Zefir hoffen durfte, dass der Teller für ihn und nicht für den Tisch mit den Menschen bestimmt war. Er jagte hoch. Nik lief auf den Hund zu, unbeirrt von den Rufen hinter sich, und schaffte es noch im Fallen, den Inhalt des Tellers vor Zefir zu kippen.

«Niko, Niii-ko-laus! Zefir, verfluchte Hyäne! Nik, nicht für ihn, für die da. Das Essen ist für die bestimmt, nicht für das Hundchen. Das hat schon gegessen, Liebes. Es ist zum Verzweifeln. Hört mal alle her! Geht in die Küche, holt euch euer Essen selbst!»

Hanna wischte sich die Hände an einem Tuch ab und ging verschwitzt zwischen den Männern hindurch, die aufgesprungen waren und zur Küche drängten. Die Küche war eine Höhle neben dem Haus. Als Kamin diente eine senkrechte Felsspalte in der Decke am Höhlenende. Dort stand der Herd und daneben, zwei Fuss über der Erde, eine Steintafel, auf dem die Portionen lagen. Die Laune der Gäste hob sich. Sie mussten sich zwar ihr Essen selbst abholen, aber bestand nicht die Aussicht darauf, die Portionen durch einen flinken Griff anzureichern? Hanna blies eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Sie blinzelte zu ihrem Sohn hinüber. Dann streckte sie sich, weil sie den ganzen Vormittag, über die Tafel gebeugt, das Essen für elf Personen vorbereitet hatte, und riskierte einen Blick zum Fluss, der im Sonnenschein blitzte. Die alte Landstrasse nach Xanthos ging in den Blitzen unter. Hanna konnte kaum erkennen, ob jemand herauf- oder heruntergeritten kam und womöglich in ihrer Herberge eine Rast einlegen wollte. Sie vergewisserte sich, dass Nik noch in der Nähe war. Er lag immer noch auf dem Bauch und schaute Zefir beim Schlingen zu. Hanna durfte die Gäste nicht zu lange unbeaufsichtigt lassen. Sie trollte sich zur Höhle und kam gerade rechtzeitig, um einem Gast die Kelle aus der Hand zu winden. «Halt, halthalthalt, den Wein schenke ich selber aus. Geht auf eure Plätze zurück, den Rest erledige ich schon.»

Epifan hatte eine Landwirtschaft geerbt und fünf Jahre darauf geschuftet. Dann endlich war das Geld zusammengekratzt, um ein Fischerboot zu kaufen, das er sich mit drei anderen teilen musste. Allerdings besass er die Hälfte des Bootes, weil er die Hälfte des Preises berappt hatte. Er glaubte, dass man mit dem Fischfang mehr Geld verdienen könne als mit dem kargen Boden, der gegen die fetten Böden der Latifundienbesitzer nicht konkurrieren konnte und gerade mal dazu ausreichte, den Bedarf der eigenen Familie zu decken und eine kleine Rücklage zu bilden. Nach dem Kauf des Bootes blieb kein Geld mehr übrig, um Saatgut und dringende Reparaturen zu bezahlen. Einige Zeit lebte die Familie nur von den Fischen und die Landwirtschaft verkam. Damals hatte Hanna den Gedanken, aus ihrem Haus eine Herberge zu machen, ein Hotel für kleine Leute, die in Patara keine Unterkunft fanden (weil die Preise in der Stadt zu hoch waren) und sich deshalb aufs Land verirrten und an der alten Landstrasse nach Xanthos unterschlüpfen würden.

Hanna hoffte, dass die Gäste, die vor zwei Stunden aus Xanthos gekommen waren, bald wieder verschwinden möchten. Für den Nachmittag erwartete sie nämlich Verwandtenbesuch, denn Epifan hatte Geburtstag. Sein Name bedeutet «Erscheinung». Obwohl man über Namen keine Witze reissen soll, hiess es doch gelegentlich: «Aaah, da erscheint er ja», wenn er sich mal blicken liess. Dann konnte er sein Gesicht zu einem Lachen ausdehnen und seine Hände schwenken – seht, da bin ich – , dass sein Erscheinen zu einem Ereignis wurde, vor allem für die Kinder. Der Faulpelz liess sich in irgendeiner blauen Lagune vom Fischerboot schaukeln, während Hanna ganz alleine für die Gäste sorgen musste, diesmal für Gäste, die nicht bezahlen, sondern Nippesfiguren, Orakelsprüche oder anderen Kram mitbringen würden. Trotzdem freute sie sich auf die Gesellschaft und die Unterhaltung, auch wenn sie wieder in die Küche musste, um wenigstens den Anfang zu machen; bei dem Rest würden ihr die Schwägerinnen helfen. Männer kümmern sich nur um den Wein, beim Kochen und Servieren stellen sie sich dümmer an als sie sind. Wenigstens die beiden ältesten Kinder gingen ihr manchmal zur Hand. Dazu müssten sie nur erst hier sein!

Aber es ging alles besser als erwartet. Hanna sass nun schon eine Weile am langen Tisch unterm Schatten der Olivenbäume. Sie hatte den Gästen nur gesagt, wo was zu finden sei, und den Männern der Familie erlaubt, selbst den Wein zu schöpfen, so dass sich ihre Aufgabe darauf beschränkte, nach den Kindern zu sehen oder Ratschläge in der Küche zu erteilen. Die meisten hatten sogar ihr Essen mitgebracht und bereiteten es selber zu. Niemand fragte nach Epifan, obwohl sie seinetwegen gekommen waren. Sie hatten sich längst an seine Abwesenheit gewöhnt, und sein Geburtstag diente nur als Vorwand, unter Vertrauten zu feiern. Allmählich versammelten sich alle am langen Tisch, auf dem die Teller, die Brote und die vollen Schüsseln standen, und sie alle sprachen behäbig durcheinander, über die Politik, die Zeit und das Land, während die kleinen Kinder auf den Schössen ihrer Onkel und Tanten hingen und sich träge aus den Schüsseln füttern liessen. Nach der Mahlzeit schliefen die Kleinen, die grossen Kinder liefen ins Gelände und hörten die Ermahnungen der Erwachsenen nur noch mit einem Ohr. Dann tratschten die Alten über Familienangelegenheiten.

Hanna hatte mit dem Strunzen nicht angefangen. Angefangen hatte die schmächtige Schwägerin, die man die Kuh nannte (wenn sie nicht anwesend war). Sie begann damit, ihre Kinder schönzureden, wie sie aufs Wort gehorchten, dass man als Mutter nur zufrieden sein könne, und wie sie einem bei der Arbeit hülfen. Wo doch alle wussten, dass es solche Kinder nicht gibt. Hanna ärgerte sich, weil sie das Gerede als Spitze gegen ihre Kinder auffasste, die mit Ausnahme von Nik den ganzen Vormittag unsichtbar geblieben waren. Eine andere Frau, die jemand aus der Verwandtschaft mitgebracht hatte und die kaum einer richtig kannte, strunzte mit der schieren Zahl ihrer Kinder, wie zahlreich sie doch seien, als ob zahlreich eine Eigenschaft wäre, die jedem einzelnen Kind zukommt. Alle nickten mit dem Kopf. Sie vertrügen sich so gut, sie täten sich nie etwas gegenseitig und hielten gegen die bösen Kinder zusammen. Man nickte. Eine dritte fing damit an, dass die Götter ihr lediglich ein Kind geschenkt hätten, dafür sei das Kind aber mit einer Portion Schlauheit gesegnet, die normalerweise für viele ausreichen muss. Die Männer nickten, als wäre ihnen dieses Kind schon aufgefallen, als spräche man bereits in der Stadt von seinen Geistesgaben, dabei waren die Männer nur zu faul, etwas zu sagen, und auch zu feige. Eine vierte Frau wollte nicht dahinter zurückstehen und meinte, dass ihr die Schlauheit der eigenen Kinder schon peinlich sei, weil sie überall hervorstächen, und sie jedesmal eine Erklärung dafür abgeben müsse. Die Männer nickten. Eine andere Frau, die dicke Eulalia, sagte nur, ihre Kinder nähmen es mit jedem anderen Kind auf, sie sagte aber nicht, in welcher Eigenschaft und Fertigkeit. Die Männer nickten, als wäre es selbstverständlich, dass Eulalias Kinder es mit jedem aufnähmen. Sie besitze Kinder, sagte eine fünfte oder sechste Frau, die ausnahmslos alle schon mit zehn Monaten hätten laufen können, ohne sich festzuhalten. Das liege in der Familie. Die nächste sagte, ihre Kinder hätten schon früh zu sprechen angefangen und dafür schon sehr früh aufgehört, in die Windeln zu machen. Einige Männer hatten ihr Nicken eingestellt, sie dösten vor sich hin.

Die Rede wurde weitergereicht und kam endlich zum Kopfende, wo Hanna sass, die es am schwersten hatte, denn sie war die letzte in der Reihe und konnte, um Nik nicht hinter die anderen Kinder zurückfallen zu lassen, nur noch zu einem Wunder greifen: Nikolaus habe schon im Alter von drei Tagen, kaum dass sie selbst wieder stehen konnte, auf den Zuber neben ihrem Bett gedeutet und auf Altgriechisch gesagt: Mama waschen. Und als sie die Probe aufs Exempel machte, sei das Kind freiwillig in den Zuber gestiegen und habe sich stehend schrubben lassen, und zwar ohne Not und natürlich ohne sich festhalten zu müssen. Sie habe bisher niemandem etwas davon erzählt, um die anderen Mütter, die doch zu Recht alle stolz auf ihre Kinder seien, nicht zu beschämen. Nik lauschte interessiert den Ausführungen über sich selbst. In der Weise hatte seine Mutter noch nie über ihn gesprochen, und er lernte, dass er ihr viel bedeuten musste. Er lauschte noch, als Hanna schwieg. Niemand sagte etwas. Die Frauen fingen an, den Tisch abzuräumen. So blieb der Spruch seiner Mutter als der letzte und höchste unwidersprochen über ihnen schweben. Wenn Hanna nicht spinnt, hat sie unsere Frauen verspottet, sagten die Männer unter sich, wir wollen es ihr mit dem Schöpflöffel vergelten. Dann füllten sie ihre Becher mit Wein und spazierten zum Fluss hinunter.

2

Der Vater hatte ihm erzählt, dass er schon zweimal vorher im Hafen gewesen sei, bevor es passierte. Niks früheste Erinnerung an den Hafen reichte aber nur bis zu dem Tag zurück, an dem er Schwimmen lernte. Sie waren zusammen mit einem Gast, der bei ihnen übernachtet hatte, in einem Pferdekarren nach Patara gefahren und am Mettiusbogen ausgestiegen. Epifan musste seinen Sohn auf die Schultern setzen, wo Nik am Kopf seines Vaters lehnend für kurze Zeit eingeschlafen war. Die Brise im Fischereihafen weckte ihn. Epifan hob ihn über den Kopf herunter auf die Steinplatten und schob ihn vor sich her zu einer Reihe Fischerboote, die tief gestaffelt nebeneinander lagen. Jedes einzelne war nur über Planken zu erreichen, die den Kai und die Boote miteinander verbanden. Epifan liess Nik am Kai stehen und zeigte ihm zuerst, wie man über Planken geht. Darin war er ein eifriger Lehrer, der nichts ausliess, was im Leben wichtig zu werden versprach. Nach der Lektion holte er seinen Sohn ab und stellte ihn auf die Planke, die mit jeder Bewegung des Bootes auf und ab und zur Seite schaukelte. Er schob ihn mit seiner grossen Hand vor sich her, und Nik ging immer schneller, um bald in den Bootsbauch springen zu können. Da rauschte es in der Luft, als wollten Harpyien auf dem Deckshaus landen.

Epifan schaute hoch. Eine Rah mit aufgerollten Segeln knallte auf die Bordwand des Bootes, das Vater und Sohn erreichen wollten. Das Schiff sprang, nur ein wenig. Das Brett rutschte, wenn auch nicht viel, aber es reichte aus, dass Nik sein Gleichgewicht verlor und in die Spalte zwischen den Booten fiel, zuerst auf den Rumpf des Nachbarschiffs, das sich unter dem Schlag des eigenen Rundholzes wie eine träge Schaukel dem anderen Boot entgegenstreckte. Dann rutschte er in die Tinte dazwischen, in einen schwarzen Abgrund, vom Aufprall benommen. Er schloss die Augen. Ganz genau konnte er es hören, das Gurgeln, Knirschen, Rufen aus grosser Höhe. Er hörte auch, wie etwas Schweres ins Wasser fiel, nachdem er selbst hineingefallen war. Niemand weiss, was ein Kind denkt in den Augenblicken zwischen Leben und Ertrinken. Nik dachte vielleicht, dass er für das dunkle Wasser nicht zuständig sei, dass sein Vater dafür zuständig ist, weil er doch zur See fährt und weil er sie kennt und die See ihn, und sie werden sich schon einigen, wie sie ihm, Nik, am besten helfen können.

Während Nik sich fallen liess, stemmten zwei Männer mit aller Kraft ihre Füsse gegen das Unglücksboot, um es auf Abstand zu halten, damit der Junge nicht zwischen die Planken geriete wie eine Maus zwischen die Mahlsteine. Andere Männer schrien und gestikulierten. Aber die meisten hatten nicht wahr-genommen, dass der Kleine verschwunden war. Sie regten sich darüber auf, dass ein Rundholz aus der Halterung fallen konnte, und mutmassten alles nur Denkbare. Die Ursachen, die sie dem Unfall anhängten, reichten von Schlamperei des Skippers bis zum Willensakt der Götter, die eine Schuld sühnen wollten, die man auf Erden noch würde herausfinden müssen.

Epifan war sofort ins Wasser gesprungen. Er bekam Nik an der Kindertoga zu fassen und zog ihn, bevor sich das Tuch entrollen konnte, kräftig an sich in seine Arme und tauchte weg, um der Bedrohung durch die beiden einander stossenden Schiffsleiber zu entkommen. Zwei Bootslängen weiter stiess er durch die Wasserdecke, das Kind über sich haltend. Nik hörte keine Geräusche mehr. Er war taub, aber auch befreit von dem stechenden Druck auf seiner Brust. Er schnappte nach Luft und hustete. Es dauerte eine Weile, bis er wieder hören konnte. Warme Rotze lief ihm aus den Naslöchern. Endlich machte er die Augen auf und sah das grosse, ruhende Gesicht seines Vaters vor sich und dahinter die schaukelnden Häuser am Hafen. Er legte seinen Kopf in den Nacken und liess die Sonne ins Gesicht scheinen. Der Vater drückte Niks Kopf empor und lachte ihn an. Nik glaubte seitdem, dass alles ein eingeplantes Abenteuer gewesen sei, ein rauhes Abenteuer, und dass sein Vater alles im voraus gewusst habe. Jetzt lag er auf seinem Arm. Epifan hielt ihn so über Wasser und zeigte Nik, was man tun muss, um zu schwimmen. Wenn man einmal Schwimmen gelernt hat, dann kann einem so etwas nicht noch einmal passieren. Nik strengte sich darum an. Jauchzend, ein Abenteuer bestanden zu haben, weckte er Kräfte in sich und stiess mit den Füssen gegen das Wasser und gleichzeitig holte er es mit den Armen an sich, als wollte er es aus Dankbarkeit umfassen. Der Vater erhielt einen Tritt in den Magen. Nik befreite sich vom Arm, ohne dass er es beabsichtigt hätte, und paddelte davon, in Richtung Kaimauer. Seine Kräfte erlahmten rasch. Er drehte sich um, fand keinen Halt und schluckte wieder von dem scheusslichen Wasser. «Schwimm zu mir», rief Epifan. «Du brauchst dich nur umzudrehen und zu mir zu schwimmen. Tu nur das, was du soeben gelernt hast.» Nik bekam die ausgestreckte Hand des Vaters zu fassen. Das konnte er aber nur, weil er schwimmen musste, wenn auch kaum weiter, als ein Ruder lang ist. Dann hob ihn der Vater empor und setzte ihn in den Nacken. «Halt dich an meinem Kopf fest.» Nik umklammerte mit beiden Händen die Stirn seines Vaters. So schwammen sie beide zum Boot zurück und wurden an Bord gezogen. «Leg dich am besten in die Mitte und bleib liegen», sagte Epifan zu Nik. Dann sprang er auf das andere Boot.

«Wer hat das gemacht?» Jemand wollte antworten. Kaum hatte er damit angefangen, als Epifan einmal zuschlug, so dass der andere, der den Fehler gemacht hatte, auf die Frage einzugehen, mit dem Rücken auf die Bordkante flog und beinahe in den Hafen gefallen wäre, wenn Epifan ihn nicht bei den Beinen gepackt und wieder hochgezogen hätte. Als der Mann noch benommen vor ihm stand, nahm ihn Epifan in die Arme.

«Egal, Hauptsache er kann jetzt schwimmen.»

Er tätschelte seinem Opfer die Backe.

«Du darfst mich hierhin schlagen, aber nur einmal und nicht zu feste.»

Der andere winkte ab und ein dritter sagte, der Skipper des Bootes:

«Er hatte doch mit der ganzen Sache überhaupt nichts zu tun, du Blödmann! Du musst richtig zuhören. Dass der Kleine da reingefallen ist, dazu konnte er doch nichts!»

«Ich lade euch zur Königin von Ägypten ein», sagte Epifan beschwichtigend, «und da vergessen wir dann alles.»

3

So kam Nik zur «Königin von Ägypten», an jenem Tag, an dem er Schwimmen gelernt hatte. Die Fischer liebten die Kneipe. In ihr wurden Verträge geschlossen und Streitereien beigelegt. Es herrschte der Brauch, bei der Königin etwas zu versprechen oder die Königin entscheiden zu lassen. Ein ovaler Handspiegel aus geschliffenem Metall, so gross wie eine Frau, war an der Stirn des Hauses angebracht. Wenn die Boote von ihren Fängen zurückkehrten, glänzte das Metall von Weitem im grauen Morgenlicht. Im ersten schrägen Sonnenstrahl blitzte der Spiegel der Königin.

Die Holzfront zum Gastzimmer war gänzlich aufgeklappt, so dass die Hafenstrasse bis ins Haus reichte. Tische und Sitze, roh gezimmert aus den Abfällen der Hafenstadt, standen innerhalb und ausserhalb. Dort liessen sich die übrigen Männer nieder, während Epifan seinen Sohn in den dunklen Raum führte. Er spaltete einen fettigen Vorhang, und sie standen in der dampfenden Küche. Aus dem Dampf trat eine Afrikanerin hervor, eine stattliche Person, die fast nackt war. Nur um Brust und Hüfte hatte sie ein weisses Tuch geschlungen. Nik sah zu ihr empor, ehrfürchtig, weil er glaubte, sie sei die Königin von Ägypten, die nun einen Spruch fällen würde. Epifan begrüsste die Frau als alte Bekannte und schob Nik in ihre Arme.

«Sei bitte so lieb und bade ihm das Salz ab. Er hat heute schwimmen gelernt. Ich bin stolz auf ihn. Er ist zu müde, um noch Unfug anzustellen. Gib ihm etwas Trockenes zum Anziehen und leg ihn nach dem Baden auf dein Bett. Du kriegst die drei schönsten Doraden dafür.»

«Aber du sollst bei ihren Seelen Abbitte tun, wenn sie für mich sterben.»

Das war das einzige, was sie sprach. Und Nik hörte zum ersten Mal, dass Fische eine Seele haben.

Als Nik die Augen aufschlug, wusste er nicht sofort, wo er sich befand. Er verhielt sich ruhig wie ein Tier in seiner Mulde und beäugte seine Umgebung. Er sah einen Balken aus reflektiertem Sonnenlicht, der durch das quadratische Fensterchen ragte und sich auf ein Regal zu stützen schien. Der übrige Raum war dunkel, aber von einer Dunkelheit, die keine Angst machte. Er folgte mit den Augen dem Glanz, in dem Goldstaub wirbelte. Dann blieb sein Blick bei dem Flämmchen stehen, das sich auf dem Regal entzündet hatte und einen scharfen Schein erzeugte. Der feine Lichtstrahl zeigte genau auf einen grünen Käfer unter dem Regalbrett. Über dem Käfer auf dem Brett lag ein rundes, längliches Paket, das sich grünviolett gegen die Düsternis abhob. Nik sah genauer hin und erkannte einen ausgestopften Fisch, der nur geradeaus starrte, den Göttern sei Dank, und nicht etwa zu ihm herunter. Er beobachtete ihn, dann schaute er eine Weile in das matter werdende Licht, und dann hinter vorgehaltener Hand wieder zu dem Fisch, um ihn dabei zu ertappen, wie er doch herabglotzen würde. Er wiederholte dieses Spiel mit abnehmendem Interesse. Gleichzeitig sortierte er die Vorfälle des Tages und trennte sie allmählich von den geträumten Erlebnissen. Als er sich eingestand, dass er nur im Traum fliegen konnte und dass er nicht auf einen Berg geflogen war, auf Kap Chelidonia, von dem die Fischer soviel redeten, und dass er von dort nicht wirklich auf das Land Ägypten geschaut hatte, fühlte er sich mutlos und traurig. Er kam sich ohnmächtig vor, verlassen. Es hätte nicht viel gefehlt, und er wäre in Tränen ausgebrochen. Da erinnerte er sich rechtzeitig, dass er Schwimmen gelernt hatte, und dass er jetzt mehr konnte, als noch am Anfang des Tages.

Der Lichtbalken hatte sich versetzt, und das Flämmchen auf dem Regal war erloschen, als er wieder hinschauen wollte. Der Fisch war abgetaucht in die Dunkelheit. Nik warf die Decke ab und stand vorsichtig auf. Die Vorsicht erschien ihm angebracht, weil er Angst davor hatte, dass die Gegenstände, die sich im Raum versteckt hielten, besonders aber der ausgestopfte Fisch und der grüne Käfer, zu neuem, intensiverem Leben erwachen könnten, wenn er versuchte, sich im Zimmer umzusehen. Er schlich zu der Stelle, wo das Flämmchen gebrannt hatte. Er stiess gegen eine Kiste und erschrak durch den Knall, der ihm so laut vorkam, dass ihn jeder im ganzen Haus gehört haben musste. Er lauschte. Jetzt erst vernahm er ein Murmeln aus der Gaststube und ein Stimmengewirr von der Strasse. Nachdem sich sein Herz wieder beruhigt hatte, rückte er die Kiste zurecht, langsam, und kletterte darauf. Er tappte mit den Fingern über das Regal und stiess auf eine Unebenheit. Sofort warf er die Hand hoch, als hätte er ein schleimiges, atmendes Tier angepackt. Er lauschte wieder. Er wollte ungestört und konzentriert noch einmal die Hand herabsinken lassen. Sie berührte einen harten Gegenstandes. Nun tastete er die Umrisse ab und entschied sich dann, das Ding zu greifen und damit von der Kiste hinunterzusteigen. Bevor er aber seinen Entschluss in die Tat umsetzte, schaute er nach dem Käfer aus. Er mochte mit seinem Gesicht nicht zu nahe herangehen, weil ein Käfer in der Küche einer Königin vielleicht ein verwunschener Dämon ist, der eine Gelegenheit zum Aufspringen sucht, so dass man besessen wird. Er nahm die andere Hand zur Hilfe und tastete wieder, mutig geworden durch den Fund, den er in der einen Hand hielt, und stiess auf ein Astloch im Brett des Regals, wo er den Käfer gesehen hatte. Er stellte sich auf die Zehen, um über den Rand des Brettes in das nächste Fach zu schauen. Dort lag der Fisch in einer verschlissenen Pracht, grün, blau und rot, alles durcheinander, denn in der Dunkelheit des Zimmers zersetzten sich die Farben. Er wagte nicht, den Fisch zu berühren, und hoffte nur, dass er ihn nicht ansähe. Er stieg von der Kiste. Ohne seinen Fund untersucht zu haben, griff er einen Zipfel des viel zu grossen Tuches, in das ihn die Königin nach dem Baden gewickelt hatte, und knotete den Gegenstand hinein (es war der Käfer). Nik legte sich wieder hin. Er drückte die Augen zu und dachte: Wenn ich das Tuch anbehalten darf, dann gehört das Ding darin mir, dann sollte es so sein. Wenn ich das Tuch aber hierlassen muss, dann bleibt auch das Ding hier, dann sollte es so sein.

Sie stand schwarz in Schwarz vor ihm. Das Licht war verschwunden. Die Dunkelheit schien sich zu bewegen und zu flüstern. Er schrie auf, denn er wähnte, er wäre immer noch unter Wasser und hätte seine Rettung nur geträumt und über seinem Kopf schwämmen Fische und der matter werdende Strahl wäre die Sonnenscheibe, die, während er tiefer und tiefer sank, sich von ihm entfernte, blasser wurde und selbst im Wasser zu versinken schien. Die Königin nahm ihn an ihre Brust und sprach auf ihn ein. Sie roch nach Mandeln und Tran. Sie stellte ihn auf die Beine und hantierte am Herd, und dann wuchs ein warmes Licht aus der tönernen Öllampe. Der Raum war kleiner als er dachte. Die Köchin, die Königin von Ägypten, fragte ihn etwas, auf Ägyptisch. In Wirklichkeit fragte sie ihn auf Griechisch, ob er etwas Schlimmes geträumt habe, aber er war noch so benommen, dass er nichts verstand.

4

Petronius, der reiche Petronius, der tugendhafte Petronius (gelegentlich wurde er auch der hochnäsige genannt) pflegte zweimal im Monat inmitten seines kleinen Gefolges von seiner nördlich Xanthos gelegenen Villa aus nach Patara zu reisen, um die Angestellten und Sklaven im Kontor seiner Handelsfirma daran zu erinnern, dass es ihn gibt und dass seine Existenz für sie alle unentbehrlich sei. Wenn er einen Blick in die Bücher geworfen und alle Bediensteten zu Fleiss und Frömmigkeit angehalten hatte, begab er sich zu Freunden in den Vicus nobilis, wo sich der Geldadel auf dezente Weise Vergnügungen hingab. Dort blieb er über Nacht, in Gesellschaft gelehrter Damen, die für ihre Kunstfertigkeiten ein Honorar fordern durften. Am nächsten Morgen pflegte er inmitten seines Gefolges, das ohne jede Aufsicht die Nacht verbracht hatte, nach Xanthos zurückzureisen, jedesmal unter einer Glocke von Staub. Hanna kannte den Wagen schon. Zwischen Vor- und Nachhut knarrte er über die alte Landstrasse entlang der rechten Flussseite. Das Quietschen der Gurte war weit zu hören.

Dann geschah das Merkwürdige. Der Wagen bog diesmal auf den Weg, der in einem spitzen Winkel zur Strasse wie eine Rampe zum Hotel führte. Die beiden Reiter vereint im Handgalopp vorne weg. Die Pferde schnellten ihre Vorderfüsse hoch. Ehe Hanna ihren Korb abgesetzt und ihre Hände an der Schürze abgewischt hatte, standen die Pferde vor ihr und warfen ihre Köpfe nach links und rechts und nach oben und unten. Die Reiter schrien ihr zu, sie solle ein Bett fertig machen. Hanna besah sich die beiden Gestalten und sagte, sie habe keins frei.

«Dann mach eins frei! Es ist für einen Kranken bestimmt.»

Hanna, die sich von den Reitern und ihren Befehlen nicht beeindrucken liess, wartete noch, bis der Wagen den halben Weg zum Haus zurückgelegt hatte, dann rief sie Lydia, ihre älteste Tochter, die ausnahmsweise zur Stelle war, und gab ihr auf, ein Zimmer herzurichten und das Bett zu machen. Nik wurde durch das Rufen seiner Mutter alarmiert und kam, mit Zefir im Gefolge, zu den Reitern. Er musterte sie und nörgelte, dass sie keine richtigen Soldaten seien, das Messer an der Seite des einen Reiters lasse er nicht als Schwert durchgehen.

«Das Früchtchen hat hier nichts zu suchen, schick es fort», befahl der kritisierte Reiter.

«Das Früchtchen wohnt hier und bleibt. Und ihr hört auf herumzukommandieren!»

Die Meinungsverschiedenheit konnte nicht fortgesetzt werden, denn inzwischen war der Reisewagen herangekommen. Die Türe klappte auf. Heraus stieg Petronius. Er sah sich um, ordnete hastig seine Toga und kam auf Hanna zu, in der er die Wirtin erkannt hatte. Er blickte sorgenvoll.

«Die Götter mögen dich mit Segen überhäufen. Meine Diener haben dir wahrscheinlich alles berichtet. Falls nicht, will ich alle Umstände unseres Besuchs zusammenfassen: Mein alter Sklave Nektanebos hat einen Schwächeanfall erlitten, das Herz will nicht mehr, das Blut stockt bei ihm. Wir müssen ihn hier bei dir niederlegen. Du sollst dafür bezahlt werden, als hätte er eine Woche in deinem Hotel gewohnt. Nur schnell muss es gehen!»

Hanna hatte gar nicht mehr hingehört, sie lief zum Wagenschlag und sah im Inneren einen alten Mann, einen grauhaarigen Afrikaner, in die Ecke gelehnt, den Mund halb offen. Er röchelte. Das war das einzige Lebenszeichen. Die Augen starrten durch das hölzerne Fenstergitter, als wollten sie soviel Tageslicht wie möglich ansaugen, als ob damit der Mangel an Luft auszugleichen wäre. Die Arme des Mannes hingen schlaff herunter. Hanna befahl einem Reiter, ihr zu helfen, Nektanebos herauszuheben und in das bereitstehende Bett zu tragen. Petronius schickte den anderen Reiter (den mit dem Messer, das Nik als Schwert nicht anerkennen wollte) nach Xanthos in die Stadt, um den Leibarzt zu holen. Der zweite Reiter war abgestiegen und hatte Nik die Zügel zugeworfen. Dann packte er den alten Mann unter die Arme und hob ihn an. Nektanebos’ Kopf fiel zur Seite. Er sah ausdruckslos auf Nik. Der Junge, zum ersten Mal in seinem Leben hielt er ein Pferd am Zügel, grüsste den alten Mann ehrerbietig. Es kam ihm so vor, als huschte ein Lächeln über das Gesicht. Aber es war nur ein Sonnenreflex vom polierten Schmuck des Zaumzeugs.

Hanna packte die Füsse des Kranken. Breitbeinig und in kurzen Schritten schleppte sie zusammen mit dem einen Reiter den Patienten in das ebenerdige Zimmer, das Lydia hergerichtet hatte. Sie war gerade fertig geworden und hatte die Flügeltür aufgestossen, so dass viel Licht ins Innere drang. Man legte den Kranken aufs Bett. Lydia holte Wasser vom Brunnen und versuchte, es Nektanebos einzuflössen. Das Wasser rann ihm am Kinn herab. Sie feuchtete einen Lappen an und betupfte die Stirn des Mannes. Nik folgte den Erwachsenen vor das Zimmer. Das Pferd trottete hinter ihm her. Es schien im Augenblick dieselben Wünsche zu haben wie Nik, der vor der offenen Flügeltür stehen blieb und ins Innere sah. Der Leib des Pferdes warf einen Schatten in den Raum und verdunkelte ihn. Der Kranke bewegte sich. Er schlug schwach mit der Hand um sich und röchelte stärker. Hanna ahnte, was er zu verstehen geben wollte, und befahl Nik, das Pferd von der Tür fortzuführen. «Hol ihm Wasser, es ist durstig.» Nik gab die Tür frei und zog das Pferd hinter sich her. Als das Licht zurück ins Zimmer flutete, hörte der Mann auf, mit den Händen zu wedeln. Er starb. Die Frauen weinten.

Der Reiter spazierte verlegen über den Hof zu den Oliven, wo er Nik sah, und erzählte ihm, dass der Mann gestorben war. Nik legte wortlos die Zügel in die Hand des Reiters zurück und ging langsam den Abhang zur Landstrasse hinunter, Zefir hinter ihm her. In Richtung Xanthos hing eine Staubwolke über der Strasse. Nik stand am Flussufer, und zwei Gedanken wechselten sich ab: Als er fortging, da starb der Mann. Er hatte nur darauf gewartet, dass Nik fortgehen würde! Dabei hatte er ihm doch zugelächelt. Der zweite Gedanke: Das Sterben musste vor ihm geheimgehalten werden, weil er noch ein Kind war. Vielleicht habe ich ihn sterben lassen, dachte Nik, aber ich durfte nicht dabeisein, weil nur Erwachsene wissen dürfen, was Sterben ist.

Hanna sorgte sich um ihren Sohn. Der Reiter, der Nik hatte fortgehen sehen, erbot sich, ihn zu holen. Er bestieg das Pferd und gab die Zügel frei. Es trottete von selbst zum Flussufer. Der Mann hob Nik auf das Pferd. Während es aus dem Xanthos soff, bemerkte der Reiter: «Der alte Mann ist gestorben, weil es an der Zeit war.» Der Reiter verstand seine Bemerkung als Trost. Er meinte nichts besonderes damit, und er hätte auch nicht erklären können, wann es an der Zeit ist zu sterben.

Als die Sonne hinter den Felsen verschwand und der Fluss kaum noch zu sehen war, nur durch eine etwas andere Grünfärbung sich von seiner Umgebung abhob, sagte Hanna zu ihrem Sohn:

«Geh jetzt zu ihm und wünsch ihm eine gute Nacht. Die erste Nacht ist die schwerste, danach gewöhnen sie sich allmählich an ihren Zustand.»

Nik richtete seine aufgerissenen Augen auf die Mutter. Sie mochte glauben, dass er sich scheute, in das Zimmer des Toten zu gehen. Darum erklärte sie ihm, wie wichtig es sei, den Toten beizustehen, weil sie wie Neugeborene noch nicht wüssten, sich alleine zurechtzufinden. Er brach in Tränen aus, aber bevor Hanna ihren Auftrag zurücknehmen konnte, wischte er sich das Gesicht und bestand darauf, dem alten Mann, der ihm zugelächelt hatte, eine gute Nacht zu wünschen. Er verschwand in der Dunkelheit, die bis an den Himmel gestiegen war. Zefir folgte ihm.

Nik betrat, seine Hände zu Fäusten geballt, das Gemach des Toten, das halb offen stand. Zefir blaffte. Nik wies ihn fort. Der Hund knurrte, trollte sich aber, als er die Faust des Kindes auf sich gerichtet sah. Eine Fackel blakte zu Füssen der Leiche und warf unruhige Schatten, die ihr Gesicht zu beleben schienen. Nik senkte seine Faust über der Brust des Toten und legte den grünen Stein darauf, den steinernen Käfer. Der eine Reiter sass auf einem Stuhl in dem Teil des Zimmers, wo die Schattenmasse, obwohl aufgewühlt durch die Fackelflamme, die Oberhand über das Licht behielt, so dass Nik ihn nicht bemerkte. Der Mann konnte sich das Verhalten des Kindes nicht erklären und schüttelte nur so für sich selbst den Kopf, aber er schwieg, weil er weder den Toten noch das Kind erschrecken wollte. Denn die Toten, so sagte man in jenem Lande damals, sind schreckhaft, und sie sind es, die frisch Gestorbenen, die sich fürchten und die sich erst allmählich vom Schreck des Sterbens erholen, bevor sie sich, wie die Kinder zum Gehen angelernt, in der jenseitigen Welt zurechtfinden und langsam wieder erwachsen werden.

Der Junge verband zweierlei Vorteile mit seiner Tat: Er gab das gestohlene Gut zurück, und er beschenkte damit einen alten Mann, der ihm zugelächelt hatte, und der, wie er so dalag, noch dümmer als Nik sein musste und darum noch mehr angewiesen war auf einen Gegenstand des Trostes, dem selbst Nik, der doch schon schwimmen konnte, damals nicht widerstanden hatte. Dem alten Mann musste ähnlich zumute sein, dachte der Junge, wie ihm, als er zwischen der kleinen wackelnden Sonnenscheibe und der grässlichen Schwärze eingefangen im gurgelnden Wasser, das ihm wie Harpyen-Flügel auf die Ohren geschlagen hatte, in eine unbekannte Welt gesunken war.

5

Sie nähten die Leiche des Dieners in das Laken, auf dem er gestorben war, und legten sie auf ein Maultier. Ein Mann aus dem Gefolge des Petronius, der Vorreiter, musste ihn ins Gebirge an eine Stelle bringen, die Hanna bezeichnet hatte. Dort legte er sie ab und wartete auf die Trauergäste. Als er eben anfing, sich zu langweilen, erschienen Hanna, Petronius, zwei Diener und der Arzt, der Nik auf seinem Pferd mitnahm. Er hob ihn herab. Die kleine Trauergemeinde verharrte untätig eine ganze Weile. Dann bugsierten die Diener ihren toten Freund in eine Felsspalte und begannen damit, Steine herbeizutragen. Als sie genügend aufgestapelt hatten, wischten sie sich die Stirn, verneigten sich schnell vor der Felsspalte und gingen zu Petronius, der in Gedanken versunken auf einem Felsbrocken sass. Der Herr Petronius liess sich von ihnen hochziehen und winkte den übrigen Gästen, sie sollten ihm folgen. Vor den aufgeschichteten Steinen blieben sie stehen. Kaum hatte Petronius angefangen, über den Toten zu sprechen, unter Anrufung der Götter, da hörten sie hinter sich feine Geräusche. Nik traute sich nicht, hinter sich zu blicken. Als er es nun doch tat, erschrak er bis in die Fingerkuppen, in die Zehen und bis in jede einzelne Haarspitze.

Die Königin von Ägypten stand hinter ihnen. In seiner Angst, dass sein Diebstahl bemerkt worden sei, glaubte er jetzt nichts anderes, als dass alle es schon wüssten und dass der Arzt ihn nur deshalb mitgenommen hätte, um ihn der Königin auszuliefern. Verzweifelt schaute er auf Hanna. Sie stand ohne Anzeichen von Zorn oder Scham und begrüsste die Königin. Petronius schob Hanna beiseite, weil er sich das Recht alleine vorbehielt, die Königin gebührend zu empfangen. Vielleicht wollte seine Mutter für ihn um Gnade flehen, und der Herr wollte es von Anfang an verhindern und die Königin gegen ihn einnehmen, damit ihn das ganze Strafgericht ohne Nachsicht träfe. Nik begann zu weinen. Seine Mutter legte den Arm auf seine Schultern und hörte, wie ihr Sohn zu ihr hochflüsterte:

«Ich habe es nicht gewollt. Ich habe es nicht gewollt und dann vergessen. Und dann habe ich es wieder gemerkt, als ich zu Hause war.»

Es war ihm lieber, seine Mutter zum Richter zu haben als Petronius oder die Königin. Hanna horchte auf, aber verstand nicht, wovon Nik eigentlich redete. Die Königin hatte kaum darauf geachtet, was Petronius zu ihr sagte. Die Dienerschaft begrüsste sie durch ein Kopfnicken. Man rief ihr etwas zu, sie schaute zu den Steinen und zur Höhle. Sie blieb einen Moment stehen, als hätte sie etwas vergessen, dann kam sie auf Nik zu, gewichtig. Sie griff ihn unter das Kinn, um seinen Kopf zu heben und ihn anzusehen. Sie sagte guten Tag.

«Ich habe dir deinen Vater mitgebracht. Er war so freundlich, mich zu begleiten. Von meinem Vater muss ich mich jetzt verabschieden. Ich danke dir, dass du gekommen bist.»

Sie senkte langsam die Hand, die Niks Kopf hielt. Ihm rauschte das Blut, als versänke er wieder unter Wasser. Die Erinnerung an die Worte, die er eben gehört hatte, trieben ihn dazu, sich umzudrehen, obwohl er am liebsten im Boden versunken wäre. Epifan war tatsächlich eingetroffen. Er war der Königin langsam gefolgt und hatte die kleine Gemeinde erreicht. Er lachte aus den Augen heraus, ohne sein Gesicht zu verziehen, und winkte Nik verstohlen zu. Die Königin ging zur Höhle, schwer wie ein Schwan auf dem Trockenen, und begann, Steine davor aufzuschichten. Als sie sich aufreckte und sich über die Stirn wischte, wollten die Diener ihr bei der Arbeit helfen, aber sie scheuchte sie mit einer Armbewegung fort und arbeitete weiter, bis sie endlich eine schulterhohe Mauer aufgeschichtet hatte. Sie blieb lange davor stehen, dann winkte sie Nik zu sich. Er wankte auf weichen Beinen und kämpfte gegen das Hinfallen. Ihm schwirrten schreckliche Gedanken durch den Kopf. Die schlimmsten waren, dass er durch sein Vergehen den Tod des Alten verschuldet und dass er zur Strafe zu ihm gesperrt werden sollte. Trotzdem stolperte er zur Königin, weil er glaubte, es müsse so sein, denn sonst würden seine Eltern es nicht zulassen, und weil er tief innen doch wusste, dass ihm hier nichts zustiesse. Die Königin wuchtete ihn auf ihre Arme, und in einer warmen, schluchzenden Stimme sprach sie zu ihm, liess ihn einen kurzen Blick in die Dunkelheit der Höhle werfen, dann setzte sie ihn ab und schob ihn vor sich her zu den anderen, die sich jetzt einzeln zur fast geschlossenen Höhle bewegten, um den letzten Abschied zu nehmen, bevor Epifan die verbliebene Öffnung mit Steinen zustopfte. Die Gesellschaft bewegte sich schwerfällig zum Gasthof. Allmählich kam ein Gespräch in Gang, und als man unter den Oliven an dem langen Tisch sass, flackerte Lachen auf. Nur Nik blieb den Tag über betrübt. Die Erwachsenen hielten es seiner Einfühlsamkeit zugute und trösteten ihn, als hätte er mit dem alten Mann einen Freund verloren. Dabei quälte er sich mit einer grossen Schuld.

6

In den zwei folgenden Tagen beachtete ihn die Königin nicht. Sie verhielt sich wie die meisten Erwachsenen, die ein Kind übersehen und die nur, wenn es sie anspricht, eine freundliche Antwort geben und kurz darauf mit einer fahrigen Geste der Liebkosung ihr Abwenden rechtfertigen und das Kind stehen lassen, weil sie glauben, es sei gut aufgehoben, sorglos, schuldlos und unerschöpflich darin, sich mit der funkelnagelneuen Welt zu amüsieren. Nur Hanna fiel auf, dass Nik sich abkämpfte und über diesem Kampf alle Kraft verlor, sich mit etwas anderem zu beschäftigen.

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