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Unterschiedlicher können zwei Charaktere kaum sein. Dennoch bestimmen sie das Denken und Handeln eines Menschen in fataler Weise. Ein hohes Maß an krimineller Energie und extreme Skrupellosigkeit verschmelzen zu einem gefährlichen Gemisch. Pathologische Spielsucht und der krankhafte Drang nach persönlicher Anerkennung münden in eine Spirale maßloser Gier. Er begeht dafür Straftaten, die schon bald die Ausmaße grausamer Gewaltverbrechen annehmen. Schuldgefühle sind dem selbstverliebten Psychopathen fremd. Immer sieht er das Recht auf seiner Seite. Eigene kriminelle Handlungen verdrängt dieser Egozentriker oder nimmt sie billigend in Kauf. Sehr spät erkennt er die Ausweglosigkeit der Lage. Seine Reaktion ist unberechenbar und durch extreme Brutalität geprägt. Auch Personen aus seinem persönlichen Umfeld geraten in große Gefahr. Hauptkommissar Thomas Laaser und sein Ermittlerteam erkennen schon bald, dass sie es mit einer Serie schwer vergleichbarer Verbrechen zu tun haben. Hinzu kommt, dass die Spuren der Gewalt in mehrere Länder führen. Dennoch gibt es eine gemeinsame und außerordentlich grausame Basis der Taten, die sich nur langsam herauskristallisiert. Das Buch wird Leser begeistern, die spannungsgeladene Kriminalromane mit sympathisch-amüsanten Nebenhandlungen mögen.
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Seitenzahl: 537
Veröffentlichungsjahr: 2021
Peter Werkstätter
Mehr recht als billig
Kriminalroman
Copyright: © 2021 Peter Werkstätter
Umschlag & Satz: Erik Kinting – www.buchlektorat.net
Titelbild: © [email protected] (depositphotos.com)
Verlag und Druck:
tredition GmbH
Halenreie 40-44
22359 Hamburg
978-3-347-31065-0 (Paperback)
978-3-347-31066-7 (Hardcover)
978-3-347-31067-4 (e-Book)
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Wer nichts waget, der darf nichts hoffen
(Friedrich Schiller)
Der bronzene Löwe vor dem riesigen, grünen Gebäudekomplex des MGM Grand begann die ersten Sonnenstrahlen in der Wüste Nevadas zu reflektieren. Der sitzende König der Tiere flößte einerseits Respekt ein, strahlte aber gleichzeitig etwas Erhabenes, Würdevolles und Beruhigendes aus.
Ein einsamer Spieler betrachtete diese eindrucksvolle Komposition aus der natürlichen Schönheit eines erwachenden Tages und des in Anlehnung an das berühmte Hollywoodstudio von Metro Goldwyn Meyer geschaffenen Bauensembles. Er weiß, der neue Tag kann nur besser werden als der gerade zu Ende gegangene – und dazu gehört nicht viel.
Er sieht das von Schweiß glänzende, ausdruckslose Gesicht des übergewichtigen Amerikaners vor sich. Er fühlt die manikürten, schlanken Hände des russischen Oligarchen, der scheinbar ohne nachzudenken hohe Risiken einging. Er hört deutlich die unangenehme hohe Fistelstimme des Griechen, die akustisch einem Greis zugeordnet werden konnte aber in Realität zu einem jungen Mann gehörte. Er glaubt sogar, das penetrante, aldehydig anmutende und gleichzeitig animalisch an Moschus erinnernde Parfüm des blassen Finnen zu riechen und überhaupt:
Der Eindruck des Blackjack Tisches mit seinen, im Halbkreis sitzenden Spielern und dem emotionslos auf der gegenüberliegenden Seite agierenden Kartengeber, hatte sich in den zurückliegenden 6 Stunden so fest in seine Erinnerung eingeprägt, dass er sich an Details erinnerte, die ihm während des Spieles kaum aufgefallen waren.
Die Stapel der bunten Jetons, die optisch immer wieder an das momentane Spielergebnis erinnerten, verschwammen mit fortschreitendem Spielverlauf zu einer bedeutungslosen Dekoration, deren Informationsgehalt zumindest für die Glücklosen der Nacht zunehmend schwand. Und genau zu dieser kleinen Gruppe hatte er in den letzten Stunden gehört.
Nahezu 80000 $ hatte er während der drei Tage seines Aufenthaltes in Las Vegas verspielt. Diese katastrophale Bilanz war auch durch die, im Vergleich zu den Hotels auf der nördlichen – und südlichen Strip preiswerte Unterkunft in einem Campground am Rande von Las Vegas, nicht auszugleichen.
Dafür musste er jetzt todmüde noch ein überteuertes Taxi nehmen, da um diese Zeit ein Shuttle für 12 $ nicht zu bekommen war. Das Wohnmobil, was er sich als Schlafstätte im gepflegten Oasis Las Vegas RV Resort angemietet hatte, war aufgrund seiner Größe und der begrenzten und extrem teuren Parkmöglichkeiten keine Alternative für einen Trip zu den Spielhöllen von Las Vegas.
Er löste seinen Blick von dem imposanten Panorama der Skyline von Las Vegas und wie aus dem Nichts tauchte eine der zahlreichen Stretchlimousinen auf, die für eine Einzelperson wahrlich keine preiswerte Alternative zu einem Uber Taxi darstellt – aber das war ihm jetzt auch schon gleichgültig.
Erfolg hat nur, wer etwas tut, während er auf den Erfolg wartet
(Thomas Alva Edison)
Volker Selketal wartete einmal mehr auf Mandantschaft. Seine kleine Kanzlei war zwar gemütlich eingerichtet, ließ aber jegliche Art von professioneller Ausstrahlung anwaltlicher Sachkunde vermissen. Seine Bürohilfe war daran nicht ganz schuldlos. Gestickte Fensterbilder sind zwar typisch für das Vogtland, aber eben unpassend für eine Anwaltskanzlei. Die hoffnungslos veraltete Bürotechnik komplettierte das Gesamtbild eines Provinzbüros mit überschaubaren Referenzen.
Scheidungsprozesse, Nachbarschaftsstreitigkeiten, Verkehrsverstöße und Diebstahlsdelikte waren bisher fast ausschließlich die juristischen Betätigungsfelder von Selketal.
Wenn er damit gut verdient hätte, wäre er vielleicht sogar zufrieden mit seiner Arbeit gewesen. Das war aber nun wirklich nicht der Fall. Sein Honorar reichte kaum für ihn selbst – geschweige denn zum Verwöhnen seiner Freundin.
Er bedauerte das zwar, sah aber den wirklichen Grund für seine ständige Geldnot im kapriziösen Charakter und den übertrieben hohen Lebenserwartungen seiner Partnerin Bettina.
Volker Selketal musste etwas tun, um zumindest den gegenwärtigen Lebensstandard zu halten. Er war überzeugt davon, nur durch das Erbe von seiner Mutter – sie war vor 3 Jahren verstorben – in der Lage gewesen zu sein, das gemeinsame Leben mit Bettina bis heute zu finanzieren.
Der Anwalt ignorierte dabei vollständig, dass seine Freundin über ein eigenes, regelmäßiges Einkommen verfügte und ihn in keiner Weise belastete. Volker Selketal beruhigte mit dieser fiktiven Doppelbelastung lediglich sein Gewissen.
Ansonsten schätzte er die Lage real ein: In spätestens zwei Monaten würde er Insolvenz anmelden müssen – oder zumindest in einem ersten Schritt seiner Bürohilfe Mandy kündigen.
Das Bekanntwerden dieser wirtschaftlichen Schräglage, dürfte in seinem Umfeld, dem vogtländischen Lützengrün, zwangsläufig das berufliche Ende für ihn bedeuten. Auch ein persönliches Desaster stand ihm bevor, wie er glaubte. Er unterstellte Bettina konsequent, sie würde sich mit einer solchen Situation nicht abfinden können und ihn sicher verlassen wollen. Auch diese Einschätzung erklärte sich mit der Manie des Anwalts, niemals persönliche Verantwortung übernehmen zu müssen.
In diesem Moment klingelte das Telefon und Volker Selketal hoffte spontan auf den großen Auftrag, der alle seine Befürchtungen in weite Ferne verschieben würde. Dass sich mit diesem Anruf vieles in seinem Leben grundlegend verändern sollte, konnte er allerdings nicht im Ansatz erahnen.
Sie war schon ein Blickfang für jeden, nicht völlig desinteressierten – oder gänzlich anders orientierten, Mann. Bettina Doll wusste das natürlich und genoss ihre Ausstrahlung auf die Kunden des renommierten Herrenausstatters „Golden Grip“, den die junge Frau gerade verlassen hatte.
Sie hatte Feierabend und nachdem sie 5h fast ohne Unterbrechung Herrenmode an den Mann – oder auch häufig an die Frau – gebracht hatte, sehnte sie sich danach, jetzt selbst ein wenig verwöhnt oder zumindest freundlich bedient zu werden. Erst wollte sie Volker anrufen, aber er war sicher noch in seinem Büro. Da heute der erste wirklich spürbare Frühlingstag in diesem Jahr die Biergärten und Eisdielen mit Sonne verwöhnte, steuerte sie ihren Lieblingsitaliener an. Sie wollte sich gerade im Freibereich setzen, als ihr Blick auf das gegenüberliegende Reisebüro fiel. Durch einen kleinen Ausschnitt, der zum Großteil mit Sonderangeboten beklebten Scheibe der Reiseecke Böhm, sah sie ihre Freundin, die Inhaberin der Reiseagentur.
Rita schien gerade nicht in Beratung zu sein und so änderte Bettina Doll ihren Plan, einen Eisbecher zu bestellen. Zumindest korrigierte sie die zeitliche Abfolge, denn es wäre nicht das erste Mal, dass sich die Freundinnen ihren Schwarzwälder Becher von Lucio, dem Pächter des Eiscafes, ins Reisebüro bringen ließen.
Nach einer herzlichen Begrüßung setzten sich die beiden Frauen an einen der zwei Beratungstische der Agentur und befanden sich unmittelbar danach bereits in einem angeregten Gespräch zu nahezu allen Themen, die Familie, Freundeskreis und Weltpolitik so hergaben. Das konnten sie auch ungestört tun, da die Bürger des Vogtlandes an diesem herrlichen Tag offenbar Besseres vorhatten, als sich zu fernen Reisezielen beraten zu lassen.
Rita orderte, wie schon vermutet, zwischenzeitlich zwei Schwarzwälder Eisbecher. Der freundliche Lucio war sehr schnell bei den Freundinnen, nahm sich dann aber viel Zeit beim Servieren. Er fühlte sich sichtlich wohl in der Gegenwart von „Schneeweißchen und Rosenrot“, wie er Rita und Bettina in optischer Anlehnung an das von den Gebrüdern Grimm bekannt gemachte Märchen gern nannte und auch nennen durfte.
Als die jungen Damen wieder unter sich waren, ging das Gespräch unterbrechungsfrei weiter. Als Rita auf den 30. Geburtstag ihrer Freundin zu sprechen kam, trat die einzige kleine Pause ein.
„Daran mag ich noch nicht denken“, sagte Bettina – „obwohl du recht hast. Soviel Zeit bleibt bis zum 12. Januar nächsten Jahres nicht mehr.“
Volker hatte bisher keinen Satz dazu verloren. Vielleicht hat er auch eine Überraschung geplant.
Als ob Rita ihre Gedanken lesen könnte, kam sofort ihr Einwand. „Bei dem Phlegmatismus deines juristischen Provinzgenies darfst du nicht auf Wunder hoffen. Da musst du schon aktiv werden, sonst bekommst du bei einem rauschenden Fest im Iglu deines winterlichen Vorgartens schafwollene Socken geschenkt.“
Bettina hielt das für unfair, obwohl sie auch nicht an eine Überraschung glaubte. Sie mochte es aber nicht, wenn Rita in dieser Weise über Volker urteilte.
„Von den in der antiken Humoralpathologie bekannten vier Temperamenten ziehe ich den Phlegmatiker allemal den Cholerikern, Sanguinikern und Melancholikern vor“, konterte sie deshalb.
Rita lachte schallend los – wurde aber sofort wieder sachlich. Sie schlug Bettina eine Geburtstagsreise vor, die sie nie vergessen würde, wohin ihre Eltern niemals folgen könnten und die ihr im Januar endlich einmal das Gefühl vermitteln würde, nicht in der falschen Jahreszeit auf die Welt gekommen zu sein. Das Wunderreiseziel hieß Vietnam.
Bettina Doll kannte zwar die spontane Verrücktheit ihrer Freundin, aber jetzt überzog sie. „Woher bitte sollen wir die geschätzten 10 TEUR nehmen, die eine solche Reise an das andere Ende der Welt kostet? Volker würde hyperventilieren und ich traue mir einen solch langen Flug auch gar nicht zu.“
„Erstens ist Vietnam nicht ganz am anderen Ende der Welt, sondern in Südostasien, die Reise wäre dank meiner guten Kontakte in dieses zauberhafte Land wesentlich preiswerter als du annimmst, Volker könnte seinen Kindheitstraum, einmal auf einem Elefanten zu reiten, am Lak – See erfüllen und du solltest nichts ablehnen, was du nicht kennst. Einen Flug mit der thailändischen Fluggesellschaft Thai Air hat noch niemand in meinem Reisebüro beanstandet“, erwiderte die Reiseexpertin.
Man musste es Rita schon lassen, sie konnte argumentativ überzeugen. Bettina glaubte ihr aufs Wort, wenn sie jedem der es hören wollte – oder auch nicht hören wollte – sagte, dass nur 10 % ihrer Besucher die Reiseecke Böhm verlassen, ohne gebucht zu haben oder in Bälde buchen.
Als Bettina Doll das Reisebüro verließ, gehörte sie zu den 90 % der Agenturbesucher, die Rita überzeugt hatte. Sie war zwar nachdenklich aber auch zufrieden.
Ihre Freundin hatte eine Reiseroute empfohlen, die einen umfassenden Eindruck von der atemberaubenden Schönheit und der Liebenswürdigkeit Vietnams vermitteln würde. Dabei hatte sie ihren Freund und Kollegen Hung Phan, den Direktor des legendären Hotel Rex in Saigon, fest in die Reiseplanung integriert. Rita würde ihn zu gegebener Zeit bitten, alle Inlandsaktivitäten wie Hotelbuchung, Inlandsflüge und touristische Höhepunkte vor Ort zu organisieren und zu buchen. Hung sei in der Tourismusbranche bestens vernetzt. „Er würde den Gesamtpreis der Reise auf ein schmerzarmes Niveau senken können“, hatte Rita nicht ohne Stolz verkündet. Bettina war sich nur nicht sicher, ob sie beide über die gleiche „Schmerzgrenze“ verfügten.
***
Er nahm den Hörer erst nach dem vierten Klingeln ab – sofortiges Abheben deutete seiner Meinung nach auf eine schlechte Auftragslage hin – und meldete sich mit seinem Namen.
Überraschung, Argwohn und Verunsicherung waren die Begrifflichkeiten, die Volker Selketals Empfindungen wohl am besten beschrieben, als er den Namen am anderen Ende der Leitung hörte. Er hätte es niemals für möglich gehalten, dass ausgerechnet der Seminargruppenprimus seiner Studienzeit, Sohn aus bestem Haus, intellektueller Überflieger und heutiger Staranwalt in Dresden, mit ihm – ohne Not – Kontakt aufnimmt. Und Not war nun wirklich etwas, was ein Erfolgsmensch wie Jörg Leifeld nicht kannte.
Dieser Mann hatte es geschafft, sich seit drei Jahren in der Liste der Top Anwälte für Strafrecht zu etablieren und lehnte hochdotierte Partnerschaftsangebote renommierter Anwaltskanzleien ab, um sich eine eigenständige Existenz aufzubauen. Starthilfe hatte er allerdings insofern erhalten, dass er die Jugendstilvilla seines Vaters geschenkt bekam. Dieser hatte die Räumlichkeiten als Zahnarztpraxis genutzt und in den noblen Kreisen seiner Patienten zu einer bestimmten Bekanntheit geführt, was sich auf die Kanzlei übertragen hatte.
Ja, er war tatsächlich am Telefon: sein ehemaliger Kommilitone Dr. Jörg Leifeld.
Jörg hatte offenbar die Verwunderung in Volkers Stimme wahrgenommen, denn er ging ohne große Vorrede sofort in medias res.
„Hast du am kommenden Samstag Zeit und Lust, mit einem alten Freund eine Party zu besuchen und ein paar Kostproben deiner brillanten Kenntnisse als Fachanwalt für internationales Wirtschaftsrecht zum Besten zu geben?“, fragte er in fast beiläufigem Ton.
Ja, es stimmte, Selketal hatte vor zwei Jahren, als wieder einmal keine Mandantschaft in Sicht war, Geld und Zeit investiert, um die gerade erst eingeführte Fachanwaltschaft auf diesem Spezialgebiet zu erwerben. Der entsprechende Lehrgang umfasste 150 Stunden und beinhaltete 3 Klausuren. Erst dann erhielt man die Zulassung bei der zuständigen Anwaltskammer und durfte die wohlklingende Berufsbezeichnung „Fachanwalt für internationales Wirtschaftsrecht“ führen. Nutzen, in Form von Aufträgen, hatte es bisher nicht gebracht. Größere, global aufgestellte Unternehmen gab es in seinem Kanzleibereich nur in sehr überschaubarer Anzahl, und hätte er diese Berufsbezeichnung an die Scheibe seiner Kanzlei geschrieben, wären Scheidungswillige und Verkehrssünder auch noch ferngeblieben.
Jörg Leifeld deutete das Zögern von Volker Selketal richtig. Er unternahm deshalb sofort den Versuch einer glaubhaften Erklärung für sein Anliegen, wobei er sich weitgehend an die Wahrheit hielt.
„Ein großer, in Dresden ansässiger Konzern, Globalplayer und Weltmarktführer im Elektronikbereich, sucht eine renommierte Anwaltskanzlei für Strafrecht, die aber auch Kompetenzen im internationalen Handels–und Wirtschaftsrecht vorzuweisen hat. Unsere Kanzleien könnten pro forma eine Kooperation eingehen, wobei sich dein Part auf den Bereich Wirtschaft und auf `bei Bedarf` beschränken sollte. Natürlich würden wir ein angemessenes Honorar zahlen“, ergänzte er gönnerhaft.
Was hätte Volker Selketal in seiner Situation anderes tun können, als der Bitte von Jörg Leifeld zu entsprechen.
Dieser reagierte auf die Zusage erleichtert und nachdem sie Ort und Zeit vereinbart hatten, um die gemeinsame Fahrt in das als Partylocation ausgewählte Landhaus in der Dresdner Heide zu starten, verabschiedeten sie sich.
Volker Selketal hatte schon reichlich 120 km Autofahrt hinter sich, als sich die beiden schmiedeeisernen Flügel des reichlich dimensionierten Tores der Jugendstilvilla im noblen Stadtteil Blasewitz für ihn öffneten. Der linkselbisch von Dresden gelegene Villenvorort entstand bereits in der Gründerzeit und derartige Anwesen sorgten zweifellos für den Erhalt des Charmes dieser Periode.
Volkers 9 Jahre alter Jetta passte so gar nicht in den gepflegten Innenhof der Anwaltsvilla. Besonders krass war der Gegensatz zu dem neben seiner Gästestellfläche abgeparkten, basaltschwarzen Porsche Panamera, der offenbar seinem ehemaligen Kommilitonen gehörte. Das war deshalb anzunehmen, weil sich gegenwärtig kein anderes Fahrzeug im Innenhof des Anwesens befand.
Dr. Leifeld stand bereits in der geöffneten Massivholztür seiner Villa, die typisch für den Jugendstil mit einer edlen Zarge umschlossen war. Nach einer kurzen Begrüßung ging er voraus in sein Büro.
Fast wäre Selketal ein überraschtes „wow!“ herausgerutscht, als er die Arbeitsräume des erfolgreichen Anwaltes betrat.
Ein riesiger, in einem polarisierenden Design gestalteter Schreibtisch, dominierte den mittleren Bereich des Büros. Seine weiß abgesetzten und ansonsten in eleganter, schwarzglänzender Klavierlackoptik gehaltenen Rundungen erinnerten in Verbindung mit einer ovalen Arbeitsfläche stark an die Handschrift Luigi Colanis. Da die gesamte Büroausstattung sehr wertig und exklusiv wirkte, war diese Annahme durchaus glaubhaft.
Sie hatten noch genügend Zeit. Die Veranstaltung begann erst in 90 Minuten und es dauerte höchstens eine Viertelstunde bis in die nördliche Dresdner Heide – selbst bei starkem Verkehr am Blauen Wunder. Die Brücke stellte zwar ein Nadelöhr zwischen den beiden Elbufern da, war aber dennoch ein Segen für die Anwohner.
Leifeld nutzte die Zeit, Volker auf Sinn und Nutzen der Party und auf seine Taktik einzunorden. Er wollte seinem Kommilitonen die „Bälle präzise zuspielen“, so dass dieser nur noch logisch und fachlich fundiert reagieren musste. Volker Selketal war in diesem Schauspiel die Rolle eines sehr guten Freundes zugedacht, der, aufgrund seiner Kompetenzen im internationalen Wirtschaftsrecht, in naher Zukunft als Sozius in einer gemeinsamen Anwaltssozietät mit Dr. Leifeld zusammenarbeiten wolle.
20 Minuten vor 19.00 Uhr stiegen sie in Leifelds Panamera und erreichten kurz darauf den reservierten Vorplatz des „Historischen Fischhauses“ in der Dresdner Heide. Trotz des Gardemaßes seines Porsche parkte Dr. Leifeld routiniert und exakt ein.
Der Abend verlief vollständig nach den Plänen des Staranwalts und er war entsprechend gut gelaunt. Dr. Leifeld überredete seinen „besten Freund“ noch zu einem letzten Drink, obwohl es bereits 23.30 Uhr war und beide schon reichlich dem Alkohol zugesprochen hatten. Ihr heimliches Verschwinden würde nicht auffallen, da der Festsaal einen separaten Eingang hatte, der auf der gegenüberliegenden Seite des Parkplatzes ins Freie führte und somit keine Sicht auf kommende – oder abfahrende Fahrzeuge zuließ. Außerdem befanden sich die Toiletten in Richtung Ausgang, so dass ein zufälliger Beobachter eher einen Besuch dieser Räumlichkeiten vermuten würde, als einen heimlichen Abgang. Beide verließen sie den in der ersten Etage des Traditionsrestaurants gelegenen, famos restaurierten Jugendstilsaal und steuerten den Parkplatz an. Sie erreichten unbemerkt ihr Ziel.
Jörg Leifeld lenkte den Wagen auf die unbefahrene Fischhausstraße. Sie führte das erste Stück durch den Albertpark, der um diese Zeit natürlich menschenleer war. Er beschleunigte den Porsche kaum hörbar in kürzester Zeit auf 80 km/h und suchte per Sprachsteuerung nach einem, zu seiner Hochstimmung passenden, Musiktitel.
Der plötzliche, dumpfe und dennoch laute Aufprall im vorderen Bereich der Fahrerseite ließ beide erstarren. Der Wagen kam sofort zum Stehen.
Die noch im Panamera ausgesprochene Vermutung von Leifeld, ein Wildschwein sei ihm ins Fahrzeug gelaufen, stellte sich in fürchterlicher Weise als Irrtum heraus. Nur wenige Meter vom Wagen entfernt lag ein menschlicher Körper in unnatürlich aussehender Stellung reglos am Boden.
Daneben lag ein Fahrrad, was offenbar dieser Person zuzuordnen war. Die beiden Anwälte beugten sich fast gleichzeitig zu der verunfallten Person hinunter. Es handelte sich um eine Frau, die mit hoher Wahrscheinlichkeit tot war. So äußerte sich zumindest Leifeld, nachdem er die Halsschlagader vergeblich nach einem Impuls abgetastet hatte.
„Wir müssen sofort Hilfe rufen“, sagte Volker Selketal mit belegter Stimme. Während er die Nummer des Notrufes in sein Mobiltelefon tippte, stellte sich Dr. Leifeld gedanklich auf das jetzt notwendige Gespräch ein. Obwohl er sich auf den Inhalt – ähnlich wie bei seinen Plädoyers – akribisch vorbereitet hatte, galt es jetzt vor allem, das richtige Timbre in seine Stimme zu legen. Er musste überzeugen, ohne erkennbaren Druck auszuüben. Eine kleine und dennoch spürbare Dosis an Hilflosigkeit sollte das Herz des Zuhörers berühren. Und nicht zuletzt bestand die Kunst darin, seinem Gesprächspartner eine solche Chance zu bieten, dass er seine vergleichsweise kleine Bitte nicht abschlagen konnte. Druck, Täuschung und Skrupellosigkeit waren unschlagbare Erfolgsgaranten. Man musste sie nur perfekt beherrschen und anwenden.
Er drehte sich zur Seite, damit Volker Selketal das Lächeln nicht bemerkte, was über sein Gesicht glitt.
Der Albertpark war an der Unfallstelle seit 30 Minuten durch die Scheinwerfer der Spurensicherung von grellem Licht durchflutet. Verstärkt wurde der bizarre, fast surreale Eindruck dieses Parkbereiches durch die pulsierenden Sondersignale von Rettungswagen und Polizei, die alle Gesichter der anwesenden Personen in flackernde, mystische Masken verwandelten.
Während die Spurensicherung ihre Arbeit erledigte, saß Volker Selketal in einem Kleinbus der Polizei und wurde umfänglich zum Hergang des Unfalls befragt. Natürlich war auch sein Alkoholpegel ermittelt worden. Er betrug 0,9 Promille. Die Antworten Selketals auf die routinierten Fragen des ermittelnden Polizeikommissars waren sehr leise und schienen emotionslos, obwohl er sich vermutlich in einem Stresszustand befand, der ihn praktisch paralysierte.
Nach ca. einer Stunde verließ Selketal das Polizeifahrzeug und sah gerade noch einen schwarzen Kombi den Unfallort verlassen. Dessen Heckscheibe war blindverglast und mit einer hellsilberfarbenen Gardine versehen. Die Radfahrerin war tot.
Dr. Leifeld verließ gegen 02.45 Uhr am Morgen die Feier im „Historischen Fischhaus“. Seine, von den Gastgebern georderte Taxe, wartete bereits auf ihn. Er nannte dem Fahrer die Adresse seiner Kanzlei, deren obere Etagen ja gleichzeitig seinen Wohnbereich bildeten.
Als sie den Unfallort passierten, war in der mondlosen dunklen Nacht nahezu nichts mehr von dem Unfall zu erkennen. Lediglich Lagemarkierungen auf dem Fahrweg konnte man im Scheinwerferlicht erkennen.
Zu Hause angekommen ging er in die Diele seines Wohnbereiches. Er schenkte sich ein Glas mit Single Malt Whiskys fast randvoll und setzte sich damit vor den Kamin, der natürlich um diese Zeit längst erloschen war.
Die letzten Stunden musste er noch einmal in Gedanken ablaufen lassen. Das war schon deshalb notwendig, um relativ sicher zu sein, keine Fehler begangen zu haben.
Volker hatte seiner Bitte entsprochen, den Unfall komplett auf seine Kappe zu nehmen. Er vermittelte in der Kürze der zur Verfügung stehenden Zeit seinem Kollegen glaubhaft, dass Volker lediglich mit einer Bewährungsstrafe zu rechnen hätte. Bei ihm wäre das anders gelaufen. Er hatte überzeugend behauptet, vor weniger als einem Jahr zu einer Bewährungsstrafe wegen Herbeiführens eines Verkehrsunfalles unter Alkoholeinfluss und anschließenden unerlaubten Entfernens vom Unfallort verurteilt worden zu sein.
Die heutige Alkoholfahrt mit Todesfolge hätte sicher eine Gefängnisstrafe ohne Bewährung nach sich gezogen. Auf die Folgen für sein anwaltliches Renommee und den eventuellen Entzug seiner Zulassung durch die Anwaltskammer hatte er Volker Selketal gar nicht hinweisen müssen – das wusste der selbst.
Ausschlaggebend für Selketals Einwilligung, die Schuld für den Unfall auf sich zu nehmen, war aber mit Sicherheit der enorme finanzielle Druck, der auf ihm lastete. Am Ende schienen bei Volker die in Aussicht gestellten, großzügigen Honorare durch die künftige Zusammenarbeit mit seiner Dresdner Kanzlei schwerer zu wiegen, als die Strafe, die ihn zweifellos erwartete.
Nach der Unterredung mit Volker Selketal war er unbemerkt von bekannten Personen durch den separaten Saalzugang wieder im Fischhaus eingetroffen. Auf dem kurzen Weg vom Unfallort zur Veranstaltungsstätte war ihm niemand begegnet.
Bevor er den Jugendstilsaal betrat, machte er sich auf der Toilette noch ein wenig frisch. Dann ging der Anwalt mit ordentlich gekämmten Haaren und den typisch vom Körper abgespreizten und leicht schüttelnden Händen, um den Trocknungsprozess nach dem Toilettengang zu beschleunigen, in den Festsaal.
In Folge suchte er regelrecht nach Mitgliedern von Geschäftsführung und Vorstand der von ihm umworbenen Firma. Es gelang ihm tatsächlich, den Vorstandsvorsitzenden und den kaufmännischen Prokuristen des Dresdner Chipherstellers an die Bar zu locken. Die erhoffte Frage, wo denn sein Freund und Kollege sei, beantwortete er prompt und schaffte sich damit für alle Fälle ein Alibi. „Er muss morgen zeitig ins Vogtland zurück und ist deshalb mit meinem Wagen voraus zu mir gefahren. Herr Selketal wird wohl bereits schlafen.“
Wie als Bestätigung der vorangegangenen Sätze schloss er eine Bitte an: „Ist es vielleicht möglich, dass ihre nette Mitarbeiterin am Empfang zu später Stunde ein Taxi für mich bestellt?“
Dem Wunsch wurde natürlich entsprochen und während eines gelösten Smalltalks an der Bar hatte Leifeld noch andere Gesprächspartner kennengelernt. Er war sich jetzt sicher, bei Notwendigkeit seine durchgängige Anwesenheit in den Räumen des „Historischen Fischhauses“ nachweisen zu können.
Nein, er hatte keinen Fehler begangen.
Wem genug zu wenig ist, dem ist nichts genug
(Epikur von Samos)
Acht Monate später.
Die Weihnachtszeit stand unmittelbar bevor und in den Küchen und Wohnräumen der traditionsbewussten Bewohner des Erzgebirges und des Vogtlandes herrschte reges Treiben und zuweilen auch positiver Weihnachtsstress.
Bettina Doll verließ gegen 16.00 Uhr ihre Boutique. In ca. 20 Minuten würde die Sonne untergehen und endgültig den herbeigesehnten Feierabend einläuten.
Die schwere Zeit des Sommers hatte sie mit Volker durchgestanden und jetzt sollte endlich Ruhe einziehen und eine bessere Phase in ihrem Leben beginnen. Die Voraussetzungen dafür waren gut: Ihr Partner war dank eines brillanten Strafverteidigers mit einer moderaten 6 – monatigen Bewährungsstrafe und 2000 EUR Bußgeld mit einem blauen Auge für diesen grausamen Verkehrsunfall davongekommen. Außerdem hatte ihn ein guter Freund aus der Studentenzeit mit zahlungskräftigen Auftraggebern aus der Wirtschaft zusammengebracht und Aufträge vermittelt. Er hatte aufgrund dieser Mandantschaft für seine sonstigen Verhältnisse außergewöhnlich hohe Honorare erwirtschaftet, was ihm sogar die Anmietung neuer Kanzleiräume in bester Zentrumslage von Plauen ermöglichte. Für ihn ein qualitativer Quantensprung.
Seinen betagten Jetta musste er einem Schrotthändler überlassen, aber er konnte sich einen schicken Audi A4 leasen. Auch ihr Geburtstagsgeschenk, die Traumreise nach Vietnam, hatte Volker akzeptiert und schien sich nun auch darauf zu freuen, je näher der Termin kam.
Da sie beide zwar getrennt aber nahegelegen am Stadtrand von Plauen wohnten, war ihr Arbeitsweg völlig unproblematisch. Sie konnten häufig gemeinsam mit dem Audi zur Arbeit fahren.
Der Herrenausstatter „Golden Grip“, in dem Bettina angestellt war, lag in unmittelbarer Nähe von Volkers neuem Büro. Er hatte sich die Räumlichkeiten zu einem moderaten Preis in den Kolonnaden von Plauen angemietet. Dieses große Einkaufs – und Bürocenter verfügte zwar über eine ideale Citylage, litt aber unter einem häufigen und ständig wechselnden, partiellen Leerstand, was den überschaubaren Mietpreis erklärte.
Das moderne Gebäude hatte man direkt gegenüber dem Landratsamt des Vogtlandkreises, am zentralen Postplatz errichtet. Auch ein Parkhaus gehörte zum Gesamtkomplex der Kolonnaden. Es war von der rückwärtigen Bahnhofstraße aus zu befahren und hatte über das Einkaufszentrum einen direkten Ausgang zu der Ladenstraße, in der Bettina Doll arbeitete. Besser ging es nicht.
Sie entschloss sich, Volker in seinem Büro zu überraschen. Bereits durch die Büroscheibe, die von der Rolltreppe des Einkaufcenters aus einem günstigen Blickwinkel einzusehen war, bemerkte Bettina die Bürohilfe Mandy Bartel. Sie war offenbar gerade im Begriff zu gehen, was Bettina nicht als Fehler ansah. Sie konnte Volkers Mitarbeiterin nicht besonders leiden.
Eigenartigerweise fand sie keine logische Begründung für das über Jahre gewachsene angespannte Verhältnis. Ihr Chef im Herrenausstatter würde sagen „Weiberlogik“ und Bettina hätte dem nichts zu entgegnen gewusst.
Sie hatte den Eingang der Kanzlei erreicht und verinnerlichte sich zum wiederholten Male die noch ungewohnte Berufsbezeichnung ihres Partners, die auf einer Messingtafel den Eingangsbereich zierte:
VOLKER SELKETAL
Fachanwalt für internationales Wirtschaftsrecht
Dependance der Rechtsanwaltssozietät
Dr. Jörg Leifeld & Volker Selketal, Dresden
Sicher hätte diese Aufschrift nicht an die schadhafte Fassade der Kanzlei in Lützengrün gepasst.
Sie konnte es sich im Kontext dieses Vergleiches nicht verkneifen, dass sie Mandy Bartel auch lieber in den alten Räumen wüsste.
Just in diesem Moment öffnete sich die Tür der Kanzlei und Mandy verließ das Büro. Sie wäre fast in Bettina hineingelaufen und ihre Gesichter hätten sich beinahe berührt.
Die Bürogehilfin musste noch das Lächeln im Gesicht der Freundin ihres Chefs registriert haben denn sie wirkte leicht irritiert bei der Begrüßung.
Glücklicherweise konnte sie keine Gedanken lesen.
Nachdem sie sich noch einen schönen Feierabend gewünscht hatten, betrat Bettina die Kanzlei. Volker telefonierte gerade und machte ihr mit einer Handbewegung in Richtung eines Besucherstuhles und einem entschuldigenden Schulterheben und -senken klar, dass das Telefonat noch dauern konnte.
„Handelt es sich dabei um eine einmalige Beratung zu einem, eher seltenen Sachverhalt, oder gehen sie von einer permanenten Beratungstätigkeit über einen längeren Zeitraum aus?“, hörte sie ihren Freund seinen Gesprächspartner fragen.
Die Antwort war kurz und für Volker offenbar sehr zufriedenstellend, was sie seinem Gesichtsausdruck und seiner Reaktion entnehmen konnte.
„Dann sehen wir uns morgen gegen 10.00 Uhr in Aue und ich werde reichlich Zeit einplanen, um den Gesamtumfang meines Aufgabenportfolios für die Vertragsgestaltung richtig einschätzen zu können. Es wäre gut, wenn neben ihnen noch andere maßgebende Mitglieder der Geschäftsführung von Secury Tex anwesend oder zumindest erreichbar sein könnten“, bat er abschließend.
Dieser Bitte wurde offenbar entsprochen, denn Volker verabschiedete sich und legte das Mobiltelefon unter hörbar erleichtertem Ausatmen auf den Tisch.
„Ich habe endlich einen großen Fisch an der Angel, und wenn ich mich nicht stark täusche, kann daraus eine langfristige Zusammenarbeit werden. Die brauchen jemanden mit meiner Qualifikation und haben offenbar akute Personalsorgen. So eine Chance lasse ich mir nicht entgehen“, sagte Volker ungewöhnlich laut und sein Gesicht zeigte eine Entschlossenheit, die sie nicht an ihm kannte…
Der Abend könnte schön werden, dachte Bettina – vermochte aber seine überzogene Reaktion nicht recht einordnen.
Volker Selketal erschien zur vereinbarten Zeit am Empfang des Unternehmens Secury Tex GmbH. Es befand sich am Rande der ehemaligen Bergarbeiterstadt Aue im Erzgebirge.
Er hatte sich im Netz ein wenig über Struktur und Produktpalette dieses global aufgestellten Konzernes und der zugehörigen erzgebirgischen Betriebsstätte kundig gemacht.
Es handelte sich bei Secury Tex Aue um einen Hersteller „Technischer Textilien“. Das Kerngeschäft besteht in der Produktion Persönlicher Schutzausrüstungen. Das Spitzenprodukt ist ein besonders innovativer Chemikalienschutzanzug.
Selketal wurde von einem Mitarbeiter des Betriebsleiters abgeholt und in ein schlichtes, aber zweckmäßig eingerichtetes Besprechungszimmer geführt. Der große Beratungstisch war bereits eingedeckt. In der Mitte standen die obligatorischen Kaltgetränke, etwa ein Dutzend Gläser und ein Behältnis mit Servietten.
Es war für vier Personen Kaffee vorbereitet. Volker Selketal würde also vermutlich drei Gesprächspartner haben, was er als positives Zeichen für die Bewertung des Gespräches durch die Geschäftsführung anerkannte.
Die Frage des Mitarbeiters, ob er schon einen Kaffee möchte, beantwortete er freundlich mit „nein, danke“. Er fand es bei Erstkontakten immer als angebracht und höflich, wenn man den Hausherren stehend erwartete.
Er musste auch keine fünf Minuten warten, bis zwei Herren und eine Dame erschienen.
Die Reihenfolge, in der die Mitglieder der Geschäftsführung des Unternehmens den Beratungsraum betraten, entsprach – wie sich kurz darauf herausstellte – auch der Hierarchie in der Auer Firma.
Lutger Krings stellte sich als Betriebsleiter „vor Ort“ vor. Er ergänzte ohne jegliche Eitelkeit, dass er in der Konzernstruktur den Rang eines Generalmanagers einnahm. Dies sei auch notwendig, um weitgehend lokale Entscheidungsfreiheit zu haben. Die Europäische Konzernzentrale sei in Paris und der Chief Executive Officer hätte seinen Hauptsitz in Boston, erläuterte der Chef des Erzgebirgischen Unternehmens.
„Mein Name ist Verena Korte, ich bin die kaufmännische Leiterin und mein Mitarbeiter Herr Kai Jäger fungiert als Controller und erledigt die notwendigen Aufgaben als interner Berater der Geschäftsleitung unseres Hauses. Das ist im Übrigen auch erforderlich, da meine Prokura einen sehr umfangreichen und verantwortungsvollen Bereich umfasst.“ Diese beiden Sätze aus dem Munde der Prokuristin, drückten, sowohl inhaltlich, als auch in der Art und Weise, wie sie ihren Einfluss in der Firma regelrecht zelebrierte, zumindest ein hohes Maß an Selbstbewusstsein aus. Volker Selketal schien das gut zu gefallen, was man mit etwas Übung aus seinem Gesicht ablesen konnte.
Der Betriebsleiter schien das anders zu sehen, denn er ergänzte mit Blick auf den jungen und sicher noch unerfahrenen Herrn Jäger, dass dieser über hervorragende Kenntnisse in der Europäischen Förderlandschaft verfüge. „Das macht ihn für Sie, Herr Selketal, zu einem wichtigen Ansprechpartner. Da wir aufgrund unserer extrem innovationsintensiven Produktpalette viel eigene Forschungsarbeit betreiben und dabei natürlich auch Fördermöglichkeiten nutzen, benötigen wir inhaltliche Fachkompetenz auf diesem Gebiet. Um Fehler in jedem Fall auszuschließen, brauchen wir aber gleichzeitig juristischen Sachverstand, und ich wäre froh, wenn wir uns heute zu diesen Inhalten einigen würden“, erklärte der Betriebsleiter.
Nachdem sie Kaffee getrunken und sich dabei ein wenig näher kennengelernt hatten, wurden die Beratungsbereiche, deren Umfänge und die entsprechenden Konditionen ausführlich besprochen und verhandelt. Während die inhaltlichen Aufgabenstellungen an die Kanzlei Selketals sehr komplex waren und sich in der konkreten Formulierung als sehr aufwändig herausstellten, wurden sich die Parteien bezüglich der zu vereinbarenden Honorare für die Kanzlei erstaunlich schnell einig. Offenbar verdiente das Unternehmen recht gut mit seinem Produktportfolio und musste aufgrund komfortabler Gewinnmargen nicht sehr eng kalkulieren.
Wie zwischen seriösen Kaufleuten üblich, wurden die besprochenen Vertragsteile per Handschlag besiegelt. Volker Selketal bekam seinen ersten konkreten Auftrag. Er sollte den schriftlichen Vertrag unterschriftsreif innerhalb von zwei Tagen erarbeiten und der Geschäftsführung vorlegen. Sie vereinbarten sich in gleicher Runde für kommenden Mittwoch zu gleicher Zeit an gleicher Stelle. Das Verhandlungsergebnis war für Volker Selketal ausgesprochen erfreulich. Es generierte zwar noch keine Gier, regte aber zumindest den Speichelfluss an. Selketal saß allein in seinem Büro, hatte den Vertragsentwurf vor sich liegen und genoss die 5stellige Zahl, die sie für den ersten Beratungsmonat als Honorar vereinbart hatten.
Für den Anwalt war das ein Anlass, das denkwürdige Gespräch mit seinem Freund Leifeld, was unmittelbar nach seiner Verurteilung wegen des Verkehrsunfalles mit tödlichem Ausgang stattfand, noch einmal Revue passieren zu lassen.
Dr. Leifeld lud Volker unmittelbar nach der Urteilsverkündung in das Dresdner Coselpalais ein. „Das ist doch das Mindeste, was ich an einem solch wichtigen und erfolgreichen Tag für dich tun kann“, hatte er, in der ihm nun wieder eigenen, wohlgefälligen Unantastbarkeit, seinem ehemaligen Kommilitonen gegenüber geäußert. Dass dieser noch ganz unter dem emotionalen Eindruck stand, soeben fast milde für ein schweres Vergehen, bei dem ein Mensch ums Leben kam, verurteilt worden zu sein, schien ihn in keiner Weise zu berühren. Auch seine eigene Schuld hatte er in seinen Augen mit finanziellen Unterstützungen Selketals großzügig abgegolten. Diese Art von Rechtsempfinden prägte Leifelds Persönlichkeit. Spätestens in der schrecklichen Nacht im Albertpark war das Volker Selketal bewusst geworden – und er bewunderte den Staranwalt dafür.
Während des hervorragenden Menüs – Jörg Leifeld als Stammgast in diesem noblen Restaurant hatte Oliven – Creme brulee als Vorspeise, Fasanenbrust „Sous Vide“ für den Hauptgang und Schokoladen – Rotwein Tarte zum Nachtisch empfohlen – kam es zu einem handfesten Streit zwischen beiden.
„Bist du denn mit den Mandantschaften und vor allem mit den Honoraren zufrieden, die ich dir vermittelt habe?“, leitete Leifeld das Gespräch ein.
„Ja, aber ich denke, diese kleine Mühe, die dich das gekostet hat, wiegt den Freundschaftsdienst, den ich dir erwiesen habe nicht im Ansatz auf“, erwiderte Volker Selketal heftig. Er hatte sofort erkannt, dass sein neu gewonnener Freund das Ende der Gefälligkeitsperiode einleiten wollte.
Dr. Leifeld wirkte nicht verärgert – im Gegenteil, er heuchelte sofort Verständnis für Selketals Bemühen, die für ihn komfortable Auftragssituation beibehalten zu wollen. Diese Gabe war ein Bestandteil seines Erfolgsgeheimnisses als Strafverteidiger. Er konnte völlig unvermittelt und scheinbar authentisch in die Rolle des „Advocatus Diaboli“ schlüpfen, ohne seine Strategie erkennbar werden zu lassen.
„Das wollte ich auch nicht in Frage stellen. Wir sind uns ja in den letzten Monaten auch persönlich nähergekommen und ich schätze dich sehr. Da ist es doch selbstverständlich, dass wir uns auch künftig unterstützen. Freundschaft schließt man doch nicht auf Zeit“, erklärte Leifeld belehrend.
Das Hauptgericht wurde serviert und alles schien einen harmonischen Lauf zu nehmen. Bis Volker die Katze aus dem Sack ließ.
„Ich habe das Geld aus den Aufträgen, die du mir vermittelt hast, gut angelegt. Die Kaution für meine neue Kanzlei, die geforderte Pachtvorauszahlung, der Umzug nach Plauen, das zeitgemäße Equipment im Büro und die Kosten für den neuen Wagen haben mein Konto aber ins Minus rutschen lassen. Es wird künftig notwendig sein, dass ich auch regional Fuß fasse und dafür benötige ich deine Hilfe. Die Mandantschaft im Dresdner Großraum hat mir sehr geholfen. Dennoch sind für meine Kanzlei Aufträge aus dem westsächsischen Raum unverzichtbar“, erläuterte Selketal engagiert.
„Das kann ich gut verstehen“, antwortete Dr. Leifeld, „die ständige Fahrerei von Ost nach West unseres Freistaates würde mich auch nerven – zumal du ja vorerst deinen neuen Wagen nicht fahren darfst. Aber wie könnte ich dir behilflich sein?“
Volker war auf diese Frage gut vorbereitet.
„Ich könnte mir vorstellen, dass wir einen Teil dessen, was wir deinen neuen Mandanten im „Historischen Fischhaus“ als unseren Plan verkauft haben, Realität werden lassen. Wenn du mich zum Sozius deiner Kanzlei machen würdest – eine nach außen wirkende Scheinsozietät sollte völlig ausreichen – wäre das ein Türöffner für meine berufliche Karriere in Westsachsen. Einer Sozietätsvereinbarung im Innenverhältnis bedürfte es nicht, so dass für deine Kanzlei kein Risiko bestünde.“
Jörg Leifeld hatte mit einer solchen Forderung nicht gerechnet. Vielmehr hätte er eine Bitte um einen größeren Geldbetrag erwartet. Vielleicht würde das aber auch noch kommen. Er musste diese Entwicklung im Keime ersticken – oder er machte sich auf Dauer erpressbar.
Leifeld lächelte seinen Komplizen an und versuchte seine ganze Überlegenheit in seinen Worten zum Ausdruck zu bringen. „Mein lieber Freund, versuche bitte nicht meine Großzügigkeit auszunutzen. Ich kann dir gern mit einem zinslosen Kredit oder auch mit einer Bargeldzuwendung in Höhe von – sagen wir mal – 20000 EUR Starthilfe geben.“
Er kaute genussvoll auf einem Stück der delikaten Fasanenbrust und schien auf eine Geste der Dankbarkeit von Volker zu warten. Als Selketal keinerlei Reaktion zeigte, änderte er seine Strategie.
„Du solltest im Übrigen immer davon ausgehen, dass ich in der Nacht deines Unfalls zwar in deiner Nähe, aber nicht mit dir zusammen war. Das wissen auch viele andere Personen. Und ich habe dir einen sündhaft teuren Anwalt vermittelt und bezahlt, der die wahre Geschichte nicht kennt. Er würde mich mit besonderem Ehrgeiz vertreten – schon um keinen Fehler einräumen zu müssen. Auch eventuell am Tatort oder am Unfallopfer vorhanden gewesene Spuren sind nach einem halben Jahr nicht mehr nachweisbar, und die tote Frau ist längst verbrannt. Du würdest mit einer solch haltlosen Anschuldigung nur verlieren.“
Diese Unverfrorenheit brachte Selketal aus der Fassung. Er wusste zwar, dass es Menschen gab, die eine Lüge so verinnerlichen und überzeugend wiedergeben können, bis sie selbst daran glauben, aber bei Jörg hätte er zumindest Spuren von kognitiver Empathie erhofft. Die Skrupellosigkeit, die ihm an Leifeld imponierte, würde in diesem Fall aber nicht zum Erfolg führen. Der bessere Trumpf steckte in seinem Ärmel.
Er legte das Besteck zur Seite und sah Leifeld mit einer Spur von geheuchelter Enttäuschung an.
„Diese Version der Geschichte hat einen gewaltigen Haken. Während du direkt nach dem Unfall sehr gedankenverloren wirktest, habe ich die Aufnahmefunktion meines Mobiltelefons aktiviert. Ich wusste damals gar nicht so recht wofür, aber meine Eingebung war offenbar Gold wert. Ausgeschaltet habe ich es erst, als ich in den Polizeiwagen gestiegen bin. Dein ganzer Plan, deine emotionale Überzeugungsrede und dein Vorschlag zur weiteren Vorgehensweise – all das ist auf einer kleinen SD – Card gespeichert und ich hoffe sehr, dass ich sie nie von dem sicheren Ort holen muss, an dem ich sie aufbewahre.“
Diese Offenbarung verfehlte ihre Wirkung nicht. Man konnte es fast pantomimisch nachstellen, wie Dr. Leifeld in Slow Motion Bewegungen von seinem hohen Ross herunterglitt. Er war ein zu guter Anwalt, um nicht zu erkennen, dass er diesen Satz abgeben musste.
Er stimmte dem Deal, kurz angebunden, mit eisiger Mine, zu. So schnell wie sie zu Freunden geworden waren, hatten sie sich verfeindet. Daran änderte auch der Umstand nichts, dass sie seitdem gemeinsam auf Kopfbögen und Messingplatten ihrer Rechtsanwaltssozietät verewigt waren.
Lache nicht über die Dummheit der anderen! Sie ist deine Chance
(Henry Ford)
Am vereinbarten Mittwochmorgen nahm Volker Selketal, mit den vorbereiteten Schriftsätzen des Vertragsentwurfes für seine juristische Beratungstätigkeit im Unternehmen Secury Tex Aue, nun schon zum zweiten Mal im Beratungsraum eben dieser Firma Platz. Im Gegensatz zum ersten Treffen war die Geschäftsführung bereits anwesend. Sie empfingen den Juristen in gleicher Besetzung wie wenige Tage vorher.
Selketal überreichte jeweils ein Exemplar des Vertrages an seine neuen Geschäftspartner und bat sie, den Schriftsatz in aller Ruhe zu prüfen und eventuelle Änderungsvorschläge oder Ergänzungswünsche anzumerken.
Nach zirka 10 Minuten brach Lutger Krings als ranghöchster Unternehmensvertreter das Schweigen. „Bis auf zwei kleine Formulierungsdetails, die aber keine inhaltliche Relevanz haben, gibt es meinerseits keine Anmerkungen. Offenbar haben wir uns in unserem ersten Gespräch ausgezeichnet verstanden. Gibt es von ihnen anders lautende Einschätzungen bezüglich des Vertragstextes?“, wandte er sich an seine Partner.
Verena Korthe verneinte das sofort. Offenbar hatte sie die beiden Ungereimtheiten in der Formulierung nicht bemerkt und war bemüht, daraus keine Peinlichkeit entstehen zu lassen. Kai Jäger nickte nur und untermauerte mit einer Geste in Richtung seiner Chefs, dass damit alles gesagt sei.
Lutger Krings bat daraufhin seine Sekretärin mit einem Stenoblock zum Diktat. Er war diesbezüglich noch „Old School – belastet“ und hatte sich in seiner gesamten beruflichen Laufbahn nur Sekretariatspersonal mit Kenntnissen in Stenografie ausgewählt. Er diktierte die zwei geänderten Textstellen sehr formulierungssicher und erstaunlich zügig.
Nachdem er sich mit einem Blick in die Runde die Zustimmung der anderen Beratungsteilnehmer für seine Korrekturen eingeholt hatte, traten sie in eine kleine Beratungspause ein.
„Wie sind sie denn auf meine Kanzlei gestoßen, ihr Unternehmen ist ja über 50 km von Plauen entfernt und hier gibt es doch auch reichlich Juristen?“, erkundigte sich der Anwalt.
„Eigentlich auf Umwegen“, antwortete der Betriebsleiter. „Ich habe einen guten Bekannten in Treuen im Vogtland und der hat während eines Einkaufsbummels in den Kolonnaden von Plauen ihr Büro entdeckt. Da er wusste, dass wir einen Fachanwalt für Wirtschaftsrecht suchen und diese im Erzgebirge noch dünn gesät sind, hat er mir ihre Kontaktdaten zugemailt. Ich werde ihm am kommenden Wochenende beim Fußballspiel im neuen Erzgebirgs-stadion dafür ein frisch gezapftes Bier spendieren. Ich hoffe, die Halbzeitstimmung im VIP Bereich des FC Erzgebirge Aue ist entsprechend gut – unsere Mannschaft spielt gegen Dynamo Dresden.“
„Ja, der Fachanwalt für internationales Wirtschaftsrecht ist noch nicht verbreitet in Deutschland. Er wurde erst im Jahre 2013 durch die Bundesanwaltskammer als 21. Fachanwaltschaft zugelassen. Insofern hat sich ihr Bekannter durchaus sein Bier verdient“, erwiderte der Anwalt.
In diesem Moment betrat die Sekretärin das Beratungszimmer und legte zwei Dokumente in Unterschriftsmappen korrekt geordnet ihrem Chef vor. Luger Krings gab ein Exemplar an Volker Selketal weiter. Beide prüften noch einmal den korrigierten Inhalt, unterzeichneten und tauschten dann die Unterschriftsmappen. Nachdem beide Exemplare beidseitig unterzeichnet waren, der Vertrag mit einem Glas Sekt besiegelt und per Handschlag bekräftigt worden war, bot Lutger Krings seinem neuen Geschäftspartner einen Betriebsrundgang an. Dieser war jetzt, nach Unterzeichnung der im Vertrag integrierten Geheimhaltungsklausel, erst möglich.
Während des Rundganges öffnete der Generalmanager von Secury Tex einen der verschlossenen Büroräume.
„Hier können Sie in aller Ruhe ihre Arbeiten vor Ort erledigen. Der Raum steht ausschließlich ihnen zur Verfügung und ist mit dem wichtigsten Büroequipment ausgestattet. Wenn sie noch etwas benötigen, sagen sie es bitte Herrn Jäger, er wird sich entsprechend kümmern.“ Kai Jäger lächelte dienstbeflissen und nickte bestätigend. Sprechen schien nicht so sein Hobby zu sein – zumindest in Gegenwart seiner Heeresleitung.
Der Produktionsdurchlauf beeindruckte Selketal sehr. Das Premiumprodukt, was ausschließlich in einem gesicherten Trakt gefertigt wurde, schien auch die Cashcow des Unternehmens zu sein. Es handelte sich dabei um einen gasdichten Chemikalienschutzanzug vom Typ 1. Diese Persönliche Schutzausrüstung schirmt den Träger komplett gegen fast jede radiologisch, chemisch oder bakteriologisch kontaminierte Umgebung ab.
Krings erklärte nicht ohne Stolz, dass Chemikalienschutzanzüge in der bei ihnen hergestellten Qualität auf dem Weltmarkt nur von sehr wenigen Herstellern angeboten würden. Zwar erfüllten alle zugelassenen Produzenten die geforderten und standardisierten Belastungskriterien, aber die CSA seien keineswegs gegen alle Stoffe resistent. Die Hersteller sind deshalb verpflichtet, mit jedem Anzug eine Beständigkeitsliste auszuliefern, um vor jedem Einsatz die Schutzwirkung des CSA bezüglich der vorhandenen Gefahrstoffe überprüfen zu können. Diese Resistenzliste sei bei ihren Produkten sehr umfangreich und stellte für viele Bereiche ein Alleinstellungsmerkmal dar, was den vergleichsweise hohen Preis gegenüber zahlreicher Konkurrenzprodukte, zum Glück auch in den Augen ihrer Kunden, rechtfertigte.
Der Betriebsrundgang wurde seitens der Geschäftsführung auch genutzt, den Anwalt mit einigen Schlüsselfunktionsträgern bekannt zu machen, die zumindest seine grobe Aufgabenstellung und damit den Grund für Selketals Präsenz im Unternehmen kennen sollten.
Nach zirka einer Stunde saß die Gruppe wieder im Beratungsraum. „Wenn sich aus ihrer Sicht, Herr Selketal, für den Moment keine weiteren Fragen ergeben, hätte ich – vorausgesetzt sie haben noch die Zeit dafür – gleich eine erste Aufgabe. Diese hat sich erst in der vergangenen Woche durch ein Schreiben der Sächsischen Aufbaubank ergeben. Unserer Bitte um Aufschub des Abgabetermines für einen Verwendungsnachweis, wurde nicht entsprochen. Fairerweise muss ich sagen, unserer erneuten Bitte, denn ein Aufschub wurde uns bereits gewährt. Leider hat uns der nicht geplante, vorzeitige Eintritt eines erfahrenen Kollegen in den Ruhestand, in eine prekäre Situation gebracht. Die Inanspruchnahme der Rentenregelung zum Ausscheiden mit 63 Jahren mag zwar für die betreffenden Kollegen ein Segen sein – für den Arbeitgeber ist sie zumeist ein Problem. Personalplanung wird so häufig zur Lotterie.
Da uns Herr Jäger, der anteilig die Aufgaben des verrenteten Kollegen übernommen hat, aber erst seit einem Monat zur Verfügung steht, ist einiges liegen geblieben. Trotz seiner guten fachlichen Ausbildung mussten wir ihm ein Mindestmaß an Einarbeitungszeit zugestehen, so dass Herr Jäger erst in den letzten drei Tagen den Verwendungsnachweis erstellen konnte. Da er das erste Mal mit diesem Förderprogramm befasst war, wäre sicher eine zweite Meinung aus juristischer Sicht zu seiner Vorlage von Vorteil und würde mich sehr beruhigen.“
Volker Selketal, der sich vorgenommen hatte, diesen Einstieg in die westsächsische Wirtschaft unbedingt erfolgreich zu gestalten, sagte sofort zu. „Ich habe mir den heutigen Tag für ihr Unternehmen freigemacht und hatte ohnehin vor, mich in einige Vertragsgegenstände einzulesen. Nun wird es eben gleich konkret, was auch seinen Charme hat.“
Lutger Krings bedankte sich sichtlich erleichtert und bat Verena Korthe, den Anwalt in sein Büro zu begleiten und mit allen erforderlichen Unterlagen auszustatten. Minuten später kämpfte sich der Anwalt durch den, nicht immer leicht verständlichen Antrag, zu dem betreffenden Forschungsprojekt.
Er hatte keine große Erfahrung auf diesem Gebiet und versuchte sich ausschließlich auf die förderungsrelevanten Sachverhalte zu konzentrieren. Den wissenschaftlichen Inhalt vermochte er nicht einmal im Ansatz zu verstehen und verließ sich dort vollinhaltlich auf die Verfasser der Texte.
Nach zwei Stunden intensiver Durchsicht von Antrag, Zwischenberichten und dem Entwurf des Verwendungsnachweises, bediente sich Selketal aus dem zwischenzeitlich gebrachten Thermoskrug. Auf dem Tablett waren liebevoll zwei Tassen, Zuckerbehälter, Milchkännchen und ein Teller mit Gebäck hergerichtet. Der Kaffee war noch heiß und duftete verführerisch.
Aus juristischer Sicht hatte er zunächst nichts zu beanstanden gehabt – bis er noch einmal das Einreichungsdatum des Antrages und den Eingang des Zuwendungsbescheides mit dem Aktivitätenplan des ersten Zwischenberichtes abgeglichen hatte. Dabei war dem Anwalt aufgefallen, dass zwischen Antragstellung und Zustellung des Förderbescheides drei Monate lagen, was zunächst bei einem zuwendungsfähigen Mittelumfang von 1,8 Mio EUR und einer Förderquote von bis zu 50 % nicht außergewöhnlich war.
Nachdenklich stimmte ihn jedoch ein Anstrich im Aktivitätenplan aus dem hervorging, dass bereits sieben Wochen nach Antragstellung, vertraglich bindende Lieferungen von Versuchsmaterialien eines Herstellers Technischer Spezialgewebe, ausgelöst wurden. Dies wäre nicht förderschädlich, wenn im Anschreiben zum Antrag um die Erteilung der Genehmigung zu einem „Vorfristigen Maßnahmebeginn“ gebeten worden wäre. In der Regel wird dem stattgegeben und relativ zeitnah ein Schreiben von der SAB versandt, wo der Antrag „dem Grunde nach“ als förderfähig eingestuft und der „Vorfristige Maßnahmebeginn“ genehmigt wird.
Sowohl der Passus im Anschreiben, als auch das Bestätigungsschreiben der Aufbaubank fehlten in den Unterlagen.
Da Volker Selketal nicht schon am ersten Tag seine Mandantschaft verängstigen wollte und eine Prüfung des Zuwendungsbescheides in aller Regel mehrere Wochen dauerte, beschloss er, zunächst diesen Sachverhalt nicht zu hinterfragen. Zu ändern war es ohnehin nicht mehr, denn das Material war längst verarbeitet und die dafür beantragte Förderquote ausgezahlt.
Der Kasinowechsel hatte dem Spieler tatsächlich Glück gebracht.
Nachdem er drei desaströse Nächte im MGM Grand ertragen musste, nahm er am darauffolgenden Abend gegen 22.30 Uhr an einem Black Jack Tisch im Caesar’s Palace Platz. Dieser Hotel– Kasino – Komplex gehört, neben dem Mirage, zu den Klassikern in Las Vegas Vergnügungsszene. Die monumentale Anlage war im altrömischen Stil erbaut und im Inneren der etwa 15.000 Quadratmeter einnehmenden Räumlichkeiten des Kasinos, ließen viele Details den Besucher in die Zeit 100 v. Chr., als Julius Cäsar geboren wurde, hineinträumen. Vielleicht war es für eine Glücksspielstätte ein gutes Omen, dass Cäsar einst den Rubikon, die Grenze seines Amtsbereichs, mit den Worten „Alea iacta est“ (der Würfel ist gefallen) überquerte und damit Rom den Krieg erklärte. Es war auch denkbar, dass der Anblick der römischen Legionäre in den Pavillons oder Kleopatra, die zu fortgeschrittener Zeit am Arm von Markus Antonius in perfekter Inszenierung durch das Kasino schritt, den Spieler inspiriert hatten.
Genau in diesem Moment begann nämlich seine Glückssträhne und hielt bis in die Morgenstunden an. Dennoch war er sich bewusst, das Schwert des Damokles konnte bereits in der nächsten Nacht seine Glückssträhne durchtrennen, war es doch nur an einem dünnen Pferdehaar befestigt, wie die Sage berichtet. Schnell schob er diese Gedanken beiseite und genoss das gute Gefühl, Gewinner zu sein.
Er setzte sich an einen der prunkvollen römischen Brunnen und beobachtete, wie in einigen Forum Shops das Leben erwachte. Die meisten der über 160 Geschäfte und Restaurants, die an der Shoppingmeile des nördlichen Strip wie bunte Perlen an einer Kette aufgereiht waren, boten ihre Waren und Dienste rund um die Uhr an. Man konnte sich seinen Einkauf oder einen Restaurantbesuch zu einer bestimmten Tageszeit auswählen, da sich die Etablissements unter einem künstlichen Himmel befanden, der den Tagesablauf von der Morgendämmerung bis zum Abend simulierte.
Er ließ die beeindruckende Architektur auf sich wirken. Das Gefühl von Glück und Zufriedenheit versetzte ihn in einen euphorischen Zustand. Sein kalter, merkwürdig entrückter Gesichtsausdruck wirkte starr und dämonisch.
Der Spieler fasste an seine linke Brustseite, als wolle er sich vergewissern, ob das pralle Bündel mit den gewonnenen 120000 USD real vorhanden war. Damit war der Verlust aus den zurückliegenden Tagen vergessen.
Er streckte sich und schaute im Gehen nach oben in den jetzt wieder frei sichtbaren, mattblauen Morgenhimmel der Wüste Nevadas. Sein Blick blieb an Julius Cäsar hängen, der von einer Säule auf ihn herunterzublicken schien. Man konnte glauben, er beobachte den stop and go – Verkehr, der am Strip nie zum Erliegen kam.
Der Spieler liebte diese Retortenstadt nicht, war aber von ihr beeindruckt. Noch zwei Tage verblieben ihm hier, dann musste er zurück. In der kommenden Nacht würde er noch einmal sein Glück einfordern – oder besser, seine Spielstrategie, die er für perfekt erachtete, zu seinem Vorteil zu nutzen versuchen.
Er hatte das Buch „Beat the Dealer“ des amerikanischen Mathematikers Edward O. Thorp mehrfach gelesen und war felsenfest davon überzeugt, dass man mit Hilfe des darin beschriebenen Spielsystems einen Vorteil als Spieler gegenüber der Spielbank erlangte. Es gab wohl auch Ausnahmen, aber diesen Gedanken schob er schnell und energisch von sich. Er glaubte unbeirrbar daran, dass er in zwei Tagen in Los Angeles eine Maschine der Delta Airlines als wohlhabender und glücklicher Mann besteigen und zu gegebener Zeit in 10000 Meter Höhe einen guten Kentucky Bourbon genießen würde.
Dann musste der nächste Schritt folgen, eine weitere Bewährungsprobe. Diesen Sieg konnte er allerdings nicht erspielen. Er musste ihn erkämpfen, mit allen denkbaren Mitteln.
Der Spieler hatte jetzt wieder diesen krankhaft geistesabwesenden Blick, der so gar nicht zu seinem biederen Äußeren passte.
Dr. Jörg Leifeld hatte seit jenen denkwürdigen Tagen, an denen er mit Volker Selketal in eine gemeinsame Sozietät eingetreten war, keinen persönlichen Kontakt mehr zu seinem Anwaltskollegen gehabt.
Er war sehr verärgert und – was bei seinem egozentrischen Charakter verwunderte – auch verunsichert. Wie würde es weitergehen, wann war die nächste Forderung von Volker fällig, war es ein Fass ohne Boden oder würde Selketal beruflich Fuß fassen und seine Erpressung einstellen?
An Letzteres konnte er nicht recht glauben, denn offenbar war der Finanzbedarf seines ehemaligen Studienfreundes exorbitant hoch. Allein die Honorare, die über seine Kanzlei im Unterauftrag an die Kanzlei von Volker überwiesen wurden, lagen im Bereich von 110.000 EUR. Das hätte problemlos für die Finanzierung der von Selketal benannten Ausgaben im Zusammenhang mit seinem Umzug ausgereicht. Auch die maximal 400.- EUR Leasinggebühren für seinen neuen Audi machten das „Kraut nicht fett“. Hinzu kam, dass ihm sein neuer Mandant der Dresdner Halbleiterfirma, für die Selketal auch auf seine Vermittlung hin tätig war, vertraulich von einer internen Begebenheit berichtet hatte, die seine Aufmerksamkeit hervorrief.
Volker war auf eine Unkorrektheit bei der Abrechnung eines, von der Europäischen Union geförderten Projektes, im Rahmen seiner internen Betriebsprüfung gestoßen. Die Gefahr einer Rückzahlungsforderung war groß, wäre aber für den Konzern, gegenüber dem zu erwartenden Gesichtsverlust seines Unternehmens beim Fördermittelgeber, die kleinere Sorge.
Selketal hatte nach Aussage des Chefs der Dresdner Halbleiterfirma eine offenbar sehr aufwändige Lösung des Problems „auf kleinem Dienstweg“, wie Selketal ausdrücklich betont hätte, gefunden. Diese „Gefälligkeit“ hatte dem Anwalt ein Sonderhonorar des Konzerns in Höhe von 50.000.- EUR beschert.
Wenn Volker in diesem Tempo weiterhin sein Geld ausgab, musste Leifeld kein Prophet sein, um schon in Bälde einen neuen Vorstoß von seinem Spezi zu erwarten. Ja, das musste er sich eingestehen – er hatte Selketal stark unterschätzt.
Es galt nun, energisch zu reagieren – nur wie? Für ein offizielles Vorgehen gegen diese eindeutige Erpressung sah er keinerlei Möglichkeit. Auch die Zahlung einer größeren Summe als Gegenleistung für die Herausgabe der SD – Card war weggeworfenes Geld, da eine Kopie sicher bereits notariell hinterlegt war. Damit konnte er jegliches restriktive Vorgehen gegen Selketal vergessen.
Die einzige Chance, die er sah, bestand darin, etwas im Leben von Volker zu finden, was um nichts auf der Welt gegenüber der Öffentlichkeit bekannt werden durfte.
Das war die viel zitierte „Nadel im Heuhaufen“.
***
Volker Selketal hatte in den zurückliegenden zwei Wochen insgesamt fünf Tage im Unternehmen Secury Tex Aue zugebracht. Das entspricht in etwa dem vertraglich vereinbarten Umfang, wenngleich die Präsenz in der Firma nicht immer erforderlich war.
Nachdenklich hat ihn bei der Durchsicht der Unterlagen mehrerer Förderprojekte der Sachstand gestimmt, dass offenbar mit den Förderrichtlinien sehr leichtfertig verfahren wurde. Oder besser gesagt, vereinzelte Vorgänge nur unvollständig dokumentiert wurden.
Da diese Fälle vor dem Eintritt von Kai Jäger in die Firma bearbeitet wurden, bat Volker Herrn Krings darum, die in einem Nebenraum gelagerten Ordner des ehemaligen, als erfahrener Wirtschaftsingenieur langjährig im Unternehmen tätig gewesenen Mitarbeiters, einsehen zu dürfen. Er begründete diese Bitte damit, dass es ihm sehr helfen würde, Beispiele für abgeschlossene Projekte zu analysieren, bei denen bereits geprüfte und bestätigte Verwendungsnachweise vorlagen.
Da Lutger Krings die glaubhaft systematische und gewissenhafte Arbeitsweise des Anwalts gefiel, hatte er selbstverständlich keine Einwände gegen die Sichtung dieser Akten. Außerdem wurde ihm vertraglich ohnehin der uneingeschränkte Zugang zu betrieblichen Vorgängen gewährt. Nur die Personalakten, wie auch Löhne und Gehälter der Mitarbeiter, waren davon ausgeschlossen.
Er begann am Morgen des darauffolgenden Tages mit der Durchsicht der Dokumente. Es waren etwa zwanzig laufende Meter an Ordnern, die in vier Aktenschränken untergebracht waren. Durch den großen Umfang der Projektunterlagen beschränkte sich Selketal zunächst darauf, jeden Ordner aufzuschlagen und den groben Inhalt zu ermitteln. Der frühere Verantwortliche für diesen Bereich hieß Peter Kirchhoff und der Anwalt musste ihm schon nach dem Öffnen der ersten fünf Akten ein hohes Maß an Ordnung und Übersichtlichkeit attestieren. Jeder Order und auch dazwischen abgelegte dünnere Hefter waren mit einem Deckblatt versehen, was den Leser mit einem Blick über den wesentlichen Inhalt informierte.
Nach ca. zwei Stunden hielt er einen, zirka eineinhalb Zentimeter starken Hefter in den Händen. Dieser war ihm auch deshalb aufgefallen, weil er liegend in einem separaten Fach mit einer Reihe von gedruckten Förderrichtlinien der Europäischen Union, des Bundes und des Freistaates Sachsen deponiert war. Der Inhalt dieses Dokumentes fesselte ihn sofort und da er am Mittag dringend in seiner Kanzlei anwesend sein musste, schob er es nachdenklich in seinen Aktenkoffer.
Er konnte nicht sagen warum, aber er platzierte einen anderen Hefter ähnlicher Stärke auf dem obenliegenden Bundesanzeiger des Stapels von Amtsblättern und stellte zufrieden fest, dass kein optischer Unterschied zur ursprünglichen Anordnung der Dokumente erkennbar war. Mit dem guten Gefühl, den Schlüssel für einen erfolgreichen Einstieg bei Secury Tex gefunden zu haben, verschloss er die Schränke und fuhr mit einem Taxi in seine Kanzlei. Diesen Service hatte ihn Herr Krings angeboten und er war froh darüber, weil er ja zurzeit keine Fahrerlaubnis besaß.
Je mehr Vergnügen du an deiner Arbeit hast, umso besser wird sie bezahlt
(Mark Twain)
Peter Kirchhoff stand in seiner Küche und bereitete eine kulinarische Köstlichkeit aus dem mediterranen Raum vor. Er liebte diese leichten Gerichte aus dem Mittelmeergebiet. Sie erinnerten ihn immer ein wenig an die zahlreichen schönen Urlaubsaufenthalte mit seiner Frau Jenny, mit Freunden und in der 90er Jahren noch mit ihrer Tochter Lena. Der Geruch von Basilikum, Rosmarin, Koriander, Salbei und Thymian reichte schon aus, um sich in die traumhafte Kulisse von samtgrünen Olivenhainen, blühenden Lavendelfeldern und schier endlosen Sonnenblumenmeeren hineinzuträumen. Warum van Gogh nach dem Malen zahlreicher Bilder mit Sonnenblumen in Südfrankreich dem Wahnsinn verfallen sein soll, blieb ihm ein Rätsel. Er glaubte eher an die ebenfalls nicht gesicherte Überlieferung, dass die ständigen Streitereien mit seiner Hassfreundschaft Paul Gauguin den Ausschlag für seine zunehmende geistige Verwirrung gegeben haben. Vielleicht hat der ihm ja auch den großen Teil seines linken Ohres abgeschnitten.
Gleich wohl, wie man es sehen will, diese Landschaft regt offenbar zum Träumen, zum Malen und auch zum Kochen und Genießen an.
Es war Sonntagnachmittag und sie erwarteten am Abend gute Freunde, mit denen sie ein oder zwei Flaschen Chianti genießen wollten und wie immer viel Spaß haben würden. Für das Zubereiten des Salates hatte sich Jenny angeboten und sie war gerade im Vorratsraum, um das passende Gemüse zusammenzustellen. Peter hatte sich als Hauptgericht ein, mit Kapern und getrockneten Tomaten gefülltes, Zanderfilet ausgewählt, was er, deftig gewürzt mit mediterranen Kräutern, zu griechischen, mit Oliven, Tomaten und Knoblauch in Olivenöl zubereiteten Bratkartoffeln, servieren wollte. Der Trick dabei war, dass die in Würfel geschnittenen Kartoffelstücke im rohen Zustand in Olivenöl ausgebraten wurden. Man musste zum richtigen Zeitpunkt die anderen Zutaten und Gewürze hinzufügen, um noch bissfeste, aromatische Bratkartoffeln zu zaubern. Bald würde die Küche nach den herrlichen Aromen dieser Köstlichkeiten duften.
Peters Frau Jenny betrat mit einer großen Schale, gefüllt mit den wichtigsten Bestandteilenden, die sie für das Zubereiten eines herzhaften „Caprese Salates“ benötigte, die geräumige Wohnküche. Sie küsste ihn auf die Wange und schüttelte amüsiert mit dem Kopf. „Es ist schon bemerkenswert, wie es dir immer wieder gelingt, mehr Aufwasch zu produzieren, als Paul Bocuse bei der Zubereitung seines legendären Fünf–Gänge-Menüs im Elysee Palast, anlässlich seiner Erhebung zum Ritter der Ehrenlegion, hinterließ. Und da assistierten ihm immerhin zwölf Spitzenköche…“
Peter Kirchhoff lachte nun auch und hoffte, dass seine Jenny auch heute wieder die „niederen“ Tätigkeiten des Aufräumens und Reinigens seines „Sternearbeitsplatzes“ übernehmen würde.
„Paul Bocuse hat aber auch Kochen gelernt und ich bin nur Ingenieur“, antwortete er schalkhaft und mit zur Schau gestellter Demut.
„Jetzt bist du nur noch im Ruhestand, vergiss das nicht. In gleichem Maße, wie du nicht mehr von deinen Kollegen beanspruchst wirst, kann ich dich jetzt einspannen“, nahm Jenny seine Frotzelei an. „Die Schonzeit ist jetzt nach einem Jahr Eingewöhnungszeit an das Rentnerleben vorüber – das können dir sicher auch Nicola und Bernd bestätigen, die ja ein halbes Jahr Vorsprung haben.“
Der „Chefkoch“ schlug demonstrativ aus geheucheltem Entsetzen die Hände vor das Gesicht. „Das Wort Rentner finde ich ohnehin blöd“, erwiderte er, um vom Thema abzulenken.
„Neulich habe ich eine viel schönere Umschreibung dieses Gruselwortes gehört. Ein ehemaliger Geschäftspartner hat das wie folgt formuliert“, dozierte Peter lächelnd.
„Ich bin jetzt in einem Alter, wo zwei freie Tage in der Woche nicht mehr ausreichen, um mein angespartes Vermögen so weit abzubauen, dass sich meine Kinder und Enkel später nicht darum streiten müssen“, zitierte Peter seinen Bekannten.
„Finde ich gut, klingt sympathisch wohlhabend, nicht ganz so alt und suggeriert Agilität und Unternehmungslust. Nur unsere beiden Enkel dürfen das nicht hören, sonst nehmen sie ihren Opa noch mehr aus.“ Beide lachten und dann ging es ans Kochen.
Peter hatte nur noch sporadischen und eher zufälligen Kontakt zu seinen ehemaligen Kollegen. Was seinen Chef anging, bedauerte er das ein wenig, weil der sich ihm gegenüber immer fair verhalten hatte. Das Gegenteil traf auf Verena Korthe zu. Sie hatte es nie verkraftet, dass Peter Kirchhoff im Unternehmen Secury Tex eine gewisse, nicht verbal oder gar schriftlich dokumentierte, aber allgegenwärtig spürbare, Sonderstellung einnahm. Dafür gab es unterschiedliche Gründe. Zum einen verfügte er aufgrund seiner langen Betriebszugehörigkeit – auch schon im Vorgängerunternehmen – über eine große Erfahrung in allen Schlüsselbereichen. Des Weiteren war seine Ausbildung als Textiltechniker und das anschließende Studium zum Ingenieurökonomen eine hervorragende Grundlage für seine multivalente Einsetzbarkeit. Hinzu kam Peters stets aufgeschlossenes und freundliches Naturell, was die wenigen Neider in eine schlechte Position brachte.
In fünf Tagen, am 20.12.2019 – es war diesmal sehr weit an den unmittelbar bevorstehenden Heiligabend herangerückt – sollte die betriebliche Weihnachtsfeier in Aue stattfinden, zu der Peter Kirchhoff noch einmal eingeladen war. Er wollte teilnehmen und freute sich auch darauf.
Volker Selketal hatte den Hefter aus Peter Kirchhoffs Aktenschrank Seite für Seite gelesen und nahm ihn zum wiederholten Mal in die Hand. Einerseits hatte das Dokument Klarheit in einige, zunächst als fehlerhaft erschienene Sachverhalte gebracht, eröffnete aber auf der anderen Seite die brisante Chance, seinen anwaltlichen Marktwert in der Firma, respektive im gesamten Konzern, enorm zu steigern. Er wusste aber auch, wenn er diesen Weg ging, würde es kein Zurück geben. Das, was ihm bei Dr. Leifelds Mandantschaft gelungen war, stellte keinen Maßstab dar. Es war einmalig. In Aue dagegen könnte er sich einen Goldesel heranzüchten, der ihm über Jahre Wohlstand sichern würde, und er brauchte Geld, viel Geld.
In diesem Moment läutete das Telefon in seinem Büro. Es war Bettina und sie erinnerte ihn mit vorwurfsvollem Unterton daran, dass in einer Woche Heiligabend ist und sie die Feiertage planen müssten. Auch der 11. Januar, der Vortag ihres Geburtstages und Start der Traumreise nach Südostasien, sei greifbar nahe. „Ich habe bestimmt viel Verständnis für deine schwierige Situation in den letzten Monaten aufgebracht, habe dich zu deinen Weiterbildungslehrgängen in Norddeutschland ermuntert und war stets da, wenn du in letzter Zeit einen personengebundenen Fahrer brauchtest, aber jetzt bin auch ich ´mal an der Reihe. Oder freust du dich gar nicht auf Vietnam?! Wir müssen einfach Zeit zum Reden finden. Kommst du heute Abend zu mir?“, bat sie versöhnlich, jedoch mit Nachdruck.
Ja, sie hatte recht und er musste wohl zustimmen, zumal ihm Bettina schon seit dem Morgen hinterher telefoniert hatte.
„In Ordnung – und wenn es dir möglich ist, könntest du mich gegen 18.15 Uhr gleich mitnehmen, du bist doch bestimmt mit meinem Audi zur Arbeit gefahren.“ Bettina Doll stimmte zu und sie verabschiedeten sich.
Der gestrige Abend war sehr harmonisch und sachlich verlaufen. Zunächst hatten Bettina und Volker alle Termine an und zwischen den Feiertagen abgestimmt. Danach bereitete Bettina liebevoll ein leckeres Abendessen zu, während Volker sich erstmals, unter Zuhilfenahme eines Reiseführers, mit Vietnam beschäftigte.