Kometen. Roman - Stefan Beuse - E-Book

Kometen. Roman E-Book

Stefan Beuse

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Beschreibung

Über das Buch Ein Hobby-Astronom entdeckt zufällig einen bisher unbekannten Kometen. Während dieser sich auf die Erde zu bewegt, kreuzen sich die Wege von neun verschiedenen Personen – Menschen voller Sehnsucht, Menschen auf ihrer Suche nach Glück und Liebe. Wie Kometen befinden sie sich auf den eisigen Bahnen ihres Lebens, und es bedarf bei allen eines Anstoßes, damit sie sich aus ihrer Starre lösen... Während der japanische Hobbyastronom Hyakutake nachts auf einem Berg einen bis dahin unbekannten Kometen entdeckt, bereitet sich in einem anderen Teil der Welt der Unternehmensberater Jakob Leitner auf einen Empfang vor. Marie Lorenzo, die Freundin seiner Mitarbeiterin Kyra, schreibt E-mails nach Amerika mit merkwürdigen Fragen und unvorhersehbaren Folgen. Dann betritt sie im Internet den erotischen chatroom "Paradies" und verabredet sich zu einem "Black Date" im Stadtpark. Stefan Beuses Debütroman, für den er beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb in Klagenfurt ausgezeichnet wurde, umkreist seine Figuren, die sich nur flüchtig berühren. In kurzen, miteinander verwobenen Episoden erzählt er eine melancholische Geschichte über die Liebe und die Flucht aus der Einsamkeit.

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Über das Buch

Ein Hobbyastronom entdeckt zufällig einen bisher unbekannten Kometen. Während dieser sich auf die Erde zu bewegt, kreuzen sich die Wege von neun verschiedenen Personen – Menschen voller Sehnsucht, Menschen auf ihrer Suche nach Glück und Liebe. Wie Kometen befinden sie sich auf den eisigen Bahnen ihres Lebens, und es bedarf bei allen eines Anstoßes, damit sie sich aus ihrer Starre lösen ...

Während der japanische Hobbyastronom Hyakutake nachts auf einem Berg einen bis dahin unbekannten Kometen entdeckt, bereitet sich in einem anderen Teil der Welt der Unternehmensberater Jakob Leitner auf einen Empfang vor. Marie Lorenzo, die Freundin seiner Mitarbeiterin Kyra, schreibt E-Mails nach Amerika mit merkwürdigen Fragen und unvorhersehbaren Folgen. Dann betritt sie im Internet den Erotik-Chatroom »Paradies« und verabredet sich zu einem »Black Date« im Stadtpark.

Stefan Beuses Debütroman, für den er beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb in Klagenfurt ausgezeichnet wurde, umkreist seine Figuren, die sich nur flüchtig berühren. In kurzen, miteinander verwobenen Episoden erzählt er eine melancholische Geschichte über die Liebe und die Flucht aus der Einsamkeit.

Über den Autor

Stefan Beuse, 1967 in Münster geboren, lebt in Hamburg. Er hat u. a. als Fotograf, Texter und Journalist gearbeitet. Zuletzt erschien von ihm der Roman »Alles was du siehst«. Stefan Beuse gewann zahlreiche Preise und Stipendien, u. a. den Preis des Landes Kärnten beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb in Klagenfurt 1999 und den Hamburger Förderpreis für Literatur (1998 und 2006). Im Frühjahr 2005 war er Writer in Residence an der Cornell University in Ithaca, New York.

Stefan Beuse

Kometen

Roman

CulturBooks Longplayer 2014www.culturbooks.de

Impressum

eBook-Ausgabe: © CulturBooks Verlag 2014

www.culturbooks.de

Gärtnerstr. 122, 20253 Hamburg

Tel. +4940 31108081, [email protected]

Alle Rechte vorbehalten.

Erstausgabe Print: Kiepenheuer & Witsch 2000

Umschlaggestaltung: Magdalena Gadaj

Erscheinungsdatum: 3.3.2014

ISBN 978-3-944818-38-2

Inhaltsverzeichnis

Erster Teil
NULL
Zweiter Teil
BLUMEN FÜR PENNY LANE
1.
2.
3.
4.
5.
6.
7.
8.
9.
Dritter Teil
EINS
10.

Comets are like cats. They have tails,

and they do precisely what they want.

David Levy

1983 beginnt eine Gruppe von NASA-Astronomen mit der umfassenden Beobachtung des Weltraums durch den Infrarot-Satelliten IRAS. Noch im Herbst desselben Jahres entdeckt IRAS in der Nähe unseres Sonnensystems verschiedene bewegliche Objekte, darunter fünf bisher unbekannte Kometen, ein paar »verlorene« Kometen, vier neue Asteroiden und ein seltsames kometenähnliches Objekt. Die Washington Post schreibt: »Rätselhaftes Objekt am Rande unseres Sonnensystems gefunden – Ein Himmelskörper, möglicherweise so groß wie der gigantische Planet Jupiter und möglicherweise so nah an der Erde, dass er Teil unseres Sonnensystems sein könnte, wurde in Richtung des Sternbilds Orion vom Teleskop IRAS entdeckt. Das Objekt ist so mysteriös, dass die Astronomen nicht wissen, ob es sich um einen Planeten, einen Protonenstern oder um einen riesenhaften Kometen handelt. ›Alles, was ich dazu sagen kann, ist, dass wir wirklich nicht wissen, was es ist‹, kommentiert Gerry Neugebauer, Chefwissenschaftler von IRAS.«

Erster Teil

NULL

Freitag, 10:15

Auslöser. Vier-, fünfmal nacheinander. Der Spiegel klappt zurück. Dahinter das Bild auf der Filmebene. Seitenverkehrt. Auf dem Kopf stehend. Verschlusszeit.

Ich lehne die Stirn ans Fenster und beobachte, wie sich mein Atem an der Scheibe niederschlägt und wieder verschwindet. Durch den Nebel verliert alles an Kontur. Sogar die Farben werden mild, und ich frage mich, ob ich nicht doch ein Glückspilz bin, die nächsten Monate in einem weichgezeichneten Film zu verbringen, der mich nichts mehr angeht.

Ich nehme das Teleobjektiv und sehe auf die Uhr über den Gleisen. Noch drei Minuten. Der Bajonettverschluss rastet ein, und ich stelle mir vor, wie es ist, ein Gewehr zusammenzubauen. Das beruhigende Gefühl schweren Metalls. Das sanfte Klicken präzise aufeinander abgestimmter Teile; die Augen dabei unwillkürlich geschlossen. Mir fällt niemand ein, den ich erschießen könnte, also balanciere ich die Kamera an der 300er Optik und streife den Gurt über die Schulter.

Entlang der Gleise wirbt das staatliche Casino mit einer Leuchttafel, ähnlich den Kästen, auf denen Dias betrachtet werden. Join the Game, steht darauf in verschiedenen Sprachen; ich lasse das »G« im Schnittbildsucher zusammenwachsen und schwenke auf eine riesenhafte Rouletteschüssel, die von innen beleuchtet wird. Durch die Rouletteschüssel kreist Licht, das per Zufallsgenerator gestoppt wird. Die Kugel fällt lautlos. Und kein Schrei für die 20.

Meine Augen fangen an zu schmerzen, weil das Licht durch das Objektiv so verstärkt wird, dass die Farben brennen. Ich wechsele die Optik. Suche mir eine Zahl. Jeder Schritt zwischen Gehwegplatten ist verboten. Das alte Spiel. Trotzdem: Fällt meine Zahl, wird alles gut. Neue Stadt, neue Ärzte.

Ich blinzele mir Tränenflüssigkeit aus den Augen. Die Schärfe liegt genau auf den Zahlen, weshalb die Gesichter im Vordergrund nicht zu erkennen sind. Ich halte den Druckpunkt. Noch zwei Minuten. Meine Zahl ist die Null.

Trotz schlechten Wetters haben am Samstag Tausende Zuschauer eine ringförmige Sonnenfinsternis über Asien und dem Pazifik beobachtet, liest hinter mir jemand aus der Zeitung vor, und ich ändere die Verschlusszeit. Wenn es stimmt, dass alles schneller geht als erwartet, will ich das Zimmer, das ich nicht verlassen soll, tapezieren, es pflastern mit Bildern eines Lebens, das nicht mehr meines ist. Die Klinik am Rande der Stadt. Klingt wie eine schlechte Vorabendserie.

Ich werde jemanden brauchen, der mir vorliest, wenn ich blind bin. Der mir die Bilder erklärt, die ich mache, und die Geschichten erzählt, die ich schreibe. Ich werde sonst alles vergessen. Aber mir fällt niemand ein zum Vorlesen. Genauso wenig wie jemand zum Erschießen.

Die Lichtkugel kreist wieder. Ich schließe kurz die Augen und hoffe, dass der Zug endlich losfährt. Meine Situation ist absurd. Ein zum Tode Verurteilter, der auf dem Weg zum Richtplatz gezwungen wird, langsamer zu gehen, weil die Landschaft so schön ist. Mir fehlt Ruhe, sagen sie, aber das stimmt nicht. Mir fehlt Zeit.

Noch eine Minute.

Die Rouletteschüssel sieht aus wie ein Auge: in der Mitte eine schwarze Pupille, umgeben von einer Iris aus roten und grünen Feldern; am Ende Zahlen wie in einem Biologiebuch. Etwa da, wo die Null ist, mündet der Sehnerv ins Gehirn. Ich kenne sie auswendig, die Querschnittszeichnungen der Ärzte und Assistenzärzte, ihre Vertröstungen.

Das Licht kreist so schnell, dass die Zahlen im Moment des Aufleuchtens schon wieder verlöschen; eine haltlose Kaskade nummerierter Blitze, plötzlich langsamer werdend.

7.

28.

12.

Hält man Negativstreifen gegen die Sonne, zeigen sie Falschfarben. Das Feld, in dem das Licht stoppt, wird man auf dem Film also als schwarzen Fleck erkennen.

35.

3.

26.

Zero fällt.

Ich drücke ab und warte auf meinen Gewinn. Faktor fünfunddreißig. Fünfunddreißig mal was?

Der Zug fährt los. Ein dicker Mann, dem ich sofort ansehe, dass er Amerikaner ist, wuchtet seine Reisetasche auf die Gepäckablage. Dabei entschuldigt er sich pausenlos, und ich frage ihn, wofür; aber er grinst nur und fängt an zu schwitzen. Als er sich in den Sitz mir gegenüber zwängt, drücken die Armlehnen das Fleisch an seinen Oberschenkeln zusammen, und er muss einen Moment in der Schwebe bleiben, bevor er den Widerstand mit einem Ruck überwindet. Er lächelt und macht eine Handbewegung, die mir zeigen soll, wie heiß ihm ist. Dann fummelt er ein knittriges Stofftuch aus seiner Jacke und wischt sich damit über die Stirn.

Er lächelt mich noch eine Zeit lang an, dann stemmt er sich wieder hoch und zerrt seine Tasche von der Gepäckablage. Er kramt einen Schlüssel hervor und öffnet damit etwas, das aussieht wie das Schloss eines Tagebuchs und überhaupt nicht zu den Proportionen seiner Tasche passt. Er löst ein Band und einen Gurt, dann zieht er an einem Reißverschluss und holt drei Tüten aus der Tasche, durch die man sehen kann, was drin ist. In der ersten Tüte ist eine 1,5-Liter-Flasche Sprite light. Der Amerikaner hat die Tragegriffe über dem Deckel zusammengeknotet, und jetzt löst er den Knoten wieder. In der zweiten Tüte ist ein Tank Cola light, und in der dritten Tüte sind Chips und mehrere Hamburgerverpackungen aus Schaumstoff.

Jedes Mal, wenn er einen Schluck will, löst er den Knoten, dreht den Verschluss ab und trinkt. Dann dreht er die Flasche wieder zu, knotet die Trageschlaufen über dem Deckel zusammen und stellt die Tüte neben seinen Sitz. Dazu schnauft er und wischt sich die Stirn und zwinkert mir zu wie einem Eingeweihten. Ich wende mich ab. Schaue durch den Sucher, obwohl kein Objektiv vor der Kamera ist. Die Landschaft verschwimmt. Meine künftige Sicht der Dinge.

»So − you’re a photographer?«

Obwohl sich der Amerikaner nicht bewegt, sehe ich aus den Augenwinkeln, dass der Wulst unter seinem Kinn schwabbelt wie bei einem Gockel.

»Entschuldigung – Sie sind Fotograf?«

Er spricht die letzte Silbe aus wie gräääähhhff, und ich drehe ihm den Kopf zu.

»You don’t speak english, no?«

Ich zucke die Schultern.

»Want some?«

Er streckt mir Goldfischlis entgegen, und ich frage mich, wo er die plötzlich her hat.

Ich sage no, thank you und greife nach dem Zugjournal. Mit Volldampf in die Zukunft, lese ich auf der Titelseite. Darunter das Bild einer Lokomotive, die direkt auf den Betrachter zufährt.

Ich schlage das Heft auf und sehe Bahnhöfe aus Chrom und Glas, doppelseitige Anzeigen für Parfüm und Fotos von Leuten, die sich für die Bahn verdient gemacht haben. Ich versuche, den Text unter den Fotos zu lesen, aber nach einer Weile wird alles unscharf.

Vorsichtig senke ich das Heft. Der Amerikaner sieht mich immer noch an. Er macht mit seiner Colaflasche eine Bewegung, aus der ich so was wie ein Zuprosten erkenne, und setzt den Plastikhals an den Mund. Die Flasche lässt er dabei in der Tüte, wie Alkoholiker in amerikanischen Filmen das tun.

Ich hänge das Zugjournal wieder an den Haken, setze eine 50er Brennweite vor das Gehäuse und fingere am Objektiv rum.

»Ich möchte Ihnen ein Geschäft vorschlagen«, sagt er plötzlich sehr klar und fast akzentfrei, als sei das der einzige Satz in meiner Sprache, den er beherrscht.

Er beugt sich zu mir. Ich sehe auf den Boden und lasse die Kamera zwischen meinen Oberschenkeln baumeln. Das perfekte Foto ist immer absichtslos.

Selbstauslöser.

Um Zeit zu gewinnen, nehme ich mir ein paar von seinen Fischlis und bemühe mich, interessiert zu gucken. Mir bleiben noch etwa vier Sekunden, dann muss das Objektiv senkrecht zur Decke zeigen. Ich will ihn von unten erwischen.

»Vorsicht – your camera!«, lacht er, weil sie ihm jetzt fast unters Kinn schlägt, und der Spiegel klappt hoch und wieder zurück. Ich glaube nicht, dass er was gemerkt hat.

»Okay – listen«, sagt er, und ich schaue wieder durchs Fenster, wo die Landschaft vorbeifliegt; die Pupillen fangen unbemerkt an zu zucken und versuchen, ein Bild zu halten, das nicht zu halten ist. Ich stelle die Verschlusszeit auf 1/1000 sec., hebe die Kamera ans Fenster und drücke ab. Ein Moment, der keine Geschwindigkeit mehr hat, hält ewig.

Der Amerikaner lacht.

»You’re a bit confused, no?«

Ich lege die Kamera zur Seite. Er nimmt meine Hand. Ich will ihn schlagen für dieses Großvatergetue. Meine Hand zuckt, aber er hält sie mit beiden Händen.

»Ich habe für Sie eine Aufgabe.«

Auf seiner Oberlippe ist Schweiß, und sein Blick wird plötzlich seltsam. Ich denke, dass dieser Amerikaner wirklich ein Problem hat.

»You got a problem?«

»Yes«, antwortet er, und es klingt wie ein Seufzer der Erleichterung.

Sein Gesicht beginnt, vor meinen Augen zu verschwimmen. Ich blinzele dreimal, aber es nutzt nichts. Der Amerikaner sieht aus wie ein überbelichteter Kuchenteig. Mir wird schwindelig. Ich schließe die Augen, um mich nicht übergeben zu müssen. Die Ärzte sagen, das hilft.

Ich schlucke und versuche, mich auf das zu konzentrieren, was er sagt, damit meine Gedanken ein Ziel haben. Er sagt, dass er Geld hat und mich bezahlen wird. Ich sage, dass mich Geld nicht interessiert. Er fragt, ob ich Probleme mit den Augen hätte. Er soll das Maul halten. Ich sage, dass er mich in Ruhe lassen soll, und seine Stimme wird plötzlich vertraulich.

»I live in a forest«, flüstert er und klingt dabei wie ein Anlageberater.

»You know – the trees ...«

Ich gebe ihm zu verstehen, dass ich weiß, wie es in einem Wald aussieht. Ich öffne die Augen. Seine Hände halten mich immer noch fest.

»I cut them off.«

Ich entreiße ihm meine Hand und frage mich, wozu ein Holzfäller Fotos braucht.

»Ich liebe die Bäume, and I want you to take a picture before I cut them. Me and the tree.«

Ich sehe ihn an. Um seinen Kopf ist ein bläulicher Ring.

»Close your eyes«, sagt er.

Ich bemühe mich, seinen Blick zu halten. Tränenflüssigkeit läuft mir über die Wangen, und ich wische mir quer durchs Gesicht.

Als es nicht mehr geht, stehe ich auf und taste mich entlang der Kopfstützen Richtung Zugrestaurant. Der Amerikaner versucht, mir zu helfen, aber ich drücke ihn mit einer Hand zurück in den Sitz.

»Alles in Ordnung«, sage ich und merke, wie mir kalter Schweiß auf die Stirn tritt. Ich taumele abwechselnd gegen Arm- und Rückenlehnen, entschuldige mich blind in die schwarzen Flecken vor meinen Augen und hangele mich Meter um Meter durch den schwankenden Gang auf die Tür zu, die ins nächste Abteil führt, während mir die Kamera hart gegen die Brust schlägt.

Es sind nur wenige Gäste im Zugrestaurant. Ich setze mich an einen Vierertisch, um dem Kellner das Gefühl zu geben, ich erwarte noch jemanden, nehme die Speisekarte und falte sie vor meinem Gesicht auf. Meine Hände zittern, aber ich versuche, mir nichts anmerken zu lassen.

Als der Kellner kommt, probiere ich es aus der Erinnerung mit Putensteak und habe Glück. Dazu Rotwein.

Montepulciano haben wir nicht, bedauert er, dafür einen sehr guten deutschen, sagt er, vom Rhein. Ich nicke und bestelle zwei Flaschen, weil ich weiß, wie klein die sind.

Als Brot und Wein kommen, nehme ich die erste Flasche, drehe den Schraubverschluss ab und kippe den Inhalt senkrecht ins Glas. Ich sehe mich um, aber niemand beobachtet mich. Zwei volle Umdrehungen gewähre ich ihm, dann stürze ich den blauroten Saft mit geschlossenen Augen runter und lasse mich nach hinten fallen. Langsam geht es besser. Ich spüre, dass meine Hände aufgehört haben zu zittern. Nehme mir eine Zigarette. Leere die zweite Flasche ins Glas.

Der Wein bildet einen schweren Kreisel, und ich versuche, ihn so hoch an den Rand zirkulieren zu lassen, dass er fast überschwappt. Ich halte den Kelch mit drei Fingern am Stiel, und als sich der Wein schneller dreht und immer schwerer gegen die Glaswand wogt, lege ich den Zeigefinger zusätzlich an den Kelch, um ihn aufrecht zu halten, denn jetzt nähert sich der perfekte Augenblick; der Moment, in dem Geschwindigkeit, Fliehkraft und Balance eine Einheit bilden. Fast übermütig drücke ich meinen Kopf gegen die Gardine, damit sich die Vibrationen des fahrenden Zuges in meinen Schädel übertragen, sich von dort über die Wirbel im Körper fortsetzen, bis hinein in die Fingerspitzen, die das Glas halten.

Als ich den Anflug eines Lächelns spüre, tritt der Amerikaner hinter mir vor wie ein Schatten. Er setzt sich gegenüber an den Tisch. Er sagt nichts, aber ich versuche, mich nicht aus der Ruhe bringen zu lassen. Die kleinste Unregelmäßigkeit in meinem Spiel reicht, um alles aus der Bahn zu werfen.

Der Amerikaner sieht mich an.

»Take a picture«, sagt er, und es klingt wie ein Befehl.

Ich fahre zusammen.

Der Wein klatscht kalt auf meinen Bauch.

Ich schnappe nach Luft. Sehe mein blutendes Hemd. Den Amerikaner, der dasitzt und mich anstarrt.

Meine Mundwinkel beginnen zu zittern. Es geht wieder los. Ich setze das Glas an die Lippen und hoffe, dass noch was drin ist. Ich sehe fast nichts mehr. Stürze den Weinrest runter. Taste nach meiner Kamera. Fummele eine weitere Zigarette aus der Schachtel und schaffe es, sie anzuzünden. Die andere muss noch brennend im Aschenbecher liegen. Ich höre den Amerikaner nicht, aber ich weiß, dass er da ist.

Links neben mir eine Stimme, brauchen Sie ein Tuch? Ich strecke dem Kellner meine Hand entgegen, drücke die Serviette auf meinen Bauch und reibe ein wenig daran herum. Ich bedanke mich und halte das Tuch an der ausgestreckten Hand zurück in den Gang.

»Er ist weg«, sagt der Amerikaner, kurz, nachdem ich es selbst gemerkt habe, und seine Stimme klingt so fremd, dass ich die Serviette fallenlasse.

Ganz langsam beugt sich der Amerikaner zu Boden, aber noch bevor er das Tuch aufheben kann, reiße ich die Kamera hoch und drücke ab.

Der Amerikaner lacht. Automatischer Transport. Der belichtete Teil wickelt sich nach rechts, während neuer Film nachgezogen und in die Dunkelheit gespannt wird, auf den Lichtblitz wartend, der zwischen Vergangenheit und Zukunft trennt.

Zweiter Teil

BLUMEN FÜR PENNY LANE

And though she feels as if she’s in a play

She is anyway.

Lennon/ Mc Cartney

1.

»Guten Tag, hier ist das Emnid Institut für Marktforschung, Nürnberg, wir führen eine Verbraucherbefragung zu den Rasiergewohnheiten junger Männer durch. Sind Sie zwischen 18 und 24?«

»Ja. Aber ich bin kein Mann.«

»Oh. Das tut mir leid. Dann entschuldigen Sie die Störung.«

Marie legte den Hörer auf und sah wieder zum Fernseher. Gerade lief der Pilotfilm einer neuen amerikanischen Serie. Die Sorte, in der glückliche Collegestudenten sich verlieben und immer die Sonne scheint.

In der Stadt, in der Marie wohnte, schien fast nie die Sonne, und es war beinahe drei Monate her, dass sie zum letzten Mal verliebt gewesen war. Marie dachte daran, wie das ist, verliebt sein, und ihr fiel ein, dass sie seitdem nicht mehr in ihr Tagebuch geschrieben hatte. Als mit Tom noch alles schön war, hatte sie an manchen Abenden zwanzig Seiten vollgeschrieben und war dann mit dem Stift in der Hand und einem Lächeln im Gesicht eingeschlafen.

Der Collegestudent in der Serie, den die meisten Mädchen toll fanden, hieß auch Tom. Er stand gerade an seinen Stahlspind gelehnt und versuchte, einer Deirdre klar zu machen, warum er sie nicht mit zum Abschlussball nehmen kann, als Marie etwas auffiel, das sie zum ersten Mal bei Dallas bemerkt hatte: Grillenzirpen. Bei Dallas zirpten immer die Grillen. Selbst im Gerichtssaal. Jocks Anwalt hielt ein fesselndes Plädoyer, und im Hintergrund zirpten Grillen.

Marie überlegte, ob der Toningenieur, der im Synchronstudio das Grillenzirpen angestellt hatte, wusste, was er da tat. Sie fragte sich, ob er damit eine Wette gewinnen wollte oder einfach vergessen hatte, das Band mit dem Zirpen auszuschalten, und nahm sich vor, beim Abspann der Serie auf seinen Namen zu achten. Sie wollte seine Adresse rausbekommen und ihn fragen, ob er früher Dallas synchronisiert hat. Was bedeutet es für dich, jede Szene mit Grillenzirpen zu unterlegen, würde sie fragen, und: Ich bin froh, dass dir das aufgefallen ist, würde der Toningenieur antworten. Das ist meine Art von Protest. Natürlich habe ich auch Spaß daran, aber es ist gleichzeitig eine Form des Protests. Und du bist die Erste, der das aufgefallen ist. Es ist unser kleines Geheimnis. Ein Geheimnis für Eingeweihte. Pass auf, in Folge 35 werde ich es einmal nur für dich zirpen lassen. Ich arbeite gerade an der Folge. Merk dir die Szene, wo Joey auf dem Ball der Sexclubbesitzer ...

Vielleicht hat Tom ja Grillen in seinem Spind, dachte Marie plötzlich. Vielleicht sammelt Tom ja Grillen, vielleicht ist das ein liebenswerter Spleen von ihm, und der Drehbuchautor hat sich das ausgedacht, um Tom noch interessanter zu machen.

Doch als das Zirpen auch in der nächsten Szene nicht aufhörte, in der Deirdre auf der Mädchentoilette mit ihrer besten Freundin über Tom sprach, schlief Marie ein. Sie wachte erst wieder auf, als der Abspann längst zu Ende war und sie keine Chance mehr hatte, die Adresse des Toningenieurs herauszufinden oder den Drehbuchautor zur Rechenschaft zu ziehen.