Meeresbrise - Carolina Schutti - E-Book

Meeresbrise E-Book

Carolina Schutti

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Beschreibung

Ein Dorf in den späten 80er Jahren: Zwei Töchter wachsen ohne Väter auf, denn der eine hat sich von einer Brücke gestürzt und der andere ist nach dem gewaltsamen Zeugungsakt über alle Berge; die Mutter der beiden stockt das Sozialgeld mit Telefonsex und dem Verkauf von Secondhand-Sachen auf. Es könnte alles besser sein … Mit Märchen, Lügen und geschickter Manipulation versucht die Mutter, ihre Kinder von der Außenwelt abzuschirmen und gleichzeitig an sich zu binden. Hand in Hand geht sie mit ihren beiden kleinen Prinzessinnen durchs Dorf, wobei sie eigentlich »respektlose kleine Monster« sind, die sich teils biestig durch den Alltag schlagen. Die gruselig-märchenhafte Isolation der Mädchen bekommt Risse, als die Ältere der beiden die Kraft der Neugierde entdeckt und zu ahnen beginnt, dass die Welt mehr für sie bereithält als nur dieses kleine, mühsam zusammengeflickte Leben.

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Seitenzahl: 87

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Carolina Schutti

 

Meeresbrise

Roman

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Literaturverlag Droschl

I. Palimpsest

Unsere Mutter ist die Einzige, die Hut trägt und Sonnenbrille. Einen schwarzen Hut mit breitem, wippendem Rand. Auf hohen Schuhen stöckelt sie durch das Dorf, und wir müssen ihr folgen, Hand in Hand, in unseren rosaroten Kleidchen. Das Kleid meiner Schwester ist zu lang und meines zu kurz, beide haben sie Größe 104. Wenn die Mutter durch das Dorf geht, tritt sie klackend mit dem Absatz auf, so, wie es Königinnen tun, wir stampfen ihr in unseren Sandalen hinterher. Unter unseren Zehennägeln sammelt sich der Dreck, doch unsere Gesichter glänzen im Abendlicht und unsere Köpfe zieren Schleifen aus Satin. Die Einkaufstasche schlägt bei jedem Schritt an Mutters Knie, und wir bemühen uns, ein Kichern zu unterdrücken, denn wenn wir kichern, fällt der Spielplatz aus.

Die Blicke der Leute streifen unsere Schultern wie Wind, und wir heben stolz unser Kinn, wie es uns die Mutter gelehrt hat.

 

Unser Dorf ist wunderschön. Wir haben gestutzte Hecken, blühende Beete, blinkende Fenster. Wertvolle Porzellanfiguren auf den Treppenstufen, prächtige Bäume und metallene Geräteschuppen. Zählte man die Schätze des Dorfes laut auf, ergäbe sich eine herrliche Litanei:

Pergolen

helle Holzlasuren

Kletterrosen

Efeuranken

Bleiglasfenster

das gestockte Blut des heiligen Irgendwer

 

Nachts sind wir die kleinen Mäuse, die nicht schlafen wollen. Wir tragen dunkle Jacken und schleichen leise die Hauptstraße entlang. Meiden die Lichter, die aus einzelnen Fenstern auf den schmalen Gehsteig fallen, und erschrecken beim Klang der Rasensprenkler, die unvermittelt Wasser versprühen.

Unser Weg führt an der Kirche vorbei auf den Waldrand zu. Zwei Laternen leuchten orange, und heute leuchtet auch der Mond. Wir haben zu Hause ausgelost, wer zuerst schaukeln darf, damit unser Streit nicht die Stille stört. Wer nicht schaukelt, gräbt Löcher in den Sand und bedeckt sie mit Zweigen.

Daheim schlurft Mutter barfuß über den grauen Teppich, der schon von Anfang an in unserer Wohnung ausgelegt war und den wir manchmal heimlich an einer Ecke anheben, um am bröselnden Klebstoff zu riechen. Der Teppich ist unsere Welt. Wir verzieren ihn mit Gänseblümchenköpfen und stecken Fichtennadeln in den kurzen, struppigen Flor. Meine Schwester presst ihre Wange auf den Boden und erzählt mir, wie ein Schiff auf eine zauberhafte Insel zusteuert, auf der die Blumen groß wie Bäume und die Gräser dick wie Arme sind. Wir beraten, ob wir uns fürchten sollen, aber wir tun es nicht. Wir finden einen Krümel und teilen ihn gerecht, das Essen muss eine Weile reichen. Durst existiert keiner auf dieser Insel, bis unsere Mutter uns hellen Himbeersaft bringt.

 

Auf dem Küchentisch liegt ein Tuch, das sich königlich glatt anfühlt.

Auf dem Tuch steht eine Konserve mit Fisch.

Seht her, ich mache es euch vor!

Die Mutter steckt ihren Finger durch den Ring und zieht langsam den Deckel ab.

Fisch ist gesund, sagt die Mutter, und wir mögen ihn.

Wir kleckern mit der roten Soße und bröseln mit dem Brot.

Nach dem Essen schaltet die Mutter den Fernseher ein.

Seht gut hin, Mädchen!, sagt die Mutter.

Wir sehen andere Kinder in anderen Häusern.

Die Armen, sagt die Mutter, das sind viel zu große Zimmer für nur ein Kind. Und wir verspüren Mitleid, weil die Kinder in schwarzen Autos durch Städte gefahren werden und Berge von Spielzeug haben anstelle von Stöcken und Sand.

In der Wohnung ist es still. Die Mutter arbeitet, ruht sich aus oder schläft, wir wissen uns in der Zwischenzeit zu beschäftigen.

 

Zum Beispiel sitzen wir zwischen unseren Betten in heillosem Durcheinander und stellen uns ein Lagerfeuer vor. Meine Schwester knistert mit Backpapier, ich werfe eine Strumpfhose in die Flammen. Dann strecke ich meine Arme, halte meine Handflächen über das Feuer. Das Feuer lodert und wärmt uns, außerdem hält es wilde Tiere von uns fern.

 

Zum Beispiel knüpfen wir ein Spinnennetz aus bunten Fäden zwischen unseren Betten und lassen ein Stofftier das Opfer sein, das erbarmungswürdig in seinem bunten Gefängnis zappelt, ehe eine von uns es erbeutet. Wir weiten unser Reich aus, spannen Fäden zwischen Fenster und Tür, zwischen Stuhl und Schrank, zwischen Lampe und Heizkörper. Wir merken zu spät, das wir uns selbst kaum noch bewegen können, wir kriechen am Boden, um nach weiteren Opfern zu suchen, finden eine Puppe ohne Haare, ein Feuerwehrauto, das wir beide hassen, einen feuchten Haarpinsel, einen zu kleinen Schuh. Das Netz zittert wie verrückt, die Spinnen müssen erst noch streiten, wer das nächste Opfer holen darf, sie streiten leise und gewinnen abwechselnd, einmal die eine, einmal die andere, heimlich erwecken sie die gefressenen Opfer wieder zum Leben, damit das Spiel nicht vorzeitig zum Ende kommt.

 

Mit vollgefressenen Bäuchen versuchen wir, uns nebeneinander auf eines der Betten zu legen. Fäden kratzen an den Wangen, an den Armen, am Hals, wir drehen und wenden uns, bis wir in einigermaßen angenehmen Positionen zu liegen kommen und dann verbiegen wir unsere Finger, um uns in Zeichensprache geheime Botschaften zu senden.

Geheimnisse sind uns ein großes Vergnügen.

Wir stellen uns vor, dass wir in Wahrheit die Töchter der Nachbarin sind und nur der Mutter zuliebe so tun, als seien wir ihre Kinder. Die Nachbarin hat einen großen Garten, in den wir bestens hinunterschauen können, eine Katze, eine Küche, aus der zauberhafte Gerüche strömen, Besuch, einen wöchentlichen Friseurtermin, keine eigenen Kinder, keinen Mann, eine Wäscheleine, einen Birnenpflücker an einem langen Stab, einen Gartenschlauch, schon wieder Besuch, duftendes Waschmittel, ein Haarnetz über den Lockenwicklern, Hausschuhe in allerlei Farben, einen Arm in der Schlinge, der aber wieder gut ist.

Unsere Fantasie kommt zum Erliegen.

Wir zupfen an den Fäden und sehen der Lampe beim Wackeln zu, wir bekommen Angst, der Stromschlag könne uns treffen, wir stöhnen um die Wette, wir stoßen uns gegenseitig die Zeigefinger in die Rippen, eine von uns schreit, auch die andere schreit.

 

Wir hören das Quietschen der Türklinke. Die Mutter hat ihren bestimmten Blick, unsere Herzen schlagen vor Angst.

 

Wir müssen die Knoten auf der Stelle wieder lösen.

Wir müssen die Fäden zu Knäueln aufwickeln.

Wir müssen lernen, uns wie normale Kinder zu verhalten.

Wir dürfen ihre Ruhezeiten nicht stören.

Wir bekommen nichts zu trinken.

Wir sollen kein Theater machen, das kommt davon.

Wir müssen jede in einer Ecke knien.

 

Wir beschließen, unsere Fähigkeiten zu verfeinern und fortan Netze aus Luft zu weben.

Der Vater meiner Schwester ist ein Maler, der sich von der Brücke gestürzt hat.

Es ist Sonntag, und wir machen einen Spaziergang in den Wald. Woche für Woche besuchen wir ihren Vater, denn Mutter kennt nur diesen einen Weg.

Seht her, Mädchen!, sagt die Mutter, und haltet euch schön an der Hand!

Unter uns tost das Wasser, die Holzbrücke ist lang und schmal. Unsere Nasen erreichen kaum die Brüstung, unsere Blicke verirren sich im Wald.

 

Der Tod des Vaters meiner Schwester ist ein tosendes Rauschen.

 

Na, du?, sagt die Mutter und sieht mich an.

Mein Vater hat meiner Mutter in einem Hinterhof den Rock von der Hüfte gerissen und lebt auch nicht mehr.

 

Unsere Väter bestehen aus Wörtern.

Wann immer wir können, betreten wir den Wald in unseren kurzen Kleidchen. Wir lieben das Spiel von Schatten und Licht auf unserer Haut, mögen es, wenn stachliger Wacholder an den gemusterten Stoffen zupft, wenn allerhand Gewächs an unseren Körpern streift. Die Mutter nimmt sich ausreichend Zeit, um uns mit Nelkenöl gegen Ungeziefer einzureiben. Ihre warmen Handflächen streicheln unsere Beine, unsere Arme und unser Gesicht, manchmal bekommen wir Küsse auf unsere Nasen. Wir bemühen uns sehr, keine Zecken mit nach Hause zu bringen.

Der Weg in den Wald beginnt hinter der Kirche. Jemand hat Wegweiser aufgestellt und einige der Bäume mit Farbe markiert. Wir benötigen die Markierungen nicht, wir kennen jede Biegung, jede Lichtung, jedes Auf und Ab. Bei einem Holzstapel verengt sich der Weg zu einem Trampelpfad, führt abwechselnd über Wurzelwerk, Sand und Kies nirgendwohin. Bis hierher und nicht weiter gehen wir, lassen uns nieder, bauen ein Dorf aus Steinen, Zapfen und Schneckenhäusern, ein Dorf, das dem unseren gleicht: Es gibt zwei Bauernhöfe, eine Hauptstraße, eine Kirche, einen Friedhof, ein Gasthaus, einen kleinen Laden und einen Supermarkt. Einen Spielplatz, einen Kindergarten, der nichts für uns ist, eine Schule, zwei Bushaltestellen, eine Telefonzelle, einen Pavillon für die Musik, einen Brunnen, eine Mauer, auf der man gut und gerne sitzt, drei alte Männer, die uns immer hinterherschauen und niemals ein Wort sagen.

Ein schwarzes, modriges Stückchen Holz ist der Hund, vor dem wir uns fürchten, für die Besitzerin des Ladens reißen wir das frische Ende eines Fichtenzweiges ab. Das helle Grün ist der Kopf, das dunkle das Kleid, wir bohren die Frau in die Erde, damit sie gut steht und uns jeweils ein Blatt Wurst reichen kann.

Danke!

Danke!

Wir lieben den Geruch in dem Laden, wir lieben die Regale, wir lieben die bunten Besen hinter der Tür. Wir lieben die Zuckerkringel, die sich neben der Salami in der Vitrine stapeln, und wenn ein solcher zu Bruch geht, bekommen wir ihn.

Draußen neben dem Eingang ist ein Kaugummiautomat.

Wir zwängen unsere kleinen Finger hinter die schwingende Metallklappe, bis es schmerzt, drehen wie verrückt am schwarzen Griff, testen die Kraft unserer Wünsche. Ein Ringlein soll herausfallen. Ein Ringlein für jede von uns.

Wir schlitzen vorsichtig die Stiele violetter Blümchen mit unseren Daumennägeln auf, um die Blütenköpfe hindurchzudrücken. Wir stapeln die Ringlein vor dem Laden, einem glatt geschliffenen, faustgroßen Stein. Wir platzieren ein paar Steinchen für die Häuser, einen Zapfen für den Kirchturm.

Heute lassen wir den Bus durch das Dorf fahren. Wir finden ein gelbes Blatt. Der Busfahrer lässt den Motor laufen, als gäbe es kein Morgen. Als längst alle Fahrgäste auf ihren Plätzen sitzen und darauf warten, dass es weitergeht, wickelt er ein belegtes Brot aus der Alufolie, beißt ab, kaut und schluckt, die Leute sehen auf ihre Armbanduhren, dann schließt er endlich die Türen, die Fahrt beginnt. Wir lassen den Bus einmal um das Dorf fahren, der Aussicht wegen und weil wir nicht aufstehen wollen, aber dann erheben wir uns doch und wagen uns ein Stück weit ins Dickicht, wählen einen umgestürzten Baum als Ziel, fürchten uns allerdings vor den Wurzeln, die er uns drohend entgegenstreckt. Gottseidank ist der Tank fast leer und der Bus kehrt rasch wieder um.