Meeres Stille - Stefan Beuse - E-Book

Meeres Stille E-Book

Stefan Beuse

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Beschreibung

Fast zwanzig Jahre liegt das alles zurück. Doch als der erfolgreiche Journalist und frischgebackene Kulturchef Viktor Callner seine Frau und seine beiden erwachsenen Kinder in das entlegene Ferienhaus im Périgord einlädt, wird die verdrängte Vergangenheit noch einmal lebendig. Die ganze Familie soll noch einmal Atem holen können in dem gemeinsamen Urlaub und nun schimmert das Triebwerk der Boeing wie eine Bowlingkugel unter ihnen, der Tomatensaft schwappt in den transparenten Bechern. Doch schon jetzt liegt eine unerklärliche Stimmung über den Eltern und den beiden Kindern, eine nervöse Unruhe, die sicher nicht daher rührt, daß Viktor wieder einmal alles allein entschieden hatte. Diese Unruhe, vielleicht war es auch eine Vorahnung, ist älter. Sie reicht weit zurück – zu dem verzweifelten Moment, in dem Viktor versagt und das Leben seiner Frau Helen eine tragische Wendung nahm. Stefan Beuse entwirft mit großer Suggestion und Sensibilität das packende Psychogramm einer Familie. »Nur schwer kann man das Buch aus der Hand legen. Man will wissen, welches Geheimnis auf der Familie Callner lastet.« Norddeutscher Rundfunk »Eine teuflisch gute Konstruktion.« Focus »Stefan Beuse hat ein äußerst kunstvolles Buch über das alte Thema Traumatisierung geschrieben: romantisch in den Motiven, aber brutal in der Analyse, dramatisch im Entwurf, aber sparsam und kühl in der Metaphorik.« DIE ZEIT

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Über das Buch

Fast zwanzig Jahre liegt das alles zurück. Doch als der erfolgreiche Journalist und frischgebackene Kulturchef Viktor Callner seine Frau und seine beiden erwachsenen Kinder in das entlegene Ferienhaus im Périgord einlädt, wird die verdrängte Vergangenheit noch einmal lebendig.

Die ganze Familie soll noch einmal Atem holen können in dem gemeinsamen Urlaub und nun schimmert das Triebwerk der Boeing wie eine Bowlingkugel unter ihnen, der Tomatensaft schwappt in den transparenten Bechern. Doch schon jetzt liegt eine unerklärliche Stimmung über den Eltern und den beiden Kindern, eine nervöse Unruhe, die sicher nicht daher rührt, daß Viktor wieder einmal alles allein entschieden hatte. Diese Unruhe, vielleicht war es auch eine Vorahnung, ist älter. Sie reicht weit zurück – zu dem verzweifelten Moment, in dem Viktor versagt und das Leben seiner Frau Helen eine tragische Wendung nahm.

Stefan Beuse entwirft mit großer Suggestion und Sensibilität das packende Psychogramm einer Familie.

»Nur schwer kann man das Buch aus der Hand legen. Man will wissen, welches Geheimnis auf der Familie Callner lastet.« Norddeutscher Rundfunk

»Eine teuflisch gute Konstruktion.« Focus

»Stefan Beuse hat ein äußerst kunstvolles Buch über das alte Thema Traumatisierung geschrieben: romantisch in den Motiven, aber brutal in der Analyse, dramatisch im Entwurf, aber sparsam und kühl in der Metaphorik.« DIE ZEIT

Über den Autor

Stefan Beuse, 1967 in Münster geboren, lebt in Hamburg. Er hat u. a. als Fotograf, Texter und Journalist gearbeitet. Zuletzt erschien von ihm der Roman »Alles was du siehst«. Stefan Beuse gewann zahlreiche Preise und Stipendien, u. a. den Preis des Landes Kärnten beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb in Klagenfurt 1999 und den Hamburger Förderpreis für Literatur (1998, 2006 und 2013). Im Frühjahr 2005 war er Writer in Residence an der Cornell University in Ithaca, New York. Bei CulturBooks sind bisher die Single »Der Wal«, die Alben »Warten auf die Löwen« und »Wir schießen Gummibänder zu den Sternen« sowie die Longplayer »Kometen« und »Die Nacht der Könige« erschienen.

Stefan Beuse

MEERES STILLE

Roman

Impressum

eBook-Ausgabe: © CulturBooks Verlag 2016

Gärtnerstr. 122, 20253 Hamburg

Tel. +4940 31108081, [email protected]

www.culturbooks.de

Alle Rechte vorbehalten

Erstausgabe Print: © Piper Verlag GmbH, München 2003

Umschlaggestaltung: Magdalena Gadaj

eBook-Herstellung: CulturBooks

Erscheinungsdatum: 1.2.2016

ISBN 978-3-95988-035-0

Zwischen Du und Ich ging eine Türe auf, und jemand, noch ohne Gesicht,

Für Luka

Zwei Tage vor meinem Geburtstag ist meine Mutter mit dem gelben Sportcoupé meines Vaters in den Himmel geflogen. Es war ein sonniger Tag, und neben ihr lag alles, was ich mir gewünscht hatte: sieben Päckchen und eine Schultasche aus Leder.

In meinen Träumen habe ich oft gesehen, wie der gelbe Wagen über die Kante schießt, in einen ganz und gar wolkenlosen Himmel. Man hört das kurze Durchdrehen der Räder, das Zischen des Fahrtwindes und dann nichts mehr: ein plötzlicher Trichter aus Stille, jedes Geräusch im schwarzen Loch einer unendlich gedehnten Schrecksekunde.

Meine Mutter trägt das Kleid, das sie von meinem Vater zum Hochzeitstag bekommen hat, ein champagnerfarbenes Seidenkleid, das leuchtet, wenn Licht darauf fällt. Ihre Haare wehen hinter der Kopfstütze, Lack blitzt im Sonnenlicht, und als wäre die Schwerkraft plötzlich aufgehoben, lösen sich die Päckchen vom Beifahrersitz.

Der Wagen landet auf einem Felsvorsprung. Meine Mutter streckt die Arme nach den Geschenken aus, die in Zeitlupe vom Himmel fallen, rote, blaue, gelbe, mit Schleifen, ohne Schleifen. Sie weiß nicht, was sie zuerst fangen soll, und schließlich entscheidet sie sich für das schönste Paket: ein rot-gelb gestreiftes mit einer kleinen Windmühle dran. Sie hält es ans Ohr, schüttelt es und hört, wie es klappert. Dann schließt sie die Augen. Sie lächelt, weil sie sich freut, daß sie ein so schönes Geschenk für mich hat.

1

Nichts war passiert. Sie hielt einen Becher Champagner in der Hand, aber ihre Mutter roch noch immer nach dieser Salbe, die sie auf alles schmierte, was heilen sollte, und ihr Vater lehnte weiter im Gang wie die Karikatur eines Diplomaten.

»Komm schon«, sagte er und drückte seinen Becher gegen ihren, »der wird sonst schal.«

Frances legte einen Finger an die vibrierende Plexischeibe und betrachtete das schräg gebohrte Loch in der Doppelverglasung, den kleinen Kanal zu dem Niemandsland zwischen Passagierraum und Atmosphäre, von dem sie immer wissen wollte, wozu er da war. Druckabfall, fiel ihr ein, weiter nichts.

»Seit wann weißt du das«, fragte sie in Richtung der Scheibe, die immer so billig schepperte, wenn man dagegen schlug.

»Letzte Woche«, sagte ihr Vater, als wäre er stolz darauf, die Neuigkeit so lange verheimlicht zu haben.

Unter der Tragfläche funkelte die Turbine wie eine blankpolierte Bowlingkugel, und Frances überlegte, was passieren würde, wenn das Triebwerk eine Wolke fressen würde. Wenn die Wolke einfach vom Himmel gesaugt werden würde.

»Es sollte eine Überraschung sein«, sagte ihre Mutter und fing an, auf ihrem Arm herumzustreichen, mit ihrer cremigen Haut und den kalten Ringen. Frances starrte auf die Narben, die sich wie eine sonderbare Schatzkarte über Helens Hand breiteten, und klappte das Tischchen hoch.

Obwohl der Unfall lange vor Frances Geburt geschehen war, hatte sie sich noch immer nicht an die Hand ihrer Mutter gewöhnt. Zwar gab es eigentlich nichts, an das sie sich hätte gewöhnen müssen, weil sie Helen gar nicht anders kannte, aber wenn man das Urbild aller rechten Hände zum Maßstab erhob, würde es ihre Mutter immer schwer haben. Jeden Splitter habe man einzeln herausoperieren müssen, erzählte ihr Vater oft, allerdings nur, wenn seine Frau nicht dabei war. In seiner Stimme schwang dann so etwas wie der Stolz heimgekehrter Abenteurer mit, die unaufgefordert ihre Narben zeigen, doch gerade die Bereitwilligkeit, mit der Viktor jedem neuen Gast, den er zum Essen mitbrachte, die Geschichte ihres Unfalls aufdrängte, fand Frances merkwürdig.

Über ihre Eltern hinweg versuchte sie ihren Bruder zu sehen. David hatte seinen Sitz zurückgestellt und schien zu schlafen. Seine Wimpern warfen lange Schatten auf die Wangen, wie ein trauriger Clown sah er aus unter den Punktstrahlern, die Viktor zum Lesen eingeschaltet hatte und die jetzt, da ihr Vater noch immer halb im Gang saß, vor allem das graue Sakko auf seinen spitzen Schultern beleuchteten.

»Weiß er es schon?« fragte sie.

»Nein«, sagte ihr Vater. »Ich wollte, daß du es zuerst erfährst.«

Auf dem Getränkewagen klirrten Fläschchen gegeneinander, ein hohes, nervöses Geräusch, das nach Anspannung klang. Die Stewardeß beugte sich zu den Fluggästen vor ihr, sie konnte die Poren ihrer wächsernen Haut sehen. In der Luft altert man schneller, dachte Frances, das hatte sie irgendwo mal gelesen.

»Der Urlaub«, sagte sie, »ist also gewissermaßen ...«

Dickflüssiger Tomatensaft schwappte in einen transparenten Becher, zwei rote Tränen rutschten von dem aufgeweichten Pappschnabel die Packung herunter.

»Eine Art Belohnung«, sagte Viktor. »Das Haus gehört dem Rechtsanwalt des Verlages. Eine Empfehlung von Münzner. Damit ich ...« Er lächelte. »Damit wir alle noch einmal richtig durchatmen können.«

»Bevor was?« Zwischen den Rückenlehnen konnte Frances sehen, wie die Frau vor ihr die Salz- und Pfefferkammern aufriß, den Inhalt in ihren Tomatensaft schüttete und mit einem durchsichtigen Plastikstab umrührte.

»Bevor es losgeht,« sagte ihr Vater.

Frances legte die Stirn an die Scheibe und spürte die feinen Vibrationen. Nichts bliebe übrig, dachte sie. Die Wolke würde einfach verschwinden, und nichts bliebe von ihr übrig.

»Münzner setzt große Hoffnungen in mich. Ich will ihn auf keinen Fall enttäuschen«, sagte Viktor, und Frances fragte sich, ob ihm klar war, daß er redete wie der Protagonist einer Vorabendserie. Sie hätte ihm gern gesagt, daß ihm diese Beförderung gerade recht kam. Daß er ohnehin sein Leben lang nichts anderes getan hatte, als sich hinter seiner Arbeit zu verschanzen. Einen Schutzraum aufzubauen, in dem es nur ihn und seine immense Bedeutung für den denkenden Teil der Bevölkerung gab.

»Viktor wird weiterhin Zeit für dich haben, wenn es das ist«, sagte Helen und strich ihr mit der Hand über den Arm. »Für dich und deine Geschichten.«

Die Frau vor ihr hatte den Tomatensaft ausgetrunken. Sie stopfte das leere Papierbriefchen zusammen mit einer zerknüllten Serviette in den Becher und drückte mit dem Rührstab nach.

»Rede nicht so«, sagte Frances. »Rede nicht so, als wäre ich behindert.«

Helen verschränkte die Arme vor der Brust und klemmte beide Hände unter die Achseln. »Das tue ich nicht«, sagte sie. »Ich finde nur, du legst ein bißchen zuviel ... Wert auf diese Sache.«

Frances hielt ihren Becher unter die Nase. »Du meinst, ich vergeude meine Zeit.«

»Das stimmt nicht«, sagte Helen. »Das habe ich nicht gesagt.«

Noch zwei Antworten, dann würde sie von dem Studium anfangen, das sie wenigstens nebenbei führen solle, falls das mit dem Schreiben dann doch nicht, man könne ja nie wissen.

»Ihr hättet es mir früher erzählen können«, Frances sah nach draußen, »das ist alles.« Der Champagner roch nach Metall. Kleine Bläschen prickelten vor ihrem Gesicht, hinterließen einen klebrigen Film auf der Haut.

»Herzlichen Glückwunsch«, sagte sie und prostete ihrem Spiegelbild in der Scheibe zu, das durchsichtig und blaß vor einer tiefroten Morgendämmerung hing. Dann kniff sie die Augen zusammen und trank.

Die Räder schlugen auf die Landebahn. Vom Flughafengebäude aus hätte sie den Qualm sehen können, der beim Kontakt der Reifen mit dem Asphalt entsteht, eine Mischung aus Staub und verdampfendem Gummi. Normalerweise war das die Sekunde, in der sie sich entspannte, ein Moment, der die Dinge zurechtrückte. Frances konnte noch immer nicht begreifen, daß eine tonnenschwere Stahlkonstruktion, die aussah, als könne sie sich selbst am Boden kaum bewegen, durch die Luft flog. Eine Anmaßung, die zwangsläufig bestraft werden mußte, und jedesmal, wenn sich die Reifen von der Startbahn lösten, rechnete sie fest mit dieser Strafe. »Wir werden sterben«, sagte sie dann gern, um ihrer Familie etwas Demut beizubringen, »wir werden alle sterben«, und wenn Viktor daraufhin energisch die Zeitung faltete, seine Tochter über die Lesebrille musterte und einen Vortrag über Physik begann, wurde alles nur noch schlimmer. »Der Mensch ist nicht zum Fliegen gemacht. Wäre er zum Fliegen gemacht, hätte er Flügel«, beendete Frances das Gespräch meist, denn gegen einfache Erklärungen war ihr Vater machtlos. Er ließ sich dann seufzend in den Sitz zurückfallen, entfaltete die sorgsam zusammengelegte Zeitung erneut und studierte mit leichtem Kopfschütteln das Feuilleton.

Die Maschine steuerte auf das Flughafengebäude zu. Herzlich willkommen in Bordeaux, kam aus den Lautsprechern, Helen riß ein Erfrischungstuch auf, und ihr Vater stopfte seine Zeitung zu den Sicherheitshinweisen.

»Das wäre geschafft«, sagte Viktor, als hätte er selbst die Maschine gelandet; er streckte sich, bis sein Körper überdehnt war und die Arme zu zittern begannen.

»Bitte bleiben Sie trotzdem so lange angeschnallt sitzen, bis das Flugzeug seine endgültige Parkposition erreicht hat«, sagte David und zog die Nase kraus. »Hier riecht es nach Altersheim.«

Helen beugte sich in den Mittelgang, hielt ihm das Erfrischungstuch vor die Nase, zwischen spitzen Fingern und mit nach unten abgewinkelter Hand, als erwartete sie einen Handkuß.

»Willkommen in Frankreich, mein Schatz. Hast du gut geschlafen?«

»Ich hatte einen schrecklichen Traum«, sagte David. »Ich habe geträumt, daß dein Mann befördert worden ist und ihr ohne mich Sekt getrunken habt.«

»Champagner«, korrigierte Viktor. »Wir dachten, du schläfst. Außerdem, für einen jungen Mann deines Alters.«

»Mein Alter ist alt genug für bourgeoise Getränke.« David wickelte ein Kabel auf, das ihm lose um den Hals hing, und ließ es zusammen mit den Ohrstöpseln in die große Tasche fallen, die mitten auf seine Jacke genäht war und eine halbe Hi-Fi-Abteilung verbarg.

Ein orangefarbener Wagen mit brauner Plane hielt neben dem Flugzeug. Frances sah einen Mann aus dem Führerhaus springen und im Bauch der Maschine verschwinden. Wenig später warf er Koffer heraus, und wie auf ein Zeichen klapperten die Schnallen der Sitzgurte, als schlügen Schwerter gegeneinander.

2

»Frances, bitte. Du könntest wenigstens so tun, als freutest du dich.«

»Laß sie, Helen. Laß sie einfach.« Ihr Vater hatte sich noch eine Zigarette angezündet. Die dritte, seitdem sie im Auto saßen.

»Freust du dich denn?« fragte sie ihre Mutter, und David stieß ihr einen Ellenbogen zwischen die Rippen.

»Mach das Fenster auf, Papa«, sagte er. »Vielleicht freut sie sich ja, wenn ihr Gehirn etwas Sauerstoff bekommt.«

David lächelte ihr zu und vertiefte sich wieder in das, was auf dem kleinen Monitor zwischen seinen Fingern passierte. Er stand kurz davor, eine ferne Galaxie vor dem Bösen zu retten und der Prinzessin in die Arme zu sinken.

»Wenn ich dich daran erinnern dürfte, mein lieber Herr Sohn: Wir geruhten uns ein Fahrzeug mit Klimaanlage zu mieten, und das Wesen einer solchen Klimatisierung ...«

»Einen Renault«, sagte David, als hätte er in einen Eimer voller Kröten gefaßt. Er war zum fünften Mal getroffen worden und hatte kein Leben mehr übrig.

»Ich weiß nicht, was es an einem Renault auszusetzen gibt«, sagte Viktor in einer Mischung aus Trotz und Beleidigtsein, die jede seiner Rechtfertigungen begleitete.

Vor den Fenstern zog eine Landschaft vorbei, die Frances nicht im mindesten interessierte: Irgendwelche Dörfer mit Bäumen und Sträuchern, an Bergen oder an Flüssen. Alles hier sah so ... unprofessionell aus; die Hauptstraßen waren Feldwege, und die Leitplanken wirkten, als könnte man sie mit bloßen Händen verbiegen.

Bordeaux. Bergerac. Lalinde. Frances hatte die Karte über ihre Knie gebreitet und fuhr mit dem Zeigefinger die Route entlang. Bei jedem Ortsschild rutschte er ein Stück nach rechts.

»Wie weit ist es denn noch bis zu diesem Casteldings?« fragte David.

»Castelnaud«, sagte Viktor. »Eine knappe Stunde, dann sind wir da.«

Frances dachte an all die Autos, die ihnen in den Kurven entgegenkommen konnten. Bestimmt hatte ihr Vater manchmal Lust, vor diesen Stellen zu hupen, aber das würde er nie tun, dachte sie, weil das südländisch war, also halbstark und kindisch. Viktor würde lieber frontal vor einen Kleinlaster knallen, als Gefahr zu laufen, sich lächerlich zu machen, indem er ein Temperament zitierte, das nicht das seine war.

David drückte den Reset-Knopf auf der Konsole und formierte seine Armee neu. Level 4 war anscheinend eine komplizierte Angelegenheit und der Kampf gegen das Böse noch lange nicht gewonnen.

Schwarze Quadrate tanzten durcheinander, ergaben immer andere Bilder, und Frances starrte auf den Monitor, verfolgte winzige Kästchen, die sich zu Haufen ballten und wieder zerstoben, die immer neue Szenarien formten, Spielarten einer Realität, die sich jemand anderes ausgedacht hatte.

Zur Beerdigung kamen Leute, die ich noch nie gesehen hatte. Sie gingen zu meinem Vater und drückten ihm die Hand. Ihre Lippen formten Worte, aber ich hörte nur einen heiseren Laut aus ihren Kehlen, dann drehten sie sich weg, als hätten sie etwas Furchtbares getan.

Auf der rechten Seite des Grabes hatte sich eine Schlange gebildet. Alle Leute trugen Schwarz. Sie weinten in weiße Stofftaschentücher oder hatten die Hände an herunterhängenden Armen ineinandergehakt. Sie warteten darauf, an das Loch treten zu dürfen, mit einer kleinen Schaufel Erde auf den Sarg zu werfen und dann auf dem Weg zur anderen Seite vor uns stehenzubleiben wie Kinder, die sich entschuldigen mußten.

Ein Mann, den ich nicht kannte, nahm mich in den Arm und sagte, daß es ihm leid tue. Ich wußte nicht, wie er das meinte. Mein Vater hatte mir erklärt, daß meine Mutter nicht wiederkomme, er hatte sich vor mich hingehockt, mein Gesicht in beide Hände genommen und mir in die Augen gesehen, aber ich fühlte mich nicht so, wie ich mich fühlen sollte. Ich fühlte mich, als würde meine Mutter noch leben. Der einzige, der plötzlich zu sterben begann, war mein Vater.

Drei Tage nach ihrem Tod hörte er auf zu essen. Er arbeitete nicht mehr, und ich glaube, er wusch sich auch nicht. Es waren Leute bei uns, die sich um alles kümmerten, und mein Vater saß den ganzen Tag in seinem Sessel und starrte vor sich hin.

Irgendwann gingen die Leute weg. Sie sagten, es sei an der Zeit, daß er wieder auf die Beine komme. Aber er blieb trotzdem weiter in seinem Sessel sitzen. Er redete mit jemandem, den ich nicht sehen konnte. Mit mir redete er nicht.

Rosa war die einzige, die uns noch besuchte. Sie wohnte ein Stück weiter unten im Tal, sie kochte und machte alles, was mein Vater nicht mehr tat.

Eines Tages sagte sie, ich müsse wieder zur Schule gehen. Ich war froh, nicht mehr den ganzen Tag zusehen zu müssen, wie mein Vater dasaß, wie sein Bart länger und seine Haut grau wurde.

Die Lehrerin behandelte mich, als hätte sie Angst, ich könnte zerbrechen, wenn sie mich ansprach. Ich wollte nicht, daß sie so mit mir redete, und die anderen in meiner Klasse wollten das auch nicht. Dem Sohn des Metzgers brach ich die Nase, weil er behauptet hatte, daß mein Vater ein Zombie ist. Ich schlug ihn weiter, auch als sein Gesicht schon voller Blut war. Er fiel um, und ich trat ihm in den Bauch, bis etwas in mir endlich Ruhe gab. Aber dieses Etwas kehrte immer wieder. Ich reizte meine Mitschüler so lange, bis sie sich mit mir prügelten, und ich hörte erst damit auf, als meine Lehrerin zu uns nach Hause kam und meinen Vater sprechen wollte. Sie sagte, daß es so nicht weitergehe, und es endete damit, daß wir dasaßen, die Hände auf den Oberschenkeln, und nicht wußten, was wir sagen sollten.

Von da an schlug ich niemanden mehr. Ich half Rosa, den Tisch zu decken und das Essen zu kochen. Manchmal kaufte ich ein oder spülte Geschirr, aber ich dachte jedesmal an etwas anderes. Ich war mitten in einem Film, der davon handelte, daß Gangster meinen Vater entführt hatten. Sie waren überall. In den Schränken. Unterm Tisch. Wenn ich einkaufen ging, suchte ich Deckung zwischen den Regalen, um nicht erkannt zu werden. Ich wollte meinen Vater befreien, aber ich mußte vorsichtig sein, denn die Gangster waren gerissen. Mein Vater war in ihrer Gewalt, ohne daß er davon wußte. Sie dachten, auch ich wüßte nichts davon, und ich ließ sie in dem Glauben. Wenn ich meinen Vater zurückhaben wollte, mußte ich sie in Sicherheit wiegen, geduldig auf meine Chance warten. In keinem Fall durfte ich schwach werden und wieder zuschlagen. Ich würde meinen Vater vor ihnen beschützen, und das bedeutete, daß ich mächtiger werden mußte als sie. Daß ich aufhören mußte, ein Kind zu sein.

Frances schüttelte den Kopf. Sie sah auf die Karte und dann wieder nach draußen. Akazien fielen ihr ein, Arkaden, Zikaden, Zypressen. Der schwere Geruch von irgendwas unter einem mauvefarbenen Himmel. Kastanien, triefend von Äther, und sie verfluchte ihre Botanikkenntnisse, bereute es, daß sie nur Worte hatte, aber keine Bilder, die zu den Worten paßten. In den Büchern, die ihr Vater ihr zum Lesen gab, kamen Pflanzen vor, die sicher besser klangen, als sie in Wirklichkeit aussahen, und gern hätte sie in einem dieser Bücher den Fluß beschrieben gelesen, der sich wie glänzendes Aluminium, wie eine silberne Schlange neben und unter ihnen hätte herwinden können, in Wahrheit aber ziemlich unspektakulär aussah.

Siorac-en-Périgord. Noch drei größere Dörfer. Sie ließ sich fallen in die französischen Worte, umspülen vom samtenen Klang, den ihre Stimme hatte, wenn sie in ihrem Inneren geformt wurden, und ihre Mutter wandte sich um und sagte etwas, aber sie verstand nicht und lächelte bloß.

3

»Ich sehe hier kein Haus.« Frances blickte ringsum auf bewaldete Hügel.

»Es muß da unten sein.« Ihr Vater hielt einen Zettel in der Hand, auf den eine Wegbeschreibung gekritzelt war. Er sah auf den Zettel und dann in den Himmel, als suchte er etwas, das auf dem Papier stand und in der Wirklichkeit fehlte. »Da vorne muß es einen Weg geben.« Er deutete auf einen halb verdeckten Swimmingpool, etwa zweihundert Meter unter ihnen im Talkessel. Die Sonne stand bereits hoch, Frances spürte sie wie eine warme Hand auf ihrem Haar.

»Hier ist etwas«, rief David. Er stand an der anderen Seite des Parkplatzes und winkte sie zu sich.

Ein schmaler Pfad führte den Hang hinunter, kaum zu erkennen. Schon nach wenigen Metern verdeckten Büsche die Sicht, und als Viktor sie beiseitegeschoben hatte, sah Frances über seine Schulter hinweg das Haus.

»Madame da Silva erwartet uns sicher schon«, sagte Viktor. »Sie gibt uns die Schlüssel und sieht von Zeit zu Zeit nach dem Rechten.« Er zog das Sakko aus, hakte es an seinen rechten Zeigefinger und ließ es über die Schulter hängen. Mit langen Schritten marschierte er voraus, sein Oberkörper drehte sich hin und her, und sein linker Arm schlenkerte wie der einer Gliederpuppe. Der dunkelblaue Stoff seines Hemdes klebte an seinem Rücken, Frances sah, wie sich die Schulterblätter und einzelne Wirbel seines Rückgrats abzeichneten.

Die Eingangstür stand offen. Rechts und links davor leere Terracottakübel, darüber ein Strohkranz mit Plastikfrüchten. Viktor klopfte. Als nichts zu hören war, drückte er den Klingelknopf neben dem Emailleschild, auf dem in hellblauer Schreibschrift der Familienname stand.

»Hallo?« Er reckte seinen Kopf in den Flur. »Hier ist niemand«, sagte er und ging auf eine Hecke zu, die den Pool von der Terrasse trennte.

»Hallo?« rief er noch einmal, diesmal lauter, dann wand er sich an der Hecke vorbei.

Noch bevor sie ihren Vater erreicht hatte, sah Frances weiße Liegestühle durch die Zweige schimmern, sah das Wasser im Pool blitzen und hörte Stimmen, die eher spanisch als französisch klangen.

»Bonjour«, rief Viktor, und augenblicklich verstummte das Gespräch.