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Ich erzählte sie ihm, die ganze Geschichte, obwohl er sie doch kannte, von Anfang an oder zumindest von da an, von wo ich mich zu erinnern glaubte. Jedes Detail, ob schmerzverzerrt in meinem verworrenen Geist eingebrannt, von dunkel ummantelten Schleiern im Innern meines mosaikartigen Seins verborgen oder tief mit den zu wandernden Pfaden in meinem Herzen verwachsen; alles floss fast schwarz aus der Spitze seiner weißen Feder in die Seiten dieses Buches hinein. Nicht viel war im zerschlissenen Fragment meines unzuverlässigen Verstandes übriggeblieben, denn die Ruine meines Selbst bröckelte mit jedem Wort mehr und mehr zu Staub, verwehte, versickerte durch ein löchriges Stundenglas hindurch und verging durch die Gezeiten, getragen nur von der Ewigkeit des Meeres... Was im Echo widerhallte, war der Sturm, mein Sturm... Mein Wesen war rein von der Last der Erinnerung, und ich lernte schnell, vertraute langsam, kämpfte hart, hasste lange, tötete zu oft und liebte nur einen. Es blieb der Wind; mit ihm die sanft nachhallende Musik, die bald auf seinen Schwingen schwebte. Ich verging, meine Taten blieben jedoch; er wollte es so. In seinen Klängen lebe ich ewig fort. Sie erzählte sie mir, die ganze Geschichte - oder zumindest das, was sie zu wissen glaubte, und der Sturm ihrer Melodie ließ mich nie mehr los. Ihr Leben war ohnegleichen, doch wie jedes andere auch. Aus dem Nichts führte sie uns in einen aussichtslos erscheinenden Kampf, schlug sich mit den dämonischen Schatten dieser Welt, holte uns selbst aus dem Reich der Toten zurück. Ihr zu Ehren schrieb ich dieses Lied, Das Lied der Vergessenen, und das Land der Barden soll sie ewiglich im Gedächtnis bewahren. Es ist dein Lied, sein hallender Klang soll getragen vom Rauschen der Blätter des unendlichen Waldes, vom Schäumen der tiefblauen Wellen im ewigen Meer und von den sanften Schwingen des alles bewahrenden Windes fortbestehen, ja selbst in allem laut erklingen. Vergebt mir, ihr Toten, es ist durchaus auch euer Lied ... Vergib mir, bitte, ich wusste nicht, was ich tat...
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Seitenzahl: 1316
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Prolog
1. Kapitel: Abgründe
2. Kapitel: Drei Wölfe
3. Kapitel: Kræjenhôrt
4. Kapitel: Der Vorhersagestein
5. Kapitel: Die Macht der Musik
6. Kapitel: Der Ritter und das Schwert
7. Kapitel: Die Entstehung
8. Kapitel: Im Wald von Freud und Leid
9. Kapitel: Zwischenspiel bei Blümchen
10. Kapitel: Die Grauen Bärte
11. Kapitel: Schwarz und Weiß
12. Kapitel: Der erste Tote
13. Kapitel: Das Dach der Welt
14. Kapitel: Grüne Schleier
15. Kapitel: Der rote Nacktmolch
16. Kapitel: Aufbruch
17. Kapitel: Intermezzo ‚Under der Linden‘
18. Kapitel: Wasser in all seinen Facetten
19. Kapitel: Was der Fluss für sich behält
20. Kapitel: Der neue Name
21. Kapitel: Enthüllung
22. Kapitel: In der Ferne
23. Kapitel: Das Meer und der weiße Schein
24. Kapitel: Zum singenden Walross
25. Kapitel: Alte Götter
26. Kapitel: Schwarz
27. Kapitel: Schwärzer
28. Kapitel: Praksvart
29. Kapitel: Dunkelheit
30. Kapitel: Die Wahrheit über Faej
31. Kapitel: Measunna
32. Kapitel: Der Tod
33. Kapitel: Die Verbannung
34. Kapitel: Die Spielmänner
35. Kapitel: Das Erwachen
36. Kapitel: Meine Geschichte
Epilog
Widmung:
Für dich.
Diu klage *B V. 3464-3468
Ich wilz heizen schrîben,
die stürme und die grôzen nôt,
oder wie si sîn gelegen tôt,
wie ez sich huop unde wie ez quam
und wie ez allez ende nam.
Dramatis Personae
Erzähler
Protagonistin
Aëlle: abwesende Göttin, Erschafferin der Welt Bardos
Anaclet: ein Knappe in Wuolfshâl
Flux: ein Knappe in Wuolfshâl
Wolfspfote, genannt Wolf: Kommandant in Wuolfshâl
Gibich: Waffenmeister
Gothorm: König in Wuolfshâl
Gothar: sein Bruder
Dinna: Königin in Wuolfshâl
Laeja: Königstochter
Liudegêr: Königssohn
Geri: ein Hüne aus Kræjenhôrt
Maute: seine Frau
Freki: sein Wolfshund
Hati: sein Pferd
Theoderich von Tenn: Herrscher von Tendor
Antero von Tenn, genannt Tero: Spielmann
Tristan von Tenn: sein jüngerer Bruder
Gawân: Gefährte der Tenns
Baesh: Tristans Pferd
Gerta: Bedienstete in Tendor
Harwîn: Wundarzt aus
Kræjenhôrt
Bôs: Anführer des Kræjenhôrts
Nyes: eine Freundin
Turpi: ihr Bruder
Mergeth: eine Gefährtin
Reidar: ein junger Schmied
Egill: sein Freund
Ute, Hildi und Brida: Mutter und ihre Töchter in Kræjenhôrt
Mithin: ein Hüne aus Rethar
Cathra: seine Frau
Walth: ein Wirt in Niuhûsen
Athanas der Wortgewandte: Spielmann der Grauen Bärte
Asha: Tänzerin, Graue Bärte
Hari: Sänger, Graue Bärte
Reno: Sänger, Graue Bärte
Juuri: Hüne, Graue Bärte
Léor: Fürstensohn von Develîn
Kalvas: Fürst von Develîn
Syne: seine Frau
Seas: Großonkel von Léor
Li: Wirtin in Develîn
Manda: Mädchen aus Tendor
Kaîr: Fluss, die Sanfte
Kuîn: Fluss, der Wilde
Virth: Felsbrocken in Rethar
Roald: Mann in Rethar
Rina: Schönheit in Rethar
Hroth: Schafhirte in Rethar
Valur: weise Frauen aus Rethar
Faej
Faejs Mutter
Anti: ein Greis
Doémir: Mann in Wuolfshâl
Ninda: Frau in Wuolfshâl
Saari, Öhrchen: Pferde
Dämonen
Blümchen
Feuer.
Der erste Ton war Feuer, das gierig um sich schlug.
Glühend’s Ungeheuer, Zerstörung mit sich trug,
umschloss das Firmament, dass es blutrot flammte.
Still war der Moment als die Welt verbrannte.
Dieser schwarze, tote Geier begann bald seine Hetze
ein aufgestieg’ner Schleier warf hoch seine Netze
und Burg und Turm gefangen im heißen Feuerskranz.
Seht, was wir besangen mit glüh’ndem Todestanz.
Es ist nun zu beschwören, wo wir uns befinden.
Das Lied, das wir jetzt hören, singt nicht unter Linden.
Ihr kennt doch längst den Ort, wo sanft Kaîr durchfließt.
Durch Wald und Land weit fort, sich bald im Fall ergießt.
Ihr hörtet’s immer wieder, Wuolfshâl, es verglühte.
Sitz der Kunst und Lieder, nun rot wie Feuersblühte,
starb im Ascheregen, und tote Kinderaugen
versprachen keinen Segen. Niemand wollte’s glauben.
Ganze Pause. Vier Schläge.
Kein Epos, keine Lyrik, keine Federkunst. Die Zeiten hatten sich doch geändert und drei Akkorde verklangen weit bis auf das von Rauch und Schatten erfüllte Feld.
A-Moll, A-Moll, E-Moll.
In der Tradition fast jeder Heldengeschichte begann auch diese mit einer Schlacht, die keine sein sollte, sondern nur ein von einem verworrenen Geist erzwungenes Grauen war. Und doch…
Schreie. Der Klang alter Hörner dröhnte heran, verkündete, was nicht erdacht werden konnte und was dennoch geschah.
Die nächste Harmonie umschrieb die Szenerie.
Der Fluss, den Namen einer Frau tragend – Sanfte Kaîr genannt – schlängelte sich ihre Bahnen ins Herz der alt vertrauten Stadt hinein, trotz der alles umhüllenden Finsternis zeichneten sich auf ihren weichen Wellen die am Himmel zischenden Feuerpfeile mit flammenden Schweifen ab. Die Dunkelheit erhellend surrten diese Feuerpfeile durch die Luft, trafen, was zu verbrennen sie gedachten, alles, Holz, Stroh, selbst Stein, ward von ihnen gierig verschlungen. Wuolfshâl brannte. Die Gesichter von nun unbedeutenden Elfen, Feen wie Zwergen, gemalt an die einst so farbenfrohen Steinwände, waren längst von schwerem Ruß bedeckt, verschmolzen mit dem grellen Licht der heißen Brunst; versengt waren diese farbigen Bilder auf der grauen Wand.
Das Feuer war es also, was diesen Ort jetzt dirigierte; keine Musik hallte mehr aus den alten Schenken, kein einfach erklingendes Trinklied erheiterte schlicht zu unterhaltende Gemüter, kein abenteuerliches Werk erfüllte die Herzen der Frauen und Männer Wuolfshâls mit Tatendrang, nein, einzig das laut knisternde Feuersmeer erschall aus Rauch und Schwaden hervor, zeichnete allein eine Musik des Verderbens ab, wobei rot und schwarz akzentuierte Noten am getrübten Himmelszelt kämpften, bis ein fast unerträglicher Kontrast jegliches Leben aufs Verderblichste auszubrennen drohte; grelle Dissonanzen erschienen im ehemals friedlich ruhenden Ort.
Mit dem Feuer nicht genug, umhüllt vom graumelierten Dunst der rauchumhüllten Nebel kletterten fast unsichtbare Gestalten über die erste Wehrmauer nahe des Soldatenturms hinauf. Ein Feind, der keiner war, stand König Gothorm, Herrscher von Wuolfshâl, gegenüber; er bohrte sich bereits, ohne ersichtliche Mühe, mit den Spitzen der verhärteten Eisenstangen ins alterhabene Gestein der zweithöchsten Ringmauer, warf sich in einem Strom aus Tausenden über die letzten unbedeutenden Zinnen, und brachte, was niemand je zu glauben im Stande war: Zerstörung, ja Zerfall.
Am Soldatenrum angelangt fielen wachende Bogenschützen in die Tiefen des Abgrundes hinein, wo der sichere Tod sie mit kalt erstarrter Hand sehnsüchtig begrüßte.
Jedoch, wer brachte Feuer, selbst dies grausame Ende? Die Gesichter mit schwarz schimmernden Stahlmasken in Gestalt von fratzenartigen Tierköpfen verborgen, war das Letzte, was ein treuer Wuolfskrieger auf Aëlles erschaffener Erde noch zu sehen im Stande war – bevor sein Lebenslicht endgültig erlosch – bizarr verformte Bärenschnauzen, verbeulte Kranichschädel oder gehörnte Ziegenköpfe; der Feind, zwar unerkannt und in Tiergestalt verborgen, brachte dennoch den Tod.
Tief erklangen die verhallenden Schreie der Stürzenden, bis das Feuer sie vollends erstickte.
ff Der Fall pp.
Von keinem wehrhaften Pfeil mehr bedroht drang der Feind bis ins Innere der drei Ringmauern hinein, stieß Türen ein und fand bald das ersehnte Leben dahinter.
Kleider rissen durch die dunklen Hände des Feindes, Körper fielen angesichts seiner gewaltigen Masse, Knochen brachen unter seiner erbarmungslosen Vergewaltigung. Menschen starben, wurden verschleppt, enthauptet. Allein das Feuer spendete noch Wärme, ja fast Trost; es züngelte sanft an den blutigen Gesichtern sowie halbtoten Körpern, umarmte sie, sprach leise flüsternd von Erlösung.
Das Brennen der Welt, von gelegentlich aufblitzendem Stahl durchbrochen, war unaufhaltsam über schlafende Geister gekommen. Zu spät erwachten die von Träumen umfangenen Soldaten des Königs…
Die nächste Melodie galt einem in dieser Momentaufnahme gefangenen Geschöpf, einem Knappen, Anaclet – der Protagonist, fürs Erste. Stellvertretend für alle gemarterten Seelen, die in dieser verhängnisvollen Nacht den sicheren Tod gefunden hatten, zeigte er, was bis anhin unvorstellbar gewesen war.
Nichts Heldenhaftes hing an Anaclets jungem Wesen, denn er war einfach nur ein Knappe, ein Knappe des heute noch hoch besungenen Kommandanten Wolfspfote – und er, Anaclet, von Schweiß durchnässt an der Kante seines einfach zusammengezimmerten Bettes sitzend, zitterte in diesem Moment, als bereits der dritte Warnruf an sein Ohr drang.
Zu wenige Jahre zählte sein unerfahrenes Haupt, nur kärglich dunkler Flaum bedeckte seine Oberlippe, seine magere Statur wirkte durch die schlaksigen Arme unförmig, fettige Haarsträhnen fielen in sein hager geformtes Gesicht.
Erst zu Beginn des Frühlings war er in Wuolfshâl erschienen, um, wie er ersann, einer der großen Helden zu werden, die von allen verehrt stets das Richtige zu tun wussten. Doch Anaclet fand jetzt, von Schlaf durchtränkt und von Dunkelheit geleitet, nicht einmal seine lederne Hose oder sein neues Leinenhemd, geschweige denn seinen Mut. Er wusste, was die Klänge der schallenden Hörner zu bedeuten hatten und was sie von ihm verlangten. Ungeschickt zwängte er sich jetzt ins Gewirr von zusammengenieteten Metallringen, bis das Kettenhemd auf seinem dünnen Körper die Last der unbarmherzigen Angst noch verstärkte.
„Bereit?“, Flux, sein Waffenbruder, sah ihn nicht nur fragend, sicherlich auch befangen an. Dünne Schweißperlen bedeckten seine faltenfreie Stirn.
„Bereit“, und Anaclet hoffte, der Klang seiner Stimme war zuversichtlicher als das Gefühl in seinem klammen Herzen; er packte entschlossen sein kurz geschmiedetes Stahlschwert.
In einer Hand die schwere Holztür ihrer bescheidenen Unterkunft, in der anderen eine Fackel haltend, nickte Flux Anaclet ein letztes Mal zu, rannte dann die sich lang windende Wendeltreppe des Kommandantenturms hinunter zum Hof. Mit jeder überwundenen Stufe heulten die längst verklungenen Befehle des wirren Kommandanten Wolfspfote in Anaclets Kopf nach:
„Zu den Waffen! Wacht auf!“ Die Stimme des alten Wolfs kläffte. „Ihr elenden Bastarde! Verteidigt die Burg! Kämpft mit Ehre und Stolz!“
Ehre und Stolz, eine erhabene Parole, die jedoch nichts im Krieg verloren hatte; aber dies wusste Anaclet in diesem Moment nicht.
Noch in den Tagen davor hatte Anaclet immer lachen müssen, wenn der alte Kommandant derart übertrieben herumschrie, denn der graue Bart, der zu einem langen Zopf geflochten war, sowie die verworrenen Haare auf dem Haupt des Kommandanten, wippten stets auf lächerliche Weise auf und ab, wodurch die im Bart verhedderten Essenreste flatternd auf den Boden fielen. Als sich einmal ein besonders großer Brocken im geflochtenen Bart verfangen hatte, schlossen die Knappen kindliche Wetten ab, wie lange es wohl dauerte, bis besagtes Essen herausfiel.
Im Geiste also noch ein Kind, was vermochte somit seine Natur schon gegen das auszurichten, was sich ihm jetzt entgegenstellte.
Die müden Füße mehr taumelnd, als dass sie ihn sicher den langen Weg entlang der steil gebauten Wendeltreppe führten, ersann sein Herz doch einst Abenteuer und Lebenslust, und nicht dasjenige, was sich gleich hinter der schwer gezimmerten Holztür zum Innenhof verbarg.
Die Holztür geöffnet, schlug Rauch in Anaclets unschuldiges Gesicht; Schreie durchdrangen seinen kindlichen Körper.
Die tobend wütende Schlacht offenbarte ihr schonungsloses Ausmaß, zeigte, was an gefühllosen Abscheulichkeiten zu bieten war.
Über etwas stolpernd glitten Anaclets schwarze Pupillen auf den feuchten Boden unter ihm, bis er das kleine, nackte Mädchen mit den hohl wirkenden Augen unter Rauch und Dreck entdeckte. Die dünnen Beine auf unnatürliche Weise auseinander gedrückt offenbarten seine Scham, und im erstarrten Gesichtsausdruck lag Machtlosigkeit, selbst Schmerz. Zu viel war dieser Anblick für Anaclets unerfahrenen Geist, denn das Mädchen sah genauso aus wie seine Schwester. Schuldgefühle übermannten ihn gleich, da er seiner Schwester einst die Puppe zerschlagen hatte. Feuer züngelte indes am Haar des leblos kleinen Körpers unter ihm, und Anaclets Verstand projizierte Trugbilder in seinen unwissenden Geist hinein.
Er sah das Gesicht seiner Mutter aufblitzen, die er südlich von Wuolfshâl auf einem ausgedehnten, mit Rosenhainen verziertem Landsitz zurückgelassen hatte, die ihn getadelt hatte, als sie seine Schwester wegen der zerschlagenen Puppe weinen gesehen hatte. Anaclets jetzt auflebende Erinnerung an den süß weichen Duft von heimischen und frisch aufgegangenen Rosenknospen verdrängte gar – zwar nur für wenige Sekunden – den hier vorherrschenden Gestank von verkohltem Fleisch und versengtem Haar. Die Realität war jedoch nicht wegzudenken; Anaclet schluckte leer, sah weiter zum toten Mädchen hinunter, erkannte nichtsdestotrotz das freudig lachende Gesicht seiner Schwester darin, als er ihr eine neue, intakte Puppe geschenkt hatte.
„Zum Tor! Schützt das Tor!“, die Befehle des alten Wolfes, dem Kommandanten, drangen unmittelbar durch Schatten sowie Rauch. Anaclets Geist klarte auf, verdrängte nun die Erinnerung an glücklichere Tage.
Jetzt bebte die Erde unter seinen Füßen, denn die breiten Holzplanken des Haupttores barsten laut und ein widderköpfiger Rammbock spähte hervor. Schwarze Schatten wie Nebel geformt strömten unmittelbar in den Hof hinein.
Anaclet strauchelte.
„Formiert euch!“, die Stimme des Kommandanten Wolfspfote kläffte weiter; dick gewobener Rauch umhüllte das bärtige Gesicht des Wolfes. Anaclet sah ihn nicht recht. Benommen stellte sich der Knappe, der Unerfahrene, dorthin, wo er glaubte, stehen zu müssen; an die äußerste linke Flanke, neben seinem treu kämpfenden Freund Flux. Doch alles war seltsam, denn das Nebelmeer schien ihn zu ziehen, in die Tiefen einer verschwommenen, undurchdringlichen Welt hinein.
„Anaclet, alles in Ordnung?“ Der Junge drehte seinen Kopf, sah Flux, der ihn mit weit aufgerissenen Augen anstarrte. Anaclet nickte schnell. Obschon sein Geist betäubt war, schenkte ihm das Wissen, dass Flux wirklich an seiner Seite war, für geraume Zeit Zuversicht, denn Flux war der Stärkste, ja Beste unter den Knappen, soweit man den Worten des Waffenmeisters Gibich Glauben schenken wollte. Gibich behauptete zuweilen oft, in Flux‘ Adern das Blut altehrwürdiger Helden zu wissen, was ihn unbesiegbar für seine Waffenbrüder machte. Märchen, doch hier in Wuolfshâl schienen diese leeren Erzählungen lebendig, selbst mächtig.
„Komm!“ Anaclet hörte Flux rufen, doch dann verschwanden seine Züge in lodernden Flammen. Einzig die laut dröhnenden Geräusche von herandonnernden Pferdehufen waren noch klar auszumachen, bevor undurchdringlicher Rauch ihn umhüllte und seine Knie zum Beugen zwang.
Schwarze, schwere Schatten tanzten wild hinter weiß nebligem Dunst hervor.
Dem Reflex verschuldet hob Anaclet jetzt sein Schwert, bevor ein vor ihm stehender, drachenköpfiger Feind zum ersten Schlag auszuholen im Stande war. Rot leuchtende Augen stachen unter einem eisern geformten Helm hervor, spiegelten das unerträglich grelle Feuer hinter Anaclet, und diese beiden glühenden Punkte starrten nun unerbittlich durch den Jungen hindurch, brannten sich in seine eigenen, weit geöffneten Augen hinein. Benommen stand Anaclet auf, hob seine geschliffene Waffe erneut, ließ sie fließend niederschmettern, so wie er es gelernt hatte, zielte auf die ungeschützten Knie seines scheinbar übermächtigen Gegners. Halte deine Deckung klang es in seinem Geist nach. Nütze Schwachstellen aus. Ratschläge des alten Wolfes.
Die rot flammenden Augen seines Gegners waren jedoch kampferprobt, hatten gleich erkannt, wohin der Knappe zielte. Eine kräftig eiserne Hand schnellte hervor, packte den Schwertarm des Jungen, verdrehte ihn wie einen dünnen Weidezweig – ja wie die Beine des vorherigen Mädchens – in eine unnatürlich aussehende Richtung. Von stechendem Schmerz durchbohrt glitt Anaclets Klinge aus seinen dünnen Fingern.
„Ha! Nur ein kleiner Junge!“, tief grollte die raue Stimme aus dem verbeulten Drachenhelm hervor, trat näher heran, so dass Anaclet selbst die Hitze des Feuers vom rußfarbenen Brustpanzer zurückprallen spürte und den fauligen, scheinbar aus der Unterwelt kommenden Atem roch, dabei sein Ende zu erahnen fühlte.
Sein Geist längst vernebelt, sah er nur verschwommen, wie der Drachenmann sich fast behutsam bückte, Anaclets Schwert vom Boden hob, dann zum totbringenden Stich gegen seine Kehle ansetzte.
Getötet vom eigenen Schwert, keine Ehre, kein Stolz.
Anaclets allerletzte Gedanken galten kleinen Dingen; er dachte an die frisch sprießenden Rosen, die seine Mutter immer in ihr glattes Haar gesteckt hatte, um hübsch zu sein; er dachte an das ehrliche Funkeln der Augen seiner kleinen Schwester, in denen er schon immer ein großer Ritter gewesen war. Er sah sein kurz währendes Leben an ihm vorüberziehen.
Der einstige Traum von gewaltig leuchtenden Heldentaten war in diesem Moment ausgeträumt, zu früh, zu glanzlos, denn niemand, kein einzig von Namen wichtiger Sänger schrieb wohl jemals Lieder über ihn; so ging er vergessen, wie die verwelkte, andachtslos weggeworfene Rose im Haar seiner lieblich zarten Mutter.
Obschon, der Tod kam für den Rechten. Anaclet drehte den leidgeplagten Kopf zu seinem unermesslichen Gegner hin, sah das Heft seiner Waffe fest umklammert in dessen Hand ruhen, erkannte das Rot seiner leuchtend hellen Augen bald einem unnatürlichen Weiß weichen. Blut quoll tröpfelnd, fast einem langsamen Plätschern gleich, aus der Fratze des Drachenhelmes hervor; der einst übermächtig geglaubte Krieger sackte nun von Ohnmacht gepackt zusammen.
Aus dem leblos, zwar noch glühenden Körper ragte am gespaltenen Drachenhelm ein Stiel einer massig schweren Streitaxt hervor; die Klinge war tief im Kopf vergraben. Gibich, der Waffenmeister, preschte schnell heran, zog mit nur einem heftigen Ruck die Axt aus dem zertrümmerten Schädel heraus, schlug dann gleich auf den nächsten Gegner ein.
Das Geräusch von Stahl auf Stahl erneut heftig erklingend, wo Männer brüllten und schrien, sang nun der Kampf ein Lied von Tod sowie Feuer; einzig Anaclet kniete noch fassungslos neben dem toten Drachenmann, pausierte, blieb stumm in diesem Leitmotiv.
Dicht an seinem Ohr vorbei surrte ein Pfeil, hinterließ ein ungleichmäßiges Pfeifen im Takt der eisernen Waffenschläge und er, Anaclet, war von erstarrendem Entsetzten zerfressen und längst zusammengefallen. Einzig durch eine ungeahnte Fügung, ob glücklich oder nicht, sah er noch den alten Wolf, seinen Kommandanten, wie er umzingelt von drei feindlichen Gegnern Schlag für Schlag parierte; ohne sein Zutun hob Anaclet sein Schwert, rannte dem Kommandanten zu Hilfe, wollte seine Melodie hier nicht verstummen lassen. Noch bevor der von kurzzeitigem Mut erfüllte Knappe seinen grimmigen Herrn erreicht hatte, hatte dieser schon längst das am Helm prangende Geweih eines Hirsches, die eisernen Flügel eines Falkenhelmes und die stählerne Schnauze eines Bärenhelmes mit gekonnter Drehung, rechts gedrehtem Kinnhaken, Stich durch den Nacken sowie Schlag auf den Kopf zu Fall gebracht. Anaclets Mundwinkel zuckten. Über Wolfspfote schrieben die Sänger mit Gewissheit Lieder, in allen Schenken dieser Erde würde man sie hören. Den Kopf des Schlangenköpfigen riss der alte Wolf hastig nach hinten, um seinem kalten Stahl freies Geleit zum nackten Hals zu gewähren; pulsierend schoss das dunkle Blut jetzt empor.
Sich der Anwesenheit Anaclets allmählich gewahr werdend, trat der Kommandant festen Schrittes auf ihn zu, packte den Jungen unsanft am immer noch schmerzenden Schwertarm und japste dann nach Luft:
„Junge!“, Wolfspfote röchelte nun mehr, „Flieh! Wir können die Burg nicht halten.“
Anaclet verstand nicht und blieb unbeholfen stehen.
Wolfspfote begann, ihn zu schütteln: „Hörst du nicht! Flieh!“
Die Gedanken drehten sich; der Kommandant, ein Krieger ohne gleichen, der in seinen besten Jahren gar eine zehn Meter lang gewachsene Seeschlange bezwungen hatte, so hatte es Anaclet zumindest gehört, befahl nun den Rückzug. Der Junge wusste jetzt nicht, was zu tun war. Der Wolf verlässt das Schlachtfeld erst, wenn dem Gegner ist der Tod beschert. Im eigenen Blut sollen sie ertrinken oder kniend um ihr Leben winseln, diesen Reim kannte wirklich jeder.
Wolfspfote lockerte zaghaft den Griff um Anaclets schmerzenden Arm, brüllte über ihn hinweg und in das Wüten des Flammenmeers hinein: „Rückzug! Flieht, wenn ihr leben…“ Der Satz blieb unvollendet, da sich ein Pfeil in die weiche, blasse Haut seines Halses gebohrt hatte. Es tropfte bereits ein dünner Blutfaden auf die matte Brustplatte von Wolfspfotes Rüstung hinab. Anaclet wähnte den Kommandanten schon tot, doch sichtlich unbeeindruckt stand er da, umklammerte den tödlichen Pfeil mit seinen gewaltigen Pranken, brach den Stiel beim Schaft entzwei, rannte dann mit seinem massigen Zweihänder dorthin, wo die nicht enden wollende Schlacht am grausamsten wütete.
Die Sicht vom Rauch getrübt brannten Anaclets Augen längst, er wusste nicht wohin, konnte keinen Ausweg erkennen und die Wucht des nächsten Schlages drückte ihn erneut zu Boden. Blut auf seinem eigenen Haupt, zerquetschte Gliedmaßen, auch seine eigenen. Ein von einem Bolzen getroffenes Pferd wälzte sich auf seinem jungen Körper, presste die letzte Atemluft aus seinen Lungen heraus, hinderte ihn am Aufstehen, am Weiterkämpfen. Er keuchte in seiner Kehle, niemand nahm sein Verklingen war.
Seitlich liegend sah Anaclet gegenwärtig aufs gewölbte Tor hinüber, erkannte, wie berittene Krieger mit tierischen Helmen hindurch galoppierten; er schloss die Augen. Ohne auf den Untergrund zu achten, ritten diese feindlichen Krieger über Leichen und Feuer hinweg, schwarze Hufe traten auf seine Glieder, der Klang berstender Knochen übertönte den eigenen Schmerz vollends.
Schleichend lullte ihn einstweilen die von Trost sprechende Dunkelheit ein… Er verharrte.
Golden war die Dämmerstunde – gezeichnet von feinem Licht – bereits angebrochen; jene Stunde kurz vor Sonnenaufgang, in der das Reich der Bäume und das der Blumen hell leuchtend den neuen Tag mit sanften Küssen begrüßte.
Anaclet lag noch immer auf dem von Leid getränkten Boden mit gebeuteltem Blick auf das zertrümmerte Haupttor; dahinter stand die widderköpfige Kriegsmaschine, unbewegt.
Wolkenschwaden schlichen stumm um das düster gewordene Gemäuer; der früher belebte Innenhof nunmehr mit Leichen und abgetrennten Gliedmaßen übersäht, offenbarte hie und da farbig gewobene Kleiderfetzen, verbeulte Eisenhelme, zuckende Pferde, selbst noch stöhnende Menschen. Rauchschwaden sowie vereinzelte Feuerzungen stiegen auf, verbreiteten den Geruch der Verwesung, trugen den Dunst von verbranntem Fleisch bis weit übers Land; selbst der Wind zog beißend hindurch, mit ihm eine schwarz gefiederte Schar von Krähen, die ihre wissenden Kreise am leuchtend roten Himmel zog.
Der Tod wäre willkommen gewesen, doch Anaclet öffnete die schwer ermatteten Lider wieder, erkannte neben sich einen abgetrennten Arm, zertrampelt und zerquetscht von unzähligen Pferdehufen; natürlich sein eigener.
Die Last durchdringender Blicke spürend drehte er sein Haupt zur Seite, sah Flux ganz nah bei sich auf dem Rücken liegen; sein hellbraunes, unsauber zusammengenähtes Hemd war zerrissen; keine Zeit war Anaclets Freund geblieben, ein Kettenhemd überzuziehen; seine einst helle Hose war vom eigenen Blut rot gesprenkelt.
„Flux“, Anaclets Stimme hauchte eisig kalten Nebel aus. „Schön, dich zu sehen.“
„Die Freude ist ganz auf meiner Seite“, Flux zwang sich zu einem bitteren Lächeln; seine Lippen zitterten.
Anaclets Augen wanderten ungewollt an Flux‘ gemarterten Körper hinunter, erkannten, wie seine Gedärme herausragten; seine Pupillen waren geweitet.
„Anaclet, hör auf, so schockiert zu kucken, ich weiß, wie ich aussehe.“ Anaclets Augenlider zuckten nervös. Flux fuhr fort: „Anaclet, sieh mich an, schau in mein Gesicht, nicht nach unten.“
„Der Wundarzt wird kommen, er wird…“ Die Verzweiflung schwebte klar in Anaclets Worten, bis er schließlich verstummte.
„Nein, Anaclet. Wir sind tot.“
pp Das sterbende Feuer, der letzte Atemzug, der Tod.
Nicht ganz…
Keine Ehre, kein Stolz, keine Lieder erklangen für die unzählig in dieser Nacht Gefallenen und Vergessenen. Sie verdienten nichts weniger als unser Leben und wir gaben es ihnen.
Ihr Lied, erzählt von einer Frau – der Vergessenen – und von mir niedergeschrieben – ebenfalls einer der Vergessenen – nahm jetzt seinen Anfang.
Renn.
Mein Geist war leer, nur ein Gedanke erfüllte mich zu Beginn meiner mir im Gedächtnis gebliebenen Lebensgeschichte aus; ein einziges Wort in der inneren Leere der verworrenen Stränge.
Renn.
Ich – eine Frau, fast noch ein Mädchen – sah die Dunkelheit der Nacht; weder Vater Mond noch die Feensterne leuchteten über mir; Aëlle hatte diese Welt längst verlassen, ich war allein, allein mit meiner ersten Eingebung.
Renn.
Verschwommen war die Welt, voller Schemen, Schatten und Schleier…
Ich rannte, rannte schnell, wobei sich alles verlief bis zur undurchdringlich gewordenen Ausweglosigkeit.
Wie lange ich rannte, vermochte ich nicht zu sagen; längst war ich außer Atem, keuchte, würgte… meine Lungen waren von Schmerz erfüllt; die Nachtluft stach tausend Nadelstiche in meine wunde Kehle.
Ungeschickt taumelten meine müd gewordenen Füße auf dem unebenen Untergrund, stolperten über Wurzeln, Steine oder selbst kleine Erdwölbungen. Meine nackten Beine, mit unzähligen Kratzern übersäht, zeugten von den peitschenden Dornenbüschen, die mich umgaben; Stöcke sowie Blätter waren verworren in meinem offenstehenden Haar gefangen.
Äste schlugen in mein Gesicht; süßes Blut tropfte auf meine Lippen.
Bis zum Kinn war ich durchnässt, doch ich wusste nicht mehr, warum. Mein weißes, dünnes Nachthemd klebte an mir wie das erste Wort, die erste Eingebung, in meinem Geist.
Renn.
Der nasse Stoff war kalt, doch ich spürte keine Kälte mehr; es gab keinen Platz für Empfindungen in meinem Innern; es gab allein ein einziges Wort, das mich erfüllte.
Renn.
Von Sturm und Fels zugespitzte Steinchen gruben sich in die nackten Sohlen meiner Füße hinein, zwangen meine wilde Unrast, sich zu drosseln, doch ich rannte weiter, denn keine Ruhe gewährte mir mein geschundener Körper; Ruhe gab es nicht in meiner Welt.
Renn.
Erbittert gehorchte ich dem ersten sowie einzigen Befehl meines Geistes. Weder Zeit noch Gezeiten hielten mich auf.
Renn.
Regen strömte, prasselte auf mich nieder. Ich gehorchte. Hagel schmetterte hart auf mein Haupt. Ich gehorchte. Von Kälte durchzogener Wind ließ mich erzittern. Ich gehorchte.
Ich gehorchte, ungeachtet dessen, was es kostete, drängte meine wunden Glieder weiter, flog über Schatten oder Raum, ließ den stillen Lärm der lauten Nacht weit hinter mir zurück, versank völlig im tiefen Schwarz der ewig wirkenden Leere.
Mein Geist befahl und ich folgte, bis mein geschundener Körper gebrochen, erschöpft, ja selbst entkräftet unter seiner eigenen Last endlich zusammensackte.
Die ungehorsame Hülle meines Selbst unterließ ihre unabdingbare Pflicht, so dass der Körper fiel, mein Geist jedoch die schwachen Beine den Weg ohne Ziel weiter hinabzugehen zwang.
Renn.
Das Einzige.
Renn.
Kälte, Wind und Sturm hielten mich nicht auf.
Renn.
Hunger oder Durst waren bedeutungslos.
Renn.
Nur eines zählte.
Renn. Renn. Renn.
Stillstand.
Ein schlicht modriger Tümpel durchkreuzte meinen unsteten Pfad; Matsch lag unter meinen nackten Füßen, er schmatzte laut zwischen meinen dünnen Zehen hervor. Der Wind zeichnete sanfte Wellen auf das trübe, braune Wasser, ließ es kleine Kreise ziehen, fast tanzen; braune Ringe in einem sanften Reigen vereint und ich mit fernem Blick daran gefesselt.
Etwas derart Alltägliches brachte meinen Geist zum Stocken. Nahezu staunend stand ich still davor, lauschte.
Trink. Ein weiterer Gedanke.
Meine Kehle war vertrocknet, schnürte sich zu, schrie nach Flüssigkeit.
Trink.
Stürzend warf ich mich auf die dunkle Brühe. Trink. Matsch spritzte in mein Gesicht. Trink. Der faulige Gestank des Wassers war unwichtig. Trink. Einzig mein Würgereflex zeugte von dessen Ungenießbarkeit. Trink. Ich versuchte es. Trink. Ich konnte nicht. Trink.
Dem Willen nicht nachgeben könnend, blieb ich geistesabwesend neben dem Tümpel sitzen. Trink. Es ging nicht; immer, wenn ich trank, kotzte ich.
Verzweiflung.
Fast unauffällig kroch eine Nacktschnecke einsam ihre feine Bahn zwischen dem braunen Matsch und meinem Erbrochenem hindurch, hinterließ eine klebrig durchsichtige Masse auf ihrem Weg, scherte sich dabei nicht um Tümpel oder Kotze, kroch unbeirrt weiter, war schön, weich und braun, saftig und feucht.
Trink.
Die Schnecke ging ihren Weg, kroch durch mein Erbrochenes, ging voran, langsam, trotzdem stetig, solange bis das Glitzern ihrer Bahn mich in einen kaum zu bestimmenden Bann gezogen hatte. Die Schnecke, schön und feucht…
Nieselregen setzte ein, spülte meine gelbbraune Galle in den unwichtig gewordenen Tümpel hinein, die Schnecke kroch hinterher. Ihr Ziel war der Tümpel, der Tümpel mit den braunen Wellen. So schön und feucht.
Die Schnecke erreichte den Tümpel nie, war verschwunden, unerwartet schnell, sie war in meinem Mund. Ich schluckte, ohne zu kauen. Trink Schnecken.
Ich stand auf, trat in den Tümpel hinein, rannte weiter.
Renn. Trink.
Ich rannte und trank aus Tümpeln oder schluckte nasse Schnecken.
Dies war mein Leben.
Renn und Trink.
Keine anderen Gedanken herrschten in meinem von Sinn verlassenem Geist, bis hin zu dem Tag, als ich auf einem Karrweg rannte und am Horizont die Umrisse von Gestalten zu erkennen glaubte.
Menschen. Nein. Keine Menschen. Menschen bedeuteten Schmerz.
Schmerz.
Menschen waren nicht wie Schnecken. Sie waren nicht weich und feucht, glitschig und glitzernd. Sie waren… tot…
Tod bedeutete Schmerz.
Ich verließ den Karrweg, schlug mich weiter in Richtung Wildnis hinein, verschwand hinter dicht verwachsenen Dornenbüschen, kämpfte mich durch schlammig tiefe Mooslandschaften oder scheinbar undurchdringbare Wälder hindurch. Keine Straßen sollten meine Wege kreuzen, keine Dörfer sollten meine Augen erblicken müssen, kein Haus am Waldrand sollte meinen Verstand erahnen lassen, was geschehen war. Menschen waren tot, Menschen bedeuteten Schmerz.
Mein Herz blutete, ich rannte weiter.
Renn. Trink. Schmerz. Die Dreifaltigkeit meines Geistes; die Götter, die mich beherrschten; die Götter, die mich unterjochten.
Gott Schmerz über allen, verlangte bedingungslosen Gehorsam, duldete keine Widerreden, schon gar nicht die eines gebrochenen Geistes wie meinen.
Versprach ein Brunnen genüsslich vor sich hinplätschernd Befriedigung für Gott Trink, war Gott Schmerz allgegenwärtig, denn Gott Schmerz wusste, ein Brunnen konnte einzig von Menschenhand erschaffen worden sein. Und Menschen… tot…
So war Schmerz mein Gebieter; Schmerz war meine Welt.
Der Körper war ausgemergelt und erschöpft, wollte ruhen, wollte schlafen…
Schlaf, ein Gegenspieler meiner Götter. Sie unterlagen ihm dann und wann, doch Schmerz regierte auch im Reich von Schlaf und dunkle Träume von dicken Rauchschwaden verhüllt vernebelten den Klang vertrauter Schreie; Dunst umhüllte ein düsteres Schauspiel, an dem sich Schmerz zu erfreuen schien; manisches Gelächter und rot gefärbte Schwaden…
Schmerz lachte, Schmerz brannte und Schmerz tobte. Der Traum gehörte Schmerz. Schlaf war Schmerz.
Schweißgebadet erwachte ich, Schmerz war unerträglich. Meine weit geöffneten Augen ersehnten das Nächstfolgende.
Renn. Ich rannte, verdrängte Schmerz, aber sein Lachen hallte tief in meiner Seele nach, geduldig verharrend, um später mit erneuter Härte zu toben.
Es regnete. Ständig war ich nass.
Trink war glücklich, denn Regen bedeutete seine Stillung.
Schnecken zierten unsere Wege, Tümpel spritzten an meinen Beinen hoch, kleine Rinnsale schlängelten sich um meine Zehen.
Aber bald ließ auch der Regen nach und mit der Trockenheit säumten fortan totgewachsene Blätter sowie verdorrte Blumen unsere Wege. Meine Kehle, einer Wüste gleich, trocknete von Tag zu Tag mehr aus.
Wasser verdunstete, versickerte, zerfloss, war selbst aus dem Boden gewichen; das Ausbleiben der Schnecken drohte der Untergang all meiner Götter zu sein. Die Welt verwehte zu trockenem Sand.
Ich könnte mich hinsetzen und sterben. Der vierte Gedanke. Sterben.
Verschwinden wie die Schnecken, versickern wie das Wasser, nicht mehr existieren, nicht mehr sein. Nicht und nichts, einfach nichts.
Nein, nein! Renn! Renn trug mich davon, weg von Sterben, immer tiefer in die trockene Wildnis hinein, immer weiter in die Dunkelheit meiner eigenen verworrenen Gedanken.
Kein Regen, selbst der Morgentau war verschwunden. Kein Nass, kein Matsch, keine Schnecken, dies seit jeher.
Trink. Er befahl, er insistierte. Ein Karrweg. Schmerz. Verschlungene Pfade in einem umnachteten Geist…
Keine Menschen wollte ich sehen, hatte nicht vor, Schmerz zu provozieren, doch wo es Menschen gab, gab es gewiss auch etwas für Trink, allein darauf hoffte mein Weg. Ein Brunnen, ein Kanister, ein Bottich, irgendetwas von Menschen gemacht, um das Nass zu bewahren.
Die Dunkelheit als Freund zu wissen konnte ich mich womöglich anschleichen, trinken und ungesehen wieder davonstehlen; und falls ein Mensch mich dennoch erblicken sollte, war es nicht weiter schlimm, wenn er bei meinem Anblick ein wildes Tier oder gar ein Monster vermutete, einen Pfeil spannte, mich durchbohrte und von meinem Elend erlöste. Ich war längst zu einem Tier geworden und zum Monstrum war es nur noch ein winzig kleiner Schritt, den ich ging.
Sterben erwachte und Hand in Hand mit Trink folgte ich dem Karrweg Richtung Tod, denn es war unbedeutend, weiter durch den vertrockneten Wald zu streifen oder beim Versuch, etwas für Trink zu finden, Sterben Tribut zu zollen. Renn hatte mir die Entscheidung längst abgenommen und führte meine gequälten Beine den schmalen Schlangenpfad entlang des Waldes bis hin zum Beginn der Zivilisation.
Schemen gleich zeichneten sich in der Ferne bereits die Konturen eines verschlafenen Dorfes ab, an dessen Dächern Dunst schwer in der Luft hing. Alles flackerte und flirrte. Was hier geschehen war… Rauch.
Renn zwang mich weiter, immer näher, je näher, desto höher fraßen sich die dicken Rauchwolken in den grauen Himmel hinein. Das Dorf war verkohlt; es hatte gebrannt. Einzig eine Handvoll Häusergerippe waren die traurig übriggebliebenen Reste einer einst mit Leben erfüllten Gemeinschaft.
Der Geruch von versengtem Haar sowie verkohltem Fleisch drang ungehindert in meine Nase; unerträglich war der Gedanke, doch Schmerz unterdrückte die von Leid gequälten Erinnerungen vollends. Ungeachtet der ausbleibenden Vergangenheit sackte ich zusammen, aber keine Träne rollte über meine Wange; ich war ebenfalls vertrocknet.
Schmerz drängte längst zur Umkehr als Trink leise zu flüstern begann: Vielleicht findest du in einem Haus etwas. Einen Kübel, ein Glas, einen Fingerhut… Wasser!
Ich nickte, betrat ein Haus, jedoch alles, was ich darin fand, waren Kohle, Asche, Trümmer oder verbrannte Menschenteile.
Von jedweden Gefühlen befreit stolperte ich über ein schwarzes Bein; sah etwas auf dem Boden liegen, was früher wohl als ansehnlicher Mann gegolten hatte. Die Leiche lag rücklings auf dem Boden, der Mann schien fast zu schlafen, nur seine Gliedmaßen standen unnatürlich vom Körper ab.
Was für ein Mann dieser versengte Fleischhaufen zu seinen Lebzeiten gewesen war, war egal. Seine Kleider waren verkohlt, sein Gesicht zur Unkenntlichkeit verstümmelt, schwarzer Ruß bedeckte ihn zur Gänze und einzig ein roter Farbtupfer prangte an seinem Unterleib hervor. Eine tiefe Wunde klaffte an seinem Bauch wie ein Tor zu einer verzerrten Anderswelt; das Blut war noch warm, tropfte in eine immer grösser werdende Lache unter ihm hinein.
Trink. Flüssiges, feuchtes Blut. Ein ganzer See aus Blut.
Es ist Wasser, rotes Wasser.
Trink schrie, verlangte Gehorsam. So gruben sich meine Hände unter seiner Macht in die Gedärme des Toten hinein, ließen nasses Blut in meine Handflächen fließen und ich trank…
Warm und süß.
Rot verschmiert kniete ich neben der Leiche, mein dreckiges Nachthemd saugte sich am Saum mit rotem Saft voll.
Süßes Blut. Erneut bohrten sich meine Hände in die Bauchhöhle des Toten, füllten sich mit Flüssigkeit, folgten den Befehlen dieses Gottes. Trink Blut. Ich trank, schluckte, immer und immer wieder.
Geräusche unterbrachen meine Taten, Pferdehufe und Hundegebell vermischten sich mit Männerstimmen. Es war… Schmerz.
„Sucht nach Überlebenden. Sie haben eine Verabredung mit dem Loch.“ Gelächter.
Zu schwer war die Last von Gott Schmerz… Unfähig, mich aufzurichten, stahl ich mich bloß auf allen Vieren kriechend davon, eine Blutspur der ungesühnten Schuld hinter mich herziehend. Ich musste verstummen und verschwinden.
Das Zischen heißer Überreste unter mir konnte keinen Ton aus meinem Mund erzwingen; ich schrie nicht einmal, als sich die verbliebenen heißen Kohlen in die dünne Haut über meinen Knien sengten. Ich verklang, versickerte wie alles Leben an diesem heimgesuchten Ort.
„Da ist einer, packt ihn!“ Hunde bellten. Mein Herz, es wollte vergehen, doch mein Körper nicht. Die Kontrolle abermals übernehmend würde Sterben heute kein Opfer sein eigenes nennen können, nicht jetzt, nicht hier; die Zeit dazu war noch nicht gekommen.
Männer ritten den nächsten Hang hinunter, kehrten mir den Rücken zu, und Renn verschleppte mich zum nahegelegenen Wald zurück.
Von Angst gehetzt war der Körper allerdings ein schwaches Ding; so fiel ich, meine Hände bohrten sich in die dürre Erde unter mir, gleich ließ Schmerz mich stöhnen. Ich spie Blut, rannte weiter.
Die Sicht verschwommen stürzte ich und rollte eine steil abfallende Böschung hinunter, bis ein massiger Baumstumpf meinen Sturz jäh bremste.
Bewusstlos lag ein von Göttern gequältes Ding zwischen trostspenden Wurzeln einer gestürzten Eiche, als die letzten Sonnenstrahlen auf Aëlles zerrissener Welt dieses gebrochene Wesen allmählich verglühen ließen.
Der Lärm verklang.
Feuer und Rauch.
Ein Geflecht aus schwarzgetränkter Verfolgung umrahmte die nächtlich erschienenen Traumbilder wie ein von Dämonenhand entstandenes Gemälde, erschuf die im Schlaf gezeichneten Illusionen zur vollkommenen Wirklichkeit, wenn Stimmen erklangen und Gesichter auftauchten.
Renn, renn. Ein Mund ohne Stimme formte mein mich beherrschendes erstes Wort, der Mund verschwamm und verzerrte sich, verformte sich zu einer neuen Gestalt.
Ein rotäugiger Drache durchbohrte mein Wesen, schlängelte sich schmerzhaft in meinen Verstand hinein, so wie dies Maden im toten Fleisch taten. Der Drachenmann lachte, schwang eine eiserne Waffe, bevor der feurige Wind ihn verschlang und er bald im Sturm verwehte. Brennende Hitze ließ dunkelrote Flammen gegen den ermatteten Himmel steigen, zwang sie schließlich zum Verglühen, doch nie zum völligen Vergehen und ein schwarzer Kreis aus feurigen Schatten umgab ein von Erinnerungen befreites Geschöpf. Ich, Gefangene, rannte und trat doch auf der Stelle. Erschöpfung zwang mich, inmitten der schwarzen Flammen auf das sichere Ende zu warten. Dann schlich die erdrückende Dunkelheit heran und mit ihr Tod und Erlösung…
Ein sanfter Stoß an meinem Kopf. Noch einmal. Unaufhörlich und aufdringlich. Irgendetwas holte mich allmählich aus der düsteren Leere in die Welt der Lebenden zurück.
Das Stöhnen in meinem Kopf bahnte sich den Weg zu meinem Mund, solange ich mich aus düsteren Träumen heraus zu kämpfen versuchte und ich zitterte, als das grelle Tageslicht durch meine verklebten Augenlider schoss. Alle klaren Konturen verwischten, nur etwas stieß mich unabdingbar am Kopf… Ich sah lediglich Umrisse, Schatten bis…
– Ein Wolf! Renn, renn!
Der Schrecken wie auf einem Bogen bereit zum Abschuss gespannt zuckte ich nur, die Augen weit geöffnet, und doch war ich gelähmt. Renn! Ich konnte nicht.
Sterben. Wenn dich dieser Wolf am Hals erwischt, ist alles schnell vorbei.
Unverständliche Tieraugen starrten mich an, als ich wie zuvor in meinem Traum auf das ersehnte Ende wartete.
Nur das Schicksal spielte anders, als dass es mein umnachteter Geist hätte erahnen können, und das zuvor noch gleißende Licht wich einem sanften hellen. Die Züge des Viehs über mir jetzt allmählich erfassend, sah ich spitze Ohren, eine lange Schnauze und scharfe Zähne, aber zarte Linien. Kein Wolf. Meine Götter waren vollends verstummt, die rosafarbene Hundezunge fand bereits ihren Weg auf mein mattes Gesicht, leckte mich wohlwollend ab. Ein Hund.
Ich lauschte den Göttern in meinem Innern, nicht wissend, was zu tun sie jetzt gedachten, doch Dumpfheit hielt meine Gedanken unter Wasser gedrückt. Undurchdringlich, ja betäubt waren die Wege in meinem Verstand unter schwerem Rauch vergraben; einer zähen Masse gleich flossen Ströme siechend dahin.
Nur halb nahm ich die raue Zunge wahr, denn der Hund stellte keine Gefahr mehr dar und meine Götter schwiegen still. Diese ungeahnte Berührung nach einem gefühlten Menschenleben überforderte meinen Körper sowie meinen Verstand.
Ich ignorierte ihn, den Hund; er war mir einerlei. Nur ein Hund außerhalb meines Selbst. Der Zustand meines Körpers beschäftige mich indes weit mehr, denn meine Füße waren schwarz und meine Beine von Schlamm überzogen und mit dünnen Blutsfäden bedeckt, so zeugten sie von einem Leben, das ich bis anhin geführt hatte. Ich spürte meine Gliedmaßen kaum, spürte nichts, außer dem Versuch des stockenden Denkens in meinem pochenden Kopf.
Über meinem Knie lag ehemals weißer Stoff, der zu meinem Nachthemd gehörte, er war dünn und dennoch schwer. Eine schwere Last auf meinen schwachen Beinen. Dann meine Hände… Lange magere Finger, dreckig, blutig, schwielig. Gehörten sie wahrhaftig zu mir? Jeder Impuls war unbeholfen, zuckend; meine Finger waren wie Würmer, die vergessen hatten, fließende Bewegungen zu vollziehen; verbunden mit meinen Armen wuchsen sie zu fleischigen Schlangen heran. Meine Arme? Dort ein roter Fleck. Eine tiefe Schnittwunde am rechten Oberarm, aus der gelber Eiter mit dunklem Blut triefte. Dreckig. Blutig. Fremd. Und dennoch alles meins.
Ich atmete gleichmäßig. Mein Körper, meine Hände, meine Füße, alles an mir war schwarz, verwundet, aber wenigstens noch da. Ich war ganz, ein ganzes Wrack, gebrochen und doch heil, heil gebrochen. Mein Körper. Meine Ruine. Meine Trümmer. Alles meins.
Ein Blick über die Schulter enthüllte etwas, das ich jedoch nicht mein Eigenes nennen konnte.
Hufe. Pferdehufe. Lange braune Pferdegelenke, ein Brustbein, ein langer brauner Kopf mit einem weißen, langgezogenen Fleck darauf, zwei spitz aufgerichtete Ohren dahinter.
Benommen blickte ich hoch. Eine hellbraune Stute. Ein Tier, so wie der Hund auch. Keine Gefahr. Ich hätte sie genauso gut ignorieren können, wenn da nicht noch etwas anderes gewesen wäre. Ein kahlköpfiger Reiter; ein Reiter mit ärmelloser Lederweste und Kaninchenfell auf seinen Schultern, starken, nackten Armen mit vielen Narben und dem Ansatz eines Bierbauches, den er mit einem breiten Ledergurt und einer bronzefarbenen Schnalle zu verdecken suchte. Ein Glatzkopf. Der Reiter überragte die Stute. Er starrte mich mit verzerrtem Gesicht an.
Ein Mensch! Die Schreie in meinem Kopf waren zu undeutlich, als dass der Trümmerhaufen, den ich meinen Körper nannte, reagieren konnte. Chaos. Keine Möglichkeit zu entkommen.
Tief grollte die Stimme durch das Geschrei meiner Götter hindurch bis hin zu meinem Verstand: „Was tust du hier? Du dürftest gar nicht hier sein. “
Stille. Meine Götter schwiegen still. Meine Gedanken waren zäh.
Ein grimmig dreinblickender Mann verlangte nach Antworten und meine Götter waren verstummt.
Sag etwas. Sagen. Etwas. Jetzt.
Verrostet und vergraben unter den Bruchstücken meiner Ruine war meine Stimme unauffindbar. Lange war es her, dass ich gesprochen hatte und all meine Worte waren längst verklungen, ausgetrocknet und verweht. Sprachlos, auch benommen, starrte ich zum Glatzkopf hoch, verstand sehr wohl die Töne aus seinem Mund, doch die zähflüssige Masse der stummen Schreie in meinem Geist ließ keinen klaren Gedanken zu. Chaos. Ohrenbetäubend. Ich legte meine Hände an die Ohren, wiegte den Kopf hin und her. Was? Nichts. Laute Leere. Stockende Gedankenflüsse versickerten im Wirrwarr der innerlich verworrenen Stränge.
Verständnislos, ja kopfschüttelnd saß der Reiter auf seinem Pferd, ungeduldig auf eine Antwort wartend, beugte sich vor, starrte zwischen den spitzen Pferdeohren hervor und hob eine buschige Augenbraue steil nach oben: „Na?“
Nichts.
Er stöhnte, blickte stumpf zu seinem Hund, der mich immer noch ableckte, folgte dann den Bewegungen des Tieres über meinen Körper hinweg. Mich nicht wirklich ansehend, sprach er dennoch an mich gerichtet: „Das hier ist der Elnwald. Selbst ein so dummes Geschöpf wie du eins bist, sollte das wissen. Kennst du denn die Geschichten nicht?“
Nein.
„Mörder und Vergewaltiger treiben hier ihr Unwesen. Du bist leichte Beute, so wehrlos wie du aussiehst. Was denkst du dir eigentlich?“
Nichts.
Den Blick vom Hund endlich abwendend, musterten mich seine zwei großen Augen, deren Farbe einem bleichen Weiß gewichen war, und nun erkannte er mich in meiner Ganzheit, in meiner ganzen Gebrochenheit. „Meine liebe Göttin, du siehst aus, als hätte dich jemand zu Tode geprügelt. Ein Knochengerüst, das bald auseinanderfällt. Der Gnadenstoß wäre eine Erlösung für dich.“
Na dann.
Stille. Er wartete weiter auf eine ausbleibende Antwort, eine Reaktion, irgendetwas, doch nichts kam aus mir heraus. In meiner Welt klangen seine Worte weit weg, kaum real. Sein Monolog musste ohne mich weitergehen:
„Weißt du überhaupt, was Elnwald bedeutet? Elender Wald und jedem lebenden Wesen, das diesen Wald betritt, wird es elend ergehen. Du bist im elendsten Winkel des Schrecklichen Viertels von ganz Bardos gelandet. Weißt du das?“
Nein.
„Warum sollte ich dich nicht einfach töten?“ Die Klinge seiner Axt berührend provozierte er erneut eine Antwort.
Bitte. Mein Mund stand offen, tonlose Laute kamen aus meiner vertrockneten Kehle heraus. Bitte töte mich. Unverständlich kamen diese drei Worte heraus. Ich legte meine Hand auf meinen rauen Hals. Schmerz.
„Wie?“
Ich ließ meinen Kopf nach unten hängen, starrte auf den Boden, resignierte. Mein Kopf war ein Sumpf, mein Körper ein Wrack, aufgelaufen und leck.
„Du elendes Ding.“ Das Pferd trat ein paar Schritte vor, bis ganz nah an mich heran. Die Hand des Mannes packte mich an der Schulter, hievte mich hoch wie einen nassen Sack.
„Nenn mir deinen Namen, Totgeweihte“, der Reiter schüttelte mich. Ich sah nicht einmal in seine Augen. Zu viel waren diese Berührungen, diese Worte. Ich konnte nicht, ich wusste nicht…
Das Pferd unter mir schnaubte ungeduldig; die Hände des Reiters waren fest um meine Schultern geklammert: „Dein Name, sag mir deinen Namen! Hörst du?“
Schwach drangen die Worte in meinen Geist. Mein Name. Mein Name? Mein Name war – wie war mein Name? Hatte ich überhaupt einen Namen? Jegliche Erinnerung fehlte.
Ich starrte auf den Pferdehals. Pferd. Das Wort drang aus meinem inneren Sumpf an die Oberfläche meines Verstandes. Pferd, nicht mein Name. Starr war mein Blick auf das Tier unter mir gerichtet. Ich durchforstete meine zähen Gedankenflüsse, fand jedoch nur Schlamm. Wo war mein Name? Brauner Matsch schwappte in meinem Innern auf, darüber lag dicker Rauch; hie und da stiegen Bläschen auf, die beim Platzen kleine Feuerleuchten frei ließen. Ein unwirklicher Ort dieser Sumpf in meinem Geist; sich darin zurechtzufinden, unmöglich.
Angestrengt und an meiner letzten Kraft gezerrt tauchte ich durch den inneren Rauch in den Sumpf hinein, spürte die Hitze des Feuers auf meinem Rücken, doch jegliche Bemühungen waren umsonst gewesen. Jeder Gedanke schmerzte und der Gang durch das Moor meines Innern glich dem Pfad durch die Verdammnis. Wo war mein Name?
Pferd. Reiter. Hund. Nicht meine Namen. Lebewesen.
In der Hoffnung, irgendetwas könnte mich an meinen Namen erinnern, sah ich mich um, nahm so die Umgebung um mich herum zum ersten Mal wirklich wahr. Grün. Bäume. Wald. Ich befand mich in einem Wald. Grüne Ranken, sich an langen Stämmen hochschlängelnd, verliefen sich in den hohen Baumkronen, nur der mit Moos bedeckte Boden, auf der die gestürzte Eiche lag, die mir nachts Schutz geboten hatte, zeugte durch die gebrochenen Blumen von meinem früheren Fall. All dies hatte einen Namen. Blumen. Wurzeln. Ranken. Aber wo war meiner?
Nichts.
Der Reiter schüttelte mich ein letztes Mal: „Ach. Da kommt wohl nichts, was?“
Ja, nichts.
Er senkte die buschigen Augenbrauen, kratzte sich am unbehaarten Kopf, drehte mich um und nahm die Zügel seiner Stute fest in die Hand. Kurz blickte er zurück zur gestürzten Eiche, rief dann mit lauter Stimme: „Freki, daher!“, dann setzte das Pferd im Schaukelschritt in Richtung des Unbekannten an, einzig ein großgewachsener, zotteliger Hund folgte ihm.
Freki. Hund. Name. Freki. Ich dachte.
Kleine Wellen schlugen an den Rand meines Kopfes, kurz schwappte Renn hervor, wies mich an, mich vom Pferd fallen zu lassen, doch Sterben hielt mich unwillentlich zurück. Warum? Ich saß auf einem Pferd, ertrank dabei langsam im dunklen Morast meiner eigenen Benommenheit. Es schaukelte und schwappte, kleine Wogen türmten sich zu großen, schlugen an das lecke Wrack meines geschundenen Körpers. Meine Gedanken flossen ins Leere, meine Götter schwammen obenauf im Sumpf der Verworrenheit, vermischten sich, ertranken, verbanden sich mit allem und nichts. Renn, Trink, Schmerz und Sterben flossen ineinander zu einem einzigen Ganzen, einem dunklen Etwas in meinem Geist und keine Gedanken flossen mehr heraus.
Einzig die kühle Morgenluft auf meiner nackten Haut, auch den warmen Bierbauch des kahlköpfigen Mannes an meinem Rücken spürte mein vernichteter Körper. Die vernarbten Arme des Reiters lagen links und rechts neben mir, wärmten mich von der Seite.
Wärme. Mir war warm. Das Pferd schaukelte.
Der Reiter, sein Tier durch den Wald über viele kleine Trampelpfade, mal in diese, mal in jene Richtung lenkend, tapste neben uns der zottelige Hund. Einige Sonnenstrahlen fielen, wo das Laubdach Löcher aufwies, auf uns herab, tauchten unsere Welt in einen rötlich schimmernden Farbton. Stille sowie Wärme begleiteten unseren Ritt bis er, der Mann, das Schweigen durchbrach und seine Worte durch die Moorlandschaft in meinem Geist drangen: „Ich heiße übrigens Geri.“
Das Moor bebte, mein Geist schwappte über, suchte nach einer Öffnung aus meinem Mund. Komische Laute kamen röchelnd heraus; ich keuchte, hustete fast, als ich schließlich Laute hervor würgte: „Geri und Freki.“ Monoton, selbst gefühllos klangen diese Worte. Rau war meine Stimme, alt sowie verkümmert.
„Wie? Ja, Geri und Freki“, er bestätigte.
Wie einfallslos. Dieser Gedanke drängte sich an die Oberfläche des Sumpfes, ließ den Schlamm weiter beben, bis eine Welle auch diesen verschlang. Doch ein Gefühl blieb, schwebte in mein Bewusstsein und ließ mich etwas anderes gewahr werden. Ein Gefühl, das ich schon lange nicht mehr gespürt hatte. Absonderliche Laute huschten über meine zitternden Lippen; mein Bauch verkrampfte sich, bebte und ich zuckte. Ich lachte, lachte laut. Wie einfallslos waren doch diese Namen.
Seine Hände an den Zügeln geklammert ballten sich nun zu Fäusten; auf den Armen stachen die pulsierenden Adern hervor, ich musste mich nicht umdrehen, um zu wissen, wie rot der Reiter im Gesicht und auf der Glatze geworden war.
„Du lachst uns wegen unserer Namen aus und hast selbst keinen eigenen.“
Mein Krampfanfall hatte sich gelegt, der Druck in meinem Innern flachte ab, die Wellen hatten sich beruhigt. Ich sackte zusammen, denn der Sumpf hatte den Gedanken wieder verschluckt und alles war erneut still in der weiten inneren Leere geworden. Ein Moor, darin vier verworrene, versunkene Götter.
Der Schaukelschritt des Pferdes folgte unermüdlich dem Weg durch den grünen Elnwald; Efeu hing von alt wirkenden, knorrigen Bäumen herunter, Moos sowie braune Blätter bedeckten den Boden unter uns und die weiß-violett angehauchten Blüten des Immergrüns streckten ihre unschuldigen Häupter dem weiter vordringenden Sonnenlicht entgegen. Um mich herum waren Farben und in mir drin nur Dunkelheit und Feuer.
Ich starrte auf den Hals des Pferdes, meine Finger vergruben sich in der filzigen Mähne. Sie war warm. Das Pferd war warm. Meine Lippen formten sich und leise drang ein weiteres Wort hervor: „Pferd?“
Der Reiter namens Geri brummte, zögerte, bis er schließlich sagte: „Hati.“
Lauthals brach es aus mir heraus. Das Moor schwappte über, wich zurück, legte manisches Gelächter frei. Wie einfallslos. Blasen stiegen auf, der Rauch wehte, Schlamm hob und senkte sich. Diese Namen.
Einer Erfindung eines verzerrten Geistes gleich ritt ich mit einem Mann, seinem Hund und seinem Pferd, die alle Namen von Wölfen aus Geschichten trugen. Geri, Freki und Hati. Drei Wölfe und ich, die Namenlose. Wie einfallslos, wie poetisch, wie einfallslos poetisch.
Ein krankhaftes Grinsen breitete sich in meinem Innern aus, vermischte sich mit meiner Götterschar, wiegte sich im Wellenschlag der Moorlandschaft auf und nieder.
Geistlos.
Was war der Schein der einst schlafenden Himmelssonne verglichen mit der Welt der kalten Dunkelheit; Wärme, Licht sowie Farben erwachten auf einsam anmutenden Wegen und ersuchten nach der Winterruhe, was vom Leben übriggeblieben war, ja brannten neuen Tatendrang in die Adern der verworrenen Stränge des Waldes hinein. Geheimnisse bewahrend leuchtete das Grün der Sonne hellen Ruf entgegen und offenbarte, ohne auch nur das Geringste zu gestehen, was die Natur vermochte. Die Natur. Glücklich, sie schon jetzt – auch wenn nicht bewusst – an meiner Seite zu wissen, staunte mein Innerstes, ohne das Geringste zu erkennen.
Den langen Gliedmaßen der Stute folgend gediehen die ersten Blumenträger unter uns, entfalteten ihre von unschuldigem Weiß durchzogenen Blüten und standen uns Spalier mit einem kaum ersichtlichen Schleier der Anteilnahme. Dahinter drang das Rauschen eines blau schimmernden Flusses heran; er, der sich unter stetigem Donnern und Grollen seine unzähmbare Bahn erzwang, als ob er seine Geliebte immer noch suchte, doch dies war eine andere Geschichte…
Über unseren Köpfen hinweg zeigte sich das Flirren der Bienen und Insekten, die vom Morgentau beträufelt die Grundlage für das melodielose Lied der Vögel vorbereiteten, und mit dem Wind, dessen Rauschen durch Äste und Blätter einen undurchschaubaren Takt erdachte.
Mittendrin ich; dreckig, erloschen und geistlos. Das Moor in meinem Innern wiegte sich immer noch im Schaukelschritt des Pferdes auf und nieder, wobei die Leere meiner Welt sich zu ihrer letzten Größe entfaltete. Ich war nichts, leer, ohne Erinnerung, ohne Namen, einzig und allein ein Wrack; ein Fragment, unvollkommen und vom Zahn der Zeit zerfressen. Die farbenfrohe Darbietung des dichten Waldes ging ungeachtet an mir vorbei.
„Wohin?“, meine verrostete Stimme krächzte leise.
Schmerz.
„Das siehst du noch früh genug. Außerdem, was bringt‘s, wenn ich es dir jetzt erkläre. Du weißt ja sowieso nicht, wo du bist“, meinte der Hüne Geri.
Der facettenreiche Wald um mich herum begehrte mich zu stärken und doch sah ich nur schwarze Bilder voller Flammen und Tod. Menschen bedeuteten Schmerz. Versunken in den Trugbildern meiner eigenen Wahrnehmung döste ich unruhig vor mich hin.
Die Stute Hati blieb stehen. Meine wenig geöffneten Augen lösten sich allmählich vom dunklen Dämmerzustand.
„Wir sind da!“, Geri stieg ab.
Verschwommen erkannte ich hochgewachsene, knorrige Bäume, kalte Felsen, auch einige Hügel; wir waren immer noch im Elnwald.
„Komm schon“, grob war der Ruck, mit dem er mich vom Pferd zerrte, und wie Strohhalme brachen beim Versuch zu stehen meine Beine unter dem Gewicht meiner eigenen Last zusammen. Allein die schwarz vor meinen Augen tanzenden Schatten ließen die Pein wahrhaftig werden. Die Trümmer meines Selbst drohten, zu Staub zu zerfallen; ich war ein verwehendes Fragment.
Nur halb nahm ich die Berührungen des Hünen jetzt noch wahr. In seinen Armen liegend baumelte ich wie ein halbtoter Säugling, als er mich hinter einen ungewöhnlich gleichmäßig geformten Erdhügel trug, an dessen Rückseite ich wie in einem Märchen die Andeutung einer mit Moos bewachsenen Holztür erahnte; sie führte ins Innere des Hügels hinein. Mit einem kräftigen Fußtritt schlug Geri diese Tür zu einem neuen Leben auf.
Eine Halle, geräumig sowie hoch, in der Mitte eine Feuerstelle mit ruhig flackernder Flamme unter einem massiven Kessel, Kerzenwachs auf langen Holztischen, hie und da ein gestürzter Tonbecher, dunkle Flüssigkeit auf alten Bänken, festgetrampelte Erde als unebener Boden; all dies breitete sich aus. Eine schlichte Welt war dies und zweckmäßig eingerichtet. Wenig Licht drang in die kleinen Fensterluken hinein und entlang der graubraun wirkenden Wände wuchs verworrenes Nachtschattengewächs wie ein Muster der Lebenslinien von unbedeutenden Menschen ineinander, verlor sich aber bald in der Weite. Dieser Ort sprach zu mir.
Der Hüne trat festen Schrittes hinein, ich immer noch baumelnd in seinen Armen. Ein fast vielversprechend wirkender Duft streichelte uns willkommen heißend, ließ gar meine Augen für einen Moment auf den Kessel mit der darin ruhig vor sich hin köchelnden Brühe starren; mein Magen verkrampfte sich unwillkürlich. Schmerz.
Ein zweiter, kleinerer Raum, einer Küche gleich, bewahrte den Geruch eines Gemenges von Kräutern, Fett, Fleischkeulen sowie auch Würsten bis hin zu ungebackenen Brotlaiben, abgestandenem Bier und säuerlichem Schweiß. Messer lagen achtlos neben unsauberen Klingen auf einer klebrig verschmierten Tischplatte herum, wo bald auch ich ruhte. Geri legte meinen erschlafften Körper auf den Tisch neben ein verschlissenes, aber scharf aussehendes Beil und ging.
Ich starrte auf das Beil, schloss meine schweren Lider und in meiner Vorstellung spaltete es einen blutüberströmten Kopf. Nur aus der Ferne vernahm ich Geris Worte noch:
„Maute. Komm.“
Schritte schlurften mühselig, ja stöhnten fast heran, die dazugehörige Stimme klang erzürnt, ja des Arbeitens müde. „Hoffentlich hast du mir dieses Mal einen Hirsch oder ein Reh mitgebracht. Immer nur Gemüse… das geht doch nicht! Und wenn du mir schon wieder eine Ratte andrehen willst, schwör‘ ich dir…“, die Stimme verdichtete sich mit Lauten. „Weißt du was? Die anderen haben mir gestern ein Wildschwein gebracht. Ein Wildschwein! Hörst du?“
Linien einer gewaltigen Frau, die fast so groß wie der Hüne selbst war, traten in mein Sichtfeld, mit ihr zuallererst abgestumpfte Züge eines rastlosen Menschen. Ihr braunes Kleid bedeckte sie zur Gänze; das ärmellose Leinenkleid darüber war von fettigen Kreisen durchzogen, aber ihre Haarpracht, die zu einem Zopf geflochten war, küsste fast den unebenen Boden unter ihr. Ihre Hände waren dick, ja fleischig, ihr Kinn eher zwei als eines. Der schlaftrunkene, grimmige Blick stierte aus einem wettergegerbten Gesicht heraus; ihr Zeigefinger schnellte hervor: „Warum stellst du das da auf meinen Tisch? Woher hast du das überhaupt?“
Geri zuckte mit den Schultern: „Das ist wohl eine sie und sie habe ich südöstlich des Flusses Kuîn gefunden.“
„Wie? Im Wald?“
„Ja.“
„Allein? Und in diesem lächerlichen Aufzug?“
Geri nickte und Maute verstand, auch wenn sie ihrer Geduld geraubt war, dass dies offensichtlich das Einzige war, was ihr Mann zu diesem Fund zu sagen hatte.
„Na dann, bringen wir diese sie zu Harwîn. Nach einem Trank werden wir sehen, ob sie den Tag überlebt.“ oder nicht… Die Worte verhallten unausgesprochen in meinem Geist.
Von der Benommenheit zwar übermannt haschte ich dennoch nach Luft, verschluckte mich fast an meinen eigenen Worten; die Zunge war schwer in meinem Mund, schlug unbeholfen auf und ab: „Das ist ein Nachthemd.“ Kein Aufzug.
Maute bückte sich vor, sah mir mit ihrem ausgebrannten Blick ins Gesicht und ein scharf spöttischer Ton entwich ihrem Mund: „Oh, es kann sprechen. Hat es denn auch einen Namen?“ Ich presste meine Lippen zu einem dünnen Strich zusammen. Nebelschleier tanzten vor meinen Augen herum, ich atmete schwer.
„Na, gut!“, mit Resignation in ihrem Tonfall streckte sie ihren massigen Körper wieder zu voller Größe empor. „Zuerst muss ich dich baden. So kann ich dich nicht zu Harwîn bringen, nicht einmal für den Gnadenstoß.“ Sie schüttelte ermattet den Kopf: „Nichts kann man bei diesem schwarzen Haufen erkennen. Deine Wunden müssen sauber sein, bevor sie verarztet werden können. Und ein anderer Aufzug muss her.“ Sie zupfte am schweren Stoff. „Das Ding, dem du Nachthemd sagst, ist nicht mal ein Lumpen.“ Maute umrundete mich, betrachtete meine Gliedmaßen, berührte meine Stirn; sie zog an meinen verfilzten Haaren, entfernte in den Strähnen versponnenes Moos oder Zweige. Eine rostige Schere, die an einem Nagel an der Wand hing, und bald in ihrer Hand ruhte, schnitt einzelne Haarknoten grob heraus.
„Sieh, was du tun kannst.“ Geri drehte sich um und ging. Maute erwiderte nichts, schleifte meinen zerstörten Körper gleich darauf unsanft nach draußen. Sie betrat etwas, das ihr wohl als Garten diente, auch wenn frische Kräuter wild durcheinander wuchsen und nicht vom Unkraut zu unterscheiden waren.
Die Kälte traf mich plötzlich. Einen Kessel mit Wasser leerte Maute über meinem Kopf aus und schrubbte mir gleichzeitig mit einer rauen Bürste den Rücken wund.
Das noch von Frost durchzogene Brunnenwasser ließ mein inneres Moor unvermittelt zu schwarzem Eis gefrieren, auch wenn der dicke Rauch darüber noch heiß blieb, mündete mein Geist in eine winterliche Starre.
„Immer muss mir dieser Geri halbtote Dinger mitbringen. Ein paar Tage siechen sie noch so vor sich hin, dann sterben sie trotzdem“, sie stöhnte, „Weißt du, zu oft ist mir in letzter Zeit der Tod begegnet.“
Auch ich hegte keine Hoffnung auf ein Leben, denn wahrhaftig zu leben, schien mir nicht bestimmt; zu lange hatte mein letzter Gott verharrt, hieß mich doch längst mit tausend Armen willkommen. Das Gerippe meines Selbst war immer noch gefangen im gefrorenen Moor des Vergessens… Sterben.
Mautes feste Hand umklammerte meine Schultern, drückte mich tief in den eisigen Brunnen hinein und zog mich dann, einer Ertrinkenden gleich, wieder hoch. Als sie mich später auf den Boden gleiten ließ und in eine alte Pferdedecke hüllte, sprach sie fast schon freundlich:
„Nun, nackt kann ich dich nicht bringen.“ Die Alte verschwand im Hügel, ließ mich kauernd allein im Gras zurück, bis sie mit einem naturbeigen Unterkleid sowie einem dunkelgrünen Allzweckkleid aus groben Leinen über die Schulter geworfen zurückkam.
Ich half Maute nicht, als sie mich ins Kleid steckte; genau so wenig, als sie den Rest meiner braunblonden Haare zu einem notdürftigen Zopf zusammenflocht; sie stopfte die letzten Gliedmaßen in den Stoff hinein und betrachtete dann ihr Werk: „So, jetzt siehst du fast schon wieder wie ein Mensch aus.“ Nun denn.
Maute stemmte mich mit ihren dicken Armen hoch, trug mich, wie zuvor schon Geri, einem frischgeborenen Säugling gleich durch den Elnwald, beschleunigte schnaubend ihren Schritt und wandte sich um Baum und Hügel in diesem mir unwirklich erscheinenden Ort.
Nur am Rande meiner von Schatten überzogenen Augenwinkel erkannte ich die Umrisse dieser neuen Welt. Hügel, unzählige Hügel, alle mit versteckten runden oder viereckigen Fenstern versehen; eine Siedlung im Wald. Der Rauch vor meinen Augen verflog zu hellen Schwaden, meine Pupillen weiteten sich. Erdwölbungen in den unterschiedlichsten Formen, Halbkugeln, mehrere kleine Erhebungen, aufgetürmt an säulenartigen, hochgewachsene Eschen und Kiefern umsäumten mich. Schwarze Schornsteine, dunkler Rauch, manchmal Bänke und Brunnen, darin klares Wasser, alles offenbarte sich.
Ein Pfiff. Ein Vogel, dessen Spannweite schier von einem Baum zum nächsten reichte, drehte über unseren Köpfen ab, stieß grelle Laute aus, so dass ich meinen Kopf nach hinten auf Mautes speckige Schulter fallen ließ, ihn erkennen wollte, aber durch das Gewirr von Laub und Nadeln nicht einmal einen Blick auf eine Feder erhaschen konnte; einzig sein Schatten flog davon. Was ich dann sah, war etwas anderes. Hoch oben in den Baumkronen thronten Baumhütten auf knorrigen alten Eschen; Brücken aus Ästen und Zweigen verbanden sie miteinander, verworrene Seile und morsch wirkende Leitern führten vom Erdboden bis in schwindelerregende Höhen hinauf.
Schön. Wie? Ein Gedanke, dessen sanfte Gestalt ich nicht in meinem von Kälte und Rauch erfülltem Innern vermutet hatte, mühte sich durch einen Riss im von scharfen Klingen beschaffenem Eismeer hindurch, drang in mein Bewusstsein hinein und ließ mich erkennen, was dieser Wald, diese Siedlung war: schön.
So schnell der Gedanke gekommen war, so schnell verschwand er wieder. Ein Vorhang dunkler Nebel verhüllte meinen Geist für die wahrhaftige Welt; ich schwankte zwischen Kälte und Hitze gefangen, baumelte benommen in Mautes Armen und die Schönheit der Natur war mir noch verschlossen.
Heißer Atem hauchte auf meinen Nacken. Maute atmete schwer, als sie den Weg in eine Schlucht einschlug. Auf Steinen, die gepflastert von Wind und Wetter, ja dahin geworfenen schienen, rutschte sie, sich mit einer Hand an der rauen Felswand abstützend und mit der anderen ein halbtotes Wesen festhaltend. Sie taumelte über den feuchten Untergrund weiter in den Abgrund hinein und stöhnte: „Verdammt! Wo ist diese Scheißtür schon wieder?“ Ihre Hände tasteten sich vor, Felsvorsprung um Felsvorsprung berührten jeden Stein zweimal. „Ah!“
Die Finger klopften, drückten den massiven Brocken vorsichtig nach innen und das kalte Gestein gab einem Tor gleich nach. Warmer Wind blies durch die Öffnung hinaus. Das Innere des Felsens war schwarz.
„Wer bist du, was willst du?“, von einer Wand zur nächsten prallte die hallend alte Stimme aus der Dunkelheit zurück, nur matt erreichte sie mich in meinem inneren, rauchigen Eismeer.
„Ich bin’s, Maute, und ich bringe dir ein elendes, kleines Etwas.“ Das felsige Tor hinter uns verschloss sich, das Schwarz der Höhle ließ selbst meine dunkle Eiswüste noch trister erscheinen. Ich drohte zu ersticken, atmete schwer, spürte die Ohnmacht Überhand gewinnen.
Winzige helle Punkte tanzten vor meinen Augen, erleuchteten das Höhleninnere, bis sich Umrisse und Strukturen abformten. Die Höhle