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Die sechs Kunstmärchen in diesem Band sind traditionell und modern zugleich. Manche spielen in sagenhaften Zeiten und mit traditionellen Motiven, andere in der heutigen Zeit. Ein Vergleich mit Hans Christian Andersen liegt nahe, wobei alle Märchen eine hoffnungsvolle Sicht auf die Menschen und ihren Umgang mit der Welt einnehmen. Kinder und Erwachsene können sich in die Figuren hineindenken und zu ganz eigenen Schlüssen kommen. So kann die kuriose Geschichte von dem alten Mann und der kleinen Hexe, die unerwartet in einem alten Haus aufeinandertreffen, je nach Alter ganz unterschiedlich auf die Leser/innen oder die Zuhörer wirken. Lektor Thomas Hanke
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Seitenzahl: 86
Veröffentlichungsjahr: 2021
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Für Reni
Reinhold Lilie, Jahrgang 1957, lebt mit seiner Frau in Nordwestmecklenburg. Er arbeitet als Schulbegleiter. Seine Märchen sollen Kinder und Erwachsene begeistern.
Das Mädchen auf dem Teerdach
Im schwarzen Moor zu Grevesmühlen
Der Wettlauf in den Klützer Wiesen
Der Salzkristall
Das Verhexte Haus in Damshagen
Das Märchen vom zauberhaften Klützer Winkel
Ein junger Dichter ging zu später Stunde ziellos durch die Straßen der alten ehrwürdigen Hansestadt Wismar. Die nächtliche Kälte schlich durch die Gassen und fing ihn ein. Er schlug trotzig seinen Kragen hoch und steckte seine Hände tief in die Hosentaschen. In seinem Zimmer wäre es jetzt sicherlich schön warm und mollig, aber dort wartete ein ungeduldiges Blatt Papier, das beschrieben werden wollte. Und genau davor hatte er irgendwie Angst.
Ein alter Lehrer hatte einmal zu ihm gesagt, dass die Geschichten und Märchen auf der Straße liegen würden.
„Aber wo?“ murmelte er leise vor sich hin. Sein nächtlicher Spaziergang war nichts weiter als die Suche nach einem Einfall. Den konnte man nicht einfach so wie ein Buch aus dem Regal ziehen. Sein Weg führte ihn vom Poeler Stadttor an der mächtigen Nikolaikirche vorbei geradewegs auf die Schweinsbrücke zu, die die Grube überquert, einen eingefassten Stadtbach. Die Geländerpfosten dieser Brücke sind mit vier kleinen Schweinchen verziert.
Vor dem Dichter lag ein heller Kieselstein. Missmutig trat er gegen den Stein.
Der flog in einem weiten Bogen auf das erste Schweinchen, sprang von dort zum zweiten, dann zum dritten und schließlich zum letzten Schweinchen. Nachdem der Kiesel alle Schweinchen berührt hatte, kam er in der Mitte der kleinen Brücke zur Ruhe. Verwundert über seinen Kunstschuss ging der Dichter vorsichtig auf die Brücke und hob den Kiesel auf. Er öffnete neugierig seine Hand, um den Stein zu betrachten – und genau in diesem Moment schlugen die Kirchenglocken der Nikolaikirche zwölfmal und kündeten die Mitternacht an.
Dem jungen Mann lief ein kalter Schauer über den Rücken. Kaum war der letzte Klang der Glocken verhallt, da setzte ein Gemurmel und Getuschel aus allen Richtungen ein. Er steckte den Kiesel in seine Tasche und machte sich schnell auf den Heimweg. Immer wieder schaute er sich fragend um, aber da war niemand zu sehen – und doch waren viele leise Stimmen zu hören. Schließlich stand er atemlos vor seinem Haus und suchte nach dem Schlüssel.
Er stellte sich ängstlich mit dem Rücken an die Eingangstür und rief verzweifelt in die leere Straße: „He, wer spricht hier eigentlich? Gebt euch zu erkennen, zeigt euch, ihr Feiglinge!“
Endlich fand der Dichter seinen Schlüssel und drehte sich zur Tür um. Gerade in dem Moment, als er ihn ins Schloss stecken wollte, sprach die Tür zu ihm: „Warum schreist du denn hier herum?“ Langsam ging er rückwärts, bis er an einen Laternenpfahl stieß. Ihm wich das Blut aus den Adern und seine Gesichtsfarbe ähnelte einer frisch gekalkten Wand.
Voll Angst sprach er zu sich selbst: „Was ist hier eigentlich los? Ich höre Stimmen, aber niemand ist zu sehen. Oder werde ich wahnsinnig?“
Da erklang wieder die Stimme: „Nein, nein, wahnsinnig bist du nicht, das glaub ich jedenfalls.“
„Ja, aber was passiert denn hier? Wer spricht hier und zeigt sich nicht?“
„Wir sind ja nun wirklich nicht zu übersehen.“
„Wer ist denn ‚wir‘? Ich sehe niemand!“
„Wir, das sind die Häuser der Stadt Wismar: die kleinen und großen, die schönen und hässlichen, die dicken und dünnen, die alten und die neuen, die schrägen und die geraden und, und, und. Alle Geschichten, die damals geschahen und heute geschehen auf den großen und kleinen Straßen der Stadt, auf den Plätzen oder in unseren Bäuchen – die tauschen wir untereinander aus.
Aber nun halte dich nicht länger an deinem Laternenpfahl fest, geh erst mal herauf in dein Zimmer. Ich denke, du bist ein Dichter und hast jetzt eine Menge zu tun.“
Ungläubig ging der Mann zur Tür des Hauses, schloss sie zaghaft auf, öffnete sie – und verriegelte dann sehr schnell das Schloss hinter sich. Es trat sofort Stille ein.
Er tastete nach dem Lichtschalter, fand ihn und durch die Helligkeit kam seine Sicherheit langsam zurück. Da er jetzt nichts mehr hörte, schlussfolgerte er: „Hab ich doch alles nur gesponnen oder geträumt, ich bin einfach übermüdet.“ Eine Weile stand er so auf der ersten Treppenstufe und schüttelte immer wieder ungläubig seinen Kopf. Dann atmete er tief durch und stieg die Treppen zu seiner kleinen Wohnung empor, die sich direkt unter dem flachen Dach des Hauses befand.
Oben angekommen, begrüßte ihn die Stimme von der Straße: „Du warst auch schon mal schneller.“
Vor Schreck schrie er auf!
„Nun sei doch nicht so schreckhaft. Oder hast du meine Worte auf der Straße nicht verstanden?“
„Doch, doch, das hab ich, aber …“
„Was aber?“
„Ich kapiere das einfach nicht, es ist doch nicht normal, dass die Häuser miteinander … reden, oder?“
„Nein, nein, aber es ist nun mal so.“
„Aber warum?“
„Du hast den Zauberkiesel um Mitternacht auf die Schweinsbrücke geworfen.“
„Nein, geschossen.“
„Egal, jedenfalls hat er die vier Schweine berührt. Dann hast du ihn aufgehoben und den Zauberkiesel zwölf Glockenschläge lang behalten. Und damit nahm alles seinen Lauf.“
Der Dichter griff, immer noch etwas unsicher, in seine Hosentasche und ertastete den kleinen Stein: „Ja, und nun?“
„Ja, und nun, ja, und nun … stell dich nicht so an! Du bist ein Schreiberling und wirst mit den alten und neuen Geschichten wohl etwas anfangen können.“
„Du hast Recht. Ich sollte die Gelegenheit wohl am Schopfe packen und schreiben. Hast du auch einen Namen?“
„Ja.“
„Und?“
„Aber du darfst nicht lachen!“
„Gut.“
„Flachdach.“
„Einfach nur Flachdach?“
„Ja.“
Der junge Dichter verkniff sich ein Lachen und setzte sich vor sein weißes Blatt.
„Wie fange ich nun am besten an?“
„Ist doch einfach“, antwortete Flachdach, „Kriminalgeschichten bekommst du bei der Polizei, Krankengeschichten im Krankenhaus, Abenteuergeschichten am Alten Hafen, Geschichten über Machenschaften und Intrigen der Macht bekommst du wo, na?“
„Im Rathaus?“ |
„Ja, richtig im Rathaus. Onkel Schabbell – also das Schabbellhaus oder besser gesagt: das heutige Museum an der Schweinsbrücke – der kann dir vieles aus der Geschichte der alten Hansestadt erzählen. Die Marienkirche, die Nikolaikirche, die Georgenkirche, Heiligen Geist mit dem alten Spital oder das Schwarze Kloster können ...“
„Halt, halt, halt! Das scheint ja eine endlose Aufzählung zu werden. Ich hab da mal eine andere Frage.“
„Nur zu.“
„Wer hat eigentlich zuletzt den Zauberkiesel besessen?“
„Ohhh, das ist noch gar nicht so lange her. Es war die kleine Daye, das Mädchen auf dem Teerdach.“
„Wieso hat sie denn den Zauberkiesel wieder abgegeben und was hat das eigentlich zu bedeuten: ‚auf dem Teerdach‘?
Warum hat sie …?“
„Langsam, langsam, Schreiberling, immerhin bin ich ein Flachdach und kann so viele Fragen auf einmal gar nicht in meinem Oberstübchen unterbringen.“
„Kannst du mir mehr über diese Daye berichten?“
„Aber ja, wir waren Freunde. Wir haben zusammen gelacht und geweint, geträumt,
Geheimnisse ausgetauscht und sie hat auf meinem Kopf getanzt.“
„Erzähle mir die Geschichte doch von Anfang an.“
Flachdach machte eine Pause, als müsse es nachdenken. Dann räusperte es sich und fing an. Der Dichter setzte sich bequemer auf seinen Stuhl, um in Ruhe der Geschichte zu lauschen.
„Also, gegenüber von der dicken Wirtin, wo sich einst in der untersten Etage eine Schankwirtschaft befand, zog eines Tages eine neue Familie in den zweiten Stock. Eigentlich nichts Besonderes für so eine Stadt: Eine Wohnung wird zu klein, die andere zu groß, dann ist eine wieder zu hell, zu dunkel oder zu teuer. Nun, es gibt viele Gründe auszuziehen oder einzuziehen. Jedenfalls lebte von nun an ein kleines Mädchen in dieser Wohnung. Es war etwa neun oder zehn Jahre alt und sie sollte uns mehr beschäftigen als je ein Menschlein vor ihr. Ihre Pflegeeltern waren nicht böse zu ihr, nein, ich glaube, es war viel, viel schlimmer. Sie wurde ganz einfach übersehen, verstehst du? Einfach nicht wahrgenommen, als wenn sie aus Luft wäre. Gut, sie bekam ihr Essen – aber niemals ein Dankeschön oder einen Gutenachtkuss.“
„Das ist ja richtig traurig“, stammelte der Dichter.
Flachdach stöhnte: „Ja, das ist es wohl.“
„Diese Leute zogen also an einem warmen Spätsommertag ein und das kleine Mädchen bekam das Zimmer auf der rechten Seite. Von ihrem Fenster aus konnte sie den ganzen Hinterhof mit den vielen kleinen Dächern und Gärten überblicken. Nachts, wenn alles schlief, hörten wir sie oft weinen oder sie träumte laut und rief das Wort ‚Daye‘.
Von dieser Zeit an hieß sie für uns alle Daye. Wir fragten das alte Zeughaus nach der Bedeutung des Wortes. Du musst wissen, das Zeughaus ist sehr schlau, denn es hat in seinem Bauch eine ganze Bibliothek. Und stell dir vor, das Wort Daye heißt Mutter.“
„Also kam sie aus einem anderen Land“, sagte der Dichter.
„Ja, aber die genauen Umstände ihrer Flucht und die Trennung von ihrer Mutter haben wir leider nicht in Erfahrung bringen können.“
Der junge Dichter stand auf und ging zum Fenster. Die ersten Sonnenstrahlen trieben die Nacht aus der Stadt. Über den Hinterhof konnte man schon die vielen kleinen schwarzen Teerdächer erkennen und das Fenster auf der rechten Seite, wo einst das Mädchen Daye wohnte.
„He, Flachdach, bist du eingeschlafen? Erzähl doch bitte weiter.“
„Ja, ja, aber setz dich wieder hin, du raubst mir die Ruhe.“
Und wieder räusperte sich Flachdach und der Dichter setzte sich bequem auf den Stuhl.
„Also, irgendwie hatten wir die Kleine alle ins Herz geschlossen. Aber eines Tages wäre es uns vor Schreck beinahe stehen geblieben. Eine Krähe, die sich am Flügel verletzt hatte, landete auf einem der vielen Schuppen. Daye saß wie immer auf ihrem Fensterbrett und summte ein Lied.
Als sie den kranken Vogel sah, sprang sie aus ihrem Fenster auf das angrenzende Dach. Dann rannte und sprang sie, einer Katze gleich, über die Teerdächer. Uns allen stockte der Atem und wir riefen: ‚Vorsicht, du brichst durch die morschen Stellen der Dächer!‘ Aber sie konnte uns ja nicht hören. Sie hätte doch die Feuerwehr holen oder einem Erwachsenen Bescheid geben können. Oh, welch ein Leichtsinn! Wäre sie nun heruntergefallen, hätte sie der Gevatter aufgefangen und nicht wieder losgelassen.“
„Wer ist dieser Gevatter denn?“
Flachdach flüsterte: „Das ist der Tod.“
Eine Weile war es ganz still im Zimmer. Dann fragte der junge Dichter: „Was habt ihr unternommen?“
„Erst einmal nichts.“
„Warum?“