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Xea wird in die Zeit nach der weltweiten Massenvernichtung, ausgelöst durch die untätige Politik, die nichts gegen den Klimawandel unternommen hat, hinein geboren. Seitdem findet jedes Jahr an Neujahr der Wechsel statt, wo alle aus der Mittelschicht stammenden Kinder ab neun Jahren den leiblichen Eltern weggenommen und jährlich an eine neue Pflegefamilie weitergereicht werden, bis zur Volljährigkeit. Xea kann sich im Gegensatz zu ihren Mitbürgern mit diesem System einfach nicht abfinden und stößt auf einen geheimen Bund, dem auch der gut aussehende Trajan angehört und der sich, auf Grund einer furchtbaren Entdeckung, zum Ziel gesetzt hat, den Wechsel zu stoppen. Als sich auch Xea dem Bund anschließt, gerät sie in ein wahres Gefühlschaos mit dem arroganten Trajan, der der Oberschicht angehört und sie abwechselnd mit Verachtung und Respekt behandelt, und mit Ronos, der ebenso wie Xea den Medius angehört und sie vergöttert. Als dann Xea einen waghalsigen Auftrag ausführen muss, verstrickt sie sich in Schwierigkeiten, die sie so niemals vorhersehen hätte können...
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Seitenzahl: 421
Veröffentlichungsjahr: 2020
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
„O nein! Nicht schon wieder ich! Kann das denn dieses Mal nicht jemand anderes übernehmen? Ich hatte gestern bereits einen kleinen Jungen und das liegt mir immer noch schwer im Magen!“
„Xea, ich weiß, dass es nicht gerade schön ist, vor allem, wenn es um Kinder geht. Aber momentan werden alle Schwestern in den OP`s benötigt. Weißt doch, dass wir vorher drei Notfälle rein bekommen haben. Vielleicht tröstet es dich ja ein wenig, dass es dieses Mal eine erwachsene Frau ist“, versuchte die Oberschwester sie zu besänftigen, während sie in ihren weißen Schwesternkittel griff und ihr tröstend eines ihrer Sahnebonbons hinhielt.
Auch wenn ihre Vorgesetzte nicht einmal im Entferntesten mit der bösen Hexe aus Hänsel und Gretel gleich zu setzen war, konnte sie nichts dagegen tun, dass ihr ausgerechnet dieser Vergleich in den Sinn kam. Es war, als wolle sie Oberschwester Hilda mit so Simplen wie einem Stück süßem Bonbon in das gefährliche Hexenhäuschen, in ihrem Falle die Station der Superior, locken.
Leider hatte sie da auf die Falsche gesetzt, denn da hätte die Oberschwester schon schwerere Geschütze auftragen müssen, wie zum Beispiel einen Märchenprinzen oder eine Wunderlampe. Ein Knüppel aus dem Sack wäre aber auch nicht schlecht gewesen.
Xea nahm das Bonbon zwar dankend an, weil sie Schwester Hilda, die immer so gütig und freundlich zu ihr war, nicht vor den Kopf stoßen wollte, doch sie würde es einem der armen Kinder geben, die schwer krank oder mit einem gebrochenen Arm auf Station lagen und es mehr gebrauchen konnten als sie selbst.
„Na toll! Als ob eine erwachsene Frau die Sache erleichtern würde!“, brummte Xea leise vor sich hin, während sie sich schweren Herzens auf den Weg in die Superiorstation machte. Sie wollte zwar nicht undankbar oder gar überheblich wirken, schließlich wollte sie nach ihrem Praktikumsjahr hier am St. Mary`s Hospital eine Lehre zur Krankenschwester anfangen, konnte aber trotzdem einen Seufzer der Missbilligung nicht unterdrücken. Und dann auch noch in die Station der Reichen und Mächtigen, wo man ihr jedes Mal wieder nur durch bloße Blicke zu verstehen gab, dass sie nicht hierhergehörte. Als ob sie das nicht auch so gewusst hätte! Als ob das nicht jeder Medius wissen würde! Dafür sorgte schließlich der Wechsel, der jedes Jahr am Neujahrstag stattfand.
Beim Gedanken an ihren bevorstehenden letzten Wechsel wurde Xea von gemischten Gefühlen überrumpelt. Einerseits freute sie sich wahnsinnig darauf, nicht mehr jedes Jahr an eine neue, völlig fremde Familie weitergereicht zu werden. Andererseits aber hatte sie auch Angst davor, sich ein eigenständiges Leben aufzubauen und sich für einen Beruf fürs Leben entscheiden zu müssen. Aber am meisten Angst hatte sie davor, sich einen Ehemann zu suchen, denn, würde es ihr nicht bis zu ihrem zwanzigsten Lebensjahr gelingen, sich zu verlieben, würde man ihr einfach einen Ehemann zuteilen. Ob sie nun wollte oder nicht!
Wie würde es sein, sich an einen Menschen ein Leben lang zu binden? Was, wenn sie sich nicht verstanden? Auch, wenn sich Xea kaum mehr an ihre Kindheit erinnern konnte, weil sie wie jedes Kind der Mediusschicht im Alter von neun Jahren an ihre erste neue Familie weitergereicht wurde, wusste sie eines noch mit Sicherheit. Dass sich ihre Eltern geliebt hatten. Genauso wie sie Xea geliebt hatten. Sie hätten es ihr nicht einmal jeden Tag aufs Neue sagen müssen, denn allein die Art, wie ihr ihre Mutter vor dem Zubettgehen noch eine Geschichte erzählt und ihr dabei zärtlich übers Haar gestrichen oder wie sie ihr Vater im Garten immer durch die Luft gewirbelt hatte, waren Beweis genug für ihre bedingungslose Liebe.
Immer noch schlecht gelaunt, schob Xea ihren Schwesternausweis durch den Scannerschlitz und sogleich öffnete sich mit einem leisen Summen die große Stahltür vor ihr, die in ein Nebengebäude Einlass gewährte.
Doch es war nicht nur ein Nebengebäude. Es war das Krankenhausabteil der Superior. Im Gegensatz zum Abteil der Medius, also der einfachen, mittellosen Leute, waren hier überwiegend drei Dinge vorhanden. Viel Licht, frische, klimatisierte Luft und ultrahochmoderne Elektrogeräte und Monitore. Natürlich war hier auch sonst alles viel, viel schöner und komfortabler eingerichtet. Darunter etliche teure Gemälde, die leicht mit jeder Kunstausstellung konkurrieren konnten. Und bei der Fülle der Pflanzen, die ebenfalls eine Bereicherung für die Patienten darstellte, wäre jedem Gärtner das Herz aufgegangen. Es gab kaum einen Gang oder Raum, wo nicht ein bequemes Sofa oder ein verlockend weicher Sessel stand. Anders als bei den Medi, wo man sich schon über einen freien hölzernen Stuhl freuen konnte. Trotzdem hätte sich nie einer darüber beschwert, denn die Medi wussten, wo ihr Platz war, genauso wie sie wussten, dass sie die kostenlose Behandlung im Krankenhaus einzig und allein dem System zu verdanken hatten.
Sie waren zufrieden mit dem, was sie hatten. So zumindest hatte es für Xea den Anschein. Jeder ging in seine ihm zugeteilte Arbeit oder widmete sich der Kindererziehung. Für Essen, Unterhaltung und Kleidung wurde vom System gesorgt, so dass jeder alles hatte, was man zum Leben brauchte. Zwar in einem sehr geringen und bescheidenen Maß, aber dennoch alles. Bis auf eine Familie natürlich.
Obwohl sich Xea bisher zwar noch keine ernsthaften Gedanken über eine eigene Familie gemacht hatte, wusste sie doch, dass sie die Tatsache, ihre eigenen Kinder mit neun Jahren verlieren zu müssen, nicht einfach so hinnehmen könnte. Nein, sie hätte es auch so gemacht wie ihre Eltern. An die Konsequenzen wollte sie aber jetzt lieber nicht denken. Jetzt hatte sie etwas ganz anderes zu bewältigen.
Mit schlurfenden Schritten ging sie den hell erleuchteten, langen Gang entlang. Hier im Krankenhaus würden die Lichter nie ausgehen. Sie würden nie zu flackern anfangen, weil ihnen der Strom ausging. Es würde hier nie kalt sein und es würde auch nie die Gefahr bestehen, dass die Geräte den Ärzten ihren Dienst verweigerten, denn das Krankenhaus war eines unter wenigen Einrichtungen, das über unendlich viel Strom verfügte.
Bei Zimmer 53 angekommen, wollte Xea schon die Türklinke drücken und es schnell hinter sich bringen, als sie durch das kleine Sichtfenster in der Tür einen jungen Mann über das Bett der toten Frau gebeugt sah. Auch mit zugekehrtem Rücken konnte Xea erkennen, dass er den Tod der Frau zutiefst betrauerte, indem er still vor sich hin weinte. Seine gebückte Haltung und das ständige Händereiben übers Gesicht verrieten seine Verzweiflung. Xea ging einen Schritt zurück und entschloss sich, noch schnell einen Kaffee zu trinken, damit sich der Mann von seiner Frau anständig verabschieden konnte. Die Totenwaschung lief ihr schließlich nicht davon und seit dem Frühstück waren schon viele Stunden vergangen, in denen sie weder was gegessen noch getrunken hatte.
So ging sie also in den Aufenthaltsraum und schenkte sich aus einer silbernen Kanne eine Tasse voll dampfenden Kaffee ein. Nach einem angespannten Rundumblick und der erleichternden Erkenntnis, dass sie allein war, schnappte sie sich auch gleich noch einen Cupcake, der dick mit karamellbrauner Schokolade und weißen Streuseln überzogen war. Es war zwar nicht direkt verboten, aber dennoch nicht gerne gesehen, wenn sich das Personal am Essen der Sups bediente. Dennoch konnte Xea nicht widerstehen, denn im Aufenthaltsraum der Medi gab es nur dünnen Kaffee und der Kuchen, der in den Bäckereien nicht verkauft werden konnte, war altbacken, meist trocken und ungenießbar. Xea schloss genüsslich die Augen, als ihr der schwarze Kaffee stark und heiß die Kehle hinunter rann und ihre müden Glieder wieder zum Leben erweckte.
Erst, als sie alles bis auf den letzten Tropfen leer getrunken und auch die letzten Krümel des saftig weichen Cupcakes mit ihren Fingern vom Teller geschleckt hatte, ging sie wieder zurück. Nach einem kurzen Blick durch das Sichtfenster, das nun bis auf die Tote im Bett niemanden mehr zeigte, betrat sie das Krankenzimmer und blieb sofort ruckartig stehen, als sie sah, dass der junge Mann immer noch da war. Nur, dass er jetzt mit seinem Maßanzug völlig entspannt auf der Couch in der Ecke saß und die Arme lässig auf der Rückenlehne abgelegt hatte, während eine etwas ältere Frau, ebenfalls in einem maßgeschneiderten, dunkelblauen Kostüm ständig vor ihm auf und ab lief und ihre High Heels dabei einen seltsam dumpfen Klang hinterließen. So, als wollte sie ihrem Umfeld damit unmissverständlich klar machen, wer hier das Sagen hatte.
Xea kam sich fast schon schäbig vor in ihrem nicht mehr ganz so strahlend weißen Krankenschwesterkittel und ihren abgewetzten Arbeitsschuhen. Sie wusste nicht recht, was sie tun sollte. Doch, da sie jetzt auch nicht einfach wieder verschwinden konnte, ging sie mit klopfendem Herzen zum Badschrank, holte einen Eimer, den sie mit warmem Wasser und Seife füllte und ein paar weiche Tücher heraus. Wenn es den Herrschaften nicht gepasst hätte, dann würden sie es ihr schon sagen. Schließlich hatte sie nicht den ganzen Tag Zeit, um zu warten, bis sie endlich ihrer Arbeit ungestört nachgehen konnte.
Wie sich herausstellte, hatte sie sich unnötig Sorgen gemacht, denn die beiden redeten, oder besser, diskutierten in lautem Tonfall, einfach weiter, so als wäre sie gar nicht anwesend, was ihr nur recht war.
Leise ging sie zum Bett und schob erst einmal die vielen Monitore etwas zur Seite, damit sie uneingeschränkt arbeiten konnte. Die vielen Bildschirme waren allesamt ausgeschaltet und verdeutlichten noch mehr die Leere und Endgültigkeit, die der Tod mit sich brachte. Gerade mal vor ein paar Stunden piepsten die Geräte noch eifrig im Rhythmus des Herzschlags dahin und dann stand auf einmal alles ganz still. Ein letzter Atemzug, ein letztes Klopfen des Herzens und dann Stille. Und entgegen dieser Stille stand das letzte Aufbäumen der Ärzte, die in voller Verzweiflung alles Menschenmögliche versuchten, um dem Patienten wieder Leben einzuhauchen.
Xea hatte dieses Szenario schon einmal miterleben dürfen, oder besser gesagt, müssen. Zwar war es damals schon ein alter Mann, der während einer Operation an Herzversagen verstarb, aber trotzdem so schockierend, dass sie die Bilder bestimmt bis an ihr Lebensende nicht aus dem Kopf bekommen würde.
Groteskerweise war diese Erinnerung aber nicht nur mit Trauer verbunden, sondern ebenso mit Bewunderung. Bewunderung für die Ärzte, die in vielen Fällen über Leben und Tod entscheiden konnten. Ihr Wissen und ihre Fertigkeiten konnten Leben retten. Natürlich auch mit Hilfe der Technik, die nur bestimmten Berufen zugänglich war.
Doch davon konnte Xea nur träumen, denn es stand ausschließlich den Superior zu, an einer Universität zu studieren und sich mehr als nur Allgemeinwissen anzueignen, um solch höherwertige Berufe auszuüben.
Xea Eltern hatten ihr einmal erzählt, dass es früher einmal gang und gäbe war, dass jeder Mensch auf der Welt, egal welcher Hautfarbe oder welcher Herkunft studieren konnte, was heutzutage undenkbar gewesen wäre. Doch dann kam es vor vierzig Jahren im Jahre 2035 zu einem globalen Aufstand der Weltbevölkerung gegen die Politik. Die Menschen konnten einfach nicht mehr zusehen, wie eine Klimakatastrophe nach der anderen und eine Seuche nach der anderen ihre Welt zerstörten und die Leute in den Führungspositionen nichts dagegen unternahmen, so dass die brutalen Morde zwischen den Mächtigen und der restlichen Bevölkerung in China anfingen und dann wie bei einem Dominospiel um die ganze Welt gingen. Doch letztendlich war es die Bevölkerung, die den Kürzeren zog und auf brutalste Weise vom eigenen Militär größtenteils ausgelöscht wurde. In Asien, wo damals mehr als 60 Prozent der ganzen Weltbevölkerung lebte, wurden sogar nukleare Waffen eingesetzt, um die rebellierende Bevölkerung zu stoppen. Wogegen dabei alle Asiaten zu Tode kamen, flohen die Reichen und Mächtigen kurz bevor die Atombomben alles Leben auslöschten. Jetzt gab es kein Asien mehr, zumindest keine Menschen mehr, die dort wohnten. So hatte es man ihnen jedenfalls in der Schule eingebläut.
Um eine weitere Massenvernichtung zu verhindern, lenkten dann die Politiker schließlich doch noch ein und versprachen ein neues Konzept für den Erhalt des Planeten zu erstellen, was sie dann auch in der Realität umsetzten. Und zwar radikal. Alle Fahrzeuge und Elektrogeräte, egal welcher Art, wurden bis auf wenige Ausnahmen verboten. Im Krankenhaus zum Beispiel oder an den Universitäten gab es nach wie vor Computer und unendlich viel Strom, der fast ausschließlich aus erneuerbaren Energien gewonnen wurde. Die Haushalte der Medi dagegen verfügten nur über ein gewisses Pensum an Strom. War dieser Tagesbedarf verbraucht, musste man auf Kerzen und Holzöfen zurückgreifen. Es gab weder Telefon, Fernsehgeräte oder sonstige Annehmlichkeiten, die den Bürgern in der früheren Welt zum Verhängnis wurden.
Abgesehen von ein paar Autos, die sich nur die Sups leisten konnten, fuhren auf den Straßen wieder Fahrräder und Pferdekutschen. Und da man auf Grund des ständigen Wechsels eh nur kurzweilige Freunde und Bekannte in der gleichen Umgebung hatte, vereinbarte man einfach Treffen, um sich zu sehen. Oder man schrieb sich Briefe. Xea kannte es nicht anders und war zufrieden damit. Wobei sie schon gerne gewusst hätte, wie man so einen Computer benutzte. Und nicht nur das. Sie verspürte immer öfters den Drang, sich noch mehr Wissen anzueignen. Sie wollte mehr als nur Krankenschwester sein. Viel mehr. Doch sie würde sich mit dem, was sie in den drei Schuljahren gelernt hatte, zufriedengeben müssen.
Also schob sie ihre Gedanken beiseite und begann die kalte, bleiche Haut der Frau zu säubern. Auch noch im Tod sah sie wunderschön aus. Ihre Haut war makellos und ihr seidig blondes Haar breitete sich um ihr Engelsgesicht wie ein Schleier.
Die Ähnlichkeit mit ihrer Mutter war nicht zu übersehen. Nur, dass das Gesicht der Tochter selbst im Tod noch Frieden ausstrahlte, das der Mutter hingegen Kummer und Zorn.
Obwohl Xea versuchte, sich ganz und gar auf ihre Arbeit zu konzentrieren, kam sie nicht umhin, den beiden Angehörigen zu zuhören und ihnen sogar ab und an einen verstohlenen Blick zu zuwerfen. Und das, was sie sah und vor allem hörte, verwirrte und ärgerte sie gleicherweise so sehr, dass sie sich zusammenreißen musste, um nicht etwas Unüberlegtes zu sagen. Sie konnte sich einfach nicht erklären, wie sich der zuvor noch so betrübte und verletzlich wirkende, junge Mann innerhalb so kurzer Zeit zu so einem gefühlskalten Ekelpaket hatte verwandeln können.
„Mutter, jetzt beruhig dich doch wieder! Talina hat es ja nicht anders gewollt. Hätte sie sich nicht mit diesem widerwärtigen Medius eingelassen, dann würde sie noch leben. Sie ist selbst schuld!“
Er war also gar nicht ihr Ehemann, sondern ihr Bruder! Wie konnte er dann so unbeteiligt, ja fast schon gelangweilt dasitzen und seine Fingernägel begutachten, während seine Schwester ihren letzten schweren Weg ging? Und, als wäre das nicht schon genug, zeigte er keinerlei Trauer, sondern überhäufte sie stattdessen noch mit Vorwürfen. Was war nur passiert, dass er hier den großen gefühlskalten Macker spielte, wo er doch noch kurz zuvor gequält und verheult an ihrem Bett saß? War es seine Mutter, vor der er keine Schwäche zeigen wollte? Oder wollte er seine Verzweiflung einfach nur überspielen und sich selbst etwas vormachen? Xea wusste es nicht. Sie wusste lediglich, dass sie ihn nicht ausstehen konnte. Genauso wie seine Mutter, wie sie gleich darauf feststellen musste.
„Ich weiß. Aber sie ist immer noch meine Tochter und es tut einfach so weh! Wie konnte sie mir diese Schande nur antun! Ich hoffe, das Baby ist ebenfalls bei der Geburt gestorben!“ Xea wurde ganz übel. Wie konnte man nur jemandem den Tod wünschen? Und das auch noch einem unschuldigen Baby?
Xea schielte kurz in ihre Richtung, um zu sehen, ob ihre Augen dasselbe sagten, wie ihre Worte. Und was sie sah, war erschreckend ernüchternd. Ihre Augen zeigten nicht die geringste Spur von Trauer. Wut jedoch spiegelte sie in ihrer ganzen Bandbreite wider. Nahezu alles an ihr wirkte verhärmt und wutverzerrt. Ihre Gesichtszüge, die steife Haltung und die schrille Stimme.
„Soviel ich weiß, ist es wohlauf und bereits an eine Mediusfamilie weitergereicht worden.“ Der Bruder fuhr sich mit der Hand immer wieder seelenruhig durch sein halblanges, dunkelblondes Haar, als wäre sein einziges Problem eine nicht ganz perfekt sitzende Frisur.
„Ich wünsche diesem Balg ein schreckliches Leben. Es soll dafür sein ganzes Leben lang büßen, dass es meine Tochter auf dem Gewissen hat!“
Xea zuckte bei diesen grausamen Worten so zusammen, dass ihr glatt der Lappen aus der Hand fiel. Während sie sich mit hochrotem Kopf zu Boden neigte und ihn wieder aufhob, sah sie aus den Augenwinkeln, wie sie von den beiden mit angewiderten Gesichtern gemustert wurde.
Xea hatte noch nie zuvor einen so starken Drang verspürt, jemanden einen Eimer Wasser überzukippen. Und jetzt, da auch noch der Eimer in greifbarer Nähe war, litt sie fast schon Schmerzen, während sie krampfhaft versuchte, ihre Beherrschung im Zaum zu halten.
Auch wenn sich die Schwester mit einem Medius eingelassen hatte, was für einen Superior völlige Enterbung und Entlassung aus dem Adelsstand bedeutete, war sie immer noch ihr eigen Fleisch und Blut! Wie konnte man nur so oberflächlich sein? Waren der Stand und die Ehre so viel mehr wert als das eigene Kind? Oder das Enkelkind? Wahrscheinlich war es gut so, dass das unschuldige Baby gleich an eine andere Familie weitergereicht worden war, denn bei seinen leiblichen Großeltern wäre es niemals glücklich geworden.
„Kommt Vater auch, um sie noch ein letztes Mal zu sehen?“, fragte nun der Bruder, der nicht recht viel älter als sie selbst sein konnte.
„Nein!“ Bei der Erwähnung des Vaters, verhärteten sich die Gesichtszüge der Mutter noch mehr, soweit das überhaupt ging und ihre Lippen waren so fest aufeinandergepresst, dass sie nur noch aus zwei schmalen Strichen bestanden. „Du weißt doch, wie er über die ganze Sache denkt. Talina ist bereits in dem Moment für ihn gestorben, als sie von diesem Medius schwanger geworden ist. Er hat noch keine einzige Träne um sie verloren.“
„Tja, und wir täten auch gut daran, es ihm gleich zu tun. Es ist einfach inakzeptabel, sich mit einem minderwertigen Stand einzulassen. Komm Mutter, lass uns gehen und dieses leidige Thema ein für alle Mal hinter uns lassen!“
Dieses leidige Thema? Xea wäre diesem arroganten Arsch am liebsten an die Gurgel gegangen. Krampfhaft krallte sie sich mit dem nassen Lappen in der Hand am Bettrahmen fest, um ihm nicht doch noch den Kopf gehörig zu waschen, denn verdient hätte er es allemal.
Auf dem Weg nach Hause, ging ihr das Mutter-Sohn-Gespräch einfach nicht mehr aus dem Kopf. War es wirklich so schlimm, wenn sich die verschiedenen Gesellschaftsschichten verbanden? Wenn es ein Inferior gewesen wäre, hätte sie es ja vielleicht ansatzweise verstanden. Schließlich waren das die Unfruchtbaren, Gebärverweigerer oder schlimmstenfalls die Kriminellen. Aber ein Medius war ein durchaus normaler, ehrenwerter Bürger, der seiner Arbeit pflichtbewusst nachging und sich nichts zu Schulden kommen ließ. Ja, sie hatten keinen Besitz und auch kaum Geld, aber das konnte doch nicht alles sein, was zählte! Aber was wusste sie schon von der Welt!
Das Einzige, was sie von ihren Eltern wusste war, dass früher, vor dem Wechselsystem, zwar nicht alles besser, aber jeder Mensch frei in seinen Entscheidungen war. Man konnte werden, was man wollte. Damals waren die meisten Bürger wohlhabend und konnten sich kaufen was und wie viel sie wollten. Sie konnten reisen, wohin sie wollten. Das alles musste wunderbar gewesen sein.
Obwohl nie anders kennengelernt, vermisste sie doch dieses Stück Freiheit, das ihr ihre Eltern mit diesen Geschichten in den Kopf gesetzt hatten. Natürlich war nicht alles gut. Die Umweltverschmutzung, die vielen Seuchen und der daraus resultierende radikale Umbruch waren etwas, auf das die Menschheit wahrlich nicht stolz sein konnte.
Warum war sie manchmal nur so unzufrieden, wo doch alle mit dem neuen System zufrieden zu sein schienen. Warum nicht auch sie?
Gedankenverloren ging Xea durch die Straßen London`s und betrachtete die schönen Altbauten, die dem Bürgerkrieg und seinen Bomben nicht zum Opfer gefallen waren. Dabei kam sie an etlichen Litfaßsäulen vorbei, die die Tanzveranstaltungen für das kommende Wochenende mit riesigen Plakaten anpriesen.
Es herrschte reger Verkehr auf der Straße. Zahlreiche Fahrräder und Kutschen mit prächtigen Rössern klapperten die asphaltierten Straßen entlang. Autos oder anderweitige motorisierte Fahrzeuge waren so gut wie nie zu sehen, denn selbst die Sups reisten meist in einer Kutsche. Zumindest bei kurzen Strecken. Es war selbst für sie kostspielig, ein Auto zu unterhalten, geschweige denn, für den Treibstoff aufzukommen.
Die Londoner waren wie üblich gut gelaunt und unterhielten sich auf offener Straße oder im Park über den neuesten Klatsch und Tratsch, während sowohl ihre Kinder als auch ihre Wechselkinder ungestüm umher tobten und dabei eine heimelige, fast schon familiäre Atmosphäre schufen. Wenn es nicht so absurd gewesen wäre, hätte es Xea sogar geglaubt.
Als sie an der städtischen Bibliothek, dem ehemaligen Victoria und Albert Museum vorbeikam, hätte sie sich am liebsten darin verschanzt, um noch ein paar ruhige Augenblicke für sich zu haben. Doch der Ärger danach wäre nicht auszudenken gewesen. Xea vermisste die Freizeit, die ihr in ihren früheren Pflegefamilien regelmäßig nach der Arbeit gewährt worden war. Ihre früheren Familien hatten ihr sogar den Bibliotheksausweis, der nicht gerade billig war, bezahlt.
Sven und Fiona hingegen hätten ihr diese Freude nie und nimmer vergönnt. Wenn es nach ihnen ginge, sollte sie jeden Tag nach der Arbeit noch bis spät abends im Gasthaus schuften. Also war ihr nichts anderes übriggeblieben, als einen Teil ihres hart ersparten Geldes für einen Büchereiausweis zu opfern. In Xea`s Augen wäre es ein Frevel gewesen, jetzt, da sie in London, der Hauptstadt von England, ihr letztes Jahr verbringen sollte, nicht an dem reichen Schatz an Büchern, Kunst und Vergangenem teilhaben zu dürfen. Es war ja schon ein Erlebnis für sich, den viktorianischen Stil des Gebäudes, mitsamt dem märchenhaften Innenhof, bewundern zu dürfen.
„Hi Xea!“, wurde sie plötzlich von der Seite her freundschaftlich angerempelt.
„Boah Serona! Hast du mich erschreckt! Mach das ja nicht noch einmal!“
„Hä? Ich bin heran getrampelt wie ein Elefant! Das hätte sogar ein Tauber gehört. An was oder besser gesagt, wen denkst du denn gerade?“, grinste sie ihre Freundin verschwörerisch an, wobei ihre vielen Sommersprossen lustig auf und ab hüpften und mit ihrem roten Haar um die Wette funkelten. Entgegen der Meinung vieler Leute, fand Xea Serona wunderschön. Das Zusammenspiel ihrer strahlend grünen Augen mit dem roten Haar und der porzellanweißen Haut war in Xea`s Augen einfach nur perfekt. Außerdem wirkte sie nicht mehr so mädchenhaft wie sie selbst, sondern schon ziemlich erwachsen und fraulich, was sie sicherlich ihrer kurvigen Figur und den langen, dicken Locken zu verdanken hatte.
„An niemanden!“, empörte sich Xea etwas zu schnell und zu offensichtlich.
„Aha. Und ich hab heute eine Kuh beim Schlitten fahren gesehen! Ach komm schon Xea! Jetzt spuck`s schon aus!“
„Ach…, ich dachte nur an die tote Superior, die ich heute waschen musste. Besser gesagt an deren Mutter und Bruder.“
„Wieso? War der so heiß, dass er dir immer noch im Kopf herum spukt?“
„Heiß? Eher eiskalt!“
„Oje! Haben sie dich etwa schlecht behandelt?“
„Nein. Aber ihre Blicke haben mir klar und deutlich gezeigt, was sie von mir halten.“
„Dass diese Sups aber auch immer ihre Privilegien so heraushängen lassen müssen! Die meinen alle, sie sind was besseres, nur weil sie bei der Geburt zufällig aus dem richtigen Loch geflutscht sind!“
„Hm…, wobei der Bruder schon echt ein Sahnestückchen gewesen wäre…“
„Hah! Hab ich`s doch gewusst! Deshalb bist du so in Gedanken. Er hat dir gefallen.“ Und dann sang sie noch ein paar Mal hintereinander Xea ist verliebt, Xea ist verliebt, bis sie Xea mit genervten Augenrollen in die Seite stieß, so dass sich Serona prustend die Seite hielt und damit aufhören musste. Manchmal hatte Xea das Gefühl, alles in Serona`s Leben drehte sich nur noch um Jungs. Jungs und Kleider.
„Serona, du bist furchtbar! Nie und nimmer würde ich mich in einen Superior verlieben! Du weißt doch, dass das nicht erlaubt ist. Und außerdem…“
„Ja? Außerdem was?“, fragte Serona nach, als Xea nicht gleich weitersprach.
„Außerdem hat sich seine Schönheit ausschließlich auf sein Äußeres beschränkt. Charakterlich war er…, ach was sag ich, er hatte gar keinen Charakter!“
„Ist ja auch egal. Viel wichtiger ist die Frage, ob du schon einen potentiellen Ehemann ins Auge gefasst hast. Du weißt ja, dass uns nicht mehr viel Zeit bleibt!“
Und da war sie wieder, die Frage aller Fragen! Xea hatte das Gefühl, als würde sich im Moment die ganze Welt nur noch um diese einzige Frage drehen. Früher hatte man sich bei ihr nach ihrem Tag erkundigt, was sie gerade las, mit welchen Freunden sie sich traf oder was sie in ihrem Praktikum alles lernte. Doch jetzt gab es nur noch diese eine Frage in ihrem Leben. Und es machte sie fuchsteufelswild, dass sie darauf immer nur die eine Antwort parat hatte.
„Ach, erinnere mich jetzt bloß nicht daran! Mir wird schon ganz schlecht, wenn ich nur daran denke! Aber zu deiner Frage, nein ich hab noch keinen in der engeren Auswahl. Wie soll das auch gehen, wenn man ständig den Wohnort wechseln muss? Das ist echt zum Kotzen!“
„Hm, eigentlich find ich das gar nicht so schlimm! Das gehört nun mal zu unserem Leben. Manchmal find ich das sogar ganz aufregend. Man lernt viele Leute kennen, sieht viele neue Orte und man kann in viele Berufe hinein schnuppern, bevor man sich endgültig für einen Beruf entscheidet.“
„Das meinst du doch jetzt nicht wirklich ernst, oder?“, sah Xea ihre Freundin ungläubig an, wobei sie ihre Augenbrauen so verengte, dass nur noch eine tiefe Furche dazwischenstand.
„Warum denn nicht?“
„Was ist mit deiner Familie, die dich geboren und die ersten neun Jahre großgezogen hat? Vermisst du sie denn nicht?“
„Hm…, eigentlich nicht. Ich war ja das vierte Kind und da haben meine Eltern nicht mehr viel Aufhebens um mich gemacht. Sie waren eher, hm…, wie soll ich das erklären…, irgendwie neutral zu mir. Sie wussten ja, dass sie mich irgendwann hergeben mussten und haben somit gar keine so enge Beziehung aufkommen lassen. Und die Familien, an die ich dann jährlich weitergereicht wurde, waren auch allesamt okay.“
„Tja, dann hattest du echt Glück! Meine Familien waren zwar auch allesamt einigermaßen in Ordnung, bis auf dieses Jahr natürlich. Aber meine echte Familie kann und will ich einfach nicht vergessen. Ich weiß zwar auch nicht mehr so viel von früher, aber eins weiß ich mit Sicherheit. Sie haben mich geliebt. Genauso, wie ich sie geliebt hab und immer noch liebe. Ich glaube ihr Herz ist gebrochen, als ich ihnen weggenommen wurde. Nachts träum ich oft von diesem furchtbaren Moment, als ich von den Soldaten weggezerrt wurde und meine Eltern geschrien haben, als würde man ihnen ihr Herz herausreißen.“
„Wow, das hört sich ja echt dramatisch an!“
„Ja, das war es auch. Du hättest den Schmerz in ihren Augen sehen sollen. Den hättest auch du nie vergessen!“
„Vielleicht… Und deine Geschwister? Vermisst du sie auch?“
„Ich habe keine Geschwister.“
„Was?“, hielt Serona plötzlich inne und hielt Xea völlig ungläubig am Arm fest. „Du…, du hast keine Geschwister? A…, aber das heißt ja…“
„Ja genau. Das heißt, dass meine Eltern gleich nach meiner Wegnahme ebenfalls abtransportiert wurden.“
„Dann lag es also nicht daran, dass sie keine Kinder mehr bekommen konnten, sondern daran, dass sie sich verweigert haben, weitere zu zeugen?“ Xea konnte an Serona`s Gesichtsausdruck ablesen, dass sie es nicht verstehen konnte. Es sogar verurteilte. Auch wenn sie es nicht zugeben wollte, ärgerte es sie, dass Serona so über ihre Eltern dachte, wo sie sie doch gar nicht kannte. Sie selbst konnte sie nämlich gut verstehen. Sehr gut sogar. Ihre Eltern haben sie so sehr geliebt, dass sie es nach Xea`s Geburt nicht übers Herz gebracht hätten, noch weiteren Kindern das Leben zu schenken, nur um sie dann nach neun Jahren wieder zu verlieren. Denn mit dem Verlust der Eltern ging auch Hand in Hand der Verlust der Kindheit einher, indem sie jedes Jahr am Neujahrstag von Soldaten abgeholt und an eine neue Familie aus einer ganz anderen Gegend weitergereicht wurden. Sie mussten also bis zu ihrer endgültigen Berufswahl neun Familien durchlaufen, wobei sie mit jedem Wechsel auch das Praktikum wechseln mussten. Es gab nur neun Sparten von Arbeit, die den Medius zustand. Darunter die Ordner, wie Büroangestellte oder Polizisten, die Farmer für Gemüse und Obst, die Viehzüchter, den Tourismus, darunter auch die Gasthäuser, die Handwerker, Dienstleister, Weber, Ernährer, worunter die Bäcker und Metzger fielen und zu guter Letzt die Pfleger, wie Krankenschwestern, Hebammen oder Altenpfleger. Am meisten hatte Xea das Praktikumsjahr als Dienstleisterin gehasst. Dabei hatte sie noch Glück gehabt und musste nicht einmal in den Haushalt irgendeiner Adelsfamilie, sondern nur in einem Friseurgeschäft arbeiten. Doch es war ihr ein Graus, tagein, tagaus den Adligen ihre Haare zu waschen und ihnen dabei zuzuhören, wie sie sich über die dummen, nichtsnutzigen Medius unterhielten und dabei auch noch zu lächeln, als hätte sie die Beleidigungen nicht gehört.
Am liebsten war ihr der Beruf der Krankenschwester, den sie jetzt in ihrem letzten Jahr kennenlernen durfte. Sie liebte es, sich um bedürftige Menschen zu kümmern. Vor allem, wenn es sich um Medius handelte. Sie waren so froh um jede kleinste Hilfe und liebevolle Geste. Ihr herzerwärmendes Lächeln und der Dank, der ihnen aus den Augen sprach, waren für Xea Belohnung genug. Deshalb hatte sich Xea auch vor kurzem im Berufsregister mit dem Berufswunsch Krankenschwester eingetragen.
Sie war so unsagbar froh, dass dieses Jahr, in dem sie bei einer Gastwirtsfamilie leben musste, in einem halben Jahr vorbei war. Dann war sie volljährig, frei und konnte hoffentlich eine Lehre zur Krankenschwester machen. Keiner konnte ihr mehr vorschreiben, wann sie zu Hause sein musste oder was sie tun und lassen sollte. Wobei das nicht ganz so stimmte, denn sie hatte danach nur zwei Jahre Zeit, um sich einen Ehemann zu suchen. Würde sie in dieser Zeit keinen finden, würde ihr vom System einer zugeteilt werden. Und dann hätte sie immer genau fünf Jahre Zeit, um Kinder zu bekommen. Und das Ganze, bis sie fünfundvierzig war. Danach durften sie noch zehn Jahre lang ihrem Beruf nachgehen, ohne Kinder in die Welt setzen zu müssen. Erst nach diesen zehn Jahren wurden sie zu Rentnern und durften ihr endgültiges Zuhause beziehen, in dem sie bis an ihr Lebensende bleiben durften, denn auch als Ehepaar musste man alle drei Jahre den Wohnort und die Arbeitsstelle wechseln.
Dadurch sollte ein weiterer Aufstand der Mittelschicht verhindert werden, da durch den ständigen Wechsel nicht so leicht Verbindungen oder Gruppierungen zustande kommen konnten. Alles in allem war das System in Xea`s Augen wirklich bestens ausgeklügelt. Es wusste genau, wie es die Bevölkerung zufrieden stellte und somit auch die Kriminalitätsrate fast gegen Null fuhr.
Doch Xea reichte das nicht. Sie wollte mehr. Und vor allem wollte sie Kinder, die sie von Geburt an bis zum Gründen einer eigenen Familie und noch weit darüber hinaus begleiten durfte. War das selbstsüchtig von ihr? Schließlich wurde ihnen immer wieder gepredigt, dass es für die Kinder das Beste sei, wenn sie in ihrer Jugend so viele Erfahrungen in anderen Familien sammeln konnten, wie nur möglich. Und nur, wenn sich die Kinder vollständig von ihren Familien abnabeln würden, könnten sie vollkommene Selbstständigkeit erreichen. Doch warum durften dann die Superior ihr ganzes Leben lang bei ihren Eltern leben? Warum wurde den Medius verschwiegen, wo ihre Eltern und Geschwister lebten? Und warum konnte man nicht selbst entscheiden, wann und wie viele Kinder man wollte? So viele Fragen, die Xea plagten. Doch am meisten plagte sie die Frage nach dem Verbleib ihrer Eltern.
Als Inferior waren sie auf gleicher Stufe, wie die Strafgefangenen und mussten niedere, schwere Arbeiten verrichten. Xea betete jeden Tag zu Gott, dass es ihren Eltern gut ging. Dass ihnen das Schicksal erspart bliebe, in den Mienen oder auf den Trümmerfeldern zu schuften. Und, dass sie sie eines Tages wiederfinden würde. Natürlich wusste sie, dass dieser Wunsch so gut wie unmöglich war, denn die Daten über die Aufenthaltsorte der Medius wurden niemals herausgegeben. Es hieß sogar, dass die Daten nach jedem Wechsel vernichtet wurden. Aber dennoch war dieser kleine Funken Hoffnung wie eine tropfende Wasserquelle mitten in der Wüste. Nicht durststillend, aber trotzdem eine Möglichkeit nicht vollkommen zu vertrocknen.
„Komm, lass uns heute Abend etwas unternehmen! Es ist Wochenende!“, holte sie Serona aus ihren Grübeleien.
„Würde ich ja echt gerne, aber Fiona hat mir heute Morgen auf ihre ach so reizende Art offenbart, dass ich heute Abend beim Bedienen in der Gaststube aushelfen muss, weil wieder irgendjemand krank geworden ist.“
„Das bedeutet dann wohl, dass du gar keine Chance hast, dich da irgendwie rauszureden, was?“ Serona`s bemitleidenswerter Blick und die einseitig hochgezogene Lippe hätten eigentlich gar keiner Antwort mehr bedurft.
„Jep, genau das bedeutet es. Du kennst sie ja. Ich könnte mit Windpocken im Bett dahinvegetieren und sie würde mich, so gut es ginge, überschminken und aus dem Bett jagen, nur damit ihre Gaststätte reibungslos weiterlaufen würde!“ Da Serona Xea`s niedergeschlagener Blick nicht entgangen war, wollte sie gar nicht mehr länger darauf rumreiten, denn sie wussten beide, dass es zwecklos war.
„Tut mir echt leid für dich. Ich weiß, wie sehr du das Bedienen hasst! Dann unternehmen wir aber morgen was zusammen, wenn du wegdarfst! Schließlich müssen wir auf Bräutigamschau gehen! Versprochen?“, verabschiedete sich Serona noch mit einem Küsschen auf Xea`s Backe.
„Ja, bis morgen vielleicht“, meinte Xea nicht ganz so motiviert wie ihre Freundin. Sie konnte sich schönere Aktivitäten vorstellen, als auf diese blöden Tanzveranstaltungen zu gehen, die nur dazu da waren, um sich potenzielle Partner zu suchen. Sie kam sich dort immer vor, wie auf einer Fleischbeschau. Und wenn wirklich mal einer dabei war, der ihr vom Aussehen her gut gefiel, dann war er schon wieder unten durch, kaum hatte er den Mund geöffnet und irgendwelchen Stuss von sich gegeben. Gab es denn keine Männer mehr, die gut aussahen und dabei auch noch Grips hatten? Aber wer weiß, vielleicht traf sie ihren Auserwählten ja doch noch schneller, als ihr lieb war.
Zuhause angekommen, wobei Xea es nicht wirklich als ihr Zuhause bezeichnen konnte, eilte sie die schwere Eichenholztreppe so leise wie nur möglich in ihr kleines Zimmer hinauf, um noch ein paar Augenblicke allein zu sein, ehe sie Fiona in die Finger bekam. Bei all den Familien, in denen sie bisher war, war diese die Schlimmste. Dabei war es nicht einmal die Hektik und die viele Arbeit, die so ein Gasthaus mit sich brachte, sondern vielmehr die Herzlosigkeit, die ihr hier entgegengebracht wurde. Und das, obwohl sich Xea fast jeden Tag nach Feierabend noch stundenlang in der Küche oder beim Reinigen der Zimmer abrackerte. Zum Dank bekam sie von ihren Pflegeeltern nur missbilligende Blicke.
Trotz allem konnte sie die beiden aber auch irgendwie verstehen. Sie hatten einfach die Nase voll von den vielen Wechselkindern, die sie jedes Jahr aufnehmen mussten. Außerdem war dieses Jahr das Letzte, in dem sie die Gastwirtschaft bewirtschaften durften. Da beide schon Mitte fünfzig waren, würden sie im neuen Jahr zu Rentnern werden und ein eigenes Haus zugeteilt bekommen, in dem sie bis an ihr Lebensende bleiben durften. Oder besser gesagt, mussten. Es war somit nicht verwunderlich, dass ihre Pflegeeltern immer so schlecht gelaunt waren. Sie hatten jetzt drei Jahre lang nichts anderes getan, als für dieses Gasthaus zu schuften und das Beste daraus zu machen und dann wird ihnen von einem auf den anderen Tag alles genommen. Einfach so. Zwar wusste jeder Medius, dass alles, was man besaß, den Superior gehörte und es ihnen irgendwann Mal genommen und an eine jüngere Familie weitergereicht wurde. Aber dennoch war es nicht so einfach, wenn es dann so weit war. Überhaupt war es nie einfach, wenn man innerhalb eines einzigen Tages von einem Leben in ein völlig anderes geworfen wurde. Weder für die Erwachsenen noch für die Wechselkinder.
Völlig erschöpft von ihrem Arbeitstag im Krankenhaus, legte sich Xea mitsamt den Klamotten aufs Bett, um sich noch einen kurzen Augenblick lang auszuruhen.
Sie musste eingeschlafen sein, als plötzlich die Tür ruckartig aufgerissen wurde und ihr Fiona wütend eine schneeweiße Schürze ins Gesicht warf.
„Was machst du denn da? Schläfst du etwa? Ich fasse es nicht! Wir schuften uns unten zu Tode und Madame gönnt sich hier ihren Schönheitsschlaf“, wurde Xea von ihrer Pflegemutter wüst beschimpft. Da sie noch ein wenig schlaftrunken war, brauchte sie eine Sekunde, bis sie überhaupt registrierte, dass sie aus Versehen eingeschlafen war. Als ob das ein Verbrechen wäre, funkelte sie Fiona mit hochrotem Kopf und tiefer Furche zwischen ihren wuchtigen Augenbrauen an. Einzig und allein wegen der Tatsache, dass sie wegen ihrer nicht gerade schlanken Erscheinung und der vielen Treppen, schnaubte wie ein Walross, ließ Xea die Schimpftirade geduldig über sich ergehen.
„Entschuldige, ich wollte wirklich nicht schlafen. Nur kurz ausruhen.“
„Ausruhen kannst du dich, wenn du tot bist! Aber nicht, solange du unter meinem Dach schläfst und mein Essen isst, verstanden!“
Xea brannte es auf der Zunge, ihr zu sagen, dass es nicht wirklich ihr Dach war, unter dem sie schlief, konnte sich aber im letzten Moment doch noch besinnen und setzte einen reumütigen Blick auf. Den beherrschte sie nämlich im Schlaf, denn Xea hatte schon früh gelernt, dass sie damit am besten davonkam. Wiedersprüche und freche Antworten hatten ihr in der Vergangenheit nur Ärger eingebracht.
„Ja, ich hab`s verstanden. Es tut mir wirklich leid und es kommt auch bestimmt nicht mehr vor. Ich geh noch schnell in die Dusche und komm dann sofort runter.“
„Duschen will das edle Madamchen also auch noch? Aber natürlich! Warte kurz, dann schick ich dir noch den Zimmerservice hoch, der dir dann auch gleich noch beim Ankleiden hilft!“, wedelte Fiona theatralisch mit ihren dicken Fingern in der Luft herum, als müsste sie ein ganzes Orchester dirigieren.
„I…, ich dachte n…nur, dass…“
„Ach, denken kannst du auch noch? Ja wenn das so ist, dann kannst du dir sicher denken, dass ich dir Beine mache, wenn du nicht sofort runterkommst!“ Mit hartem Blick und zu Fäusten geballten Händen, die sie wütend in die Seiten stemmte, funkelte sie Fiona an. Es wäre zwecklos gewesen, noch ein weiteres Wort an ihre Pflegemutter zu verschwenden, so dass sich Xea nach der Schürze bückte, sie sich rasch umband und ihrem Strafprediger nach unten folgte.
Als sie an der Küche vorbeikam, stieg ihr der verlockende Duft nach Braten entgegen. Xea versuchte verbissen, das starke Hungergefühl so gut es ging zu verdrängen. Sie würde ja doch erst am Ende ihrer Schicht etwas davon abbekommen. Sie konnte schon froh sein, wenn sie bei dem Trubel, der bereits vorherrschte, zwischendurch mal etwas zu trinken bekam.
Bisher hatte sie nur ein paar Mal als Bedienung einspringen müssen, was ihr ganz recht war, denn sie hasste es, ständig begafft und begrapscht zu werden, als gäbe es die Bedienung zur Bestellung gratis mit drauf. Und leider kam das ziemlich oft vor, je später die Stunde und je betrunkener die Männer. Da war es ihr schon lieber, in der Küche Geschirr zu spülen oder auf den Zimmern die Betten zu beziehen. Es war sogar manchmal ganz amüsant, zu sehen, was die Leute so alles in den Besucherritzen vergaßen. Das Lustigste, was ihr bisher in die Hände gefallen war, war ein Toupet. Wie konnte man nur seine Haare vergessen?
Leider gab es aber auch hier, wie auch sonst überall, noch die andere Seite der Medaille. Nicht selten passierte es ihr, dass sie benutzte Kondome oder Schlüpfer zwischen den Bettritzen herausfischte. Von den fast ausschließlich aus der Oberschicht stammenden Übernachtungsgästen, stieg bestimmt nur die Hälfte davon wirklich auf Grund einer Durchreise hier ab. Der Rest war hier, um sich anderweitig zu vergnügen. Männer sowie auch Frauen stillten hier heimlich ihre sexuellen Bedürfnisse, während sie ihre Ehepartner daheim in dem Glauben beließen, geschäftlich unterwegs zu sein. Manchmal hatte Xea das Gefühl, in einem Freudenhaus zu wohnen, denn nicht einmal die dicken Wände konnten das Geschehen dahinter verbergen.
Jedenfalls schien heute nicht gerade ihr Glückstag zu sein, denn zu allem Übel musste Xea auch noch in der Superiorgaststube aushelfen. Wie schon im Krankenhaus, gab es auch in den Gasthäusern, Hotels und anderweitigen Freizeiteinrichtungen getrennte Bereiche. Und das alles nur, um sicherzugehen, dass sich die Medi und die Sups nicht vermischten, was ja anscheinend nicht immer so einwandfrei zu funktionieren schien.
Xea ließ es sich nicht nehmen, nur für einen kurzen Moment noch schnell auf die Personaltoilette zu eilen, um sich den Schlaf aus den Augen zu waschen und ihre Haare zu richten. Zum Glück stand im Badschrank ein Make-up, mit dem sie die dunklen Schatten unter den Augen wenigstens etwas weg kaschieren konnte.
Neben ihrem Praktikum im Krankenhaus, zollte die viele Arbeit in der Gastwirtschaft ihren Tribut. Nicht nur, dass sie magerer geworden war, wo sie ohnehin schon immer sehr dünn war. Nein, auch der Glanz in ihren strahlend blauen Augen und die rosigen Wangen, die ihren dunklen Teint stets noch strahlender erscheinen ließen, gingen von Tag zu Tag immer mehr verloren. Sogar ihr langes, rabenschwarzes Haar wollte nicht mehr so glänzen, wie früher.
Xea hatte das Gefühl, mit jedem Tag mehr zu verblassen. Wäre nicht die Arbeit im Krankenhaus und die Aussicht auf ihre Volljährigkeit und dem damit einhergehendem Ende des Wechsels gewesen, wäre sie wahrscheinlich schon lange verwelkt, wie eine Topfblume, der keinerlei Fürsorge angedeiht wurde.
Ein letztes Mal strich sie sich über den adrett zurückgekämmten Pferdeschwanz, der besonders ihre wunderschön geschwungenen Augenbrauen und die ausgeprägten Wangenknochen betonte. Dann atmete sie einmal tief ein und aus, bevor sie sich Stift und Zettel holte, sich ein aufgesetztes Lächeln ins Gesicht zwang und sich in die Höhle der Löwen begab.
Die Sups speisten in einem separaten Anbau mit überdachter Terrasse, von wo aus der Ausblick auf einen kleinen Park einfach nur atemberaubend war. Ebenso atemberaubend wie auch der ganze Saal, glänzte dessen Inneneinrichtung aus edelstem Walnussholz, in verschiedenen Farbnuancen von braun bis schwarz. Seine belebte Maserung mit dem zarten, zungenförmigen Muster und der ausgeprägten Struktur hauchte den Möbelstücken eine gewisse Art Leben ein. Dazu im Kontrast der glänzend weiße Marmorboden, das porzellanweiß strahlende Tafelgeschirr und die filigran gearbeiteten Gläser und das Gesamtbild war perfekt.
Das Gasthaus war im Großen und Ganzen im Stile eines deutschen Wirtshauses aufgebaut. Deshalb auch die deutsche Karte mit Spezialitäten wie Schweinebraten mit Sauerkraut oder Schnitzel mit Pommes. Natürlich gab es auch typisch englische Speisen, die aber kaum bestellt wurden. Es hat sich im Laufe der Jahre herumgesprochen, dass man hier gut essen konnte und die Engländer gewannen der deutschen Essgewohnheit immer mehr ab.
Der Saal der Medi hingegen war um etliches kleiner, zwar auch in viel Holz gehalten, doch natürlich nichts im Vergleich zum Saal der Sups. Die Möbel waren aus billigem Holz geschreinert und der Boden aus stellenweisen schon brüchigen oder abgewetzten Fliesen.
Trotzdem fühlte sich Xea in der Gaststube der Medius viel wohler. Und das lag fast ausschließlich an den Gästen. Die gekünstelte Wichtigtuerei und die Angespanntheit, die im Saal der Sups vorherrschte, fühlten sich in Xea`s Augen so erdrückend an, dass ihr hier sogar das Atmen schwerfiel. „Na endlich! Zeit wird`s, dass uns hier mal jemand bedient! So einen langsamen Service hab ich ja lange nicht erlebt!“, motzte sie gleich der erste Gast an, an dessen Tisch sie heran trat. Es war ein glatzköpfiger, feister Mann mit seiner Familie, die aus ebenso korpulenter Frau und zwei kleinen pausbäckigen Zwillingsmädchen bestand. Obwohl die Kinder noch sehr klein, vielleicht fünf oder sechs Jahre alt waren, konnte man ihnen jetzt schon mit ziemlicher Sicherheit prophezeien, dass auch sie in die Fußstapfen ihrer Eltern treten und zur Fettleibigkeit tendieren würden. Ihre kurzen Arme und Beine waren enorm gut gepolstert und nicht einmal das zartrosa Kleidchen konnte den leichten Bauchansatz kaschieren.
Es war die reinste Genugtuung für Xea, zu sehen, dass auch die edel geschneiderten Klamotten aus feinsten Stoffen nicht verhindern konnten, dass sie dick und träge darin wirkten. Der überhebliche Blick der Frau, der immer wieder neidisch über Xea`s schlanken Körper wanderte, erleichterten ihr ungemein, die Beleidigungen mit Fassung zu tragen.
„Es tut mir wirklich leid, dass sie so lange warten mussten, aber wir haben heute einen Engpass, weil jemand kurzfristig ausgefallen ist“, versuchte sie sich mit einem entschuldigenden Lächeln zu rechtfertigen.
„Das ist mir sowas von scheißegal, was ihr habt oder was ihr nicht habt! Das ist euer Problem und nicht meins! Ich will jetzt einfach nur etwas essen. Und das zackig. Hast du mich verstanden?“
Xea hätte ihm am liebsten ins Gesicht gespuckt, dass er ein viel größeres Problem haben würde, wenn er nicht mit seiner Völlerei aufhören würde, doch sie war nicht dumm und wusste, dass sie die Konsequenzen dafür hätte tragen müssen. Fiona hätte sie umgebracht! Also quälte sie sich ein extra strahlendes Lächeln ins Gesicht und schluckte ihre unsagbar große Wut, die wie ein riesiger Kloß in ihrem Hals steckte, hinunter.
„Natürlich, ich werde mich beeilen. Was darf ich ihnen denn bringen?“ In Gedanken fügte sie noch du riesengroßes Arschloch hinzu. Und wenn Xea schon jetzt gedacht hatte, vor Wut zu platzen, dann hatte sie sich gehörig getäuscht, denn sie musste noch geschlagene fünf Minuten ausharren, bis auch seine beiden Fratzen wussten, was sie essen wollten. Es gelang ihr nur noch schwer, eine gewisse Freundlichkeit an den Tag zu legen. Verbissen notierte sie sich die ganzen Extrawünsche, wobei notieren nicht ganz stimmte. Ihr Bleistift war nämlich zu allem Überfluss auch noch stumpfer als ein frisch abgesägter Baumstumpf es je sein könnte. Nicht zum ersten Mal wünschte sie sich einen Füller herbei, den die Ärzte immer benutzten, wenn sie Daten von Patienten in ihre Akten schrieben. Einer der nie stumpf war oder bei dem einem die Finger schmerzten, wenn man so fest aufdrücken musste. Zumindest bekam sie das Schnitzel mit Pommes gerade noch so aufs Blatt gekritzelt, doch den Rest musste sie sich leider merken, was sich nach einem anstrengenden Arbeitstag im Krankenhaus und mit einem knurrenden Magen als reinste Sisyphusarbeit herausstellte. Während sie im Geiste immer wieder die einzelnen Gerichte wie bei einer hängen gebliebenen Schallplatte herunter leierte, ging sie zur Theke, wo sie sich alles fein säuberlich mit einem frisch gespitzten Stift auf ein Blatt notierte und in die Küche weiter gab.
Der Rest des Abends verlief auch nicht gerade besser, so dass sie erst, als der Letzte bezahlt und sie die Tische abgeräumt und abgewischt hatte, ihre Anspannung herunterfahren und sich selbst etwas zu essen holen konnte.
„Hier Mädchen, ich hab dir eine extra Portion auf deinen Teller geladen. Ich weiß doch, dass du Braten mit Knödel liebst. Und das hast du dir heute mehr als verdient, würde ich sagen. Lass es dir schmecken!“, lächelte sie Finolo, der Koch an. Es war nicht zu übersehen, dass er sie mochte. Vielleicht lag es daran, dass sie seiner kleinen Tochter, die er als Erste hatte gehen lassen müssen, sehr ähnlich schaute. Das zumindest hatte er ihr kürzlich mal erzählt.
Mit einem freundschaftlichen Kuss auf seine Wange, bedankte sich Xea und ging hinüber zur Gaststube der Medi. Es wunderte sie nicht, dass noch vereinzelt Gäste hier waren und sich die Zeit mit einem Kartenspiel oder dem ein oder anderen Bierchen vertrieben. Mit einem erleichterten Seufzer setzte sie sich in die hinterste Ecke, um ungestört und in aller Ruhe ihr Abendessen zu genießen.
Leider war ihr nicht einmal das vergönnt, denn ihr wäre beinahe der Bissen im Halse stecken geblieben, als sie in der Ecke gegenüber ausgerechnet den jungen Mann aus dem Krankenhaus wiedererkannte. War er es wirklich? Was hatte er hier bei den Medi zu suchen?
Noch nie zuvor hatte Xea einen Superior hier gesehen. Hatte er sich etwa im Raum geirrt? Möglich wäre es, denn so betrunken, wie er da vor seinem Bier saß und ins Leere starrte, konnte es schon sein, dass er nicht mehr so ganz realisierte, wo genau er sich befand. Vielleicht war er aber auch nur hier, um die Medius zu verhöhnen. Schließlich gab er ihnen die Schuld an dem Tod seiner Schwester. Wer weiß, vielleicht wollte er genau nach diesem Schuldigen suchen?
Neugierig winkte sie Klera, die heute Abend hier bediente, zu sich.
„Was ist los, Xea?“
„Klera kennst du den jungen Mann da drüben?“
„Hm…, nein. Den hab ich noch nie gesehen. Aber ist ein echtes Sahnestück, oder? Ich hab versucht, anfangs, als er noch nicht so voll war, mit ihm zu flirten. Aber bin wohl nicht sein Typ“, zuckte sie resigniert mit den Schultern.
„Ich würde eher sagen, du bist nicht seine Klasse.“
„Paah! Du willst doch wohl nicht behaupten, dass ich nicht gut genug für ihn bin?“ Mit aufgeblähter Brust und in die Hüften gestemmten Fäusten stand Klera, die man mit ihren kurzen blonden Haaren und ihren weichen Gesichtszügen durchaus als hübsch bezeichnen konnte, da und sah sie anklagend an.
„Aber nein! So hab ich das doch gar nicht gemeint! Es ist nur so, dass dieser junge Mann da drüben ganz zufällig ein Superior ist.“ Entgegen Xea`s breitem Grinsen, sah Klera aus, als hätte sie gerade ein Gespenst im neongelben Bikini gesehen.
„Oh nein! Da hab ich mich ja ganz schön zum Trottel gemacht! Kein Wunder, dass er mich keines Blickes gewürdigt hat!“
„Sei froh! Er ist nämlich ein arroganter Schnösel, der nur schlecht über uns Medi redet.“
„Woher weißt du denn das alles?“
„Ich musste heute seine tote Schwester waschen. Und wie ich mitbekommen hab, hat sie sich mit einem von uns eingelassen, ein Kind von ihm bekommen und ist bei der Geburt gestorben.“
„Tja, dann ist es ja kein Wunder, dass er sich so volllaufen lässt. Aber warum dann ausgerechnet hier und nicht bei seinesgleichen?“
„Das gleiche hab ich mich auch schon gefragt. Keine Ahnung. Jedenfalls kannst du echt froh sein, dass er so besoffen ist. Im nüchternen Zustand ist der nämlich nicht gerade geschmeidig.“
„Ach schade. Dass immer genau die Blödmänner so toll aussehen müssen. Das gehört sich echt verboten. Aber jetzt mach ich mal weiter, sonst bekomm ich wieder Ärger mit Fiona.“
Nachdem Klera wieder hinter der Theke verschwunden war, ließ Xea ihren musternden Blick erneut über den jungen Mann wandern. Er würde es ohnehin nicht bemerken, denn seine glasigen, rotgeäderten Augen verrieten schon von Weitem seinen erbärmlichen Zustand. Hätte Xea vor ein paar Stunden nicht auch seine andere, vollkommen verdorbene Seite kennengelernt, dann hätte sie echtes Mitleid mit ihm gehabt.