Meddi Gordon: Der Zorn der Medusa - Julia Cam - E-Book

Meddi Gordon: Der Zorn der Medusa E-Book

Julia Cam

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Beschreibung

„Wir sind umgeben von Geschichten. Neuen Geschichten und alten. Mythen und Märchen. Du weißt sicher, dass in allen alten Legenden immer wenigstens ein Fünkchen Wahrheit steckt. Was du vielleicht nicht weißt, ist, dass diese Legenden nur die Anfänge sind von Geschichten, die bis heute andauern und noch bis weit in die Zukunft andauern werden. Die Helden dieser alten Geschichten sind die Vorfahren von Chimären, Mischwesen, wenn du sie so nennen willst. Wesen, wie du und ich.“ Meddi Gordons Leben ist fast wie im Märchen - jedoch nicht das glückliche Ende mit einem edlen Prinzen und rauschenden Festen, sondern der düstere Anfang: als Waisenkind in der Obhut einer bösen Stiefmutter. Als diese sie in ein Internat auf einer alten Burg abschiebt, wird Meddi in eine Welt voller Geheimnisse und uralter Legenden geworfen. Dort entdeckt sie, dass die Grenzen zwischen Heldin und Ungeheuer in ihrem Leben nicht so klar sind, wie im Märchen. Und muss sich bald fragen, auf welche Seite sie gehört.

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EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Ähnliche


Inhaltsverzeichnis

IMPRESSUM

Prolog

Zorn

Gramstein

Ein neuer Tag

Chimären

Aschberg

Das Lied der Sirenen

Heimweh

Wiedersehen

Alte Kräfte

Neue Fähigkeiten

Lammfromm

Ausbruch

Ein Freund in Not

Der Schrei der Medusa

Heimkehr

Nachspiel

Eine gerechte Strafe

Epilog

Meddi Gordon

der Zorn der Medusa

Julia Çam

IMPRESSUM

Copyright © 2024 - Julia Çam

c/o offenbar

Domstrasse 57

63067 Offenbach

www.julia-cam.com

Alle Rechte vorbehalten.

Lektorat: Meike Burgeleit & Lisa Bogen

Korrektorat: Sophie Weigand

Cover & Satz: Tania Sivertsen

Hardcover ISBN 978-3-911610-02-5

Taschenbuch ISBN 978-3-911610-01-8

E-Book ISBN 978-3-911610-03-2

#

Für Line.

Prolog

Es dämmerte über Burg Gramstein, als Enya die steinerne Wendeltreppe zum Rektorat hinaufstieg. Im Vorzimmer saßen tagsüber oft Schüler und warteten darauf, von der Rektorin ­aufgerufen zu werden. Doch jetzt war es komplett leer und die Tür zum Büro stand einen Spaltbreit offen. Zaghaft klopfte Enya an. Sie war schon lange keine Schülerin mehr auf Gramstein, sondern mittlerweile selbst Lehrerin. Trotzdem machte sie der ­Besuch in diesem Turmzimmer noch immer nervös.

„Komm, komm, komm“, klang es von drinnen.

Enya atmete tief durch und drückte die Tür gerade so weit auf, dass sie sich hindurchzwängen konnte.

Gesa Grimm saß hinter ihrem schweren Schreibtisch über eine Akte gebeugt. Ohne aufzublicken, deutete sie in Richtung der Stühle vor ihrem Schreibtisch.

Am liebsten wäre Enya stehen geblieben. Schon als Schülerin hatte sie nicht gern hier gesessen, denn die Stühle waren überaus unbequem. Die Sitzfläche hart, die Armlehnen so hoch und weit auseinanderliegend, dass man nur die Ellenbogen darauf ablegen konnte. Dabei kam man sich dann jedoch vor wie ein Flugzeug, weil die Arme senkrecht vom Körper abstanden. Außerdem waren die Stuhlbeine so kurz, dass man zu der Person hinter dem Schreibtisch unweigerlich hinaufblicken musste.

Trotzdem nahm Enya Platz und ließ den Blick durch den Raum schweifen. Sie versuchte sich zu erinnern, aus welchem Grund sie als Schülerin zum letzten Mal hier gesessen hatte. Sie wusste es nicht mehr. Doch die Regale, die jeden Quadratzentimeter Wand bedeckten, waren wie damals so vollgestopft, dass es schien, als würden sie sich unter dem Gewicht der Bücher auf den Besucher hinabbeugen.

Als junges Mädchen hatte Enya sich gefragt, ob der damalige Rektor, Gesas Vater Dr. Grimm, all diese Bücher gelesen hatte. Die meisten Bände waren dick und in Leder gebunden. Einige sichtbar geflickt. In einem Regal lagen Schriftrollen und Pergamente, die schon unter ihrem Blick zu zerfallen drohten. Hier waren Geschichten aus aller Welt versammelt. Märchen und Mythen, Legenden und Sagen. In der Schule hieß es, das erste Buch in diesen Regalen seien die Hausmärchen der wohl berühmtesten Mitglieder der Familie Grimm gewesen. Seitdem hatte jeder Grimm, der hinter diesem Schreibtisch gesessen hatte, der Bibliothek seine eigenen Bücher hinzugefügt. Der neueste Band stammte aus Gesa Grimms eigener Feder: Die moderne Chimäre – Mischwesen im Wandel der Zeit. Enya hatte es als Schülerin im Unterricht lesen müssen und nicht besonders genossen.

Endlich blickte Gesa auf. Sie klappte die Akte vor sich zu, ließ ihre Hand jedoch darauf liegen. Mit der anderen nahm sie ihre Brille ab und legte sie auf den Schreibtisch.

Enya rang sich ein Lächeln ab. Sie wusste nicht, warum Gesa sie herbestellt hatte. „Du wolltest mich sprechen?“

Gesa nickte und legte nun auch die zweite Hand auf die Akte. „Es geht um diese Bewerbung.“ Sie trommelte mit den Fingern auf den Aktendeckel.

Enya musste sich leicht vom Sitz erheben, um auf die Akte zu blicken und den Namen darauf zu entziffern.

„Kann ich das als erledigt betrachten?“

Enya schluckte. Sie wusste, dass diese Akte bereits seit zwei Jahren auf Gesas Schreibtisch lag. Das Mädchen, um das es in den Unterlagen ging, war bis heute keine Schülerin auf Burg Gramstein geworden. Trotzdem konnte Enya die Hoffnung noch nicht aufgeben, es eines Tages noch unterrichten zu dürfen – so, wie der Vater des Mädchens es vorgesehen hatte. Langsam schüttelte sie den Kopf. „Ich würde damit gerne noch warten.“

Gesa sah Enya einen Moment schweigend an. Dann tippte sie mit einem Finger auf die Akte. „Sie ist inzwischen fünfzehn, richtig?“

Enya nickte.

„Sie hätte bereits vor fünf Jahren auf die Drachenveste gehen müssen“, sagte die Schulleiterin und wandte sich dem Fenster zu. Enya folgte ihrem Blick und sah weit in der Ferne die Drachenveste. Ein weiteres Internat, das aber nur Schüler der Unterstufe besuchten. Mit dreizehn Jahren kamen die Schüler hierher nach Gramstein.

„Es ist zu spät“, fuhr Gesa fort. „Bei ihrer Abstammung und ihren Fähigkeiten wäre es jetzt viel zu gefährlich, sie noch ­aufzunehmen.“ Gesa nahm die Akte auf und ließ sie in den Papierkorb fallen.

Beinahe wäre Enya aufgesprungen, um die Akte aufzufangen, ­bevor sie den Abfalleimer erreichte. Als hätte es eine besondere Bedeutung, sie zu retten. Und das hatte es tatsächlich. Enya hatte in eben diesem Büro gesessen und dem Vater des Mädchens ­zugesagt, dass seine Tochter hier die beste Ausbildung bekommen würde.

„Sie wird zu uns kommen. Sie muss. Gerade wegen ihrer Abstammung.“ Enya suchte verzweifelt nach einem Argument, das Gesa davon abhalten könnte, das Mädchen abzuschreiben. „Gerade wegen ihrer Fähigkeiten. Pandora wird auf sie aufmerksam werden, wenn wir sie nicht unterrichten. Und was dann? Besser, sie ist bei uns als schutzlos da draußen.“

Gesa zögerte. Pandora zu erwähnen, war riskant und konnte genauso gut nach hinten losgehen. Doch es war die schwerste Keule, die Enya zur Hand hatte.

Langsam nickte Gesa … doch dann wurde aus dem Nicken ein Kopfschütteln. „Gerade wegen Pandora ist es besser, sie bleibt Gramstein fern. Nicht auszudenken, was passiert, wenn sie hier die Kontrolle über sich verliert und Pandora nicht nur auf sie, sondern auch auf uns aufmerksam wird.“

Ihr Vorstoß war nach hinten losgegangen, doch aufgeben wollte Enya noch nicht. „Wir haben Teris versprochen, dass seine ­Tochter hier die beste Ausbildung bekommen wird, die es für ein Mädchen wie sie gibt. Das sind wir ihm schuldig.“

Gesa funkelte sie an und warf einen kurzen Blick in den ­Papierkorb.

„Lass uns noch bis zum Ende des Jahres warten“, setzte Enya nach. „Wenn sie bis dahin nicht eingeschrieben ist, werde ich es nicht mehr erwähnen.“

Erneut zögerte Gesa. Dann nickte sie. „Aber nur bis zum Ende des Schuljahres.“

Damit musste Enya sich zufriedengeben. Schnell stand sie auf und fischte die Akte aus dem Papierkorb. Sie strich den Deckel glatt, dessen obere Ecke nun einen Knick aufwies, und legte die Akte zurück auf den Schreibtisch.

Mit einem Nicken verabschiedete sie sich von Gesa und warf einen letzten Blick auf den Namen, der auf dem Aktendeckel prangte: Meddi Gordon.

Zorn

Meddi kam sich manchmal vor wie im Märchen. Nicht, weil ihr Leben sorgenfrei war und aus prunkvollen Festen mit edlen ­Prinzen bestand. Nein, Meddis Leben war eher wie der Beginn eines finsteren Märchens: Ihre Mutter hatte sie nie kennengelernt, ihr Vater war gestorben und hatte Meddi bei ihrer bösen Stiefmutter zurückgelassen.

„Vergiss es besser nicht“, schrie genau diese Stiefmutter ihr gerade hinterher, als Meddi aus dem Haus stürzte und in Richtung Bushaltestelle rannte.

Normalerweise machte es Meddi nichts aus, den Bus zu verpassen. Doch heute würde sie damit auch den Ausflug ins Naturkundemuseum verpassen, auf den sie sich schon so lange freute. Außerdem konnte sie Leon nicht allein lassen. Er würde den Ausflug ohne sie nie überstehen.

Atemlos und gerade noch rechtzeitig erreichte Meddi die ­Haltestelle. Die wartenden Kinder strömten bereits in den Bus. Meddi hasste das Gedrängel und Gequetsche. Sie wartete lieber auf dem Bürgersteig, bis es im Türbereich etwas leerer wurde.

„Steigst du auch noch ein?“, wollte der Fahrer wissen.

Meddi deutete auf die Kinder vor sich. „Ich warte darauf, dass es Platz gibt.“

„Na, da kannst du lange warten.“

Der Busfahrer drückte einen Knopf und die Tür begann, sich vor Meddi zu schließen. Erschrocken machte sie einen Satz nach ­vorne und wurde in der sich schließenden Tür eingequetscht. Mit einem Ruck bekam sie ihre Schultern frei. Doch noch immer steckte ihr Rucksack fest.

„Könnten Sie mal bitte …“, begann Meddi und deutete auf ihren Rucksack.

Doch der Busfahrer beachtete sie gar nicht. In aller Seelenruhe fuhr er an und lenkte den Bus in den morgendlichen Verkehr.

Nur mit aller Gewalt bekam Meddi ihren Rucksack frei und prallte gegen die Fahrerkabine, als er sich endlich löste.

„Jetzt reicht’s aber“, nölte der Fahrer und klopfte von innen gegen die Scheibe seines Kabuffs.

„Allerdings“, zischte Meddi und funkelte ihn an.

Der Busfahrer schaute ihr ins Gesicht, einen Moment wie erstarrt. Dann griff er sich ans Herz und verriss dabei das Steuer. Der Bus rollte auf den Bürgersteig. Die stehenden Fahrgäste wurden durchgeschüttelt. Ein Mädchen schrie auf, als der Bus auf eine Passantin zurollte. Die Frau brachte sich mit einem Sprung in Sicherheit und fluchte dem Bus hinterher. Da endlich fing sich der Fahrer und brachte sein Gefährt unter Kontrolle.

„Alles gut“, japste er. Dann drehte er sich zu Meddi um und ­starrte sie an. „Setz dich hin. Oder ich schmeiße dich raus.“

Meddi zog eine Grimasse und dachte noch darüber nach, was sie erwidern könnte, als jemand ihren Namen rief. Sie schüttelte den Kopf über die Unfähigkeit des Fahrers und arbeitete sich durch die stehende Schülerschar vor. Obwohl der Bus zum Bersten gefüllt war, saß ein Junge allein da. Er war rundlich und blass, ­seine Brille beschlagen und mal wieder hatte er ein Buch auf den ­Knien. Ihr bester Freund Leon.

Meddi ließ sich neben ihm auf den Sitz fallen und er lehnte sich in Richtung Fenster, um Meddis schwarzer Mähne auszuweichen. „Danke, dass du mir einen Platz freigehalten hast“, sagte sie. Obwohl sie wusste, dass das nicht nötig war. Niemand wollte im Bus neben Leon sitzen. Oder im Unterricht. Niemand wählte Leon im Sport in seine Mannschaft und niemand lud Leon zum Geburtstag ein. Niemand außer Meddi.

Obwohl die beiden unterschiedlicher nicht sein konnten, hatten sie bei ihrer ersten Begegnung beschlossen, Freunde zu sein, und waren es geblieben.

Ein Reisebus wartete bereits, als Meddi und Leon vor der Schule ankamen. Ihre Klassenkameraden hatten sich schon dort versammelt. Herr Gierke, ihr Klassenlehrer, stand mit einem Klemmbrett mittendrin und hakte seine Anwesenheitsliste ab. Zwischen zwei Häkchen pulte er sich mit seinem Kuli im Ohr.

„Gordon und Kuhlke sind da“, sagte Meddi zu Herrn Gierke.

Der Lehrer sah kurz auf. „Gordon“, er machte einen Haken, steckte seinen Kuli ins Ohr, „und Kuhlke. Alles klar. Dann könnt ihr einsteigen.“

Wie schon an der Bushaltestelle hatte sich auch hier ein Pulk vor dem Bus gebildet und alle Schüler drängelten nach vorne, um möglichst schnell zu ihren Sitzplätzen zu gelangen.

Frau Sass, die Klassenlehrerin der Parallelklasse, kam an ihnen vorbei.

„Bildet doch mal eine Reihe, Kinder“, rief sie, „stellt euch ordentlich an. Wir lassen niemanden zurück.“

Ihre letzten Worte wurden von einem Grollen übertönt. Meddi musst sich nicht umdrehen, um zu wissen, dass das Oskar, Benno und Tim waren, die auf ihren Skateboards heranrollten.

Leon seufzte. „Ich hab gehofft, die würden heute schwänzen.“

„Wir sind da“, rief Oskar Herrn Gierke zu und kam erst kurz vor Meddi und Leon zum Stehen, indem er auf die Schnauze des Boards trat, sodass es hinten nach oben schnellte und er es mit einer Hand auffangen konnte.

„Guten Morgen, Loser“, sagte Oskar und seine Freunde lachten.

„Oskar!“, rief ihm Herr Gierke hinterher. „Die Boards müssen in den Stauraum unter dem Bus.“

Oskar ignorierte es. Es fiel ihm leicht, so zu tun, als hörte er schlecht, denn er hörte tatsächlich schlecht. Die neonorangenen Hörgeräte, die ihm hinter den Ohren klemmten, waren Beweis dafür.

Im Laufschritt kam Herr Gierke heran und tippte Oskar auf die Schulter.

„Oh, guten Morgen, Herr Gierke“, sagte Oskar und grinste breit.

„Dein Skateboard kommt unten in den Bus“, sagte der Lehrer und deutete erst auf das Board und dann auf den geöffneten Stauraum unter dem Bus, gerade so, als wäre Oskar nicht nur schwer hörgeschädigt, sondern auch schwer von Begriff.

„Okay“, sagte Oskar langsam und damit gab Herr Gierke sich zufrieden. Er kehrte zu seinem alten Platz zurück und setzte seine Abhaken-Ohr-pulen-Routine fort. Doch anstatt sein Skateboard im Gepäckfach des Busses zu verstauen, steckte Oskar es in die Riemen seines Rucksacks.

Meddi verdrehte die Augen. Je länger sie in Oskars Nähe bleiben musste, umso höher war die Gefahr, dass es zwischen ihnen mal wieder zu einem Streit kam. Doch leider ging es am Buseingang nun gar nicht mehr voran. Meddi konnte sehen, wie einige Mädchen aus der Parallelklasse im Bus standen und offensichtlich diskutierten, ob sie lieber auf der linken oder der rechten Seite des Busses sitzen sollten. Jedenfalls blockierten sie den gesamten Gang. Meddi trat von einem Bein auf das andere. Geduld war nicht ihre Stärke. Sie wandte sich Leon zu, der sein Buch aufgeschlagen hatte und darin las.

„Was liest du eigentlich?“, wollte Meddi wissen. Sie bückte sich, um von unten auf den Buchdeckel zu schauen. Es war ein Sammelband: „Sagen aus aller Welt“. Meddi lächelte. Das Buch ­hatte sie ihm vor einigen Jahren zum Geburtstag geschenkt und sie wusste, dass er es schon mehrfach gelesen hatte.

„Ja, Fettso, was liest du denn?“, mischte Oskar sich ein.

Meddi biss die Zähne zusammen, um nicht auszurasten.

„Das ist nicht dein Gespräch“, zischte sie Oskar entgegen.

Der blickte ernst zurück. „Ey, Meds, was ich dich schon lange mal fragen wollte … Wie kommt es eigentlich, dass ihr beiden, also jemand wie er und jemand wie du … jemand, der fett und picklig und blass und ungepflegt ist, und jemand der …“

Meddi tat, als hätte sie nur die Hälfte gehört. „Musst du eigentlich immer über dich selbst sprechen?“

Benni und Tim lachten und fingen sich dafür einen bösen Blick von Oskar ein. Auch Leon konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen, wagte jedoch nicht, von seinem Buch aufzusehen.

„Ich mein’s ernst, Meddi“, fuhr Oskar fort. „Ihr beiden? Wie geht das denn zusammen?“

„Such dir einfach jemand anderen, dem du auf den Geist gehen kannst“, sagte Meddi und wandte sich von Oskar ab.

„Ich glaube, wir beide würden echt gut zusammenpassen. Wirklich. Du bist schon in Ordnung. Nur einen schlechten Geschmack hast du halt.“

Meddi wollte Oskar nicht zuhören. Sie wusste, es würde sie nur wütend machen. Und wenn sie wütend wurde, geriet sie für gewöhnlich in Schwierigkeiten.

„Wir könnten echt gute Freunde werden, du und ich. Wenn du nur dieses Etwas da endlich loswirst.“

Davon würde Meddi sich nicht provozieren lassen.

„Dieses …“ Oskar überlegte. „Dieses Opfer.“

Davon allerdings schon. Sie hatte die Rede, mit der sie Oskar zusammenfalten würde, bereits auf den Lippen. Doch bevor sie sich zu Oskar umdrehen konnte, hatte Leon ihren Arm gepackt. Sie sah ihn an und er schüttelte den Kopf.

„Du kriegst nur wieder Ärger“, warnte Leon.

„Ist mir egal“, presste Meddi hervor und das war es wirklich. Sie hatte sich so auf den Ausflug gefreut und Leon noch viel mehr. Er liebte das Naturkundemuseum und Meddi würde nicht zulassen, dass Oskar ihnen beiden den Tag versaute. Außerdem war sie es leid, ihren besten – ihren einzigen – Freund verletzt zu sehen.

„Du lässt uns jetzt in Ruhe“, pampte sie Oskar an.

Der griff sich an die Ohren und tat, als würde er seine Hörgeräte einstellen. „Habt ihr das auch gehört?“, fragte er an seine Freunde gewandt. „Da hat doch gerade was gezischt.“

Er blickte suchend auf den Boden. „Gibt’s bei uns seit Neuestem Schlangen?“

Seine Freunde prusteten los.

„Du hast mich sehr wohl verstanden“, rief Meddi und packte ­Oskar am Arm, um ihn zu sich umzudrehen, damit er sie wenigstens ansah.

Doch Oskar machte sich mit einer Drehung von ihr los und erwischte dabei Leon mit seinem Skateboard am Ellenbogen. Leon heulte vor Schmerzen auf und ließ sein Buch fallen. Für einen Moment herrschte Stille. Dann brach das Gelächter los. Und diesmal waren es nicht nur Oskar und seine Freunde, die über Leon lachten, sondern alle umstehenden Schüler.

„Gleich fängt er an zu heulen“, rief Tim über das Gelächter ­hinweg.

Meddi bückte sich und hob das Buch auf. „Halt’s Maul“, brüllte sie ihn an.

Da stand auch schon Herr Gierke vor ihr.

„Was soll das denn?“, wollte er wissen. „Meddi, so spricht man nicht mit seinen Mitschülern.“

Meddi verschlug es die Sprache.

„Genau, Meddi“, pflichtete Oskar dem Lehrer bei und klopfte Tim auf die Schulter. „So spricht man nicht mit seinen ­Mitschülern.“

„Außerdem sollst du nicht so schreien“, fügte Herr Gierke hinzu. „Du weißt, dass Oskars Hörgeräte empfindlich sind. Stellt euch einfach weiter nach hinten, wenn Oskar euch stört.“

Meddi lachte auf. „Er stört uns nicht, er hat Leon mit seinem Scheißskateboard am Arm erwischt.“

Herr Gierke wandte sich an Oskar. „Leg das Brett bitte in den Stauraum.“

Wieder prusteten Oskar und seine Freunde los. „Das Brett?“

„Du weißt genau, was ich meine.“ Auf Herrn Gierkes Stirn ­bildeten sich Schweißperlen. „Gib das Ding her.“

„Das wird geklaut“, warf Oskar ein.

„Sei nicht albern.“ Herr Gierke griff nach dem Skateboard. Doch Oskar drehte sich weg, um es außer Reichweite zu bringen, und traf Leon damit mitten im Gesicht. Es knackte hörbar, dann spritzte Blut. Sofort war Meddi bei Leon, hielt ihm die Nase zu und drückte seinen Kopf nach hinten. Die Wut, die Oskar in Meddi entfacht hatte, loderte. Sie spürte, wie es in ihrem Nacken kribbelte und dieses Kribbeln langsam an ihrem Hinterkopf ­emporkroch.

Die Schüler sprangen auseinander. Einige kreischten, andere lachten. Herr Gierke stieß einen Fluch aus und schob Meddi beiseite. „Warum könnt ihr euch nicht einfach von Oskar fernhalten?“

Heißer Zorn explodierte in Meddi. Oskar baute Mist und sie ­bekamen den Ärger – natürlich. Doch äußerlich war sie ruhig. Sie starrte ihren Lehrer an und als sich ihre Blicke trafen, wich er vor ihr zurück, sein ganzer Körper versteifte sich, und wie ein gefällter Baum fiel er einfach um.

Dann herrschte Stille.

Das Sekretariat der Schule war grau. Und alles darin auch. Die Aktenschränke und Gardinen, die Schreibtische der beiden Sekretärinnen und selbst deren Haare waren grau. Doch gerade jetzt, da Meddi hier wartete, leuchtete das Grau gelegentlich blau auf. Grau, blau. Grau, blau. Meddi kniete rittlings auf einem der drei Stühle, die als Wartebereich dienten, und blickte aus dem Fenster. Grau, blau. Grau, blau.

Dort, wo gerade noch der Reisebus und ihre Klassenkameraden gestanden hatten, stand nun ein Krankenwagen mit flackerndem Blaulicht. Herr Gierke saß auf einer Bahre, ließ sich von einem Sanitäter in die Augen leuchten und redete auf den Direktor der Schule, Herrn Römisch, ein.

Herr Römisch war ein hagerer Mann, dessen unglaubliche Körpergröße selbst aus dem ersten Stock zu erkennen war. Immer wieder sah Herr Römisch von Herrn Gierke zu Meddi hinauf und dann weiter zu Leon. Der saß auf einem der Blumenkübel am Straßenrand, hielt sich noch immer die Nase zu und drückte sich ein blaues Kühlpack in den Nacken. Blau, grau.

Meddi fragte sich, warum der Fahrer des Krankenwagens das Blaulicht nicht ausgeschaltet hatte.

Ein SUV hielt in zweiter Reihe vor der Schule und Leons ­Mutter sprang heraus. In ihrem Gesicht las Meddi Sorge. Sie drückte Leon an sich, ohne sich daran zu stören, dass ihre Bluse Blut abbekam. Sie fragte nicht, was geschehen war. Sie drückte ihn einfach nur an sich und schien froh, bei ihm zu sein. Und Meddi wünschte sich, an seiner Stelle zu sein. Nur für diesen einen Moment.

Der Sanitäter schob Herrn Römisch beiseite und die Bahre mitsamt Herrn Gierke darauf in den Krankenwagen hinein. Kaum hatten sich die Türen hinter ihm geschlossen, fuhr der Krankenwagen ab und ein zerbeulter Kleinwagen parkte an seiner Stelle.

Meddi seufzte. Natürlich hatte Herr Römisch Jana verständigt. Was auch sonst?

Jana sprang ebenso schnell aus dem Auto wie Frau Kuhlke. Doch sie rannte nicht zu Meddi, um sie erleichtert in die Arme zu schließen. Nein, sie blieb bei Leon und seiner Mutter stehen.

Meddi sah, wie Jana Leon ein aufmunterndes Lächeln schenkte und Frau Kuhlke zart am Arm berührte. Ich fühle mit dir, ­sollte das bedeuten, das wusste Meddi. Aber gespürt hatte sie eine ­solche Berührung von Jana nie.

Es dauerte nicht lange, da führte Herr Römisch Jana ins Sekretariat. War Janas Blick auf dem Parkplatz noch weich und sorgenvoll gewesen, strotzte er nun vor Vorwürfen.

Meddi sprang auf. „Oskar hat angefangen, er …“ Weiter kam sie nicht.

Ohne sie anzusehen, deutete Herr Römisch auf die Tür zu seinem Büro. „Ich würde mit Ihnen gerne erst einmal ohne Ihre Tochter sprechen“, sagte Herr Römisch.

„Stieftochter“, verbesserte ihn Meddi und biss sich sogleich auf die Zunge. Doch anstatt ihr einen bösen Blick zuzuwerfen, lächelte Jana nur schwach und verschwand in Herrn Römischs Büro.

Meddi wartete. Sie sah, wie Leon ins Auto seiner Mutter stieg, wie er noch einmal zu ihr hinaufblickte, schwach die Hand zum Gruß hob und dann verschwand. Sie saß dort und erwartete, Jana und Herrn Römisch in hitziger Diskussion zu hören. Doch aus dem Büro des Direktors drang kein Wort.

Schließlich ging die Tür wieder auf. Jana schüttelte Herrn Römischs Hand, etwas zu lang für Meddis Geschmack.

„Auf Wiedersehen“, sagte Herr Römisch zu Jana und wandte sich dann an Meddi.

„Oskar hat Leon und mich …“, setzte sie gleich an.

Herr Römisch streckte seine Hand wie zum Gruß aus, was Meddi sofort zum Schweigen brachte. Er hatte ihr noch nie die Hand ­geschüttelt. Was sollte das alles? Sie wollte sich doch nur erklären. Einen Moment ließ er seine Hand zwischen ihnen ausgestreckt. Doch als Meddi nicht reagierte, hob er sie stattdessen zum Gruß. „Ich wünsche dir alles Gute.“

„Das wünsche ich mir auch, aber das ändert nichts daran …“

„Und Ihnen natürlich auch“, sagte Herr Römisch an Jana gewandt. Dann verschwand er in seinem Büro.

Meddi sah ihm verwirrt hinterher und als sie sich zu Jana umdrehte, um sie zu fragen, was das alles zu bedeuten hatte, war diese bereits im Gang verschwunden.

Als Meddi die Treppe herunterkam, sah sie, wie Jana in ihr Auto einstieg, aber keine Anstalten machte, loszufahren. Sollte sie doch warten, dachte Meddi. Wenn sie die Geschichte nicht einmal von ihrer Seite hören wollte, brauchte sie sich nicht zu wundern.

Es hatte gerade zur Pause geläutet und Schüler strömten ins Treppenhaus. Es wurde getuschelt und einige jüngere Schüler, deren Klassenräume einen guten Blick auf das Geschehen des Morgens geboten hatten, deuteten mit dem Finger auf Meddi.

„Hey, Gordon“, rief ein Junge, der mit Meddi in die Informatik-AG ging, „hab gehört, du prügelst jetzt Lehrer. Was war denn los?“

Einige Schüler lachten laut auf. Und Meddi hatte es auf einmal doch eilig, raus aus der Schule und zu Janas Auto zu kommen. Vielleicht war sie für ein paar Tage vom Unterricht suspendiert. Und vielleicht würde sich bis zum Ende der Suspendierung alles wieder beruhigen.

Als Meddi die Beifahrertür öffnete, fiel ihr Blick auf die Rückbank. Dort standen zwei Umzugskartons, dazwischen eine offene Reisetasche, aus der Klamotten quollen. Meddis Klamotten.

„Was soll denn das?“, wollte Meddi wissen.

„Steig bitte ein.“

Meddi dachte gar nicht daran, einzusteigen. Stattdessen klappte sie den Beifahrersitz nach vorne und öffnete einen der Kartons. Bettzeug lag darin. Ihr Bettzeug. Meddi wühlte es heraus und fand darunter ihre Bücher, ihren Wecker, ihre Turnschuhe. Alles achtlos zusammengeworfen.

„Was machst du mit meinen Sachen?“

„Steig bitte ein.“

Meddi schüttelte den Kopf. Sie musste sich zurückhalten, nicht die Kisten von der Rückbank zu zerren und auf dem Bürgersteig auszuleeren.

„Guck, da ist sie“, rief jemand durch ein offenes Fenster. „Meddi, kannst du dir auch mal Frau Hähnlein vornehmen?“

Weitere Stimmen reihten sich ein und Meddi sprang nun doch ins Auto.

„Es war wirklich nicht meine Schuld“, setzte Meddi an. Vielleicht würde Jana ihr erklären, was ihre Sachen auf dem Rücksitz machten, wenn sie sich nur zuerst erklärte.

Doch da klingelte Janas Handy. Sie zog es hervor und seufzte. Meddi erkannte den Namen auf dem Display. Maler Sommer, ­Janas Chef.

„Hallo, Herr Sommer, ich …“ Weiter kam Jana nicht, denn Herr Sommer schrie sofort so laut, dass Meddi jedes Wort verstehen konnte.

„Es ist mir egal, was für einen Notfall Sie schon wieder in der Familie haben!“

„Es ist nur heute“, sagte Jana so flehend, dass Meddi beinahe ­Mitleid bekam. „Ab morgen bin ich wieder im Büro und dann …“

„Das können Sie sich sparen“, brüllte ihr Chef. „Wir haben die Kündigung schon rausgeschickt. Für den Rest Ihrer Zeit hier stelle ich Sie frei. Das ist mein Abschiedsgeschenk an Sie und Ihr Balg.“

Damit legte er auf.

Jana atmete tief durch und ließ den Motor an. Jetzt fühlte Meddi sich doch schlecht.

„Es tut mir leid“, sagte sie leise, „aber es war nicht …“

„Deine Schuld?“, brüllte Jana. „Wieder nicht deine Schuld? Das ist mir klar! Es ist nie deine Schuld. Das weiß ich doch.“

Meddis Wangen wurden heiß. Nur weil sie die Einzige war, die immer an Leons Seite stand, die Einzige, die sich für ihn einsetzte, und damit auch die Einzige, die immer wieder Ärger bekam, war es doch nicht ihre Schuld.

„Ich wollte nur Leon helfen, weil …“

„Es ist mir egal, warum!“, schrie Jana. „Ich kann nicht mehr. ­Solange du deine Wut nicht unter Kontrolle kriegst …“

„Das hat überhaupt nichts mit meiner Wut zu tun“, verteidigte sich Meddi.

Jana schüttelte den Kopf und starrte auf die Straße. Sie hielt das Lenkrad so fest umgriffen, dass ihre Knöchel ganz weiß waren.

„Sei jetzt still“, sagte sie leise. „Ich will nichts mehr von dir hören.“

Die Kiefer aufeinandergepresst, blickte Meddi aus dem Seitenfenster. Häuser zogen an ihnen vorbei, Ladengeschäfte, Fußgänger. Dann begriff Meddi, dass sie nicht nach Hause fuhren, sondern raus aus der Stadt. Ein Kribbeln entstand in ihrem Nacken und eine Ahnung begleitete es. Ihre Sachen auf der Rückbank, der merkwürdig endgültige Abschied von Herrn Römisch. ­Meddi würde nicht nach Hause zurückkehren und auch nicht zurück in ihre Schule.

„Wo bringst du mich hin?“

Jana ignorierte sie und ihr Schweigen bestätigte Meddis Verdacht. Die Wut wich einem Gefühl der Ohnmacht. Bitter ­lachte sie auf. „Du schiebst mich ab“, sagte sie und verschränkte die Arme vor der Brust. Und da begriff sie noch etwas anderes. Zwischen Herrn Gierkes Sturz und Janas Ankunft in der Schule ­waren keine dreißig Minuten vergangen. Zehn Minuten brauchte Jana mindestens mit dem Auto von ihrer Wohnung zur Schule. Dann hatte sie sicher noch zehn gebraucht, um Meddis Sachen in die Kartons und die Tasche zu schmeißen. Wann also hatte sie eine neue Bleibe für Meddi organisiert? Das war unmöglich gerade eben erst geschehen. Nein, Jana musste schon lange einen Plan gehabt haben, um sie loszuwerden.

„Hast du auch schon eine neue Schule für mich gefunden? Hast ja offensichtlich nur auf einen guten Grund gewartet, um mich abzuschieben, ohne dein Gesicht zu verlieren.“

„Lass es.“ Janas Stimme klang eisig.

„Gib’s doch wenigstens zu!“

Jana drehte sich zu Meddi um und sah ihr in die vor Wut funkelnden Augen. Jana schnappte nach Luft und starrte Meddi entsetzt an. So lange, dass Meddi Angst bekam. Niemand sollte so lange den Blick von der Straße abwenden, wenn er fuhr. Als Jana sich endlich wieder nach vorne drehte, hatten sie bereits ihre Fahrspur verlassen. Ein Transporter wich ihnen hupend aus.

„Willst du mich jetzt auch noch umbringen?“, rief Meddi.

Jana löste sich aus ihrer Starre, riss das Lenkrad herum und brachte das Auto am Fahrbahnrand zum Stehen. Dann legte sie den Kopf auf das Lenkrad und atmete tief durch.

„Du hast recht, Meddi“, sagte Jana, ohne aufzusehen. „So, wie du jetzt bist, will ich dich nicht um mich haben.“

Die weitere Fahrt verlief schweigend. Sie verließen die Stadt und bald wusste Meddi nicht mehr, wo sie war. Obwohl sie schon lange dachte, dass ihre Stiefmutter sie hasste, hatten ihre Worte Meddi einen tiefen Stich versetzt. Nun hatte sie Gewissheit: ­Außer Leon gab es niemanden auf der Welt, der sie um sich ­haben wollte.

Selbst ihre eigene Mutter hatte sie nicht gewollt. Sie war kurz nach Meddis Geburt verschwunden. Einfach abgehauen. Nur ihr Vater hätte alles für Meddi getan. Er hatte sie geliebt und beschützt. Doch was nützte das nun, da er tot war und sie mit Jana, der bösen Stiefmutter, zurückgelassen hatte.

Ihr blieb nur Leon, der nun eine gebrochene Nase hatte und morgen wieder das Gespött der Schule sein würde. Nur würde ­Meddi dann nicht mehr da sein, um ihn zu beschützen. Wer konnte schon wissen, wie lange Jana Meddi abschieben würde? Vielleicht würde sie bis zur nächsten Woche bei einer Freundin geparkt werden. Oder in einem Camp für Schwererziehbare. Dann könnten Wochen vergehen, bis sie zurück in die Schule durfte. Wie sollte Leon es nur so lange ohne sie aushalten?

Meddi starrte aus dem Seitenfenster. Dahinter änderte sich die Landschaft. Sie fuhren aus der Vorstadt heraus, an Feldern und Wiesen vorbei. Dann wurde es bergig. In Serpentinen ging es hinauf und wieder herunter, im Schatten von riesigen Bäumen und dicht an steilen Abgründen entlang. Meddis Laune heiterte sich etwas auf, als sie einen Blick in ein Tal erhaschte, durch das ein paar Rehe hüpften. Doch die Frage, wo Jana sie wohl hinbrachte, verdüsterte ihre Stimmung wieder.

„Gleich sind wir da“, sagte Jana, wohl mehr zu sich selbst.

Im gleichen Moment prasselte Hagel auf sie hinab. Meddi ­versuchte, in den Himmel zu schauen. Gerade noch hatte die Sonne geschienen. Wie konnte so schnell ein Hagelschauer über sie kommen?

Je weiter sie fuhren, umso schlimmer wurde es. Meddi hatte einen so heftigen und plötzlichen Wetterumschwung noch nie erlebt. Vielleicht gab das Wetter ihr einen Vorgeschmack darauf, was sie nun erwartete. Da hielt das Auto an. Nun pfiff auch noch ein heftiger Wind und Meddi konnte kaum die Umgebung ausmachen, so dicht fiel der Hagel. Wenn das wirklich ein Omen sein sollte, dann musste Meddi sich auf etwas gefasst machen.

Und genauso plötzlich, wie das Unwetter eingesetzt hatte, war es wieder vorbei.

Meddi kurbelte das Fenster herunter und blickte in den Himmel. Strahlend blau war er. Keine Wolke mehr zu sehen.

Jana stieg aus und Meddi tat es ihr gleich. Es kam ihr vor, als würde sie mit dem Auto den letzten vertrauten Raum verlassen, den sie kannte. Nun stand sie in der Fremde und sah sich um.

In die Richtung, aus der sie gekommen waren, lag ein Wald, durch den sich eine Straße schlängelte. Dort ging es einen Berg hinauf, an dessen Fuß eine Bahnstrecke entlangführte. Meddi konnte in einiger Entfernung einen Bahnhof erkennen und dicht daneben einen kleinen Ort.

Als Meddi sich umdrehte, verschlug es ihr den Atem. Sie standen an einem See. Klares Wasser, das in der Ferne am Fuß eines Berges endete. Doch das, was Meddi so in Staunen versetzte, war eine Insel mitten auf dem See, die weit aus dem Wasser hinausragte. Ein Weg schlängelte sich vom Ufer der Insel bis hinauf zum höchsten Punkt, wo eine Burg thronte. Wie ein Märchenschloss sah sie aus. Leon hätte ihr sicher erzählen können, welche Sagen sich um diese Insel rankten.

Jana deutete zu der Burg hinauf. „Das ist das Internat Burg ­Gramstein“, sagte sie und zerrte Meddis Sachen vom Rücksitz des Autos.

Meddi schluckte. Ein Internat. Dorthin würde Jana sie also abschieben. Und zwar nicht nur für ein paar Tage oder Wochen. Nein, sie würde hier zur Schule gehen. Sie würde Leon nur noch in den Ferien sehen können, wenn überhaupt.

„Das kann nicht dein Ernst sein.“

Jana reagierte nicht.

„Du kannst mich nicht einfach hierlassen. Was ist mit Leon?“

Jana schulterte die Tasche, nahm die zwei aufeinandergestapelten Kartons und lief zu einem Anleger, an dem eine Fähre vertäut war.

Meddi stand nur da und schüttelte den Kopf. „Ich bleibe nicht hier.“

Jana stellte Kartons und Tasche bei dem Anleger ab und kam zurück, um die restlichen Sachen zu holen.

„Ich bleibe nicht hier!“, rief Meddi.

Nun blieb Jana stehen, seufzte und sah Meddi an. Ihr Blick war leer. Sie sah müde aus. Sehr müde.

„Und wo willst du dann hin?“, fragte sie. „Bei mir kannst du nicht bleiben. Ich schaffe das nicht mehr.“

Damit nahm sie Meddis restliche Habseligkeiten und ging zurück zum Anleger.

Ja, wo sollte Meddi hin? Zu Leon? Seine Mutter hasste Meddi. Sie dachte, es wäre Meddi, die Leon stets in Schwierigkeiten brachte. Sie würde es nicht erlauben, dass Meddi bei ihnen wohnte. Und sonst hatte Meddi niemanden.

Sie blickte zu der Burg hinauf und fragte sich, ob sie sich hier zu Hause fühlen könnte. Da hörte sie ein Cellospiel, ganz leise und sehr traurig. Es schien von überallher zu kommen. Als glitte die Melodie über das Wasser, prallte von den umliegenden Bergen ab und eilte zurück zum Ort seines Ursprungs. Irgendwie wusste Meddi, dass es von der Insel kam. Der Klang lockte sie, zog sie an. Und so nahm sie ihren Rucksack und folgte Jana zu der Fähre.

Gerade als Meddi den Anleger erreichte, trat ein Mann von der Fähre. Er war groß und hager, seine Haut war grau und er trug einen langen schwarzen Mantel, der für die frühlingshaften Temperaturen viel zu warm war.

Ohne ein Wort streckte er Jana seine Hand entgegen und sie reichte ihm Meddis Tasche und lud selbst die Kartons aufs Schiff.

Kaum war auch Meddi an Bord, legten sie ab. Langsam setzte sich die Fähre in Bewegung und steuerte die Insel an.

Je näher sie kamen, umso ruhiger wurde Meddi. Sie hörte auf das Cellospiel und ließ sich davon einlullen. Sie würde einen Weg finden, wieder zurück auf ihre alte Schule zu kommen. Zurück zu Leon.

Die Fähre beschrieb einen Bogen und fuhr seitlich an die Insel ­heran. Ein kleiner Hafen kam in ihr Blickfeld, von dem aus Schüler auf winzigen Segelbooten in See stachen. Daneben war zwischen drei Stegen ein Schwimmbereich abgegrenzt. ­Schwimmende ­Seile teilten ihn in Bahnen und Meddi konnte dort Schüler mit grellen Badekappen trainieren sehen. Dann entdeckte sie den Cellospieler. Hoch auf einem Felsvorsprung saß er. Zumindest glaubte Meddi im ersten Moment, dass es ein Junge war. Doch beim zweiten Hinsehen war sie nicht mehr sicher. Schmächtig sah er aus und blass. Dazu hatte er schwarzes, schulterlanges Haar, das in der Sonne grünlich schimmerte.

Wir werden Freunde werden, dachte Meddi, noch immer verzaubert von seinem Cellospiel.

Zur gleichen Zeit blickte Sibel aus dem Fenster eines Burgzimmers auf die kleinen Segelboote herunter und versuchte zu erkennen, ob jemand bei dem kurzen, aber heftigen Unwetter zu Schaden gekommen war. Sie stand in der Krankenstation bei Valentin Hausmann, dem Krankenpfleger des Internats, einem älteren Herrn mit grauem Bart und kaum noch Haaren auf dem Kopf.

Mit sanftem, aber bestimmtem Griff drehte er ihren Kopf zu sich herum, sodass sie ihn anschauen musste. „Ich muss die Wunde schon sehen, wenn ich sie versorgen soll“, sagte er und tupfte ­vorsichtig die Platzwunde über Sibels Augenbraue mit Desinfektionsmittel ab. „War das denn wirklich nötig?“, fragte er, als er die Wunde zuklebte.

„Du hast das Unwetter doch erlebt“, gab Sibel zurück, obwohl sie genau wusste, dass es nicht nötig gewesen war. Sich selbst zu ­zwicken, hätte vielleicht gereicht. Auf jeden Fall jedoch eine Ohrfeige. Doch sie hatte auch einen Grund gebraucht, um ­Valentin zu sehen. Obwohl sie noch immer nicht recht wusste, wie sie ihr Begehren bei ihm vorbringen sollte.

„So kann es nicht weitergehen“, sagte Valentin und rubbelte Sibel getrocknetes Blut von der Wange.

Sie schüttelte den Kopf. „Nein, so kann es nicht weitergehen.“

Valentin sah sie an und hob eine Augenbraue. „Das ist ja ganz was Neues, dass mir mal jemand recht gibt.“

„Es wird einfach nicht besser.“ Wieder blickte sie hinaus auf den See. Zum Glück war niemand gekentert. Doch einige der kleinen Boote hatte der Sturm weit abgetrieben. Sibel seufzte. Beim nächsten Mal würde es vielleicht nicht so glimpflich ausgehen.

„Sprich mit Enya. Du bist schon so weit gekommen.“ Valentin deutete auf Sibels ramponierte Stirn. „Sonst wird es irgendwann nicht bei einer Platzwunde bleiben.“

„Nein, dabei wird es nicht bleiben.“ Sibel deutete auf die kleinen Boote hinab. „Irgendwann wird wieder jemand ernsthaft verletzt werden.“

Der alte Heiler legte ihr die Hand auf die Schulter. Und sofort durchfuhr Sibel eine warme Zuversicht. „Ich will nicht, dass das noch einmal passiert“, sagte sie und wandte sich wieder dem Alten zu. „Darum brauche ich deine Hilfe. Du musst mir Lethe brauen.“

Valentin schrak zurück. „Was redest du nur für ein Zeug, Kind?“ Er wandte sich ab und verstaute geschäftig die Dinge, die er für ihre Behandlung gebraucht hatte, in den Regalen. „Lethe. Weißt du überhaupt, was für ein Höllenzeug das ist?“

Sibel hopste von der Liege und griff sich sofort an den Kopf, denn es pochte schwer darin. Natürlich wusste sie, was Lethe war. Es war ein mächtiger Trank, dessen Rezept nur eine Handvoll ­Menschen kannten. In der Drachenveste hatte man ihr angedroht, es ihr zu verabreichen, sollte sie ihre Aufnahmeprüfung für Gramstein nicht schaffen. Damals hatte sie solche Angst ­davor gehabt. Das Wort Lethe hatte wie eine dunkle Drohung monatelang über ihr geschwebt. Nun stieß ihr ein bitteres Lachen auf, als sie daran dachte. Damals hatte sie alles dafür getan, Lethe nicht nehmen zu müssen. Nun war sie bereit, darum zu betteln.

Vage deutete Sibel in Richtung Fenster, hinter dem sie in der Ferne die Drachenveste sah. Die Burg, auf der sie drei Jahre verbracht und vergeblich versucht hatte, sich und ihre Gefühle ­unter Kontrolle zu bringen.

---ENDE DER LESEPROBE---