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Beschreibung

Um den riesigen Bedarf an Fisch als Nahrung zu decken, werden jedes Jahr 100 Millionen Tonnen an Fischen und Schalentieren dem Meer entrissen. Das hat fatale Folgen für die Zukunft des Meeres und der Menschheit.

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Mayer-Tasch, Peter Cornelius

Meer ohne Fische?

Profit und Welternährung

www.campus.de

Impressum

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Copyright © 2007. Campus Verlag GmbH

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E-Book ISBN: 978-3-593-40350-2

|2|Peter Cornelius Mayer-Tasch, Professor für Politikwissenschaft und Rechtstheorie an der Universität München, ist Rektor der Hochschule für Politik München sowie Gründer und (mit Prof. Dr. Franz Kohout) Leiter der Forschungsstelle für Politische Ökologie an der LMU München.

|7|Einführung des Herausgebers

Der Schock saß tief und hält bis heute an: Anfang der achtziger Jahre glitt der Kahn des Herausgebers an einem sonnigen Spätsommertag gemächlich über einen der kleineren oberitalienischen Seen. Unter dem Kiel glasklares Wasser und ein hinreißend anmutiges Uferpanorama als szenische Augenweide. Hier, so sein Eindruck, ließen sich »Hütten bauen« – ein locus amoenus schlechthin, Flucht-, Ruhe- und Ausgleichsort für so manche Unbilden und Mühen des Alltags. Ein abendliches Mahl in einem idyllischen Ufer-Restaurant sollte den Tag abrunden. Die Frage nach einem einheimischen Fischgericht wurde mit einem – eher sachlichen als bedauernden – Achselzucken beschieden: Verzehrbare Fische, so die Kellnerin, gebe es hier schon lange nicht mehr. Die Scheidewässer einer am Ufer angesiedelten Fabrik für Badezimmerarmaturen hätten ihnen den Garaus gemacht … Wenn sich dann damals auch »der Gast mit Grausen« (Schiller) wandte, so soll wenigstens »der Rest« nicht »Schweigen« (Shakespeare) sein.

Noch sind wir im Hinblick auf die Meeresfische allenfalls lokal und regional, nicht aber global so weit, noch scheint der – zugegebenermaßen plakative – Titel »Meer ohne Fische?« verfrüht. Ist er es aber wirklich? Ja und nein. »Werdandi« (das Werdende) heißt die Norne der Gegenwart in der germanischen Mythologie, und »Skuld« (Schuld) die Norne der – aus dem Werdenden hervorgehenden – Zukunft! Zwar können noch immer gigantische Mengen an Fisch verzehrt werden. Etwa 90 bis 100 Millionen Tonnen an Fischen und Schalentieren werden Jahr für Jahr dem Meer entrissen. Die Menetekel an den Wasserwänden des – wegen des Widerscheins seiner Meere im All so genannten – blauen Planeten jedoch sind unübersehbar. Wie anders sollte man die Tatsache lesen, dass etwa dreißig Fischarten wegen Überfischung kurz vor dem Aussterben stehen und diese Zahl sich ständig erhöht? |8|Wie den Umstand, dass sowohl die völkerrechtlich und (vor allem) faktisch nur unzureichend abgebremste Nutzung der Meere als globale Vorrats- und Abfalltonne als auch die rücksichtslose Effizienz der vorherrschenden Fangmethoden den Grund für das Aussterben zahlloser anderer bereiten? Wie ließe sich sonst erklären, dass auf dem größten Fischmarkt der Welt, Tokios Tsukiji, ein heimischer Thunfisch – Kin Kai – nicht mehr unter 15.000 Dollar zu haben ist und der japanische Thunfisch-Bedarf deshalb mit Importen vor allem aus Nordamerika gedeckt werden muss?

Après (nous) le déluge? Was es mit der Aktualität dieses Louis Quatorze zugeschriebenen Wortes auf sich hat, ist in dem Beitrag von Bernd Malunat über den »gefährdeten Oikos« der Meere nachzulesen. Dass es um mehr geht als »nur« um das Schicksal der Fische, ist unverkennbar. In erster Linie freilich geht es den Autoren dieses Buches um die symbiotische Beziehung des Menschen zu jenen Lebewesen, von denen der »HERR« des Alten Testamentes sagt: »Es sollen die Wasser wimmeln vom Gewimmel lebender Wesen.« Geschrieben wurde dieses Buch, weil es vielerorts nicht mehr weit her ist mit diesem »Gewimmel lebender Wesen« – im Mittelmeer etwa, in den Japan umflutenden Meeren, aber auch in weiten Bereichen der Ost- und der Nordsee, um nur einige Beispiele zu nennen.

Ein seit 2000 (bis 2010) laufendes internationales Großprojekt, an dem Forschungsinstitute aus aller Welt kooperieren, hat die Aufgabe übernommen, einen »Census of Marine Life« durchzuführen – eine »Volkszählung im Meer«, wie die Zeitschrift Der Spiegel (7/2006) es formulierte. Schon heute ist absehbar, dass diese Bestandsaufnahme, die auch eine historisch-vergleichende Komponente haben wird, wenig Erfreuliches zutage fördern wird. Zwar bergen die Ozeane und insbesondere die – mit den heutigen technischen Hilfsmitteln gerade noch erreichbaren – Tiefseeregionen eine Vielzahl maritimer Lebewesen, die Bestände der dem Menschen seit altersher bekannten Arten jedoch sind aus den schon benannten Gründen rapide im Rückgang begriffen.

Die am 3.11.2006 in der amerikanischen Zeitschrift Science veröffentlichten Ergebnisse1 der groß angelegten Untersuchung einer internationalen Gruppe von Meeresbiologen um Boris Worm von der kanadischen Dalhousie University in Halifax bestätigen nicht nur bisherige Erkenntnisse, sondern bekräftigen sie auch in dramatischer Weise und |9|mehrfacher Hinsicht. Zum einen befürchten die Autoren, dass bei einer Fortsetzung der heutigen (Umwelt- und Fischerei-)«Politik des peripheren Eingriffs« (Doran/Hinz/Mayer-Tasch)2 zumindest die bisher auf den Weltmeeren befischten Arten bis zur Mitte des Jahrhunderts – ausdrücklich die Rede ist vom Jahr 2048 – gänzlich ausgerottet sein könnten. Zum anderen prognostizieren sie aufgrund ihrer empirischen Untersuchungen im Bereich von 64 maritimen Ökosystemen, dass die sich ständig beschleunigende Abnahme der Fischbestände und damit der Biodiversität zu einer sich ebenfalls beschleunigenden Störung des Oikos der Meere führen wird – eine Prognose, die zwar im Hinblick auf mannigfache Erfahrungen mit anderen Ökosystemen nicht wirklich überraschen kann, hier aber auch für die Meeresbiologie überzeugend belegt wird.

Zu hoffen ist, dass wissenschaftliche Kassandra-Rufe dieser und ähnlicher Art die Regierungen aller, insbesondere auch der in besonderem Maße an Fischfang und Fischkonsum interessierten und daher auf den Weltmeeren mit ihren Fischereiflotten besonders zupackend und auf den Seerechtskonferenzen besonders hinhaltend in Erscheinung tretenden Völker – wenigstens im Blick auf die nachhaltige Befriedigung dieses Interesses – reformwilliger an die völkerrechtlichen Verhandlungstische führen wird als dies bislang der Fall war und ist. Diese Perspektive der Hoffnung gilt nicht zuletzt auch für die Regierungen der der Europäischen Union verbundenen Staaten, deren »Gemeinsame Fischereipolitik« (GFP) sich in den letzten 35 Jahren ebenfalls nur sehr zögerlich auf Nachhaltigkeitskurs begeben hat und auch heute noch Vieles zu wünschen übrig lässt.3 Auf ihrem jährlichen Treffen in Dubrovnik hat die zuständige Fischereikommission, der neben den EU-Mitgliedern 41 weitere Staaten angehören, im Spätherbst 2006 beispielsweise die Fangquote für Thunfische wieder nur geringfügig von 32.000 auf 29.500 Tonnen reduziert. Damit ignorierte die Kommission sogar den Rat ihres eigenen wissenschaftlichen Beirates, der eine Halbierung der Fangquote gefordert hatte. Nicht einmal auf die Dauer der Laichperiode wurde die Schonfrist verlängert. Nach Auffassung von WWF-Experten bedeutet dies mittelfristig das Todesurteil für den Roten Thunfisch.

Die Erwartungen und Forderungen, die an die Gemeinsame Fischereipolitik der Europäischen Union unter dem Aspekt ökologischer und |10|ökonomischer Nachhaltigkeit zu stellen sind, sind selbstverständlich auch an die Weiterentwicklung der weltweiten Ansätze zu einer dem fortwährenden Raubfang und Raubbau wehrenden Umwelt- und Fischereipolitik zu stellen: Zu nennen ist in diesem Zusammenhang insbesondere die überfällige, jedoch nur sehr schleppend in Gang kommende Reduktion der durch eine kontraproduktive Subventionspolitik übermäßig aufgerüsteten Fangflotten. Im Rahmen der GFP etwa ist vom 1.1.1995 bis zum 1.1.1996 nur eine geringfügige Reduktion von 106.684 auf 89.666 Schiffe erreicht worden. Was diesen kleinen Erfolg jedoch wieder in Frage stellt, ist die Tatsache, dass die Verminderung der Anzahl von Fangschiffen durch die Steigerung ihrer technischen Fangkapazitäten zum Teil wieder aufgehoben wird. Auch insoweit bedarf es europa- und völkerrechtlicher Bemühungen zur technischen Umrüstung der verbleibenden Fangflotten, um etwa unerwünschten Beifang durch Einsatz selektiverer und schonenderer Fanggeräte besser vermeiden zu können und so eine gezieltere und deshalb auch umweltverträglichere Ertragsplanungen zu ermöglichen.

Zu fordern ist darüber hinaus die restriktivere Zuteilung von Fangquoten im Rahmen von internationalen Bewirtschaftungsplänen, vor allem aber die Verlängerung der Schonzeiten und die Einrichtung und Erweiterung von Schutzzonen, innerhalb derer jeglicher Fischfang untersagt wird. Dass sich die Fischbestände innerhalb solcher Schutzzonen wieder zu erholen vermögen, wurde gerade wieder durch die – in 44 Voll-Reservaten durchgeführten – meeresbiologischen Untersuchungen der Gruppe um Boris Worm bestätigt. Das Alpha und das Omega aller Nachhaltigkeitsbestrebungen freilich ist eine wirksamere Kontrolle der bereits getroffenen wie der noch zu treffenden umwelt- und fischereirechtlichen Regelungen. Diese sollte nicht nur innerhalb der (sich bis 12 Seemeilen ausdehnenden) Küstengewässer und der (sich bis 200 Seemeilen ausdehnenden) Wirtschaftszonen in Kraft treten, sondern auch auf Hoher See. Nicht zuletzt darum ist es höchste Zeit, die Kontrollnetze ähnlich engmaschig zu knüpfen wie die Fischernetze.

Ohne einen disziplinierteren Umgang mit dem – von dem Niederländer Hugo Grotius vor 400 Jahren (De mare liberum erschien im Jahre 1609) unter völlig anderen ökologischen Voraussetzungen formulierten und von der Völkergesellschaft dann auch weithin akzeptierten – Prinzip der ›Freiheit der Meere‹ wird es bald keine Freiheit des Menschen |11|mehr geben, am drastisch schwindenden Reichtum des Meeres teilzuhaben. Wo sich die heutigen Raubritter der maritimen Allmende mehr als den – in der ›freien Wildbahn‹ immerhin noch durch Naturgesetze gezähmten – »Löwenanteil« anmaßen, werden wir aller Voraussicht nach morgen nicht einmal mehr den uns im Sinne des humanistischen Leitbildes von Mitte und Maß zustehenden Anteil an diesem ›Erbe der Menschheit‹ beanspruchen können. Das von dem (um die Wende vom 1. zum 2. Jahrhundert in Rom lebenden und lehrenden) Stoiker Epiktet in seinem Encheiridion gebrauchte Bild vom Tisch des Lebens, an dem wir uns – auch im Zugriff auf die angebotenen Speisen – gesittet zu verhalten haben, muss im Blick auf die unverkennbar maßlose Gier im Zugriff auf die Schätze des Meeres wie auch im Blick auf die augenfällige Rücksichtslosigkeit im Umgang mit der Schatztruhe selbst besonders eindrucksvoll erscheinen. Und so mag denn auch dieses vom Oikos der Meere und ihrer Bewohner und Nutzer handelnde Buch einer nachdrücklichen (und hoffentlich auch nachhaltigen) Erinnerung an die Aktualität des Bildes vom Tisch des Lebens gewidmet sein.

Die Lineatur des Buches führt von einem umfassenden Blick auf die kulturellen Dimensionen von Fisch und Fischerei in der Wahrnehmung des Menschen (im Beitrag des Herausgebers) und einem Rückblick auf die lange Geschichte des Fischfangs und seiner verschiedenen Erscheinungsformen (im Beitrag von Patrick Schwan) zu einer Betrachtung der Meeresfischerei als Faktor der Weltwirtschaft (im Beitrag von Harald Bergbauer und Patrick Uwe Petit) und der Welternährung (im Beitrag von Franz-Theo Gottwald). Analysiert wird darin die große Bedeutung von Fischerei und Aquakultur als volkswirtschaftliche Beschäftigungsfaktoren und Eckpfeiler der Urproduktion sowie als wertvolle Nahrungsquellen nicht zuletzt für viele Länder der Dritten Welt. Die Darstellung der – ebenso mühsam begründeten wie ständig missachteten – rechtlichen Regelungen der Meeresfischerei sowie des komplexen Beziehungsgeflechtes der Rivalen im ›Kampf um den Fisch‹ folgt in den Beiträgen von Kurt-Peter Merk und Franz Kohout. Sie stecken den Schauplatz und die soziopolitischen Rahmenbedingungen ab, unter denen sich das Menschheitsdrama der rücksichtslosen, allen ökologischen Gesetzen der Nachhaltigkeit spottenden Überfischung und damit letztlich die Entleerung der Meere vollzieht. Mit der imaginären »Republik der Fische« münden diese Darstellungen in dem »moralischen Schlusswort« |12|von Bernd Mayerhofer, das nicht zuletzt das Dilemma aufzeigt, in das der Mensch durch die Übernutzung der so genannten Schätze des Meeres gerät und zugleich die Verantwortung beleuchtet, die ihm für das dramatische Geschehen auf und unter den Weltmeeren zuzuweisen ist – eine Verantwortung, die sich heute nicht nur auf das Schicksal der Fische, sondern auch auf den gesamten Oikos der Meere erstrecken muss.

Die Mitautoren sind allesamt Mitglieder oder Förderer der Forschungsstelle für Politische Ökologie am Geschwister-Scholl-Institut für Politische Wissenschaft der Universität München, die sich seit nun mehr als dreißig Jahren um eine ganzheitliche Betrachtung der Um- und Mitweltkrise unserer Zeit und um die Auffindung von Wegen zu ihrer Überwindung bemüht. Dieses Buch – wie auch eine Reihe ihr vorhergehender Schriften – ist nicht zuletzt die Frucht einer Kooperation der Forschungsstelle mit der ebenfalls ökologischen Zielsetzungen verpflichteten Münchner Schweisfurth-Stiftung, dessen Vorstand, Prof. Dr. Franz-Theo Gottwald, als Mitautor zeichnet.

Nicht vergessen sein darf der Dank an Ilse März, die der Forschungsstelle seit nun 25 Jahren verbundenen ist und wesentlich dazu beigetragen hat, auch dieses Manuskript aus seiner hieroglyphischen Befindlichkeit zu erlösen.

München, im Winter 2006/7

Peter Cornelius Mayer-Tasch

|13|Kultur und Geschichte

|15|Große Fische, kleine Fische. Fisch und Fischerei in Kultur und Kulturgeschichte

Peter Cornelius Mayer-Tasch

Und Gott sprach: Es sollen

Die Wasser wimmeln vom

Gewimmel lebender Wesen

Gen 1, 20

»Sano come un pesce« – gesund wie ein Fisch – lautet eine italienische Redensart. Und in Franz Schuberts alt- und weit bekanntem Lied schnellt die »muntere Forelle«, musikalisch beschwingt, kreuz und quer durch den nicht minder munter sprudelnden Bach. Trotz aller ökologischer Eingriffe und Einbrüche sind es auch heute zumeist noch Bilder von Lebenskraft und Lebensfülle, die vor unserem inneren Auge erstehen, wenn von natürlichen Quellen, Bächen, Flüssen, Seen und Meeren oder auch nur von künstlichen Teichen und Brunnen samt deren Bewohnern die Rede ist. Im Wasser, dem geheimnisvollen Element, ohne das kein Leben möglich wäre und aus dem wohl auch alles Leben auf der Erde einst hervorgegangen ist, tummeln sich in großer Formen- und Farbenvielfalt Geschöpfe, deren Beweglichkeit, Anmut und Seinsgewissheit uns stets aufs Neue zu entzücken vermögen. Zugleich sind es Geschöpfe, deren Leben wir unserem eigenen opfern, indem wir sie zur Nahrung wählen. Geschöpfe, deren in den Tiefen des Meeres hausende Artgenossen wir aber auch als bedrohlich empfinden mögen. Seit eh und je beschäftigen Seeungeheuer die Phantasie der Menschen. Und auch heute noch sind Horrorberichte von hoch bewehrten Mörderfischen vom Typus des kinematographisch aufgedröhnten »Weißen Hai« oder auch Erfahrungen mit Riesenkraken, Giftrochen, Quallen und ähnlichem Getier sehr wohl dazu angetan, so manchem Zeitgenossen Schauer über den Rücken zu jagen. Kein Wunder also, dass sich die menschliche Bezugs- und Ausdruckskraft den Fischen nicht nur in ihren lebensfreundlichen, sondern auch in ihren lebensfeindlichen Varianten zuwendet.

Grund genug jedenfalls, diesen Bewohnern des Wassers breiten Raum in unserem eigenen Leben einzuräumen. Und dies nicht nur in |16|den realen Bewegungs-, sondern auch in den imaginären Bewusstseinsräumen unseres Daseins. Mit ihnen befassen wir uns nicht nur beim Fischfang, am Küchentisch und an der Speisetafel, sondern auch in der Symbolwelt der Künste, Märchen, Mythen und Religionen. Dass dabei nicht selten auch anthropomorphe Assoziationen aufscheinen, die von schimärischen Mutationen bis zu vollkommenen Identifikationen reichen, mag auf die im Halbdunkel unseres Bewusstseins schlummernde Erinnerung an die Vor- und Frühzeit der menschlichen Entwicklungs- und Stammesgeschichte zurückverweisen.

Von den verschiedenen Dimensionen der hohen kognitiven und emotionalen Affinität von Mensch und Fisch wird nun in der Folge die Rede sein – von den lichten wie von den düsteren, von den materiellen wie von den spirituellen. Da diese Dimensionen sich überlappen und ineinander verschränken, wird ihre Darstellung thematischen Akzentuierungen folgen. Zunächst soll daher der Fisch als »Freund und Helfer« ins Blickfeld rücken (1), danach sein bedrohliches Gegenbild (2). Den Abschluss bilden wird schließlich ein Blick auf die spirituellen Verdichtungen und Auflösungen der Fische-Symbolik.

Von großen und kleinen Fischen, oder: Der Fisch als »Freund und Helfer«

Einen »dicken Fisch« hat im deutschen Sprachraum an der Angel, wer im Begriff ist, ein gutes Geschäft zu machen. Selbst als Traumsymbol verheißt der Fang und auch schon der Anblick großer Fische reichen Gewinn. Zeigt sich dem »dritten« Auge des Träumenden ein Goldfisch, so kann er die Erfüllung einer Hoffnung erwarten. Wen wundert’s, dass sich deshalb auch die eine oder andere aufstiegs- und heiratswillige Dame mit Marilyn Monroe die Film-Frage stellt »Wie angelt man sich einen Millionär?«. Und auch die früher so genannten »Herren der Schöpfung« haben selten etwas dagegen einzuwenden, wenn ihnen ein »Goldfisch« ins Netz geht. Wer dann aber dank seines Anglerpechs nicht nur kleine Brötchen, sondern auch »kleine Fische« backen muss, dem mag es zum Trost gereichen, dass »ein kleiner Fisch auf dem Tisch« |17|besser ist »als ein großer im Bach«, wie ein altes deutsches Sprichwort weiß. Und dies umso mehr, als »der größte Fisch« ohnedies der ist, »den man nicht gefangen hat«. Dies jedenfalls meinen von altersher die Chinesen. Gerade sie aber müssten es wissen: In ihrer Kultur nämlich – wie auch in allen von der chinesischen Kultur geprägten Kulturen – spielt der Fisch als Erfolgs- und Glückssymbol eine herausragende Rolle. Wer das I GING – wohl das älteste Weisheitsbuch der Welt – als Orakel nutzt und auf eine Orakelfrage das 44. Wandlungsbild GOU (in der Position »Neun auf viertem Platz«) zur Antwort erhält, braucht sich keine Hoffnungen auf eine gute Lösung seines Problems zu machen. Die Antwort lautet nämlich: »Im Behälter ist kein Fisch / Daraus erhebt sich Unheil«. Vor allem sind es die Goldfische, die im »Reich der Mitte« spätestens seit dem 8. Jahrhundert Fruchtbarkeit, Wohlstand sowie auch ganz allgemein eine kraftvolle und zukunftsfähige Grundeinstellung gegenüber dem Leben signalisieren. Seit dem 12. Jahrhundert wurden die farbenprächtigen »Blumen des Wassers« von den Kaisern der Sung-Dynastie – aber auch von den Mönchen im Umkreis buddhistischer Klöster und Pagoden – in Palast- und Tempelteichen als Glücksbringer gehegt und gepflegt. Erstmals gezüchtet wurden die Goldfische um die erste Jahrtausendwende aus den in Ost-China entdeckten Gelbfischen, die der über den ganzen eurasischen Raum hin verbreiteten Familie der Giebel (carassius gibelio) angehören. Dass deren chinesischer Name YÜ (= Chi) mit dem chinesischen Symbol für Lebenskraft zusammenfällt, kündet von ihrem hohen Stellenwert in der Kultur der Himmels- und Drachensöhne. Das Chi nämlich durch Haus und Garten pulsieren zu lassen und so auch die Lebenskraft von Körper und Seele ihrer Bewohner zu erhöhen, ist das Ziel aller Feng Shui (das heißt Wind- und Wasser-)Praktiken, wie sie von Kennern und Liebhabern der chinesischen Kultur auch in der westlichen Welt zur Untermauerung der eigenen Lebenshöhe angewandt werden. Schon um 1500 wurde diese zunächst exklusiv-imperiale, dann auch aristokratische und parasakrale Passion der Chinesen in Japan übernommen; mit der Ausweitung der Missions- und Handelsbeziehungen gelangte sie dann um die Mitte des 17. Jahrhunderts nach Europa. In Holland wurden Goldfische seit der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts gezüchtet. Heute sind sie weltweit heimisch.

Goldfischteiche und Goldfischbrunnen zu besitzen freilich ist nicht nur in China ein Privileg. Wer sich solche »Glücksreservoire« nicht leisten |18|kann, hält sich die Glücksbringer dort im Aquarium oder im Goldfischglas vom Straßenhändler. Und wenn nicht, schmückt er vielleicht wenigstens am Neujahrstag die Haustüre mit Goldfischtransparenten. Selbst bei Werbeplakaten und Geschäftsanzeigen muss der Goldfisch als »Freund und Helfer« mit von der Partie sein. Auch in den Künsten – in der Tusch-, Aquarell- und Porzellanmalerei, im Holzschnitt und auf Seidenstickereien – entfaltet er in zahllosen Variationen seinen Charme. Auch außerhalb Chinas wird man selten ein Restaurant antreffen, das die – wirtschaftlichen Gewinn versprechenden – acht Goldfische wenn nicht in einem Brunnen oder Aquarium, so wenigstens als Decken- oder Wanddekor ziert.

Als Glückssymbol gilt der Fisch auch im Nahen Osten und in Nordafrika. Schon der den Zinsgroschen apportierende Fisch, den Petrus auf seines Meisters Geheiß angelt (Mt 17, 24–27), wird von der Symbolforschung im Lichte dieser Tradition gesehen. Und auch die im Maghreb – wie auch der Bernstein – zur Abwehr des bösen Blicks genutzten apotropäischen Fischsymbole sollten das Glück ihrer Träger sichern. Auch in der westlichen Kunst hat sich der Fisch seinen Platz erobert. Paul Klees 1925 entstandenes, heute die Besucher der Hamburger Kunsthalle und ungezählte Postkartenfreunde entzückendes Gemälde mit dem schlichten Titel »Der Goldfisch« zählt zu den beliebtesten Bildmotiven der klassischen Moderne. Dass auf diesem Gemälde – außer dem auf blau-schwarzem Grund in der Bildmitte »schwimmenden« rotgoldenen Prachtexemplar – alle Bildecken mit weiteren sieben Wächterfischen (die dann die chinesische Wohlstandszahl acht voll machen) gesichert zu sein scheinen, verweist auf Klees Wissen um die Glückssymbolik des fernen Ostens. Und auf einem nach der Jahrtausendwende in Deutschland entstandenen Ausstellungsplakat wurde einem großen Glücksfisch gleich die ganze Erdkarte aufs goldgelbe Schuppenkleid gedruckt. Bedenkt man, dass in der chinesischen Kultur die Farbe Gold bzw. Gelb für die – auch abendländische, humanistische – Tugend der Wahrung von Mitte und Maß steht, so wird diese Symbolik auch im Blick auf die Welt des Politischen leicht nachvollziehbar. Dieser Tugend mag sich auch verpflichtet fühlen, wer selbst zum »tollen Hecht« oder gar zum »Hecht im Karpfenteich« geworden ist. Und dies umso mehr, als sich vielerorts im Abendland der »Neujahrskarpfen« zu |19|einer – freilich weit weniger stark als in China – symbolisch aufgeladenen Festspeise entwickelt hat.

Abb. 1: Pieter Brueghel d. Ä.: Die großen Fische fressen die kleinen, 1557

Wie schon eingangs erwähnt, mag die semantische Gleichsetzung von Mensch und Fisch einerseits auf die Entwicklungs- und Stammesgeschichte unserer Spezies verweisen; zugleich verrät sie aber auch das latente Interesse an der – insbesondere bei Naturvölkern verbreiteten, nicht selten auch in der abend- wie morgenländischen Umgangssprache, Literatur und Heraldik aufscheinenden – Ankoppelung an eine als Erfolgsgeschichte wahrgenommene Vitalitätsperspektive. Andererseits wird die naturförmige Unerbittlichkeit der biologischen Rangfolge einschließlich der sie voraussetzenden Nahrungskette auch mit einem mehr oder minder offenkundigen Schauder zur Kenntnis genommen. In dem Gemälde Pieter Breughels d. Ä. »Die großen Fische fressen die kleinen«, das, wohl um 1557 entstanden, ein weit verbreitetes Sprichwort allegorisiert, wird der Auslöser dieses Schauders dem Betrachter sehr drastisch vor Augen geführt: Aus dem aufgeschlitzten Bauch eines Riesenfisches quellen kleinere, aus deren gleichfalls aufgeschlitzten Bäuchen noch |20|kleinere flutschen, die sich erkennbar von besonders kleinen ernährt haben. Eine an die Grenzen des Lebens- und Naturgesetzes führende und rührende Allegorie dies, die zum einen auf die weniger glückhaften Assoziationen der menschlichen Phantasie mit der Welt der Fische verweist und die zum anderen vielleicht auch schon auf deren spirituelle Überwindung hoffen lässt. Zunächst aber mag von den ersteren die Rede sein.

Von Licht und Schatten, oder: Der ewige Leviathan

»Wo Licht ist«, weiß das Sprichwort, »ist auch Schatten«. Auch die Welt der Fische macht da keine Ausnahme. Das Gegenbild zur heiteren Licht-Idylle der rotgoldenen Künder des Glücks bildet die – uns weithin unbekannte – Finsternis der Meerestiefen mit ihrem vielgestaltig dräuenden Getier: »Was die heulende Tiefe da unten verhehle«, heißt es in Friedrich Schillers Ballade vom Taucher, »das erzählt keine lebende glückliche Seele«. Umso mehr erzählen schon in der Antike Schauermären von dem, was die »heulende Tiefe« verbirgt. So etwa die von den Ungeheuern Scylla und Charybdis, die – mythologisch – jeden Seefahrer bedrohen, der es wagt, die Meerenge von Messina zu durchfahren und dort mit Riffen und Strudeln zu kämpfen. Der Scylla wurden außer einem weiblichen Oberkörper sechs Köpfe und sechs wilde (Wasser-) Hunde als Unterkörper zugeschrieben, der Charybdis ein monströser Durst, der sie dreimal täglich das Meer aussaufen ließ. Wer dann noch dem betörenden Gesang der Sirenen verfiel (vor dem sich Odysseus so trefflich zu schützen wusste), war vollends verloren. Vom Göttervater Zeus erzählt die griechische Mythologie, dass er die Monsterschlange Ophineus aus den Höhen des Olymp in die Tiefen des Meeres geschleudert habe. Selbst der nüchterne Empiriker Aristoteles berichtet noch in seiner Tierkunde von großen Seeschlangen. Und Riesenkraken zählen ohnedies zum antiken Repertoire des maritimen Schreckens – ganz so wie Poseidons Dreizack, Streitwagen und Jähzorn wohl allesamt Transfigurationen der (bis heute mit gutem Grunde gefürchteten) potentiellen Wildheit und Unberechenbarkeit des Meeres sind.

|21|Kein Wunder also, dass sich die Erinnerung an solche Horrorvisionen im Gedächtnis zumindest der Dichter noch lange gehalten hat, wie nicht zuletzt auch Schillers Ballade eindrucksvoll belegt:

Nach seinem (vom König mutwillig herausgeforderten) ersten Sprung in die reißenden Strudel der Charybdis konnte »Der Taucher« immerhin noch warnend von den Schrecknissen berichten, denen er dann nach dem (vom König noch vermessener herausgeforderten) zweiten Sprung zum Opfer fiel:

Lang lebe der König! Es freue sich,

Wer da atmet im rosigen Licht! Da unten aber ist’s fürchterlich,

Und der Mensch versuche die Götter nicht

Und begehre nimmer und nimmer zu schauen,

Was sie gnädig bedecken mit Nacht und Grauen.

Denn unter mir lag’s noch bergetief,

In purpurner Finsternis da,

Und ob’s hier dem Ohre gleich ewig schlief,

Das Auge mit Schaudern hinuntersah,

Wie’s von Salamandern und Molchen und Drachen Sich regt’ in dem furchtbaren Höllenrachen.

Schwarz wimmelten da, in grausem Gemisch,

Zu scheußlichen Klumpen geballt,

Der stachlige Rochen, der Klippenfisch,

Des Hammers gräuliche Ungestalt,

Und dräuend wies mir die grimmigen Zähne

Der entsetzliche Hai, des Meeres Hyäne.

In dem atemlosen und schreckensbleichen Bericht des Schiller’schen »Taucher(s)« mischt sich der althergebrachte Schauder vor den ebenso unbekannten wie unheimlichen Meerestiefen mit einer beiläufigen Verarbeitung erster naturwissenschaftlicher Tauchgänge, wie sie von den Vorläufern der großen französischen Tiefseeforscher Cousteau und Piccard ab dem 15. Jahrhundert versucht und seit der Entwicklung von Tauchvorrichtungen unter anderem von Leonardo da Vinci (um 1500) und Papin (um 1692) in verstärktem Maße durchgeführt wurden. Erste Berichte stammen bereits aus der Antike. Über jeden konkreten Bericht aber legten sich die – nicht zuletzt von Seemannsgarn spinnenden Schiffern genährten – Mythen und Märchen von riesenhaften, alles verschlingenden |22|Meeres- und Seeungeheuern, die in den Hafenschenken und Gesinde-, Bauern- und Bürgerstuben ähnlich periodisch auftauchten wie »Nessie«, das angeblich immer wieder einmal gesichtete Monster im schottischen »Loch Ness«. Und selbst noch Jules Verne schildert den Angriff eines Riesenkraken auf seine Nautilus. Das Urbild dieser Meeres- und Seeungeheuer dürfte der im 40. und 41. Kapitel des alttestamentarischen Buches Hiob von dem »aus dem Wetter« zu Hiob sprechenden »HERRN« als Allegorie seiner unüberwindlichen »Kraft und Herrlichkeit« grausig geschilderte Leviathan sein:

Siehe, die Hoffnung wird jedem fehlen.

Schon wenn er seiner ansichtig wird … (40, 28)

Wer kann die Kinnbacken seines Antlitzes aufthun?

Schrecklich stehen seine Zähne umher. (41, 5)

Seine stolzen Schuppen sind wie feste Schilde,

fest und enge ineinander. (41, 6)

Aus seinem Munde fahren Fackeln,

und feurige Funken schießen heraus. (41, 10)

Auf seinem Halse wohnt die Stärke,

und vor ihm her hüpft die Angst. (41, 13)

Wenn er sich erhebt, so entsetzen sich die Starken,

und wenn er daherbricht, so ist keine Gnade da. (41, 16)

Das Faszinosum der »gottgegebenen« Unwiderstehlichkeit war es wohl auch, die den in einem Zeitalter nicht nur der europäischen Bürgerkriege, sondern auch der maritimen Invasionen und Assoziationen lebenden Engländer Thomas Hobbes (1588–1679) so sehr in seinen Bann schlug, dass er seinem staatsphilosophischen Hauptwerk von 1651 den Titel Leviathan gab. Um den aktuellen wie potentiellen Bürgerkrieg niederzuhalten, war seinem ordnungslegitimistischen Denken beinahe jedes Mittel recht. Und da er nur in der unumschränkten Souveränitätsmacht des Staates eine Garantie für die Verwirklichung dieses Zieles zu sehen vermochte, wurde der (wenn auch formal aus dem hypothetischen Vertragswillen Aller geborene) »body politic« für ihn zum großen Leviathan, dem die rechtlichen und politischen Zähne »schrecklich … umher |23|(stehen)« und vor dem »die Angst … her hüpft«, um es nochmals biblisch auszudrücken.

Während der alttestamentarische Leviathan dem im Elend mit seinem Gotte hadernden Hiob als Symbol der schicksalhaften Unüberwindlichkeit des göttlichen Ratschlusses bildhaft vorgehalten wird, und der noch aus der Bilderwelt der Bibel schöpfende Philosoph ihn zur Unter- und Ummauerung seiner politischen Ordnungsvorstellungen konstruktiv zu beschwören sucht, verkörpert die im frühen Christentum mit dem biblischen Leviathan assoziierte Midgardschlange der germanischen Mythologie eine Umgrenzung ganz anderer Art – die von dem listenreichen Gott Loki mit der Riesin Angurboda gezeugte, sich in den eigenen Schwanz beißende Welt- und Meeresschlange. Gleich dem Okeanos der griechischen Mythologie umspannt und bedroht sie die als Scheibe gedachte Menschenwelt (Midgard). Wie der Leviathan, so ist auch sie eine archaische, in das eddische Zeitalter hineinragende Phantasmagorie, Zeiten und Räume miteinander verbindend, das Innen – die Menschenwelt – vom Außen – der Nicht-Menschenwelt – scheidend. Am Grunde des Meeres ruhend, wartet die Midgardschlange auf ihre Stunde, die Stunde der Götterdämmerung. Auf Ragnarök wartet sie, den Tag der Entscheidung, wenn alle Ordnung sich auflöst und die Welt zu den Anfängen zurückkehrt – diesmal in blutigem Kampf. Vergeblich schleudert Thor seinen unfehlbaren, nach jedem Wurf zu ihm zurückkehrenden Kampfhammer Mjölnir gegen die Schlange, die ihr furchtbares Haupt aus den Fluten des Meeres erhebt. Zwar zerschmettert er ihren Kopf, doch reißt der Gifthauch des Ungeheuers ihn mit in den Tod. Ähnlich ergeht es den anderen Göttern – allesamt sterben sie im Kampf gegen die Mächte der (Meeres-)Finsternis. Als schließlich der Grenzwall bricht und Asgard, die Heimstatt der unterlegenen Götter, im Feuer zerstört wird, ist auch Midgard, die Welt der Menschen, dem Untergang geweiht. Allein, was heißt hier Untergang? Es wäre keine mythologische Erzählung, würde sich der finale Weltenbrand nicht in einen Neuanfang verwandeln. Das läuternde Feuer – ein aus der altarischen (insbesondere persischen) Esoterik in die nordische Mythologie und die christliche Eschatologie übernommenes, immer wiederkehrendes Motiv – sühnt alle Schuld und stiftet so die Voraussetzungen für einen »neuen Himmel und eine neue Erde«: Midgard 2 steigt aus den Fluten, und aus zwei überlebenden Menschenkindern, die sich unter den Wurzeln der Weltenesche |24|Yggdrasil in Urds Brunnen verborgen hatten, erwächst das neue Geschlecht. Auch die Götter, Thors Söhne, kehren zurück und treten in Asgard 2 ihr himmlisches Regiment an. Das Goldene Zeitalter ist gekommen, die einst unbezähmte und unbezähmbar erscheinende Natur endgültig besiegt.

Wer die im Spätjahr 2004 an den Küsten des Indischen Ozeans wütenden und die im folgenden Jahr die Süd- und Südostküste der USA und Mexikos heimsuchenden, weltweites Entsetzen auslösenden Tsunamis und Hurrikane im Lichte der altgermanischen Mythologie sehen will, mag sie als drohendes Grollen der Midgardschlange verstehen. Auf der Suche nach Trost mag er sich doch wieder lieber der dem geretteten Noah von seinem Gott verkündeten Verheißung hingeben, »dass hinfort nicht mehr alles Fleisch verderbet soll werden mit dem Wasser der Sintflut« (Gen 9, 11). Wer solcher Verheißungen nicht teilhaftig werden konnte, mochte (wie in manchen antiken Kulturräumen üblich) den Göttern der Unterwelt samt den ihnen zugehörigen Verstorbenen Fische zum Opfer bringen, um sie gnädig zu stimmen. Es handelt sich dabei um Kultgebräuche, die in manchen Ländern in dieser oder jener Form noch bis an die Schwelle der Gegenwart gepflegt werden. So etwa in Japan, wo die – stets mit einer großen roten Meerbrasse dargestellte – Shinto-Naturgottheit YEBISU, Gott der Meere und des Fischfangs, als Schutzpatron der Fischer und (See-)Kaufleute hoffnungsvoll angerufen wird. Das ihm gewidmete Fest – der 10. Januar bzw. (in Osaka) 20. Oktober – lässt sich bis auf das 16. Jahrhundert zurückverfolgen.

Eine Zuversicht ganz anderer Art lässt der dänische Dichter Hans Christian Andersen (1805–1875) in einem um die Mitte des 19. Jahrhunderts verfassten Märchen mit dem Titel »Die große Seeschlange« erkennen, in dem er den altgermanischen Mythos mit einer dem Zeitgeist geschuldeten Fortschrittsgläubigkeit verbindet – einer Fortschrittsgläubigkeit, die uns Heutige nach unseren Erfahrungen mit den »Segnungen der Technik« je nach Temperament mit grellem Neid, bitterer Ironie oder leiser Wehmut erfüllen mag. In dem Märchen geht es um einen auf den Meeresgrund versenkten Telegraphendraht, der von den ihn neugierig beäugenden Fischen jeglicher Form und Farbe vielstimmig kommentiert wird. Was den Fischen jedoch ein Rätsel ist und bleibt, ist für den Erzähler sonnenklar:

|25|»Die große Seeschlange ist es, von altersher in Lied und Sage erwähnt. Sie ist durch menschliche Genialität zur Welt gekommen und großgezogen worden, ist ihr entsprungen und auf den Meeresgrund gelegt worden, erstreckt sich von den Ländern im Osten zu den Ländern im Westen und bringt Botschaft so schnell wie der Strahl des Lichts von der Sonne bis zu unserer Erde. Sie wächst und wächst an Macht und Verbreitung, wächst Jahr um Jahr, durch alle Meere, rund um die Erde, unter den stürmischen Wassern und den glasklaren Wassern, wo der Schiffer hinunter blickt, als segelte er in durchsichtiger Luft, wo er ein Fischgewimmel sieht, ein ganzes Farbenfeuerwerk. Ganz unten streckt sich die Schlange aus, eine Midgardschlange voller Segen, die sich in den Schwanz beißt, indem sie die Erde umfängt – (eine) in allen Sprachen kündende und dennoch lautlose Schlange des Wissens auf Gedeih und Verderb, das wundersamste von allen Wundern des Meeres, die große Seeschlange unserer Zeit.«

Angesichts solch’ erdumschlingender Zuversicht weichen alle Meeresschatten im Hoffnungslicht eines besseren Morgen. Übertroffen werden kann eine irdische Zukunftsgläubigkeit dieser Art nur noch durch eine (zumindest tendenziell) überirdische – durch die Hoffnung auf ein spirituelles Fortschrittspotential. Und hiervon soll nun noch die Rede sein.

Von heilenden und heiligen Fischen, oder: Ex aqua salus

Schon die Erinnerung an die Frühzeit des Menschen birgt einen Hinweis auf die spätere symbolgeschichtliche Bedeutung des Fisches: Als einziges außermenschliches Lebewesen ist ihm ein unvermitteltes Überleben in der Großen Flut vergönnt. Und mehr noch: Wenn nicht in der babylonisch-hebräischen, so doch in der altarisch-indischen Mythologie wird seine Gattung nicht nur als Ganzes gerettet, sondern auch selbst zur Retterin der Menschheit. Nicht – wie in der alttestamentarischen Version – der »HERR« selbst ist es, der den auserwählten Ur- oder Frühmenschen Manu (alias Noah) vor der kommenden Flut warnt, sondern vielmehr ein kleiner Fisch, dem er seinen Schutz gewährt hatte. Zu eiem Riesenfisch herangewachsen, schleppt er die Arche Manus nach dem Abschwellen der Flut aufs Trockene.

|26|Dass es sich bei diesem wundersamen Fisch um ein gottähnliches Wesen handelt, würde man auch dann vermuten, wenn man es – dank der mythologischen Erzählung – nicht wüsste: Der Gott Vischnu ist es, der Erhalter, der in Fischgestalt das Rettungswerk vollbringt – ein Umstand, der spirituell gesinnte und deshalb »von Natur aus« zum Pantheismus neigende Ökologen mit Genugtuung erfüllen mag. Ex aqua non solum vita, sed etiam salus – Aus dem Wasser [stammt] nicht nur das Leben, sondern auch das Heil, könnte man also mit Fug und Recht folgern. Und dieses Heilungsmotiv setzt sich durch die ganze abend- und morgenländische Kulturgeschichte hindurch fort. Gerettet, geheilt und heilsam belehrt wird von (erleuchteten) Fischen oder auch nur im Zeichen (erleuchteter) Fische in mannigfacher Art und Weise.

Wie der indische Urmensch Manu wird auch der – um die Wende vom 7. zum 6. vorchristlichen Jahrhundert lebende – griechische Dichter Arion von Lesbos (nach einer von Herodot überlieferten und später von Schlegel und Tieck ausgeschmückten Sage) von einem Meeresbewohner aus Lebensgefahr und Todesnot gerettet: Vor seinem Sturz ins Meer beschwört der – von raubwilligen Schiffern Bedrohte – auf seiner Leier die guten Geister des Meeres. Und dies mit Erfolg: Ein Delphin taucht auf und bringt den Sänger auf seinem Rücken in Sicherheit. Eine Sage dies, die zumindest insoweit hypothetische Authentizität beanspruchen kann, als sie an ein empirisch vielfach belegbares Sozialverhalten dieser hochintelligenten Tiere anknüpft: Immer wieder einmal wird von den (nicht zuletzt Menschen vor dem Angriff von Haien abschirmenden) Schutzmanövern von Delphinschwärmen berichtet – ein Verhalten, das außerhalb des Bannkreises der Domestikation ans Wunderbare grenzt und vielleicht auch dafür verantwortlich war, dass der Delphin in der Antike als ein dem Göttervater Zeus (Jupiter) heiliges Geschöpf galt. Gerade Delphine beseelten die Phantasie griechischer und römischer Wissenschaftler, Dichter und Künstler in besonderem Maße. Wenn man ihren Berichten, Visionen und Manifestationen vertrauen darf, war es zu jener Zeit nicht selten, dass – etwa im Golf von Neapel – Knaben auf Delphinen ritten. Der Naturforscher Plinius und der Dichter Aelius berichten gar vom Freitod eines Delphins nachdem dessen Freund, ein Knabe, gestorben war. Kein Wunder also, dass die Delphine auch den Göttern teuer waren. In seinem Werben um die – ihm eigentlich abgeneigte – Amphitrite, Tochter des Okeanos und der Thythes, kürt |27|der Meeresgott Poseidon einen Delphin zum Liebesboten. Aphrodite, die Schaumgeborene, reitet auf einem Delphin gen Zypern. Und auch Eros reitet am liebsten auf einem Delphin. Apoll schließlich vermochte sich in einen solchen zu verwandeln, nachdem er am Fuße des Parnass die Chimäre Delphyra – halb Delphin, halb Weib – überwunden hatte, was ihm den Beinamen Delphinios eintrug. Wie in der Lebenswirklichkeit wird auch im Mythos der Bezwinger zum Anverwandler: Wo dem Binnenländer Friedrich Schiller das – von ihm nie geschaute – Meer samt seinen Tiefen »fürchterlich« erscheinen musste, wurde dem »meerumschlungenen« Griechen die allgegenwärtige Herausforderung zur triumphal bestandenen Seefahrt. Kein Wunder also, dass Apolls paradigmatische Metamorphose gelingt, und kein Wunder auch, dass Delphinzähne bei Griechen und Römern als Schutzsymbole getragen wurden, und Delphine überdies als Begleiter ins Totenreich galten, weshalb sich mit Fischdarstellungen geschmückte Kult-Teller nicht selten als Grabbeigabe fanden. Als Begleiter ins Totenreich bedurfte es der freundlichen Wassertiere, weil jenes vom Reich der Lebenden durch den erdumspannenden Meeresgürtel des Okeanos geschieden war.

Die Grenze zum Wunderbaren eindeutig überschritten hat die im apokryphen alttestamentarischen Buch Tobias verzeichnete Geschichte von der Heilung des blinden Vaters durch die Galle des von Tobias unter Anleitung seines Begleitengels im Tigris gefangenen Fisches, wie auch die Vertreibung eines bösen Geistes durch Opferung von Herz und Leber des Fisches in der Schlafkammer der – Tobias zur Frau bestimmten – Tochter des Raguel, Sara. In dem ungemein anmutig komponierten (heute in der Staatsgalerie Stuttgart ausgestellten) Gemälde Jacopo Palma Il Vecchios (1480–1528) mit dem Titel »Tobias und der Engel Raphael auf der Wanderschaft« trägt der lockenköpfige, blauberockte Knabe Tobias einen – wohl kompositionsbedingt – kleinen Fisch unter dem rechten Arm, während er am linken von dem rosagewandeten Engel geführt wird. Im Bibeltext indessen ist der Fisch keineswegs klein, sondern vielmehr groß und bedrohlich: »Und siehe, ein großer Fisch fuhr heraus, ihn zu verschlingen« (Tob 6, 2). Gegen die – hier vom Engel Raphael verkörperten – Himmelsmächte jedoch vermögen die zerstörerischen Kräfte der Finsternis nichts (oder doch nur das ihnen im Sinne der göttlichen »Arbeitsteilung« Zugedachte) auszurichten. Die diabolische Seite des nassen Elementes und seiner Bewohner wird |28|mithin einem Heilsbann unterworfen, so dass selbst der Knabe in die Lage versetzt wird, den übermächtigen Fisch an Land zu ziehen und dessen potentiell segensreichen Kräfte zu nutzen.

Abb. 2: Jacopo Palma Il Vecchio: Tobias und der Engel Raphael auf der Wanderschaft.

Das im alttestamentarischen Buch Tobias aufscheinende Rettungs- und Heilungsmotiv begegnet uns in anderer Form auch im alttestamentarischen Buch Jona wieder. Über die Jahrhunderte hin wurde die Darstellung der Jonas-Legende zu einem der beliebtesten Motive der christlichen Ikonographie. Auch hier wird das potentiell Zerstörerische in den Dienst des Aufbauenden gestellt. Einst war die Geschichte des Propheten Jonas jedem Schulkind bekannt: Vom »HERRN« erhält er den Auftrag, das sündige Ninive zu bekehren. Vergeblich versucht er, sich diesem Auftrag durch Flucht zu entziehen. Ein vom Zorn des Himmels entfachter Sturm bringt das Fluchtschiff in Seenot. Auf dessen Rat und zu ihrer eigenen Rettung werfen die Schiffer den Gottesflüchtling ins Meer. Gerettet wird aber auch er, obwohl es zunächst nicht danach aussieht|29|. Ihm nämlich sendet der HERR »einen großen Fisch, (um) Jona zu verschlingen« (Jona 2, 11). Der Prophet kann nun die ihm bestimmte Aufgabe erfolgreich erfüllen. Gerettet werden nicht nur Leib und Leben, sondern auch das Seelenheil der (gottesfürchtig gewordenen) Schiffer, des (einsichtig gewordenen) Propheten sowie auch der (bußfertig gewordenen) Bewohner von Ninive. Unter Mithilfe der Wandlungskraft des Dunklen wird das Lichte entborgen. Und dies auch noch in einem auf das Leiden und die Auferstehung Christi verweisenden Zeitraum von drei Tagen und drei Nächten, der die Frage nach dem Symbolzusammenhang von Altem und Neuem Testament nahe legt – ein Zusammenhang, den Jesus nach Mt 12, 14 selbst herstellt. Entsprechend beliebt war deshalb wohl auch die Verwendung des Jona-Motives in der altchristlichen Kunst des 2. bis 4. Jahrhunderts. So auf zahlreichen Katakombenfresken (zum Beispiel in S. Callisto, S. Domitilla und S. Priscilla in Rom), auf Mosaikfußböden (zum Beispiel im Dom von Aquileia) und auf Sarkophagen (zum Beispiel im Lateranmuseum), aber auch in der byzantinischen Miniaturenmalerei und der europäischen Reliefkunst des |30|Mittelalters, der Renaissance und der frühen Neuzeit. Auch in der Kirchen- und Volkskunst der folgenden Jahrhunderte bis hin zum Züricher Münster-Portal von Otto Münch aus dem Jahr 1950 lebt das Jonas-Motiv fort. Ein besonders eindrucksvolles Beispiel hierfür ist der (um 1750 entstandene) »Jonas-Fisch« von Josef Deutschmann: eine in der Zisterzienserkirche von Aldersbach bei Passau frei stehende Holzskulptur, die den aus dem Rachen eines Walfisches lugenden, offensichtlich unversehrten Propheten samt Prophetenbart zeigt.

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Abb. 3: Jonas-Fisch beim Hl. Grab von Josef Deutschmann, um 1750 (Pfarrkirche in Adlersbach, Kreis Passau)

|30|Dass sich das Jonas-Motiv besonders häufig auf Ambonen findet und damit auf Verkündung und Belehrung als Medien der Rettung, Heilung und Heiligung verweist, öffnet das Blickfeld auf all’ jene kulturgeschichtlich dokumentierten Fisch-Epiphanien, bei denen es direkt oder indirekt um die Sicherung oder die Erweiterung von Wissen und Weisheit geht. Wenn der Dichter Arion und der Prophet Jonas aus dem Wasser gerettet werden, um ihr Wissen und ihre Weisheit zum Segen der Menschen weitergeben zu können, so sind sie schon kulturelle Epigonen eines urzeitlichen Rettungsaktes. In der altarisch-indischen Mythologie nämlich ist es wiederum Vischnu, der Erhalter, der nicht nur den Ur- und Frühmenschen Manu in Fischgestalt aus der Grossen Flut rettet, sondern vielmehr auch die dem Schöpfergott Brahma von einem Wasserdämon geraubten Weisheitsbücher – die Veden