Maya und das Geheimnis des Mandelbrotbaums - Serena Müller - E-Book

Maya und das Geheimnis des Mandelbrotbaums E-Book

Serena Müller

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Beschreibung

EINE ZAUBERHAFTE GESCHICHTE über unsere Wahrnehmung, über uralte Mythen, die Liebe, das Glück und darüber, wie am Ende doch alles miteinander verbunden ist. Von der ersten bis zur letzten Seite ein Seelenstreichler für alle, die an eine bessere Welt glauben.

IHRE SÜDSEE-REISE verläuft ganz anders als geplant: Irgendwo zwischen Tahiti und Moorea strandet Maya auf einer abgelegenen Insel. Im notgedrungenen Zusammenleben mit den Ureinwohnern taucht sie ein in eine Kultur voller Achtsamkeit, Naturspiritualität und unerklärlicher Bräuche. Und je mehr sie von der feinfühligen Weisheit dieses Volkes erfährt, desto mehr zweifelt sie: Istunzivilisierttatsächlich gleichbedeutend mit rückständig? Oder ist hier draußen das Wunder gelungen, all das zu bewahren, was Menschsein in seinem Ursprung einmal bedeutete?

Und während Maya sich bemüht, ihr eigentliches Ziel nicht aus den Augen zu verlieren, tüftelt andernorts ein Fremder über der Entschlüsselung einer antiken Inschrift. Jahrhundertelang war diese - aus gutem Grund - sicher verborgen. Was hat es damit auf sich? Was hat der portugiesische Einsiedler mit alldem zu tun? Und wie soll Maya ahnen, dass ausgerechnet sie das Zünglein an der Waage ist - in einem Spiel, dessen Regeln sie nicht kennt?

Wird sie rechtzeitig erkennen, wie alles miteinander verbunden ist?

***

"DAS ERINNERT MICH AN EIN MÄRCHEN,
in dem der Held an einer unerwarteten Stelle einen Faden entdeckt,
immer heftiger daran zieht,
und eine Vielfalt unglaublicher Wunder enthüllt."

(Benoît Mandelbrot, Mathematiker, 1924-2010)


***

LESERSTIMMEN:

"Die drei Handlungsstränge sind raffiniert miteinander verwoben und enthüllen Kapitel für Kapitel ein inspirierendes Gesamtbild."

"Spannend, tiefgründig und einfach schön!"

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Veröffentlichungsjahr: 2023

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Serena Müller

 

 

Maya und das Geheimnis des Mandelbrotbaums

Eine phantastische Reise in die Südsee und zu den vergessenen Wurzeln des Menschseins

Inhaltsverzeichnis

TEIL 1

0: Der Ursprung - Der Tod des Einsiedlers

1: Das Bewusstsein - Weit entfernt in tiefer Nacht

2: Die Verbindung - Maya

Der Fremde

3: Die Lebensfreude - Bellavista

4: Das Wesen - Neue Bekanntschaften

Die Geschichte von den Neun Goldenen Büchern

5: Die Veränderung - Ein Ausflug

6: Das Verständnis - Am Strand

Nächtliche Studien

7: Die Hoffnung - Ein Dorf im Krater

Der Geist der Inschrift

8: Die Achtsamkeit - Neuer Alltag

*****

9: Die Vollkommenheit - Das Fest des Mondes

Die Neun Goldenen Bücher

10: Die Entfaltung - Imaginäre Grenzen

*****

11: Die Wahrheit - Das Mysterium

Die 13 Hüter

12: Die Hingabe - Der Tempel der Großen Mutter

13: Das Loslassen - Abschied

*****

TEIL 2

0: Der Ursprung - Allein

1: Das Bewusstsein - Willkommen

2: Die Verbindung - Heimkehr

*****

3: Die Lebensfreude - Perspektiven

4: Das Wesen - Eine alte Bekanntschaft

5: Die Veränderung - Ein Interview

6: Das Verständnis - Im Seehof

7: Die Hoffnung - Zusammen

8: Die Achtsamkeit - Wahre Mythen

9: Die Vollkommenheit - Eine Frage des Vertrauens

10: Die Entfaltung - Zwei Rosetten

*****

11: Die Wahrheit - Das Mysterium

12: Die Hingabe - Ein Magisches Zeremoniell

13: Das Loslassen - Neubeginn

*****

ANHANG: EINLADUNG ZU EINEM MATHEMATISCH-LITERARISCHEN GEDANKENSPIEL

Das schönste Problem, das man sich vorstellen kann, ...

... denn die Welt ist komplexer, als man gemeinhin denkt.

Alles ist eine Frage der Sichtweise, ...

... denn jedes Ganze besteht aus 2 Hälften.

Es ist die ewige Verbindung ...

... des Ursprungs

... mit dem Leben.

Das Leben ist ein immerwährendes Wachsen und Teilen

Bildquellennachweis

Ein Dankeschön von Herzen

Impressum

TEIL 1

0: Der Ursprung - Der Tod des Einsiedlers

Kurz vor der Lichtung hört der Fremde die Axt schlagen. Inmitten der Einsamkeit trifft jemand Vorbereitungen für den Winter. Ein knorriger alter Mann. Die Haut hängt ihm schlaff über den Wirbeln und spannt sich nur noch dann, wenn er die Axt in die Höhe hebt. Es ist dies die Haltung seiner Jugend. Ob er das kommende Frühjahr noch erleben wird? „Nein“, schlägt die Axt. „Nein.“ Und noch einmal: „Nein.“ Lässt sich sein Schicksal noch abwenden? „Nein.“ Es ist längst besiegelt und in dem Moment, als er sich zu dem Fremden umdreht, huscht auch noch das letzte bisschen Hoffnung durchs Unterholz davon. Denn in den Augen des Fremden spiegelt sich das sorgsam gehütete Geheimnis des Einsiedlers. Ein letztes Mal fällt die Axt: „Jetzt.“

Der Wanderer starrt noch immer auf das hölzerne Amulett, das an der schweißnassen Brust des Alten klebt. Es haftet dort genauso fest wie die 13 Symbole an der Erinnerung des Fremden. Mit metallischem Klicken fügen sich die Puzzlestücke in seinem wahnsinnigen Hirn ineinander, bis ein fleckiges Leinenhemd die Verbindung trennt und sich die Blicke der Männer treffen. Beide wissen, was die Stunde geschlagen hat. Und dennoch sagt der Fremde beiläufig, wie von einer automatischen Kraft gesteuert:

„Ich suche den Wasserfall. Man sagte mir, ich solle ihn auf jeden Fall einmal sehen, so lange ich hier bin.“

„Ich bin fertig“, antwortet der Alte, geht hinüber zum Stall, öffnet das Gatter und greift zum Stock. „Gehen wir.“

Ein Stück weit schweigen sie. Es kostet den Alten einige Kraft, sich auf den Beinen zu halten und der Jüngere passt sich dem trägen Schritt an.

„Sie können mir den Weg auch beschreiben. Sie brauchen mich nicht zu begleiten“, sagt er. Der Form halber.

Der Alte verharrt für einen Moment. „Es gibt Wege“, sagt er, „die keiner für dich gehen kann.“ Dabei scheint er ihn mit seinem Blick zu durchleuchten. „Und diesen Weg, mein Sohn, haben wir beide gemeinsam zu gehen.“

Ein eisblauer Schleier legt sich über die Männer. Der Fremde versucht, die Farce zu wahren und stellt sich in gekünsteltem Plauderton als Journalist vor, der an einem Artikel über das Leben vor Ort arbeite.

„Sie haben da ein interessantes Amulett umhängen. Können sie mir etwas darüber erzählen?“

„Du hast ein geschultes Auge, mein Sohn“, antwortet der Alte. „Doch was ich dir darüber erzählen könnte, würde dir nichts nützen.“ Er atmet schwer. „Fremdes Wissen lässt sich nicht so einfach übernehmen. Man muss immer auch das dazugehörige Bewusstsein entwickeln. Wissen ohne Bewusstsein ist leblos. Du kannst sein wahres Ausmaß weder erkennen noch benutzen. Und im schlimmsten Fall wirst du es missbrauchen und es wird sich gegen dich und andere richten.“ Er hustet und würde sein Gehstock die Erschütterungen nicht ins Erdreich ableiten, würden die Rippen brechen wie klackernde Dominosteine. „Mein Sohn, bei allem, was du tust, erinnere dich daran, was ich dir jetzt sage …“

Aus der eingefallenen Tiefe seiner Augenhöhlen stechen die Pupillen wie Stecknadeln. Ungeahnte Kraft liegt in ihnen. Eine Kraft, die nicht nur sein Gegenüber in aufmerksame Starre versetzt, sondern auch die eigenen, hundertfach gefalteten Lider am völligen Erschlaffen hindert.

„Wissen gehört nicht hierhin“, sagt er, wobei er mit dem krummen Zeigefinger an seine Schläfe tippt, „sondern hierhin. Ins Herz. Wissen muss durchs Herz fließen. Erst dort wird es lebendig und erst dort zeigt es sein Potenzial. Und erst dann, mein Junge, erst dann sollst du es nutzen. Dann nämlich wird dir alles gelingen, was du tust, denn du wirst es zum Wohle des Ganzen tun. Wissen im lebendigen Zustand ist an das Bewusstsein gebunden und lässt sich nicht einfach so weiterreichen. Deshalb: Belaste dich nicht mit meinen Angelegenheiten. Lass es gut sein.“

„Ich glaube kaum, dass mich ihre Geschichte belasten würde. Als Journalist lebe ich schließlich von den Geschichten anderer Menschen.“ Er spielt seine Rolle gut. Es fehlt nicht mehr viel und der Alte wird ihm sein Geheimnis verraten.

„Nicht nur mein altes Herz ist schwach, mein Sohn. Auch ein junges, ein starkes Herz kann täuschen – und getäuscht werden. Es kann den falschen Fährten folgen. Ich selbst musste dies in meiner Jugend erfahren. Und ich würde alles dafür geben, könnte ich rückgängig machen, was ich getan habe. Höre ganz genau hin, wenn sich ein Wunsch auftut. Hinterfrage deine wahren Gründe. Und schau dir auch die Konsequenzen deines Handelns ganz genau an, bevor du aktiv wirst. Herz und Verstand müssen miteinander arbeiten, wenn große Aufgaben anstehen. Denn manchmal haben wir viel größere Macht als wir denken. Vergiss das nie.“

Das ist nun überhaupt nicht das, was der Fremde hören wollte. Er hält nicht viel von solcherlei Weisheiten. Sie gehören für ihn, wenn überhaupt irgendwohin, dann auf Kalenderblätter in die Küchen gutmütiger Großmütter. Doch er schweigt. Er merkt, dass dem Alten die Kräfte schwinden. Er hat keine Eile. Er ist seinem Ziel so nah.

Als sie den Wasserfall erreichen, schlurft der Alte leichtsinnig nahe an den Abgrund heran.

„Hier“, sagt er. „Hier endet unser gemeinsamer Weg.“

„Woher haben sie das Amulett?“, nimmt der Jüngere sein Thema wieder auf, ohne dem Naturschauspiel Beachtung zu schenken.

„Schau hin“, sagt der Alte. „Seit ich denken kann, rauscht das Wasser hier hinunter. Mal mehr und mal weniger. Aber es fließt stetig. Was wir sehen, ist immer nur ein Moment. Immer nur eine Perspektive. Woher alles kommt, wohin alles geht – das erschließt sich uns nur, wenn wir bereit sind, die unendlichen Spiralen des Lebens wahrzunehmen. Jeder einzelne Tropfen, jedes noch so kleine Molekül trägt in sich das Wesen des Ganzen. Wenn du dies einmal erkannt hast, wirst du sein Wirken überall sehen.“

„Und der Anhänger? Was hat es mit seiner, ähm, Struktur auf sich? Darf ich ihn mal sehen?“

Der Alte fasst das speckige Lederband mit beiden Händen und presst die knochigen Fäuste gegen die Brust, bevor sich sein Schädel nach vorne neigt und er das Amulett in einer langsamen, feierlichen Bewegung darüber zieht.

Der Fremde hätte nicht gedacht, dass es so einfach sein könnte. Nur ein einziger Griff und das Ding wäre für immer seines. Wie sollte dieser Greis ihn jemals einholen, wenn er sich davon machte? „Da wird dir auch kein Feuerblick helfen, mein Lieber“, denkt er, als er die Hände nach dem Anhänger ausstreckt. Die Fäuste des Alten schließen sich fester. Der Fremde zieht. Der Alte nimmt alle Kraft zusammen. Vergeblich bäumt er sich auf gegen den jugendlichen Irrsinn. Ein einziger Stoß, ein kräftiger Ruck und er verliert ein letztes Mal in diesem Leben das Gleichgewicht.

Das Grollen des Wasserfalls verschluckt die Stille und in Kürze auch alles, was jemals an den Einsiedler erinnerte. Beinahe alles. Denn das geheimnisvolle Amulett verbleibt in der Hand des Fremden. Mit kaltem Triumph steckt er es in die Innentasche seiner Jacke, wirft noch einen letzten Blick in die Schlucht und wandert zurück ins Dorf. —

1: Das Bewusstsein - Weit entfernt in tiefer Nacht

Hilflos hin oder her – wir können sie nicht bei uns aufnehmen!“

Die Worte des jahrhundertealten Mannes raspeln über seine Stimmbänder. Sein Gesicht zuckt vor Erregung. Wie kann Tala nur ernsthaft ein solches Szenario in Erwägung ziehen? Damit setzt sie nichts weniger als die Existenz des gesamten Volkes aufs Spiel.

„Es geht nicht nur um uns, Tala“, fügt er hinzu. „Ich will gar nicht daran denken, was diese Malhani außerdem …“

Im Mondlicht sieht Osmo seine Argumente an den langen Haaren der Greisin abperlen wie Wassertropfen an schimmernden Silberfäden. Erschöpft lässt er sich auf den mächtigen Stamm sinken, den das Meer einst an Land gespült hat.

Tala schweigt. Natürlich ist sie sich darüber im Klaren, in welche Gefahr sie die Letzten und Einzigen ihrer Art manövriert: Diese Frau, deren Ankunft sich andeutet, ist eine Malhani. Eine Entwurzelte. Sie gehört jener Gattung der Menschheit an, die seit ihrer Trennung vom Ursprung, als das Denken die Oberhand gewann, in irrer Fantasterei über den Planeten rast. Doch Tala weiß auch nur zu genau, dass die aktuellen Konstellationen glasklare Entscheidungen fordern. Eine Neuordnung steht bevor. Alles Leben summt bereits auf dieser Frequenz und selbst der Mond hängt in dieser Nacht heller über der kleinen Insel als sonst. Wie sein Schein, so lag bisher auch der universelle Schutz über allem und ermöglichte es ihrem Volk, das Wissen der alten Zivilisationen vor der Entdeckung durch die Malhani zu bewahren. Doch dieser Schild ist nun dabei, sich aufzulösen.

„Du kennst den Prozess so gut wie ich, Osmo“, sagt sie schließlich. „Die Öffnung lässt sich nicht aufhalten. Wir müssen dafür sorgen, dass das Zentrum den nötigen Schutz hat, während die Erde atmet und ihre Wandlung durchläuft. Durch den Tod des Zweiten ist eine Lücke entstanden, die geschlossen werden muss, Osmo. Wir brauchen einen neuen Hüter der Verbindungen. Und zwar wie immer von innen heraus, aus dem Kreis der Malhani selbst.“

Nach einer kurzen Pause, in der sie zum hundertsten Mal in die Situation hinein spürt, fügt sie hinzu: „Diese Malhani verfügt über die Anlagen, die dem Schutzkreis fehlen – wenn auch reichlich verkümmert. Da hast du Recht. Allerdings musst du zugeben, dass wir auf ihre Hilfe mehr angewiesen sind als sie auf unsere. Für sie steht nur ihr eigenes Leben auf dem Spiel. Wir hingegen sind für sehr viel mehr verantwortlich.“

Zart und sachte schwappen kleine Wellen an den Strand. Sie beenden ihre lange Reise über den Pazifik, kriechen neugierig an die zwei Weisen heran und hoffen doch vergeblich, den Ausgang des Gesprächs mit hinunter in die Tiefe nehmen zu können.

„Das Risiko ist zu groß, Tala!“ Ein letztes Mal gibt Osmo seinen Standpunkt zu bedenken. Doch seine Worte haben ihre Stärke eingebüßt. Kraftlos fallen sie zu Boden wie die Häufchen zerkauter Kavablätter neben seinen Füßen. „Wir können diese Malhani nicht aufnehmen und hoffen, dass sie uns ausgerechnet gegen die Gefahr schützt, die sie selbst uns bringt.“

„Doch“, entgegnet Tala mit jener Zuversicht in der Stimme, die noch keine Bekanntschaft mit dem Alter gemacht zu haben scheint. „Die Gefahr, die sie bringt, ist nicht die Einzige, die über uns schwebt. Bis der Wandel vollzogen ist, werden wir alle Kräfte benötigen. Sie ist eine Malhani und doch ist sie in ihrem innersten Wesenskern ein Mensch. Und allein darum geht es. Darin liegt die Hoffnung. Deshalb werden wir ihr ermöglichen, was sie für ihre Entwicklung braucht. So, wie wir es bei den anderen auch getan haben.“

Osmo seufzt. Zähneknirschend legt er die Zukunft seiner Welt in die Hand einer Malhani. Es wird ihm schwerfallen, dem Geschehen zuzusehen und darauf zu vertrauen, dass sie allein die richtigen Entscheidungen treffen wird. Denn er weiß, dass nur Entscheidungen, die aus freiem Willen und innerem Antrieb getroffen werden, die Macht zu wahrer Veränderung und wahrem Leben in sich tragen.

2: Die Verbindung - Maya

Es ist kein Wunder, dass der rote Peugeot im Verkehrschaos dieses tiefgrauen Junimorgens zwei Minuten später als üblich an der Berngrader Kreuzung zum Stehen kommt. Französisch manikürte Fingernägel trommeln zu Lucio Battistis ‚Il mio canto libero‘ aufs Lenkrad. Wie gerne würde Maya den Verantwortlichen für diese nervtötende Ampelschaltung einmal zur Rede stellen. Entweder hat er es bewusst darauf angelegt, die Leute zu schikanieren oder aber er hat schlicht keine Ahnung von seinem Job.

Ihre schwarzen Pumps zielen aufs Gaspedal und der scharfe Blick streift das Display der Uhr: 6:37. Sie wird sich ranhalten müssen. Die letzten Bilder müssen noch in die – na endlich! Spiegel, Schulterblick, Gas! – Präsentation eingefügt werden. Zu dumm, dass sie ihren Stick gestern im Lehrerzimmer hatte liegen lassen. Ein dummer Fehler, der nur passieren konnte, weil Karin mit ihrem chronischen Durcheinander wieder einmal alles um sich herum mit ins Chaos riss. Maya hätte ihr einfach nicht erlauben dürfen, sich die Materialien zu kopieren, dann hätte der Stick auch an seinem Platz gelegen und sie hätte ihn regulär mit den anderen Unterlagen eingepackt.

„Es ist doch immer das Gleiche“, rauscht es ihr durch den Kopf, während sie vor dem LKW auf die rechte Fahrbahn einfädelt. „Warum schaffen die anderen es eigentlich nicht, eine gewisse Grundordnung zu halten? Das ist doch wirklich nicht so schwer. Aber Karin ist und bleibt eine Schluderliese, bei der wahrlich nicht nur die Frisur ungeordnet ist. Neulich wollte sie ihr doch allen Ernstes weismachen, dass das Eselsohr in der Vorlage kein Problem sei: ‚Sieht man ja auf den Kopien eh nicht.‘ Also mit der Einstellung –“.

Schwungvoll parkt Maya auf ihrem Parkplatz, streckt den Schirm mit einem sicheren Hieb nach draußen und hätte einen potenziellen Gegner ziemlich sicher ins Herz getroffen. Mit Genugtuung beobachtet sie, wie das Instrument ihres Willens per Knopfdruck aufspringt. Dann fährt sie das linke Bein mit lang geübter Eleganz weit aus und platziert den Bleistiftabsatz ihres Gianvito Rossi sicher am Pfützenufer vor dem Ausstieg. Ihm folgt der schlanke Oberkörper, der sich in gleichmäßigem Flow über die Beine schiebt und in der Berghaltung aufrichtet. Würde sie jemand vom Fenster des Schulgebäudes aus beobachten, wäre er von der Anmut ihrer Bewegungen sicherlich fasziniert. Doch es beobachtet sie niemand.

„Jetzt aber schnell ins Trockene!“ Mayas klassischer Bob verträgt so hohe Luftfeuchtigkeit überhaupt nicht. Nebel und Regen stellen genauso wie Schnee echte Gefahren dar, die das mühsame Werk von Fön und Rundbürste innerhalb weniger Sekunden zerstören können.

„So viel Ordnung im Kopf wie auf dem Kopf“, hatte ihre Mutter immer gesagt, während sie Klein-Mayas Haarpracht mit dem Glätteisen strammzog. Damals war Maya noch wild gewesen und hatte es geliebt, mit den Nachbarskindern durch die Gärten zu toben.

„Damals hätte ich mich wahrscheinlich sogar gut mit Karin verstanden,“ sinniert sie. „Aber im Gegensatz zu ihr bin ich inzwischen erwachsen geworden und habe mein Leben im Griff.“

Im Lehrerzimmer angekommen fällt ihr erster Blick wie üblich auf die alte Bahnhofsuhr. Punkt 7:00 Uhr. An irgendeiner Stelle hatte sie die zwei Minuten Verspätung wieder wett gemacht.

„Läuft doch alles nach Plan,“ lächelt sie in sich hinein. Und als etwa eine Viertelstunde später allmählich die Kollegen eintrudeln, sitzt Maya tip top vorbereitet und startklar in der Lounge-Ecke, nippt genüsslich an ihrem Morgenkaffee und beobachtet das Treiben am heillos überlasteten Kopierer.

 

***

 

Hast du dir den Stoff denn überhaupt nicht angeschaut, Julius?“, fragt Maya kopfschüttelnd und legt ihren Füllfederhalter zur Seite. Das Wissen dieses Jungen hat nicht einmal für ein einziges Häkchen auf dem Abfrageprotokoll gereicht.

„Nee.“

„Aber warum denn nicht? Wie groß soll der Zaunpfahl denn noch sein, mit dem ich dir zuwinke – hast du mich gestern nicht verstanden?“

„Doch.“

„Na – und? Da setzt man sich doch wenigstens dieses eine Mal zu Hause hin und lernt, oder etwa nicht?“

Julius murmelt vor sich hin.

„Julius, ich kann dich nicht verstehen, wenn du so brabbelst. Sprich bitte laut und deutlich.“

„Ich hab gesagt: Das ist doch totaler Blödsinn“, sagt Julius nun – laut und deutlich.

„Was ist Blödsinn?“

„Na, dieses Bulimielernen für gute Noten. Überhaupt der ganze Mist, den wir hier in uns reinpauken sollen.“

Maya schaut ihn entgeistert an. Ihr fehlen die Worte.

„Was bringt es mir denn für meine Zukunft, mich mit Napoleon zu beschäftigen? Soll ich mit Napoleon aufs Schlachtfeld ziehen oder was? In dem Fall wäre es natürlich schon sinnvoll, seine Strategie zu kennen und zu wissen, welches Jahr wir gerade haben. Aber das ist doch alles längst vorbei. Und was da in den Geschichtsbüchern steht, das ist doch immer nur die halbe Wahrheit – geschrieben von den jeweiligen Siegermächten. Sowas lerne ich nicht auswendig.“

Julius’ Augen blitzen. So lebendig hat Maya ihn schon lange nicht mehr gesehen. Er ist ja richtig außer sich.

„Warum sprechen wir nicht mal über die Kriege, die aktuell stattfinden und die nicht mal mehr beim Namen genannt werden? Unsere Lehrpläne gehen doch völlig an unserer Lebenswirklichkeit vorbei, sind total veraltet. Unsere Generation will und muss sich mit ganz anderen Themen beschäftigen, Frau Kussmann.“

Großartig. Maya steht noch keine Viertelstunde vor der Klasse und schon legt sich der verhasste heiße Ring um ihre Nase, die Blutgefäße erweitern sich, die ansonsten makellose Haut nimmt sich dezent zurück und ihre Wangen … ihre Wangen strahlen in leuchtendem Karmesinrot. Als hielte jemand von innen eine Taschenlampe dagegen. Warum um Himmels willen muss sie immer rot werden, wenn ihr Familienname fällt? Krampfhaft versucht sie, sich auf Julius’ Wortschwall zu konzentrieren. Seine Stimme bricht, überschlägt sich. Und wenn Maya könnte, würde sie mit ihm tauschen, denn bei ihm wird der pubertäre Spuk in ein paar Monaten vorüber sein. Sie jedoch ist seit jeher und fürs Leben gezeichnet. „Konzentriere dich jetzt endlich. Du wirst ihm gleich antworten müssen!“, fährt sie sich im Geiste an.

„… Vollgas auf den großen Crash zu. Und wir sollen hier wie vor 100 Jahren Hefteinträge auswendig lernen? Wir sollen uns von einer Notenskala beurteilen lassen, deren einziges Ziel es ist, alle gleichzuschalten und Druck auszuüben. Nur die richtige Antwort zählt? Wie wäre es denn mal mit auf-richtig? Korrekt, fehlerfrei und gefügig arbeiten Computer und zwar viel perfekter als es ein Mensch je könnte. Wenn wir nicht zu minderen Maschinen degradiert werden wollen, dann sollten wir anfangen, unseren Fokus auf das zu lenken, was uns von Computern unterscheidet: Menschlichkeit nämlich, Empathie, Kreativität. Und wenn wir uns endlich auf gesunde Werte besinnen und damit meine ich ein Miteinander im ganz großen Kontext, nicht nur Mensch-Mensch, sondern auch Mensch-Natur, dann wird die Welt mit etwas Glück wieder zu einem Ort, an dem man gerne lebt. Ohne Angst. Aber dafür müssen wir erstmal weg von den alten, eingefahrenen Denkstrukturen, von richtig und falsch, nützlich und wertlos, denn die haben uns doch letztendlich in die aktuelle Situation gebracht. Wir müssen miteinander Neues denken. Sehen sie das denn nicht, Frau Kussmann?“

Sching. Und schon wieder glühen die Wangen. Maya hat von Psychotherapie bis sündteurem Make Up, von Globuli bis Meditation wirklich alles versucht, das Rotwerden in den Griff zu bekommen. Doch das Einzige, was sie erreicht hat, ist, dass es nicht mehr so lange anhält. Zwei bis drei Sekunden, dann ist es vorbei. Aber diese zwei bis drei Sekunden können genügen, den Respekt des Gegenübers zu verlieren. Das Einfachste wäre es natürlich ihren Namen zu ändern, aber diesen Schlag gegen die Familienehre würden ihr die Eltern Kussmann niemals verzeihen. Und heiraten, ja, das ist gerade mal wieder in sehr weite Ferne gerückt.

In der Klasse herrscht noch immer betretenes Schweigen. Es war das erste Mal seit dem Tod seiner Eltern, dass Julius von sich aus sprach. Seit Monaten hatte man von ihm nur das Allernötigste gehört. Wenn überhaupt. Er hatte sich von allem abgekoppelt. Nichts und niemand schien ihn zu interessieren. Und dann auf einmal dieser harsche Ausbruch, diese scharfe Meinung zum Puls der Zeit?

„Wenn ich jetzt darauf eingehe“, überlegt Maya, „komme ich mit dem Stoff nicht mehr durch.“ Sie muss die Diskussion abbrechen, bevor sie ihr entgleitet. Am besten mit Verständnis. Verständnis wirkt immer.

„Ich verstehe, was du sagen willst, Julius“, sagt sie also und setzt sich in Lehrerpose aufs Pult. „Und du hast in manchen Punkten sicherlich nicht ganz Unrecht.“

Überrascht blickt Julius auf.

„Schau, jede Generation macht in deinem Alter dasselbe durch – jede Generation rebelliert gegen das Alte und will neue Wege gehen. Das ist ganz normal. Und das muss auch so sein, sonst könnten wir uns ja nicht entwickeln. Weder als Individuum, noch als Gesellschaft, noch als Menschheit. Dreh doch mal die Zeit zurück – kannst du dir vorstellen, wie nervtötend es für Napoleon seinerzeit gewesen sein muss, als junger, ehrgeiziger Korse im absolutistischen Frankreich zu leben? Ganz egal, wie sehr er sich anstrengte – damals waren alle Privilegien und die Chance auf beruflichen Erfolg ausnahmslos dem Hochadel vorbehalten.“

Seufzend lehnt sich Julius in seinem Stuhl zurück, verschränkt die Arme und lässt das Unausweichliche über sich ergehen – er hätte es sich ja denken können:

„Im Vergleich dazu habt ihr doch nun wirklich keinen Grund zu rebellieren: Ihr habt alle Möglichkeiten, eure Träume und Visionen zu verwirklichen – sobald“, Maya macht eine kurze theatralische Pause, „ihr euren Abschluss in der Tasche habt. Vorausgesetzt natürlich, ihr legt euch ein bisschen ins Zeug. Ich kann euch deshalb allen nur empfehlen, im Unterricht mitzumachen. Napoleons Vorgehen als solches mag für euer praktisches Leben vielleicht nicht relevant sein, aber diese Dinge sind nun einmal passiert. Sie sind Teil auch eurer Geschichte. Ihr könntet durch die Beschäftigung damit etwas über das Wesen des Menschen lernen oder über den Umgang des Menschen mit Macht oder über die Dynamik gesellschaftlicher und politischer Prozesse, oder, oder, oder.“

Still und heimlich rollt der Stein von Mayas Herzen. Das war wieder einmal ein elegantes Manöver. Es ist ihr gelungen, den drohenden Aufstand im Keim zu ersticken und im selben Atemzug den Fokus ihrer Schüler wieder auf den Unterricht zu lenken. Das soll ihr mal einer nachmachen. Jetzt gilt es aber umso mehr, die Klasse bei der Stange zu halten. Sie muss umplanen. Dafür wird der gesamte Zeitpuffer für diese Woche draufgehen, aber es könnte dieses Mal tatsächlich interessant werden.

“Okay. Passt mal auf.“ sagt sie, „ich mache euch einen Vorschlag: Julius meinte, ihr wollt miteinander Neues denken? In Ordnung. Dann lest ihr jetzt zuerst den Text ‚Freiheit – Gleichheit – Brüderlichkeit‘ auf Seite 174, jeder für sich. Anschließend geht ihr in die Geschichtsgruppen zusammen und verfasst ein fiktives Interview mit dem jungen Napoleon – der war 1789 nämlich nicht wesentlich älter als ihr jetzt. Überlegt euch drei Fragen, die ihr ihm stellen würdet, wenn er heute hier wäre. Und überlegt euch auch, was er antworten würde. In Stichpunkten. Alles klar?“

„Äh, Frau Kussmann, woher soll ich denn wissen, was der antwortet? Ich hab doch ’ne 5 in Französisch,“ säuselt es aus der dritten Reihe und die Klasse lacht. Dabei ist unklar, ob das Lachen sich auf Fredis Kommentar bezieht oder auf Mayas Namensröte. Wahrscheinlich auf beides.

„Irgendeiner aus deiner Gruppe wird schon für dich übersetzen können, Fredi. Da mache ich mir keine allzu großen Sorgen“, kontert sie, „und jetzt konzentriert euch auf den Text. Fünf Minuten Lesezeit – ab jetzt.“

Der Fremde

Der Fremde sitzt am urigen Eichenholztisch seines Wochenendhauses. Er hat die blau-karierten Leinenvorhänge zugezogen und den Teller mitsamt Brotkrumen und dem restlichen Stück Käse beiseitegeschoben. Im fahlen Licht der Jägerlampe betrachtet er seine Trophäe von allen Seiten.

„Für einen richtig schönen Braten muss man über Leichen gehen“, hatte der Großvater seinerzeit immer gesagt. Hätte der eingefleischte Weidmann allerdings geahnt, dass sein Enkel diesen Ausspruch so skrupellos missbrauchen würde, hätte er zweifelsfrei geschwiegen. Aber der Gute liegt längst unter der Erde und wird niemals erfahren, dass von dem unbeschwerten Gemüt seines Enkels nach so vielen Jahren nicht mehr als ein paar verblasste Sommersprossen geblieben sind. Und er wird niemals erfahren, wie hart, wie kalt der Verstand seines lieben Jungen geworden ist. Was aber hatte er denn für eine Wahl? Dieser spezielle Fall erforderte nun einmal alle Mittel. Das hätte selbst der Großvater eingesehen. Im Übrigen wird der Kopf des Einsiedlers nicht der erste gewesen sein, der in dieser Sache hatte rollen müssen. Dieser Talisman hat mit Sicherheit schon zahlreiche Leben auf dem Gewissen. Denn wenn er Recht hat, wenn seine Vermutung stimmt, dann ist dieses unscheinbare Schmuckstück nicht nur ein besonders hübscher Klumpen geschnitzten Holzes – dann ist das Amulett vielmehr der leibhaftige Beweis für die Existenz der Bücher! Und nicht nur der Beweis. Es ist die erste ganz konkrete Spur, die ihn zu den Büchern führen wird!

Ob noch jemand außer ihm die Maske mit der Inschrift gefunden hatte? Und wichtiger noch: Ob derjenige auch die wahre Bedeutung der Inschrift erkannt hatte? Zumindest war offenbar noch niemand bis ans Ziel gelangt, andernfalls hätte die Welt ja etwas von der spektakulären Entdeckung der Goldenen Bücher erfahren. Doch nichts dergleichen. Lediglich die Parawissenschaften ziehen deren Existenz überhaupt in Erwägung und vermuten sie in einem finsteren Versteck, wo sie seit Jahrtausenden ihrer Entdeckung harren. Die seriöse Archäologie hingegen wird nicht müde, selbst die offensichtlichsten Hinweise darauf in den Bereich der Legenden zu verbannen. Und das, obwohl unzählige antike Schriften einhellig davon berichten. Aber wer nicht sehen will, der braucht auch nicht zu sehen. Und wer nicht sehen will, dem gebührt auch kein Ruhm. Stattdessen wird er es sein, der Teilchen für Teilchen dieses Puzzles aufspüren und zusammenfügen wird. Und sein Erfolg wird ihm Recht geben. Sein Glaube wird ihn zum reichsten Mann der Welt machen. Zum heimlichen Herrscher über die Welt.

Er lacht. Wie das klingt. Natürlich geht es ihm nicht darum, die Welt zu beherrschen. Das überlässt er Hollywood und seinen Superhelden. Unermesslicher Reichtum würde ihm schon genügen. Und der ist ihm gewiss, sobald er diese Goldene Bibliothek aufgespürt hat und ein Buch nach dem anderen auf dem Schwarzmarkt verhökert. Das wird eine Sensation! Ausgerechnet er, der von der Universität Verstoßene, würde den Gelehrten diesen Braten zum Fraß vorwerfen und ihre ganzen Konstrukte, ihr gesamtes armseliges Weltbild zum Einsturz bringen. —

3: Die Lebensfreude - Bellavista

Antonios charmantes Lächeln legt sich an diesem Abend wie Balsam auf Mayas geplagte Seele – egal wie oft sie sich sagt, dass es genau diese Freundlichkeit gewesen sein musste, die ihm kürzlich das Prädikat ‚Bester Ober der Stadt‘ eingebracht hat. Er spielt seine Freude über ihr Erscheinen wie immer so galant, dass Maya ihm einfach glauben möchte. In keinem anderen Restaurant fühlt sie sich so herzlich willkommen und in Sekundenbruchteilen so fern des Alltags wie im Bellavista. Sie folgt ihm zu ihrem Stammplatz auf der Dachterrasse. Vornehm und langsam sind seine Bewegungen. Wie ein durchs Wasser watender Flamingo bahnt er sich seinen Weg durch die Sitzgruppen, im ewigschwarzen Nadelstreifenanzug mit perfekter Bügelfalte.

„Bitteschön, die Dame“, sagt er und rückt Maya den Rattansessel zurecht. „Begleitung komme gleich, eh?“

Ja, so ist es. Annas Zuspätkommen ist zum festen Bestandteil der Donnerstagabendroutine geworden. Käme sie mit einem Mal pünktlich, gerieten die liebgewonnenen Abläufe völlig durcheinander: Anna würde sich setzen und den Flyer zum Wein der Woche mit einem einzigen Wisch zur Seite schieben. Dabei ist doch gerade der Wein der Woche der Grund, weswegen Maya den Donnerstag als Bellavista-Tag gewählt hat: Donnerstags präsentiert Antonio den Hobby-Sommeliers der Stadt einen ganz besonderen Tropfen aus seiner italienischen Heimat. Dazu gestaltet er stets ein hübsches Informationsblättchen zu Rebsorte, Winzer, Weingut und Anbauregion. Maya sammelt diese Flyer in einem eigens dafür angelegten Ordner mit der Aufschrift ‚Weinkunde‘. Anna hingegen hat leider überhaupt keinen Sinn für Wein. Zwar gibt sich Maya alle Mühe, die Freundin für die Feinheiten des stilvollen Lebens zu sensibilisieren, doch scheint dies ein noch weiterer und steinigerer Weg zu sein als Julius eine gute Note in Geschichte abzuringen. Für Anna ist fast jeder Wein – Maya zuckt schon bei dem Gedanken an das Wort zusammen – „lecker“. Lecker! Was für ein Sakrileg. Aber wahrscheinlich liegt es nur daran, dass für Anna ganz andere Dinge wichtig sind, bodenständigere. Freundschaften zum Beispiel. Was im Grunde genommen auch sehr gut ist, denn würde Anna nicht immer wieder die Initiative ergreifen und gemeinsame Aktivitäten vorschlagen, hätte sich die Freundschaft niemals zu dem entwickelt, was sie heute ist. Und genau deshalb ist Anna auch die einzige, die den wahren Grund für Mayas Trennung von Mark kennt. Nicht einmal ihren Eltern hatte sie von seiner Susanne erzählt. Niemals hätte sie vor ihren Eltern zugegeben, dass sie als Partnerin so kläglich versagt hatte. Ausgerechnet die Beziehung mit Mark hat sie in den Sand gesetzt, mittelmäßig wie sie trotz aller Bemühungen ist. Also hat sie ihnen erzählt, dass er nun doch keine Kinder wolle und sie sich deshalb konsequenterweise – wenn auch natürlich schweren Herzens – von ihm hatte trennen müssen.

„Oh, Mensch, tut mir leid, dass ich schon wieder zu spät bin! Ich hoffe, du wartest noch nicht so lange.“

Anna nimmt ihre Freundin herzlich in den Arm, lässt den Rucksack auf den Boden und sich selbst in den Sessel fallen.

„Ich sag dir eins: Schaff dir bloß keine Kinder an!“, lacht sie und zupft die fesche Kurzhaarfrisur zurecht. „Im Ernst, die machen dich fertig!“ Anna schaut sich mit gespielter Panik im Restaurant um, duckt sich und flüstert: „Die saugen auch noch das letzte Tröpfchen Energie aus dir raus.“ Sie verbirgt ihre Brüste unter den Händen ohne sich um die Blicke der anderen Gäste zu kümmern. „Die sehen von dir echt nur deine Brüste.“

Maya lacht. Sie weiß nur zu gut, dass Anna ihre Zwillinge und den Großen, der gerade zwei Jahre alt geworden ist, um keinen Preis der Welt hergeben oder gar rückgängig machen würde. Aber zugegeben: Ihre Augenringe sprechen Bände. Und als wären sie nicht schon dunkel und tief genug, bestellt sie jetzt auch noch Pasta! Mit getrockneten Tomaten, Oliven, und Speck! An Sahnesoße! Maya schüttelt den Kopf über Annas Unvernunft: Da schwellen doch über Nacht die Lider an! Abends sollte Anna nun wirklich etwas Leichtes zu sich nehmen.

„Einemal Pasta Giulietta mite Traubesaft“, wiederholt Antonio und Anna strahlt. „Und einemal Insalata Bellavista mite Amarone“, Maya nickt. „Oh, Amarone iste wundervolle Wein. Iste kräftige, süße Wein. Mache Herze warm“, schwärmt Antonio.

Maya möchte wetten, dass er zu Hause akzentfreies Deutsch spricht, aber wenn er abends in seine Rolle als feuriger, südländischer Restaurantbesitzer schlüpft, passt er sich auch sprachlich ausgezeichnet an. Er schafft ein perfektes Bild, eine perfekte Stimmung für seine Gäste.

„Mille grazie, komme gleich.“ Antonio verbeugt sich zweimal und stakst – mit dem Zettel wedelnd – in Richtung Küche davon.

„Ehrlich Maya, ich freu mich immer so auf unseren Abend. Zwei Stunden unter Erwachsenen, zwei Stunden, in denen meine Brüste mir ganz allein gehören.“ Sie lacht. „Komm, mach schnell. Erzähl mir was vom Leben. Was war los diese Woche? Wie läuft’s in der Schule? Hast du jemanden kennengelernt? Erzähl!“

Maya fühlt sich überfordert. Anna weiß doch, dass bei ihr so ziemlich jede Woche gleich verläuft – zumindest seit der Trennung von Mark. Da passiert nicht mehr viel Aufregendes. Aber sie weiß auch, dass für Anna alles interessant ist, was nicht mit Babys zu tun hat, also erzählt sie von der Schule.

„… es ist ein reiner Kampf und ich glaube manchmal, dass ich die Einzige bin, die für deren Glück kämpft. Wie sollen sie sich denn sonst in der Zukunft beweisen und erfolgreiche Menschen werden, wenn sie nicht mal den Schulabschluss schaffen? Ach, Anna, es ist so frustrierend: Da rackert man sich ab, macht sich so viele Gedanken, bereitet stundenlang tausend Sachen vor, macht den Hampelmann – und schaut, wenn überhaupt, dann nur in müde Gesichter.“

Anna lacht herzlich. „Es tut mir so leid, Maya, aber ich schwöre: Mein müdes Gesicht hat nichts zu bedeuten! Ich höre jedes Wort, das du sagst und ich vergesse es auch ganz bestimmt nicht. Versprochen!“

„Dich habe ich damit doch auch gar nicht gemeint. Dass du mir zuhörst weiß ich. Keine Sorge,“ entgegnet Maya verständnisvoll.

„Aber ganz ehrlich, weißt du, was ich glaube?“ Anna wartet keine Antwort ab. „Ich glaube, du machst dir viel zu viel Stress. Sei mir nicht böse, wenn ich das jetzt mal so deutlich sage, aber mit deinem Perfektionismus setzt du nicht nur dich selbst, sondern auch alle anderen unter Druck.“

Maya hört auf zu kauen und schaut ihre Freundin entgeistert an. Woher kommt das denn? Unbeeindruckt spricht Anna weiter.

„Ich bin mir sicher, dass du immer noch eine ganz außergewöhnliche Lehrerin wärst, wenn du mal einen Gang zurückschalten würdest. Du denkst, dass das Glück deiner Schüler davon abhängt, dass sie beim Wort ‚Aufklärung‘ an – an wen noch mal denken? Descartes und Locke, genau, danke, also an die beiden zum Beispiel denken. Aber die bekommen doch in dem Alter eher Kicherattacken, wenn du mit ‚Aufklärung‘ ankommst. Die sind doch hormonell entweder auf Nullbock gepolt oder sehen rosa Wölkchen. Schlimmstenfalls beides gleichzeitig. Erinnere dich doch mal: Hast du damals nicht auch für irgendeinen Typen geschwärmt und nur von Pause zu Pause gelebt, in der Hoffnung, ihn wenigstens kurz zu sehen, vielleicht sogar einen Blick von ihm zu erhaschen, um dann tagelang davon zu träumen?“

„Na ja“, gibt Maya zu, „aber trotzdem hab ich doch auch Klausuren geschrieben und mich um gute Noten bemüht, oder? Schule ist Schule und Freizeit ist Freizeit. Das lernen die jungen Leute heute doch gar nicht mehr. Wie sollen die denn jemals etwas auf die Reihe bringen?“ Warum sieht Anna denn die Problematik nicht? Es ist doch mehr als offensichtlich! Dieser Verfall jeglicher Disziplin und Bereitschaft der jungen Leute, sich als Teil der Gesellschaft zu sehen. Realisiert Anna denn nicht, dass all das bald auch ihre eigenen Kinder betreffen wird?

„Jetzt mach mal locker, Schatz,“ Anna lässt sich nicht auf Mayas Dramatik ein. „In dem Alter sprudeln die Gefühle über, das ist doch ganz normal. Und so ein bisschen Sprudeln würde dir auch mal wieder guttun. Schau mal, du bekommst schon Bitterfalten um den Mund. Deine Schüler sind doch keine Maschinen, die du erst mit Wissen aufpumpen musst, bevor sie raus ins Leben können. Lass die mal machen, die finden sich in der neuen Welt viel besser zurecht als wir. Auch dein Julius. Komm, lass uns lieber nochmal anstoßen, sonst wird mir glatt noch meine Sahnesoße sauer.“ Anna streckt ihrer Freundin das Glas entgegen. „Auf die Jugend und die Zukunft und darauf, dass jeder seinen Weg findet, ja? Prost, Liebes.“

Maya ist überhaupt nicht Annas Meinung, schluckt die Entrüstung aber hinunter, um den Abend nicht zu verderben und lenkt ihre Aufmerksamkeit auf den Wein:

„Meine Güte, Antonio hat wirklich ein Händchen. Dieser Amarone – wirklich außerordentlich komplex im Geschmack. Ein Traum!“

„Ja, ist er lecker? Der hat auch schon so eine schöne Farbe.“

Oh, es ist zum Aus-der-Haut-fahren! Anna muss endlich aufhören, dieses Wort in den Mund zu nehmen!

„Anna, ‚lecker‘ sagt man bei Wein nicht. ‚Lecker‘ ist ein Schnitzel mit Pommes, aber doch kein exquisiter Wein.“

„Ach du immer,“ Anna lacht und kümmert sich nicht weiter um Mayas Gesichtsausdruck. Stattdessen reißt sie selbst die Augen auf und lässt ihr Messer klirrend auf den Teller fallen, dass die Leute vom Nachbartisch herüber starren.

„Ich bin ja so ein Dussel!“ kreischt sie. Die Leute am Nachbartisch grinsen.

„Du machst die Kreuzfahrt! Na klar! Wer denn sonst?? Dass ich darauf nicht schon viel früher gekommen bin!“

Maya versteht kein Wort. Die Leute am Nachbartisch offensichtlich auch nicht.

„Wovon sprichst du?“

„Ich hab doch diese Kreuzfahrt gewonnen! Vor lauter Windeln im Kopf hab ich das schon fast vergessen. Das war total verrückt, pass auf: Das war vor ein paar Wochen. Nachts, da konnte ich nach dem Stillen nicht mehr einschlafen und hab dann so ein Kreuzworträtsel online eingereicht, also das Lösungswort, und letzten Samstag kam doch tatsächlich der Brief, dass ich eine Kreuzfahrt gewonnen hätte.“

Maya zieht die linke Augenbraue hoch.

„Ja, ich weiß schon“, fährt Anna fort, „ich habe natürlich auch erst gedacht, dass das wieder so ein Schabernack ist. Eine dieser Kaffeefahrten, wo du am Ende fürs Rahmenprogramm mehr bezahlst, als das ganze Ding eigentlich wert ist. Aber das ist wasserdicht. Also, klar, das Schiff sowieso, aber ich meine auch das Angebot. Das Reisebüro bei uns unten kennt den Anbieter und sagt, die machen das immer mal wieder mit Restplätzen, Marketing und so, das passt schon.“

„Aha – und?“, fragt Maya noch einmal.

„Na, ist doch klar! Ich kann auf keinen Fall vier Wochen durch den Südpazifik schippern. Und ich kenne auch niemanden, der sich hopplahopp so lange Urlaub nehmen und einfach mal verschwinden könnte. Außer dir! Du hast Sommerferien – du kannst! Und du hast es sowas von nötig, mal raus zu kommen und dich zu entspannen.“

„Also hör mal, mir geht’s bestens. Ich hab das schon alles im Griff,“ entrüstet sich Maya erneut.

„Das Einzige, was du selbst zahlen müsstest, sind die Flüge. Nach Auckland —“

„Aha, siehst du, es gibt doch einen Haken. Hab ich es doch gewusst!“, triumphiert Maya und schickt sich an, das Ruder wieder zu übernehmen. Aber Anna überfährt den Einwand:

„— und zurück dann von San Francisco. In Auckland steigst du aufs Schiff, schaust dir die Südsee an, trinkst Cocktails mit bunten Schirmchen drauf und lässt dir drei Wochen lang frischen Wind um die Nase wehen. Mach dich mal frei von all dem Mist hier, Maya. Ich schicke dir die Infos, sobald ich zu Hause bin, ja? Dann kannst du gleich nach Flügen suchen – oder willst du mir allen Ernstes weismachen, dass du eine geschenkte Reise in die Südsee ablehnst, hm? Na siehst du. Ach, großartig! Auf dich, du Glückliche, und auf eine phantastische Reise ans schönste Ende der Welt!“

4: Das Wesen - Neue Bekanntschaften

Für sie ist eine Innenkabine gebucht, gnädige Frau“, stellt der Steward tonlos fest. „Bitte hier geradeaus zum Aufzug, dann runter zum Maindeck. Und hier“, er setzt einen unförmigen roten Kringel auf den Deckplan, „ist ihre Kabine, C312.“ Vorschriftsmäßig nimmt er Blickkontakt mit Maya auf, lächelt, steckt den Plan in eine dicke Mappe, drückt sie ihr in die Hand und mit den Worten „Ich wünsche ihnen einen angenehmen Aufenthalt. Schönen guten Tag, herzlich willkommen an Bord der MS Fortune, wie ist ihr Name?“ wendet er sich dem nächsten Reisenden zu. Der Herr hinter Maya rückt auf. Ein immenser Bierbauch im Rücken spricht für sich – sie springt zur Seite, klemmt umständlich die Mappe unter den Arm und zerrt ihr Gepäck hinter sich her. Immer wieder verheddern sich die kleinen Rollen des Koffers im Hochflor. „Was für ein Knallkopf verlegt denn an einem solchen Ort Teppichboden?“, grummelt sie in sich hinein, ohne zu bemerken, dass eine Gruppe junger Leute sie vom Aufzug her beobachtet.

„Na, da haben sie sich ja einen ganz schönen Klotz ans Bein gebunden!“, witzelt der eine anstelle einer Begrüßung. Das hat ihr gerade noch gefehlt. Hoffentlich lässt der Aufzug nicht allzu lange auf sich warten.

„Also meiner Erfahrung nach,“ geht der Jungspund mit ausgebildeter Sprecherstimme darauf ein, „gibt es außer der Grundausstattung – also sprich ein paar persönlichen Dingen und einem Paar Wechselklamotten – so gut wie nichts, was man nicht viel praktischer im Reiseland nachkaufen oder ausleihen könnte – wenn man es denn tatsächlich braucht.“

„Na bei den zu erwartenden Temperaturen braucht man ja klamottenmäßig ich sag mal außer Badezeug nicht besonders viel“, lacht seine Begleiterin, die wahrlich keinen Millimeter Stoff zu viel auf der Haut trägt.

Schon wieder drückt sich der Bierbauch von eben an Maya vorbei und marschiert aufrecht den Flur hinunter. Ihm folgt die Gattin mit trippelnden Schritten.

„Aber wirklich!“, bekräftigt der Jungspund indessen. „Also wir sind ja jetzt schon eine ganze Weile auf Weltreise und haben nach zwei Monaten direkt den Großteil des Gepäcks verschenkt, weil wir so vieles einfach wirklich gar nicht gebraucht haben. Man ist um so vieles freier und schneller, wenn man sich nur um sein Handgepäck zu sorgen hat.“

Der dritte Volljährige im Bunde lauscht aufmerksam und gesteht dann schüchtern, dass sein Rucksack schon in der Kabine sei – das Reisen mit Handgepäck sei ihm leider nicht möglich. „Allein wegen der ganzen technischen Ausstattung: Kamera, Objektive, Laptop, Stative, Drohne, et cetera pp.“

Maya verfolgt die Diskussion wie durch eine Nebelwand. Sie sieht zu, wie sich die jungen Leute auf das selbst erfundene Thema stürzen wie ein Schwarm hungriger Fische: Sie schnappen danach, kauen darauf herum, spucken unverdauliche Brocken wieder aus, die dann vom nächsten geschnappt werden und wahrscheinlich würde es endlos so weitergehen – wenn sich nicht dankenswerterweise hinter ihnen das metallische Maul des Aufzugs auftun würde. Es saugt die zappelnden Wesen in seinen Schlund und Maya winkt hektisch ab: „Nein, nein, danke, kein Problem, ich warte auf den nächsten.“

 

***

 

Das Schwarz der Nacht hat Aucklands Lichter längst verschluckt, da betritt Maya in einem eleganten Neckholderkleid das Restaurant Le Capitan. Ein paar Tische sind bereits besetzt, es wird gelacht, Besteck klimpert gedämpft – der dunkelrote Teppich schluckt alles, was an Geräuschkulisse zu laut oder zu grell klingen würde. Die Kulisse ist perfekt. Das altmodische Mahagoni-Mobiliar weckt Mayas Sehnsucht nach kultivierten Tanzabenden und inspirierenden Konversationen im Kreis gebildeter Mitreisender. Ein Steward empfängt sie freundlich und führt sie zu einem Tisch in einer hübschen Nische mit Blick auf den Steinway Flügel. Herrlich.

„Wird ein Pianist das Essen musikalisch begleiten?“, fragt Maya.

„Ja, gnädige Frau,“ näselt der Steward mit leichter Verneigung. „Was darf ich ihnen zu trinken bringen? Jawohl. Das Buffet ist gleich hier drüben. Ich wünsche ihnen einen angenehmen Abend und guten Appetit.“

Maya hängt ihr Jäckchen an den Stuhl und macht sich gut gelaunt auf zum Buffet. Als sie wenig später mit einem bunten Salatteller zurückkommt, meint sie zuerst, sich im Tisch geirrt zu haben. Aber nein, da – ihr Jäckchen. Und ihr Aperitif steht auch bereit. Aber wie kommen diese Leute dazu, sich an ihren Tisch zu setzen?

„Ach, du bist das! Hey! Der Steward meinte, wir würden uns bestimmt gut mit der Dame verstehen, die hier sitzt. Wir wussten erst nicht, wen er meint, aber ja, eigentlich ist es ja völlig klar!“, der Jungspund lacht laut und weil Maya nicht reagiert, erklärt er: „Hast du dich mal umgeschaut? Wir sind ja echt die Einzigen U50 hier an Bord!“

„Du lieber Himmel!“ entfährt es Maya. Das muss ein Irrtum sein! Wo ist der Steward? Etwas tatscht auf ihren Unterarm. Es ist die Hand der stoffsparenden Begleiterin: „Du saaagst es“, bestätigt sie lässig, „genau das hab ich mir auch gedacht als ich realisiert habe wo wir hier rein geraten sind“. Sie lässt Maya los. „Ich dachte echt bei dem Preis wären ganz sicher noch viele andere DNs an Bord mit denen wir uns austauschen und zusammentun könnten aber dass das eine Kaffeefahrt ist also das hätten die auf ihrer Webpage echt mal erwähnen können ist ja kein ganz unwesentliches Detail immerhin sitzt man drei Wochen aufeinander na aber es ist ja gut dass immerhin noch eine ach nein heute beim Aufzug“ – sie wendet sich dem Jungspund zu und legt ihre Hand nun auf seinen Arm – „da war doch noch der kleine Nerd der Typ mit Brille weißt du noch der könnte sogar noch jünger sein als wir ach lustig schaut mal wenn man vom Teufel spricht jetzt können wir ihn gleich selber fragen wie alt er ist.“

Sie holt Luft. Und Maya sieht fassungslos zu, wie der Steward nun auch noch den kleinen Nerd zu ihrem Tisch herüberführt.

„Nun dürfte ihre Runde vollständig sein“, sagt er und zieht sich mit einer angedeuteten Verbeugung zurück. „Ich wünsche den Herrschaften einen angenehmen Abend!“

Oh wie gerne würde Maya ihn packen und schütteln! Wie kann er nur ernsthaft glauben, sie würde sich mit diesen Clowns amüsieren? Hat der Kerl denn überhaupt keine Menschenkenntnis? Allein an der äußeren Erscheinung der vier müsste man doch auf einen Blick erkennen können, dass sie in vollkommen unterschiedlichen Welten leben!

„Also ich bin die Gäbb und das ist mein Freund der Scho wir kommen ursprünglich aus Köln sind aber schon seit zwei Jahren auf Weltreise haben Asien Australien und Neuseeland jetzt durch und machen als nächstes den amerikanischen Kontinent und ihr so?“

Da Maya noch immer in Schockstarre verharrt, stellt sich der kleine Nerd vor. Sebastian. Er habe nach dem Abi work&travel in Neuseeland gemacht und ein Computerprogramm entwickelt, das er jetzt in den USA eventuell an den Mann bringen wolle. Er hätte da einen Interessenten in San Francisco, ergänzt er und macht bescheiden den Rücken rund.

„Heyyy das klingt echt klasse Seb musst uns nachher unbedingt noch genau erzählen was deine Software kann ich find das ja total spannend was die Leute so machen programmieren kann ich leider nur ein bisschen halt was man so an Grundwissen für nen Blog braucht hier mal was fett machen oder Bilder und Links einfügen oder so aber ganze Programme konstruieren echt Hut ab das find ich toll und wer bist jetzt du erzähl mal“.

Die Blicke richten sich auf Maya. Ihr innerer Knigge ist in Alarmbereitschaft: Reiß dich zusammen. Lass dir nichts anmerken. Bleib höflich und zeige Interesse, dann wird der Abend möglicherweise sogar ganz nett. Und wenn nicht, dann kannst du dich morgen immer noch an einen anderen Tisch setzen.

„Ich heiße Maya“, sagt sie mit kontrollierter Stimme und setzt dazu ein gekonnt freundliches Lächeln auf. Dass sie ihren Familiennamen verschweigt, fällt in dieser Runde natürlich keinem auf.

„Und was machst du so“, hakt Gab nach, „also beruflich oder was dir sonst so wichtig ist“.

„Ich bin Lehrerin an einem Gymnasium. Für Deutsch und Geschichte.“

„Ah, klar, und jetzt hast du Sommerferien und willst so weit weg wie nur irgendwie möglich.“ Jo lacht. „Das kann ich verstehen! Das Leben selber bietet so viel mehr als alle Schulbücher und staubigen Klassenzimmer zusammen.“

„Also ich mag meinen Beruf,“ entgegnet Maya und schaut ihm fest in die Augen. „Ich begleite junge Menschen auf ihrem Weg ins Erwachsenenleben und unterstütze sie dabei, sich das Wissen und die Fähigkeiten anzueignen, die sie im späteren Leben brauchen werden. Selbst wenn Schüler das oft noch ganz anders sehen – es ist so.“

„Also ich hab in den letzten zwei Jahren mehr fürs Leben gelernt, als es mir die Schule in den ganzen zwölf Jahren beigebracht hat. Und damit meine ich nicht nur Sprachkenntnisse und geographisches Wissen.“ Jos Stimme wird geheimnisvoll: „Wir waren in Kathmandu und Südchina in Klöstern und haben meditieren gelernt – ich sag’s euch: Das hebt das Leben auf ein ganz anderes Level. Sowas sollten Schüler meiner Meinung nach lernen und zwar gleich von Anfang an! Und du, Seb, bist ja ein leuchtendes Beispiel dafür, dass man auch ohne Schule was erreichen kann, wenn man sich mit den Dingen beschäftigt, die einen begeistern. Wenn man frei ist. Oder? Wo hast du denn Programmieren gelernt? Doch wahrscheinlich nicht in der Schule?“

„Na ja, doch, schon, also, zumindest ein bisschen“, gibt Seb zu und rutscht auf seinem Stuhl hin und her. „Also, wir hatten da in der Neunten diesen Wahlkurs am Nachmittag. Ab da hab ich in meiner Freizeit halt viel rumgespielt und ausprobiert. Aber die Idee für die Software, na ja, das meinst du glaube ich, die hätte ich in Deutschland wahrscheinlich nicht gehabt. Da hat mich der Belgier, bei dem ich in Neuseeland auf der Farm gearbeitet hab, der hat mich drauf gebracht.“

„Ja, genau!“, übernimmt Jo wieder die Moderation, „Diese krassen, produktiven Momente, die fallen einem nur zu, wenn der Geist frei ist. Dann passieren Dinge, die im geregelten Alltag in Deutschland nie passieren würden. Ein belgischer Farmer in Neuseeland, wie skurril ist das denn bitte?“

„Genau man muss dem Leben eine Chance geben zu zeigen wie phänomenal es sein kann das Leben ist nämlich großartig aber man muss sich definitiv“ – Gabs Hand legt sich auf Jos Arm – „frei machen von all den Beklemmungen und Einschränkungen“. Wie gut, dass sie noch eine zweite Hand hat, die sie auf Mayas Unterarm legen kann. „Sorry Maya sicher bist du ’ne Ausnahme und machst deinen Job mega gut aber ich meine halt die ganzen Beschränkungen und Glaubenssätze aus der Schulzeit das darf man nicht das macht man nicht das gehört sich nicht du musst besser als die andern sein sonst biste nix und wirst eh mal nix und so ein Quatsch das alles muss man emotional erstmal hinter sich lassen und dann muss man noch den Arsch in der Hose haben sämtliche Komfortzonen zu verlassen und sich trauen was Neues zu machen —“

„So hat es zumindest bei uns funktioniert“, fällt Jo ihr ins Wort. Wenigstens er bemerkt es, wenn Gab anderen Leuten auf den Schlips tritt. „Weg vom Mainstream! Das ist das Wichtigste überhaupt: Du musst anders sein! Dich was trauen! Die alten, ausgelutschten Wege verlassen und echt krasse Sachen machen! Alles andere ist viel zu banal und interessiert keinen Hanswurst. Deswegen sind Gab und ich ja auch hier, auf diesem Schiff und nicht auf irgendeiner Aida oder so: Wegen der außergewöhnlichen Reiseroute – abseits der gängigen Südsee-Touri-Routen. Wir wollen unseren Followern nicht das hundertste Video von Bora Bora zeigen, sondern, na ja, ihr kennt ja den Slogan unseres Schiffes: Wo die Südsee noch Südsee ist.“

„Verstehe ich das richtig, dass ihr eure Reise filmt und diese Videos dann im Internet einstellt? Ist es euch nicht unangenehm, euch und euer ganzes Leben so zur Schau zu stellen?“ fragt Maya aufrichtig verständnislos.

„Nee so kann man das nicht sagen“, Gab überlegt kurz, „wir zeigen ja nicht unser echtes Leben also ich meine wir verstehen uns eher als Schauspieler in unserer eigenen Serie wir filmen Szenen die zu unserem Thema passen schneiden die hübsch zusammen arrangieren alles so dass es passt und dann erst geht das raus das ist im Grunde eine Show basierend auf dem echten Leben von Menschen die sich was trauen so was mögen die Leute das kommt an und dafür bekommt man Geld es will doch keiner sehen wenn wir Reisefrust schieben, uns in die Wolle kriegen oder Durchfall haben“.

Als wäre genau das sein Stichwort, beginnt der Pianist, auf dem verstimmten Klavier zu klimpern.

„Ja, das trifft es ganz gut“, lacht Jo. „Es ist eine lukrative Kombi aus Selbstdarstellung und Show, was wir da machen.“

„Hey“, ruft Gab freudig und Maya zieht ihren Arm diesmal schnell genug weg, „du machst ja im Grunde genau dasselbe nur halt nicht online sondern live vor deiner Klasse da zeigst du doch auch nur den perfekten Teil von dir den Teil der ihnen vorspielt dass sie wenn sie brav lernen ihr Leben genauso toll im Griff haben können wie du oder nicht“.

Mayas Gesichtszüge entgleisen. Was bildet sich dieses Mädchen eigentlich ein?

„Jetzt hör mal zu – Gäbb. Mein Leben ist ganz sicher keine Show, die ich vor meinen Schülern abziehe, um damit reich zu werden. Du kannst nicht so einfach von dir auf andere schließen. Wenn du Schauspielerin sein möchtest und glücklich damit bist, ist das okay. Aber mein Ansinnen ist von Grund auf ehrlich und ich gebe vermutlich mehr als du je bereit wärst zu geben. Denn in den Momenten, in denen du auf den Aus-Knopf deiner Kamera drückst, geht die Szene bei mir einfach weiter. Ich bin bereit, mich auch den schwierigen Momenten des Lebens zu stellen. Und genau das ist eine der wesentlichen Fähigkeiten, die ich auch meinen Schülern mitgeben möchte. Denn darauf kommt es im Leben an: Dranbleiben, auch wenn es unbequem wird.“

Alle schweigen. Maya hat zwar leise gesprochen, aber durchaus zischender als beabsichtigt. Warum hat sie sich nur reizen lassen, so viel von sich preiszugeben? Rasch bringt sie Körperhaltung und Gesichtsausdruck in Ordnung und entschuldigt sich bei Gab. Die erwidert die Entschuldigung und übergibt den Redestab an Sebastian, der zuerst stotternd, dann immer sicherer von seinem Computerprojekt erzählt. Rein äußerlich sind die Wogen am U50-Tisch geglättet und nur einem sehr genauen Betrachter würde es auffallen, dass Gab ihr munteres Händchen für den Rest des Abends ausdrücklich bei sich behält.

 

***

 

Die kommenden Tage taucht Maya in der Bord-Bibliothek unter. Hier hat sie ihre Ruhe vor aufgedrehten Quasselstrippen und kann Ton und Thema ihres Zeitvertreibs bewusst wählen. Dies zumindest war ihre Hoffnung, als sie die Kajüte mit dem riesigen Bullauge und den luftig bestückten Bücherregalen zum ersten Mal betrat. Zwischen all den Groschenromanen und billigen Krimis, durchweg Hinterlassenschaften früherer Passagiere, entpuppt sich die Suche nach Werken von literarischem Wert oder mit auch nur rudimentär geistigem Anspruch als echte Herausforderung. Immerhin schaffen es am Ende ein paar vereinzelte Exemplare auf das Tischchen neben der Chaiselongue: Jane Austens ‚Pride and Prejudice‘, vor allem, damit Annas Stimme in ihrem Kopf endlich aufhört zu schnurren „Schalt mal ab, Schatz.“ Eine bessere Abschalt-Lektüre ist hier wirklich nicht zu finden. „Okay, ja, ich lese es. Aber danach lässt du mich in Ruhe!“, flüstert Maya in den stillen Raum, schlägt das Buch auf und begibt sich auf die Reise ins kleinadelige England des frühen 19. Jahrhunderts, in eine Welt voller gesellschaftlicher Zwänge und romantischer Hoffnungen, mit Krisen und jenem Happy End, das für eine Urlaubslektüre so unbestreitbar wichtig ist. „Es zu lesen“, resümiert Maya beim Weglegen, „war zumindest kein Fehler.“ Ganz im Gegensatz zu diesem deutschsprachigen Sachbuch, das da noch auf dem Tischchen wartet: ‚Die faszinierende Welt der Fraktale und der Code des Lebens‘. Maya schüttelt sich bereits nach zweimaligem Blättern und lässt ihren Fehlgriff postwendend wieder im Regal verschwinden. Da hätte sie sich ja beinahe selbst einen Mathematik-Schinken aufgebrummt!

Und auch Robert Louis Stevensons ‚Treasure Island‘ wandert zurück. Ihr steht der Sinn überhaupt nicht mehr danach. Ursprünglich hatte sie gehofft, es vielleicht ihren Schülern empfehlen zu können, wenn diese wieder einmal behaupten, lesen sei langweilig. Aber bereits nach den ersten Zeilen ist ihr klar, dass ihre Schüler dem Alter, in dem man sich für Schatzinseln begeistern lässt, bereits entwachsen sind. Und sie selbst auch.

Wie gut, dass in ihrem Handtäschchen noch ‚Der alte Mann und das Meer‘ darauf wartet, endlich gelesen zu werden. Aber das ist definitiv ein Werk für draußen – nach fast drei Tagen in ihrer Bibliothekshöhle sehnt sich Maya nun wirklich nach Frischluft. Sie nimmt also auf der Außenterrasse der Brasserie ein leichtes Mittagessen zu sich, flaniert übers Deck, rückt sich einen Liegestuhl am Pool zurecht und beginnt in einem Zustand völliger Zufriedenheit, Hemingway zu lesen. Der Wind weht sachte und bald döst sie in den Nachmittag hinein. Bis Gab in einem sonnengelben, trägerfreien Bikini auf sie zusteuert. Schon von Weitem winkt sie der Schlafenden entgegen und die kurzen roten Haare hüpfen.

„Mensch Maya da bist du ja wie gehts dir wo warst du denn wir haben dich die Tage beim Abendessen vermisst“

„Mhhh, hallo Gab“, antwortet Maya schlaftrunken. „Ja, ich wollte ein bisschen allein sein und habe mich zurückgezogen. Ich brauche gerade etwas Ruhe.“ Mehr muss das Mädchen nicht erfahren.

„Aaah ja das versteh ich das hab ich auch manchmal dann lass ich dich mal und wünsche dir gute Besserung damit du morgen den Landgang mitmachen kannst das ist so eine einmalige Gelegenheit Scho und ich sind schon ganz aufgeregt weil unser letztes Special-Event für die Follower ist schon wieder echt ne Weile her da müssen wir jetzt mal wieder richtig mit Content rocken also die Akkus sind geladen“ – wie ein Revolverheld lehnt Gab ihren Oberkörper zurück, legt die Fingerpistolen an die knochige Hüfte und nickt Maya lässig zu: „Also dann wir sehen uns.“

„Oh nein, das glaube ich nicht“, denkt Maya und schließt schnell die Augen. Gab hat den Charme eines durchbrausenden ICEs am Bahnhofsgleis: Man macht instinktiv einen Schritt zurück, hält sich innerlich die Ohren zu, atmet erleichtert auf, wenn man ihn von hinten sieht, und dann ist es auf einmal still. Und in diese Stille mischen sich ganz allmählich wieder die eintönigen Motorengeräusche des Kreuzfahrtschiffs, das Stimmenwirrwarr der Pool- und Badegäste, das Planschen und gelegentliche Kreischen von spielenden Kindern.

Die Geschichte von den Neun Goldenen Büchern

Wasser bewahrt auf einer Feuerstelle lange Zeit den äußeren Schein des Harmlosen. Und ein jeder, der nicht selbst die Hand hineinhält, könnte sich davon täuschen lassen. Die Entwicklung indes schreitet fort, still und unaufhaltsam bis zu jenem Wendepunkt, an dem sie die Realität zum Bekenntnis zwingt. Dann nämlich, wenn es zu brodeln beginnt, wenn es wabert und jedes einzelne, schmerzgeladene Teilchen seinen ganz eigenen Weg zur vollen Macht beschreitet, wenn sich die zerstörerische Kraft des Ganzen Raum und Aufmerksamkeit verschafft, dann lässt sie sich nicht mehr verleugnen.

Wie lange hatte der König den eitlen Auseinandersetzungen seiner stolzen Untertanen tatenlos zugesehen? Dem immer ehrgeizigeren Streben seines Volkes nach mehr, nach immer größerem Wachstum und immer schnellerer Entwicklung. Wusste er denn nicht, dass sich auf diese Art der menschliche Geist immer weiter vom Herzschlag der Welt entfernt? Und nun, da die Spaltung vollzogen war, da sich skrupellos der eine über den anderen erhob, da endlich erkannte der König, dass er zu lange gewartet hatte. Die zerstörerische Gesinnung war zur heimtückischen Bestie herangewachsen und riss nun Stück für Stück die Herrschaft an sich.

Bevor sich der König für immer zur Ruhe legte, rief er die neun weisesten Männer und Frauen mit den neun reinsten Herzen zu sich. Er erteilte ihnen den Auftrag, zum Wohle des Ganzen das alte Wissen des Universums niederzuschreiben, es an einem geheimen Ort zu verwahren und vor unwürdigem Zugriff zu schützen. Und die Neun Weisen taten, wie ihnen geheißen ward: Sie verewigten das universelle Wissen auf neun Tafeln aus purem Gold und verbargen diese an einem geheimen Ort. Sie selbst siedelten sich in dessen Nähe an, um von nun an über das Juwel zu wachen.

Dann löschte der König die kranken Strukturen seines Reiches mit einem einzigen, erbarmungslosen Hieb aus und schickte die kläglichen Überreste der Menschheit zurück in den Schoß der Großen Mutter. Von dort aus sollten sie ihr Bewusstsein erneut entwickeln, um in diesem Durchgang der Weltgeschichte eine würdigere Seinsstufe zu erreichen. Erst dann sollte sich ihnen der Zugang zu den Golden Büchern wieder offenbaren.

Und während sich die Menschheit bis heute im Kreise dreht, leben die Nachfahren der Neun Weisen, das Stille Volk, noch immer unbeachtet in vollkommener Abgeschiedenheit, und bis zum heutigen Tag gelingt es ihnen, die Menschheit über ihre wahren Fähigkeiten und ihren wahren Auftrag hinweg zu täuschen.

Durch die Ritzen der alten Holztür drückt der Morgennebel. Und drinnen, im fahlen Licht der Jägerlampe, lässt der Fremde genüsslich seine Finger knacken. —

5: Die Veränderung - Ein Ausflug

Nach dem Frühstück drängen die Passagiere in einem heillosen Durcheinander von Bord. Gabs alarmroter Haarschopf blitzt von der Gangway herüber und Maya bückt sich reflexartig, um sich langsam und sorgfältig ihre Sneakers auf und zu zu binden. Zuerst den rechten, dann den linken. Und als sie sich wieder aufrichtet, ist die Luft rein: Gab, Jo und Sebastian marschieren schon hinauf zur Straße. Um auch noch das letzte Risiko auszuschließen, ihnen zu begegnen, gibt sich Maya den Anschein, zunächst unbedingt den hiesigen Strandabschnitt inspizieren zu wollen.

“You want see secret snorkel spot, lady?”, wird sie schon nach wenigen Metern von einem Einheimischen angesprochen. „Very beautiful, like you, and secret. Nobody know. Only fish know, and corals and turtles. And my boat too. All cheap prize. This your equipment. Come lady, group is waiting for you. You come?“

Er zeigt auf ein hübsches hellgrünes Boot, das weiter vorne am Strand liegt. Etwa 15 Touristen sitzen bereits unter der Überdachung aus weißem Segeltuch. Maya überlegt kurz. Die Tour soll zwei Stunden dauern, bis Mittag wäre sie wieder hier, hätte also noch genug Zeit, die Insel zu erkunden und wäre auf jeden Fall rechtzeitig wieder an Bord der MS Fortune. Also warum nicht einfach mal spontan sein und dem Leben die Chance geben, phantastisch zu sein? Gab wird platzen vor Neid, wenn Maya ihr beim Dinner serviert, dass ausgerechnet sie eine Secret Tour zu einem Supersecret Snorkel Spot mitgemacht hat. Das wäre was! Sie, die langweilige, spießige Lehrerin mit dem banalen Leben hätte einen außergewöhnlicheren Tag gehabt als die hippe Gäbb.