Mehrsprachige Leseförderung: Grundlagen und Konzepte -  - E-Book

Mehrsprachige Leseförderung: Grundlagen und Konzepte E-Book

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Beschreibung

Das Studienbuch widmet sich dem Lesen und seiner Förderung im Kontext der Mehrsprachigkeit. Im ersten Teil werden Grundlagen einer sprach- und fachübergreifenden Leseförderung aus den beiden Perspektiven der Deutsch- und Fremdsprachendidaktik sowie neueste Forschungsergebnisse zur Entwicklung der Lesekompetenz präsentiert. Danach veranschaulichen im zweiten Teil praxisorientierte Konzepte die Bedeutung einer mehrsprachigen Leseförderung für die Schule. Der Band wendet sich an Hochschuldozierende und Studierende der Primar- und Sekundarstufe sowie Lehrkräfte und Referendar/innen der Schul- und Fremdsprachen.

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Mehrsprachige Leseförderung

Grundlagen und Konzepte

Sabine Kutzelmann / Ute Massler

A. Francke Verlag Tübingen

 

 

© 2018 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen www.francke.de • [email protected]

 

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

 

E-Book-Produktion: pagina GmbH, Tübingen

 

ePub-ISBN 978-3-8233-0110-3

Inhalt

EinleitungKapitel 1 Leseförderung im Kontext der Mehrsprachigkeit aus der Perspektive der DeutschdidaktikEinleitung1. „Lesen lernt man durch Lesen“ – buchorientierte Verfahren2. Textverstehen lehren – Strategievermittlung3. Förderung der basalen Teilkomponenten – Leseflüssigkeit4. Studienergebnisse zu Laut- und Vielleseverfahren5. Mehrsprachige Kinder innerhalb der Gruppe schwacher Leser/innen6. Fazit und VermutungenKapitel 2 Mehrsprachige (Lese-)texte aus der Perspektive der FremdsprachendidaktikEinleitung1. Mehrsprachigkeit und Fremdsprachenunterricht: Gründe für die wissenschaftliche AuseinandersetzungSteigende FlüchtlingszahlenAnhaltende Bildungsbenachteiligung von mehrsprachigen Kindern mit MigrationshintergrundWachsende Erkenntnisse im Bereich des multiplen Spracherwerbs und zum bilingualen UnterrichtDie Bedeutung von mehrsprachigen Kompetenzen in einer globalen GesellschaftWachsender Bedarf an geeigneten Sprachlehr- und Lernmethoden2. Fachdidaktische Überlegungen zur Förderung von Mehrsprachigkeit im Fremdsprachenunterricht3. Mehrsprachige Texte im FremdsprachenunterrichtMehrsprachige TexttypenÜberlegungen zur praktischen Anwendung mehrsprachiger Texte im Unterricht4. Mehrsprachige Texte: Wirkungen und NebenwirkungenDer Einsatz mehrsprachiger Texte im Fremdsprachenunterricht fördert das Interesse an fremden Sprachen und erhöht die Sprachbewusstheit auf kognitiver und affektiver Ebene.Der Einsatz mehrsprachiger Texte motiviert die Schüler/innen zum Lesen und Hören in verschiedenen Sprachen.Der Einsatz mehrsprachiger Texte kann sich förderlich auf das Leseverstehen in einer Fremdsprache auswirken.Mehrsprachige Texte erhöhen die Qualität und Quantität mündlicher KommunikationMehrsprachige Texte beeinflussen das Sprachenselbstbild positiv und regen zur Reflexion über die Bedeutung der eigenen Mehrsprachigkeit anKapitel 3 Frühe genderspezifische Entwicklung der Lesekompetenzen mehrsprachiger KinderEinleitung1. Neue Forschungsansätze zu gendersensiblen FragestellungenForschungsüberlegungen und -instrumenteForschungsanlage und -methode2. Befunde und Diskussion3. Sprachendidaktische KonsequenzenKapitel 4 Die Entwicklung des englischen und deutschen Lesens bei ein- und mehrsprachigen Kindern in Grundschulen mit bilingualen AngebotenEinleitung1. Merkmale des Leseerwerbs in der L1 und in der L22. Überblick über bilinguale Programme in Deutschland3. Zur Entwicklung des Lesens im Englischen bei Schüler/innen in bilingualen Programmen4. Zur Entwicklung des Lesens im Deutschen bei Schüler/innen in bilingualen Programmen5. EmpfehlungenKapitel 5 Mehrsprachiges LesetheaterEinleitung1. Situierung im Forschungskontext2. Die wichtigsten Merkmale des VerfahrensDas mehrsprachige LesetheaterstückDie gleichzeitige Verwendung von Schul- und FremdsprachenDer mehrteilige Lehr- und Lernprozess3. Ein mehrsprachiges Lautleseverfahren4. Bedeutung im Kontext der Mehrsprachigkeit5. Mehrsprachiges Lesetheater als Teil einer systematischen LeseförderungAnleitung zur Dramatisierung von mehrsprachigen Lesetheaterstücken am Beispiel von Bend it like Beckham1. Auswahl eines Buches2. Auswahl und Kommentierung geeigneter Textpassagen3. Kriterien für die Auswahl geeigneter Textpassagen4. Das Vorleseskript der Lehrkraft5. Das Vorgehen bei der Erstellung der Lesetheaterskripts für die Schüler/innen6. Allgemeine HinweiseKapitel 6 Mehrsprachiges Vorlesen durch die LehrpersonEinleitung1. Theoretische GrundlagenVorlesen als leseanimierendes UnterrichtsverfahrenZur Bedeutung des mehrsprachigen Ansatzes2. Der Entwicklungsprozess des Unterrichtskonzepts3. Komponenten des mehrsprachigen VorlesensÜberblickVorlesetexte und Vorlesen durch die LehrpersonScaffoldingKapitel 7 Mehrsprachige Leseförderung durch mehrsprachige Computerspiele?Einleitung1. Theoretische GrundlagenSchüler/innen lesen digitalDigitale Spiele im Alltag und in der SchuleDigitale Spiele als Text2. Lesen in Computerspielen: aktuelle StudienergebnisseEin mehrsprachiges Computerspiel?3. MElang-EMultimodalität in MElang-E: Gesprochener und geschriebener Text4. Notwendigkeit einer didaktischen EinbettungKapitel 8 Mehrsprachige literale FörderungEinleitung1. AusgangslageMehrsprachigkeit in der SchweizZur schulischen Situation der mehrsprachigen Schülergruppe2. Sprach- und Literalitätsförderung: Konzepte und ProgrammeMultiliteraciesFamily LiteracyLanguage Awareness und Didaktik der Sprachenvielfalt3. Konsequenzen für die Lehrerbildung4. ProjekteDas Projekt MelifaDas Projekt SAMSKapitel 9 Mehrsprachige Bilderbücher und audio-digitale HörstifteEinleitung1. Förderung von Literacy2. Verbal Literacy3. Mehrsprachige Kinder- und Jugendliteratur und koordinierte Alphabetisierung4. Sprachintegrative Leseförderung mit Bilderbüchern5. Einsatz von mehrsprachigen Bilderbüchern im Unterricht mit neu zugewanderten Schüler/innen6. Forschungsdesign7. Ein Blick in die Unterrichtsforschung8. Erste Erfahrungen aus der ProjektarbeitKapitel 10 Lesen und MehrschriftigkeitEinleitung1. Hintergrund: Sprachförderung mit AlphAlifKinder mit Fluchthintergrund an deutschen SchulenÜberblick über das Praxisprojekt AlphAlifBedeutung der Leseförderung für den Zweitspracherwerb von Seiteneinsteiger/innenEinbezug der Erstsprache Arabisch2. Lesedidaktischer Hintergrund: Alphabetisierung und Leseförderung kontrastivDiagnostikLaut-Buchstaben-Beziehung im SprachvergleichVom Graphem zum Wort: die Bedeutung der Silbe3. Vom Wort zum Text: Wortschatz und Leseverstehen in zwei SprachenWortschatzarbeitArabisch lesen – zweisprachige BilderbücherKapitel 11 Multimodalität und Multiliteralität in der LeseförderungEinleitung1. Multiliteralität2. New Literacy Studies3. Das Forschungsprojekt My Literacies4. Multimodalität und Text-DesignDesignPraxisbeispiel Multimodalität: Die Kleinen BücherMultimodalität und Critical Literacy5. MODIPLAC – ein Modell zur Beschreibung und Didaktisierung von multimodalen Texten6. FazitAutorinnen und AutorenBibliographie

Einleitung

Mehrsprachige Leseförderung: Grundlagen und Konzepte

Sabine Kutzelmann, Ute Massler

Eine Fachpublikation folgt in der Regel der Fachlogik, die im Fall des Sprachlernens nach Sprachen aufgegliedert ist. Es geht dann für das Fach Deutsch oder für das Fach Englisch um den Sprachlernbereich Lesen. Dieses Studienbuch widmet sich dem Bereich Lesen und seiner Förderung auf eine andere Weise, als es für gewöhnlich der Fall ist, denn es lässt Vertreter/innen verschiedener Sprachfächer und ihrer Fachdidaktiken zu Wort kommen.

Darüberhinaus leistet dieses Studienbuch noch etwas anderes: Durch die Fokussierung auf das Lesen im Kontext der Mehrsprachigkeit werden zwei Bereiche miteinander verknüpft, die im Alltag von zunehmend mehr Kindern und Jugendlichen bereits selbstverständlich zusammengehören, wenn dies auch in unterschiedlicher Ausprägung der Fall ist: Kinder und Jugendliche handeln in ihrer Freizeit und in der Schule mit verschiedenen Sprachen, entweder sprechend, hörend, schreibend oder eben auch lesend. Viele sind bereits mehrsprachig, weil sie zuhause eine andere Sprache sprechen als die dominierende Schulsprache, oder sie sind auf dem Weg, mehrsprachig zu werden, weil sie eine oder mehrere Fremdsprachen in der Schule lernen. Für alle trifft zu, dass ihre Umwelt zusehends mehrsprachiger wird und ein monolinguales Aufwachsen kaum noch Realität ist, da beispielsweise in Deutschland (bpb 2016) und Österreich (Statistika Austria 2016) bereits gut jede fünfte Person einen Migrationshintergrund aufweist, in der Schweiz sogar mehr als ein Drittel (Bundesamt für Statistik 2016). Mittelfristig wird sich der Anteil der Personen mit Migrationshintergrund weiter erhöhen, da z.B. in Deutschland 2015 bereits 35,9 % aller Kinder unter 5 Jahren eine Zuwanderungsgeschichte aufweisen (bpb 2016). Im vorliegenden Studienbuch werden daher die beiden Themen „Leseförderung“ und „Mehrsprachigkeit“ fachübergreifend sowohl aus der Perspektive der Deutschdidaktik als auch aus der Perspektive der Fremdsprachendidaktik beleuchtet und in einen Zusammenhang gebracht.

Individuelle Mehrsprachigkeit und ungenügende Lesekompetenzen sind gesellschaftlich wie auch bildungspolitisch relevante Themen. Auf der einen Seite sind gerade mehrsprachige Schüler/innen mit Migrationshintergrund besonders gefährdet, in die Gruppe der Risikoleser/innen zu fallen. Auf der anderen Seite stehen Erkenntnisse, wonach lebensweltliche Mehrsprachigkeit das schulische Fremdsprachenlernen durchaus befördern kann. Obwohl neuere Modellierungen des multiplen Spracherwerbs das dynamische Zusammenspiel zwischen allen erworbenen und erlernten Sprachen in den Vordergrund stellen, erleben Schüler/innen ein Nebeneinander von Sprachfächern und eine Trennung von Erst-, Zweit- und Fremdsprache. Bislang existieren nur wenige konkrete Vorschläge dafür, wie das mehrsprachige Repertoire von Schüler/innen im Leseunterricht genutzt und die Lesefertigkeit aller sprachübergreifend gefördert werden können.

Hier setzt das Studienbuch an: sein Ziel ist es, Potenziale und Chancen einer sprach- und fachübergreifenden Entwicklung und Förderung der Lesekompetenz aufzuzeigen und Vertreter/innen der verschiedenen Sprachdidaktiken zu ermutigen, eine fach- und sprachübergreifende Perspektive einzunehmen.

Anstoß zu diesem Buch gab die internationale Fachtagung Leseförderung im Kontext der Mehrsprachigkeit (20.5.2017, Pädagogische Hochschule Weingarten), die als Multiplikatorenveranstaltung des Erasmus+ Projektes Mehrsprachiges Lesetheater (vgl. das Kapitel von Kutzelmann, Massler und Ilg in diesem Band) durchgeführt wurde. Im ersten Teil werden grundsätzliche Überlegungen zur mehrsprachigen Leseförderung aus den beiden Perspektiven der Deutsch- und Fremdsprachendidaktik dargelegt sowie neueste Forschungsergebnisse zur Entwicklung einer (mehrsprachigen) Lesekompetenz präsentiert. Im Anschluss veranschaulichen im zweiten Teil praxisorientierte Konzepte einerseits die Bedeutung einer mehrsprachigen Leseförderung für die Schule, andererseits illustrieren sie didaktisch-methodische Designs sowie Lehr- und Lernmaterialien und wie diese im Unterricht umgesetzt werden können.

Über beide Teile des Studienbuchs hinweg verschränken zentrale Aspekte der Förderung einer mehrsprachigen Lesekompetenz die Kapitel miteinander. Allen Kapiteln gemein ist, dass sie die Mehrsprachigkeit der Lernenden als Chance wahrnehmen und nicht als Defizit postulieren. Davon ausgehend zeigen einige Kapitel auf unterschiedliche Art und Weise überzeugend auf, wie verschiedene Sprachen im Klassenzimmer bewusst in die unterrichtliche Leseförderung einbezogen werden können. Andere wiederum verdeutlichen den Mehrwert, den mehrsprachige Unterrichtsdesigns und Lehr- und Lernmaterialien für die Förderung der Lesekompetenz und der Mehrsprachigkeit haben können.

Die Entwicklung der Lesekompetenz allgemein beziehungsweise spezifischer Komponenten, wie z.B. der Leseflüssigkeit oder der Lesemotivation, steht im Zentrum der meisten Kapitel. Ganz spezifisch wird die Entwicklung der Lesekompetenz in Kapitel 3 und 4 thematisiert, die die frühe genderspezifische Entwicklung der Lesekompetenz von Kindern und hier auch von mehrsprachigen (Böttger) sowie die Entwicklung des englischen und deutschen Lesens bei ein- und mehrsprachigen Kindern in Grundschulen mit bilingualen Angeboten (Steinlen/Piske) in den Blick nehmen.

Ein weiterer Schwerpunkt liegt auf der Förderung der basalen Lesefertigkeiten. So widmen sich Kapitel 1 (Rosebrock) und Kapitel 5 (Kutzelmann, Massler, Ilg) der Förderung der schulsprachlichen und der fremdsprachlichen Leseflüssigkeit. Hierzu zählt auch der Beitrag von Böhm/Mehlem, der die Besonderheiten des Schrifterwerbs und die Leseförderung bei neu zugewanderten Kindern mit einem vom Deutschen unterschiedlichen Schriftsystem erörtert.

Lesemotivation als wichtiger Faktor, um die Entwicklung von Lesekompetenz zu fördern, ist ebenfalls ein Aspekt, den verschiedene Kapitel thematisieren. Ein leseanimierendes Verfahren wie das Mehrsprachige Vorlesen durch die Lehrperson, das Kapitel 6 (Theinert/Peter/Unterthiner) vorstellt, ist für einen sprach- und fachübergreifenden Zugang beispielhaft.

Die Mehrzahl der Autor/innen widmet sich dem Beitrag, den mehrsprachige Medien für eine sprachliche und literale Förderung leisten können. Die einzelnen Kapitel thematisieren den Einsatz von zwei- und mehrsprachigen Bilderbüchern mit Lernenden der Primarstufe (Kap. 9 Dube/Gürsoy, Kap. 10 Böhm/Mehlem), von zwei- und mehrsprachigen Texten in der Sekundarstufe (Kap. 2 Elsner, Kap. 5 Kutzelmann/Massler/Ilg, Kap. 6 Theinert/Peter/Unterthiner) sowie von Computerspielen (Kap. 7 Bündgens-Kosten) und digitalen Hörstiften (Kap. 9 Dube/Gürsoy). Das Konzept einer multiliteralitätsorientierten Leseförderung, bei der neben der Mehrsprachigkeit auch Multimodalität und Multimedialität als wichtige Ressourcen für die Leseförderpraxis einbezogen werden, ist Gegenstand des Beitrags von Kerschhofer-Puhalo (Kap. 11).

Die beschriebenen Grundlagen und Konzepte für eine mehrsprachige Leseförderung adressieren sehr unterschiedliche Lernende sowie Lehr- und Lernkontexte. So stehen neben Lernenden mit Erstsprache Deutsch solche mit anderen Erstsprachen, die jedoch mehrheitlich zweisprachig sozialisiert wurden, aber auch neu zugewanderte Lernende, für die Deutsch eine Fremdsprache ist, im Mittelpunkt des Interesses. Während einige Beiträge im Kontext des Fremdsprachen- oder des Deutschunterrichts verortet sind (z.B. Kap. 1, 2), thematisieren andere einen Unterricht, in dem die Leseförderung fächer- und sprachverbindend stattfindet (Kap. 5, 6). Die Beiträge vereinend ist jedoch zum einen, dass sich alle der Förderung von Lernenden der Primar- und Sekundarstufe I widmen. Zum anderen sind viele der beschriebenen Grundlagen und Konzepte mit Hilfe der entsprechenden Adaptionen auf andere Kontexte übertragbar.

 

Cornelia Rosebrock (Kap. 1) eröffnet den ersten Teil zur mehrsprachigen Leseförderung aus den beiden Perspektiven der Deutsch- und Fremdsprachendidaktik, indem sie die grundlegenden Verfahren zur Leseförderung beschreibt, die im Deutschunterricht eingesetzt werden. Sie diskutiert, inwiefern sich diese Verfahren insbesondere für mehrsprachige Schüler/innen eignen und ob ggf. auch mehrsprachige Texte hierbei einbezogen werden können. Die praktizierten Verfahren reichen von buchorientierten Vorgehensweisen, die auf die Lektüre von Kinder- und Jugendliteratur abzielen, über Verfahren, die Lesestrategien vermitteln, bis hin zu Verfahren, die die Verbesserung der Leseflüssigkeit zum Ziel haben. Bei ihrer Beschreibung berücksichtigt sie insbesondere die Förderroutinen von Viellese- und Lautleseverfahren und gibt einen Überblick zu empirischen Studien, die die Wirksamkeit dieser Verfahren zur Verbesserung der Leseleistungen untersucht haben.

Daniela Elsner blickt aus der Perspektive der Fremdsprachendidaktik auf eine mehrsprachige Leseförderung mit Hilfe mehrsprachiger Texte. Sie widmet sich der Frage, ob und wie – aus empirischer Sicht – mehrsprachige Texte einen Beitrag zur Förderung von Mehrsprachigkeit leisten können. Zu diesem Zweck diskutiert sie das didaktische Potenzial sowie den übergreifenden Mehrwert mehrsprachiger Texte aus Sicht der Bildungspolitik und Sprachlehrforschung für die Entwicklung kommunikativer, interkultureller und methodischer Kompetenzen im Fremdsprachenunterricht. Ihre weiteren Ausführungen beinhalten zudem eine Systematisierung mehrsprachiger Texttypen sowie konkrete Beispiele für deren Einsatz in einem Fremdsprachenunterricht, der Mehrsprachigkeit als wichtiges Unterrichtsziel erachtet. Das Kapitel 2 schließt mit einem Einblick in die Ergebnisse verschiedener Untersuchungen zum Potenzial mehrsprachiger Lesetexte im Kontext des formalen Fremdsprachenerwerbs.

Heiner Böttgers sowie Anja Steinlens und Thorsten Piskes Ausführungen beleuchten in den Kapiteln 3 und 4 neueste Forschungsergebnisse zur Entwicklung einer (mehrsprachigen) Lesekompetenz. Heiner Böttger nähert sich der Lesekompetenz aus der Perspektive der genderspezifischen Sprachentwicklungsforschung. Mit Hilfe einer analytischen Cross-sciences-Metastudie, die neben Erkenntnissen relevanter Bezugswissenschaften bildgebende Verfahren der neurowissenschaftlichen Spracherwerbsforschung einsetzt, zeigt er, dass während der frühen Alphabetisierung und beim Aufbau der frühen Lesekompetenz ein sensibler neurobiologischer Unterschied zwischen Mädchen und Jungen im Bereich der Verbindungen von Gehirnzellen in sprachrelevanten Gehirnarealen sowie bei der Verwendung beider Gehirnhemisphären entsteht. Dieser zeigt sich sowohl bei monolingual als auch bei mehrsprachig aufwachsenden Kindern. Vor diesem Forschungshintergrund leitet er erste sprachdidaktische Konsequenzen und Handlungsfelder ab und erläutert, welche Rolle dabei differenzierende Maßnahmen spielen können.

Die Chancen, die Grundschulen mit bilingualen Angeboten für die Entwicklung der Leseleistungen mehrsprachig aufwachsender Schüler/innen im Vergleich zu einsprachig aufwachsenden Kindern bieten, beschreiben Anja Steinlen und Thorsten Piske. Dabei gehen sie nicht nur auf Leseleistungen im Deutschen, sondern auch auf Leseleistungen in der an Schulen häufig als erster Fremdsprache gelernten Sprache Englisch ein. Sie diskutieren mögliche Gründe, weshalb im Gegensatz zu den Ergebnissen von Studien, die an Schulen ohne bilinguale Angebote durchgeführt wurden, bei den Lesefähigkeiten von Lernenden in bilingualen Programmen bisher keine signifikanten Unterschiede zwischen den Leistungen von Kindern mit und ohne Migrationshintergrund festgestellt wurden. Abschließend geben sie Empfehlungen, wie es Lernenden mit und ohne Migrationshintergrund erleichtert werden kann, schon in der Grundschule von Anfang an in mehr als einer Sprache lesen (und schreiben) zu lernen.

 

Der zweite Teil des Studienbuchs stellt praxisorientierte Konzepte vor, die unterschiedliche Aspekte der Leseförderung und -kompetenz sowie verschiedene Schülerschaften in den Blick nehmen. So thematisieren Sabine Kutzelmann, Ute Massler und Angelika Ilg in Kap. 5 den Erwerb einer angemessenen Leseflüssigkeit. Diese ist für die Entwicklung der Lesekompetenz sowohl in der Schulsprache als auch in der Fremdsprache von großer Bedeutung. Bislang spielt jedoch die Leseflüssigkeit in der Fremdsprache in der Forschung, aber vor allem in der Fremdsprachendidaktik und Unterrichtspraxis kaum eine Rolle. Die sprachübergreifende Förderung von Leseflüssigkeit und Lesemotivation in der Schulsprache und ein bis zwei Fremdsprachen, zu denen auch Herkunftssprachen zählen können, stehen im Zentrum des mehrsprachigen Förderkonzepts Mehrsprachiges Lesetheater (MELT). Die Autor/innen stellen eine neue mehrsprachige Variante des Lautleseverfahrens Lesetheater vor, das diese für die Schulsprache bewährte Fördermethode nutzt, die als ein Lautleseverfahren auch empirisch recht gut abgestützt ist. Anders als beim einsprachigen Lesetheater stehen als Lehr- und Lernmaterialien mehrsprachige Lesetheaterstücke zur Verfügung, anhand derer das Lesetraining stattfindet. Das Kapitel beschreibt detailliert die didaktisch-methodischen Merkmale des Mehrsprachigen Lesetheaters und erläutert, auf welche Weise Übungsformen wie wiederholtes und begleitetes (halb-)lautes Lesen die Leseflüssigkeit der Lernenden fördern können.

Kerstin Theinert, Robert Hilbe und Klaus Peter präsentieren mit dem Mehrsprachigen Vorlesen durch die Lehrperson (MeVoL) ein neues Konzept der sprachübergreifenden Leseanimation (Kap. 6). Die Grundlage für die Arbeit mit dieser Fördermethode bildet ein mehrsprachig gestalteter Text, den die Lehrkraft ihrer Klasse vorliest. Beim Vorlesen wechseln sich Textabschnitte auf Deutsch (Schulsprache) mit Abschnitten in einer der schulisch geförderten Fremdsprachen (Englisch oder Französisch) ab. Dadurch wirkt das Deutsche als Brücke zum besseren Verständnis der fremdsprachlichen Textabschnitte. Aufbauend auf der theoretischen Legitimation des Mehrsprachigen Vorlesens stellt das Kapitel Gestaltungsprinzipien für die praktische Umsetzung im Unterricht dar. Diese beschreiben, wie geeignete Scaffolding-Maßnahmen eingesetzt werden, um die Motivation und das Verständnis der Schüler/innen beim Zuhören zu fördern, ihnen durch das Vorlesen eine positive literarische Erfahrung zu ermöglichen und ihr sprachliches Lernen zu begünstigen.

Die Lesepraxis Jugendlicher ist stark von der Nutzung digitaler Texte geprägt, zu der auch Computerspiele zählen. Welche Potenziale Computerspiele zur Leseförderung insbesondere aufgrund ihrer Interaktivität und Multimodalität aufweisen, zeigt Judith Buendgens-Kosten am Beispiel des mehrsprachigen Computerspiels MElang-E, in dem eine Vielzahl von Sprachen auf unterschiedlichen Niveaus vorkommen, und in dem die Dialoge der Figuren sowohl als gesprochener als auch geschriebener Text angeboten werden (Kap. 7). Am Schluss werden darüber hinaus Möglichkeiten beschrieben, wie die Spielerfahrungen der Schüler/innen didaktisch sinnvoll in den Unterricht eingebettet werden können.

Forschungsergebnisse deuten darauf hin, dass frühe literale Erfahrungen in der Familie eine wichtige Voraussetzung für den Bildungserfolg darstellen. Zudem lassen sich gut ausgebaute Kompetenzen in der Erstsprache, v.a. im Bereich der Schriftlichkeit, auf die Zweitsprache übertragen. Daher kommt der mehrsprachigen literalen Förderung einer kulturell und sprachlich heterogenen Schülerschaft eine große Relevanz zu. Bislang stellt diese jedoch nicht nur an Schweizerischen Primarschulen ein Desiderat dar, wie Trix Bürki und Katja Schnitzer ausführen (Kap. 8). Die Autorinnen erläutern daher, weshalb die mehrsprachige literale Förderung im Deutschunterricht unerlässlich ist und durch welche Konzepte sie unterstützt wird. Nach der Formulierung von Konsequenzen für die Ausbildung von Lehrpersonen schließt das Kapitel mit der Vorstellung zweier unterrichtlicher Umsetzungen. Da diese Unterrichtsszenarien durch Kooperationen zwischen Schulklassen und Seminaren der Lehrerausbildung realisiert wurden, dienen sie auch als hochschuldidaktische Seminarmodelle, die es Studierenden ermöglichen sollen, die in solchen Lehrveranstaltungen gewonnenen Kompetenzen in die Schul- und Leseförderungspraxis einfließen zu lassen.

Das Potenzial mehrsprachiger Bilderbücher für die Sprach- und Leseerwerbsprozesse von neu zugewanderten Schüler/innen mit Deutsch als Zweitsprache steht im Fokus des Kapitels 9 von Juliane Dube und Erkan Gürsoy. Dieser Beitrag illustriert somit die Brückenfunktion, die mehrsprachigen Bilderbüchern zwischen der sprachlichen und der literalen Bildung zukommen kann. Darüber hinaus illustrieren die Autor/innen anhand ihrer Forschungs- und Entwicklungsarbeiten im Projekt MesH – Digitale Medien und sprachliche Heterogenität, wie hierbei individuell zu besprechende audio-digitale Hörstifte gewinnbringend für die sprachliche und literale Förderung eingesetzt werden können.

Neuzugewanderte Kinder aus Ländern mit arabischem Schriftsystem stehen vor der Herausforderung, gleichzeitig mit dem Wortschatz und der Grammatik des Deutschen eine neue Schrift mit einer anderen Schreibrichtung und anderen Laut-Buchstaben-Zuordnungen zu lernen. Wie diese Kinder gezielt beim Erwerb des Lesens und Schreibens gefördert werden können, zeigen Manuela Böhm und Ulrich Mehlem anhand des pädagogischen Praxisprojekts AlphAlif (Kap. 10). Im Zentrum ihrer Darstellung steht die Beschreibung der didaktisch-methodischen Hilfsmittel zur basalen Leseförderung, die im Projekt entwickelt wurden. Außerdem zeigen und diskutieren sie anhand von Auszügen aus zweisprachigen Bilderbüchern, wie wichtig der Einbezug der Herkunftssprache Arabisch bei der Wortschatzarbeit und dem Vorlesen ist.

Im letzten Kapitel dieses Studienbuches wird gewissermaßen als Ausblick ein nochmals ganz anderer Aspekt der Leseförderung beleuchtet. Nadja Kerschhofer-Puhalo diskutiert dort Gegenstand, Ziele und Potenziale des Konzepts einer multiliteralitätsorientierten Leseförderung, bei der neben der Mehrsprachigkeit auch Multimodalität und Multimedialität als wichtige Ressourcen für die Leseförderpraxis angesehen werden (Kap. 11). Anhand eines Unterrichtsbeispiels konkretisiert sie, wie Schüler/innen ihr gesamtes multimodales und mehrsprachiges Repertoire beim Verfassen und gegenseitigem Lesen von Büchern aktivieren und so im Sinne dieses erweiterten Konzepts gefördert werden können. Abschließend stellt sie ein Modell vor, das zum einen dabei hilft, die multimodale Gestaltung von Alltagstexten zu beschreiben, und zum anderen für die lesedidaktische Aufbereitung multimodaler Texte verwendet werden kann.

 

Das vorliegende Studienbuch wendet sich an Hochschuldozierende und Lehramtsstudierende der Primar- und Sekundarstufe sowie an Ausbildner/innen an Seminaren, Referendar/innen und Lehrkräfte. Die einzelnen Kapitel können in Lehrveranstaltungen an Universitäten, Pädagogischen Hochschulen sowie in Seminaren im Rahmen des Referendariats in den Fächern Anglistik, Deutsch, Deutsch als Fremd-/Zweitsprache sowie Mehrsprachigkeitsdidaktik zu den Themen Leseförderung, Mehrsprachigkeitsdidaktik und Herkunftssprachendidaktik eingesetzt werden. Wir möchten alle hier angesprochenen Leser/innen dazu einladen, Leseförderung als ein gemeinsames schulisches Handlungsfeld zu betrachten, das einer die Fächer und Sprachen übergreifenden Förderpraxis bedarf.

Kapitel 1Leseförderung im Kontext der Mehrsprachigkeit aus der Perspektive der Deutschdidaktik

Cornelia Rosebrock
Fragen

Welche Leseförderverfahren gibt es, und welche sind für welche Schüler/innen wirksam?

Brauchen wir im Deutschunterricht eigene Verfahren der Leseförderung für die mehrsprachig Heranwachsenden, oder profitieren sie von den gleichen Verfahren wie ihre ebenfalls schwach lesenden einsprachigen Mitschüler/innen?

Kann im Rahmen des landessprachlichen Unterrichts – also des Deutschunterrichts – Mehrsprachigkeit als lesedidaktische Chance modelliert und nutzbar gemacht werden, und wie kann das ggf. geschehen?

Abstract

In diesem Kapitel werden Ihnen zunächst unterschiedliche Verfahren der Leseförderung im Rahmen des landessprachlichen Unterrichts, also des Deutschunterrichts, unter besonderer Berücksichtigung leseschwacher Schüler/innen vorgestellt. Dabei wird grundsätzlich unterschieden zwischen buchorientierten Verfahren, die eigenständiges Lesen fordern, Strategievermittlung zur Förderung des Textverstehes und Lesetrainings zur Entwicklung hierarchieniedriger Teilleistungen des Lesens. Vielleseverfahren und Lautleseverfahren werden als Förderroutinen detaillierter dargestellt und es werden Studien skizziert, die die Wirksamkeit dieser Verfahren zur Verbesserung der Lese-Prozessleistungen evaluiert haben. Dabei wird sichtbar, dass das enger geleitete Training wirksam ist im Blick auf die Verbesserung der Leseflüssigkeit und der Textverstehensleistungen, und zwar im etwa gleichen Ausmaß für einsprachige wie für mehrsprachige schwache Leser/innen. Das Kapitel schließt mit offenen Fragen zu diesem Themenkomplex.

Einleitung

Schüler/innen mit einer anderen Muttersprache als Deutsch sind bekanntlich keine homogene Gruppe. Aus den vielfältigen Profilen individueller Mehrsprachigkeit stehen für die Frage nach Leseförderung im Rahmen des Deutschunterrichts diejenigen Heranwachsenden im Mittelpunkt, die zu schwache Leseleistungen zeigen, um eine erfolgreiche Schulkarriere zu durchlaufen. Für schwache Leseleistungen ist eine andere Familiensprache statistisch gesehen ein ursächlicher Faktor, allerdings nur einer unter mehreren: Die Schulleistungsstudien zeigen immer wieder, dass auch die sozioökonomische Herkunft, das elterliche Bildungsniveau und weitere Merkmale dabei eine bedeutende Rolle spielen. Diese Faktoren treten häufig gemeinsam auf und verstärken einander. Die mangelnden Leistungen beim Textverstehen – auch das ist vielfach belegt – führen für die betroffenen Schüler/innen zu Risiken im Bildungsverlauf und in der Folge für die gesellschaftliche Teilhabe im Erwachsenenleben. Dabei ist die Gruppe von Schüler/innen, deren Leseleistungen trotz Schulbesuch unzureichend bleibt, nicht klein: Grob kann man von einem Fünftel der Altersjahrgänge sprechen. Kinder und Jugendliche mit einer anderen Familiensprache als Deutsch sind in dieser Gruppe überproportional vertreten (OECD2016).

Im Hinblick auf Mehrsprachigkeit und Leseförderung im Deutschunterricht stehen also zwei voneinander kaum zu trennende Gruppen im Vordergrund: Einmal die Kinder und Jugendlichen, die mit einer anderen Familiensprache als Deutsch sozialisiert werden, so dass die Landessprache für sie eine zusätzliche Sprache darstellt. Zum anderen die zu schwachen Leser/innen unter der Schülerschaft, für die Leseförderung ebenso geboten ist. Denn auch für die muttersprachlich deutschen schwachen Leser/innen ist die Schulsprache meist in gewisser Hinsicht fremd – als Bildungssprache enthält sie Begriffe und grammatische Fügungen, die in den außerschulischen Interaktionen dieser Kinder und Jugendlichen kaum in Erscheinung treten (Feilke 2017).

Im Folgenden werden zunächst die praktizierten Verfahren des Deutschunterrichts zur Leseförderung vorgestellt. Anschließend werden zwei Förderroutinen, die Potenziale für mehrsprachige bzw. schwache Leser/innen zeigen, diskutiert, nämlich Vielleseverfahren und Lautleseverfahren. Sie werden auf ihre Wirksamkeit zur Verbesserung der Lese-Prozessleistungen hin befragt und im Blick auf die Potenziale für mehrsprachige schwache Leser/innen diskutiert. Nach einem Fazit wird dargestellt, welche offenen Forschungsfragen im Feld der Leseförderung für Mehrsprachige im Rahmen des landessprachlichen Unterrichts bestehen.

1.„Lesen lernt man durch Lesen“ – buchorientierte Verfahren

Das literarische Lesen steht traditionell bei der Leseförderung im Deutschunterricht in allen Altersstufen im Zentrum. Literarische Lektüre eröffnet, so erhofft man sich, Teilhabe an Kultur und Geschichte der Sprachgemeinschaft; sie unterstützt die Ausbildung einer eigenen Persönlichkeit, fördert die Imaginationsfähigkeit und die Bereitschaft, fremde Perspektiven einzunehmen, und schließlich übt sie auch Lesefertigkeiten ein. Literarische Lektüre sollte entsprechend nicht nur im eigentlichen Literaturunterricht geschehen, sondern auch in leseanimierenden Projekten, dann oft mit weniger anspruchsvollen Texten als beim zielorientierten literarischen Lernen. Solche Leseanimationen sind gleichsam am Rande des Literaturunterrichts angesiedelt, beispielsweise in Form von Büchernächten, Autorenlesungen, Buchvorstellungen, Bibliothekskontakten und Ähnlichem. In leseanimierenden Projekten wird zwar nicht unmittelbar gelesen, aber doch zum Lesen verlockt – ihnen geht es besonders um Lesefreude, um die Motivation und Bereitschaft, literarisches Lesen als persönlichen Modus des In-der-Welt-Seins, als Erfahrungspotenzial zu entdecken, das in die eigenen Lebensvollzüge habituell integriert werden kann (Bertschi-Kaufmann 2016). Stilles Lesen ganzer Bücher gilt schließlich als eine der effektivsten Praktiken zur Unterstützung des Zweitspracherwerbs (Ockey/Reutzel 2010; Neuland/Peschel 2017), Kinder- und Jugendbücher sind wegen ihrer niedrigen Textkomplexität und ihrer thematischen Lebensweltnähe das ideale Medium dafür. Leseförderung durch eine Steigerung der Lesemenge folgt dem Gedanken „Lesen lernt man durch lesen“ (vgl. Manning/Lewis/Lewis 2010). Denn flüssiges Dekodieren ist auf Übung angewiesen, Leseverstehen darüber hinaus auf Welt- und Textwissen: Beides wird durch viel Lektürepraxis erworben.

Allerdings tun sich gerade schwache Leser/innen schwer mit einem Unterricht, der auf diese Verfahren setzt und entsprechend offen angelegt ist. Sie tendieren dazu, den Lektüreprozess selbst zu meiden. Um dem entgegenzuwirken, kann die Lektüre in die Unterrichtszeit verlegt werden oder das regelmäßige Lesen von Kinder- und Jugendbüchern wird über eine längere Zeit hinweg verordnet. Dann wird es mit Anreizen oder Sanktionen versehen, um sicherzustellen, dass tatsächlich gelesen wird. Die Freiheit der Lektürewahl wird aber trotzdem gewährt, um den Freizeit-Charakter des Lesens wenigstens ein Stück weit zu wahren. Solche Vielleseverfahren gehen über Animationen hinaus, indem sie die eigenständige Lektüre von Büchern tatsächlich einfordern (vgl. detailliert Lange 2012). Im Unterschied zum eigentlichen Literaturunterricht inszenieren sie viel Lektüre und wenig oder keine weitere gemeinsame Verarbeitung des Gelesenen, die Menge steht klar im Vordergrund. Gute spätere Leser/innen, so kann man nämlich beobachten, blicken regelmäßig auf Viellesephasen in ihrer Kindheit und Jugend zurück – viel Lesen steigere gewissermaßen von selbst die Motivation und darüber auch die Lesekompetenz, so die optimistische Annahme, die diesen Verfahren zugrunde liegt.

Es liegt nah, in diese mehr oder weniger offenen Konzepte von Leseförderung – in den gezielten Literaturunterricht, in Leseanimationen oder in Vielleseverfahren – literarische Texte in den Herkunftssprachen der mehrsprachigen Schüler/innen einzubeziehen: Kinder- oder Jugendbücher, die außer in Deutsch auch in den Herkunftssprachen vorliegen, können als Klassenlektüre im Literaturunterricht, in leseanimierenden Settings oder auch im Rahmen von Vielleseprogrammen angeboten werden. Dadurch wird das eigenständige Lesen angeregt, die Familiensprache der Kinder wird ebenfalls gefördert, der „monolinguale Habitus“ (Gogolin 1994) in der schulischen Begegnung mit Texten wird relativiert und die Erstsprachen werden wertgeschätzt – das sind alles lesedidaktisch erstrebenswerte Ziele. In Anschlusskommunikationen nach der Lektüre und in weiteren Textverarbeitungsschritten kann Mehrsprachigkeit dann als Ressource für das individuelle Textverstehen und für das interkulturelle Miteinander im Schulunterricht wirksam werden (vgl. Schiedermair 2017; Naphegyi 2015; Jeuk 2017).

Das übergeordnete Ziel des Deutschunterrichts, nämlich die Vermittlung deutscher (Schrift-)Sprache und Kultur, muss in solchen Settings nicht notwendig vernachlässigt werden. Denn nach der Lektüre kann die weitere literaturunterrichtliche Verhandlung des Textes ihren Schwerpunkt im Deutschen haben. Die Zugänglichkeit zur deutschen Textfassung ist für die Migrantenkinder durch die Erstlektüre in der Herkunftssprache erleichtert, sofern die Sprachkenntnisse ausreichend gut sind. Dann unterstützt der Einbezug der anderen Sprachen direkt die sprachlichen und literarischen Lernprozesse, die Mehrsprachigkeit wird als Kompetenz erfahrbar. Wenn man annimmt, dass Migrantenkinder ein gesteigertes Interesse an Themen aus dem Kulturkreis ihres Herkunftslands haben, lässt sich der Erfolg eines solchen Vorgehens theoretisch schlüssig begründen: Das Interesse wirkt sich positiv auf die Wertkognition aus, es erhöht die Anstrengungsbereitschaft und macht den Leseaufwand lohnenswert (vgl. Möller/Schiefele 2004: 117f.), sodass intrinsische Lesemotivation und Erfolgserlebnisse entstehen. Wenn das häufig geschieht, werden solche Leseerfahrungen relevant für das lesebezogene Selbstkonzept und können Buchlesen zur Gewohnheit werden lassen.

Allerdings setzen Vielleseverfahren einige Kompetenzen auf Seiten der Schüler/innen voraus: Bei DaZ-Schüler/innen müssen die sprachlichen Kompetenzen in der Herkunftssprache ausreichend entwickelt sein. Zudem muss sich der Leseprozess selbst in der Herkunftssprache bereits so flüssig vollziehen, dass eigenständiges Textverstehen möglich ist. Schließlich werden lesekulturelle Erfahrungen vorausgesetzt wie beispielsweise Wissen über Textsorten, Erfahrungen mit den eigenen Lesebedürfnissen, Imaginationsfähigkeit und die Bereitschaft, sich emotional an den Geschehnissen zu beteiligen, Zielorientierung und nicht zuletzt ein „langer Leseatem“, der seinerseits Engagement für den Leseprozess selbst verlangt.

Das alles ist bei schwachen Leser/innen, auch bei denen ohne Mehrsprachigkeitspotenziale, regelmäßig nicht der Fall (Jörgens/Rosebrock 2011). Entsprechend wurde in der Folge von PISA die Leseförderung im Rahmen des Deutschunterrichts von den Autor/innen der Studie scharf kritisiert: Diese Konzepte ignorieren die Probleme schwacher Leser/innen. Denn die notwendigen mentalen Strategien des Textverstehens werden nicht explizit gelehrt, sondern vorausgesetzt. Zudem sei die Orientierung der Leseförderung ausschließlich auf literarische Texte nicht zielführend: Schwache Leser/innen müssen die bildungssprachlich verfassten Sachtexte aus den verschiedenen Wissensdomänen, denen sie in den Fächern und später im Alltag und Beruf begegnen, verstehend lesen können (vgl. z.B. Artelt/Schlagmüller 2004: 183). Im Zuge des PISA-Schocks haben sich entsprechend nicht nur die Konzepte der Leseförderung im schulischen Kontext reformiert, sondern der Begriff des Lesens selbst hat sich im gesellschaftlich-kulturellen Maßstab verändert: Bis zur Jahrtausendwende war er deutlich stärker bildungsbürgerlich und literarisch grundiert als es heute der Fall ist. Die Dominanz literarischer Texte in der Lesesozialisation hat sich in den Verläufen der literalen Sozialisation allerdings trotzdem gehalten: Auch gegenwärtig bestimmen die inhaltlich und sprachlich einfacheren Texte der Kinder- und Jugendliteratur faktisch den Übergang vom learning to read in den ersten etwa sechs Schuljahren hin zum reading to learn, das in der Sekundarstufe eingefordert wird. Mit ihnen wird im Verlauf der Lesesozialisation das Lesen soweit eingeübt, dass es selbst mühelos wird – allerdings eben nicht bei allen, wie bereits gesagt.

2.Textverstehen lehren – Strategievermittlung

Auch in den Schulen ist die Kritik der PISA-Autor/innen angekommen: Lesestrategien als eigener Unterrichtsgegenstand spielen vor allem in der ersten Hälfte der Sekundarstufe eine starke Rolle in einem lesedidaktisch reflektierten Deutschunterricht.

Die Förderung von Lesestrategien bezieht sich, anders als die zuerst genannte Gruppe von Förderverfahren, in der Praxis dominant auf Sachtexte (Philipp 2015). Strategien sind prinzipiell bewusstseinsfähige, aber bei guten Leser/innen oft automatisierte mentale Handlungsfolgen, die gezielt und adaptiv eingesetzt werden, um Textverstehen zu erreichen. Der Leser, die Leserin muss einzelne mentale Schritte – wie z.B. einen Zusammenhang herstellen, noch mal bereits Gelesenes überprüfen, sich einen Begriff klarmachen – auswählen und diese Schritte zielbewusst kombinieren und koordinieren. Für diese strategische Arbeit am Text braucht es auch Metakognition: Der Prozess muss geplant werden – Was soll mir der Text ermöglichen? –, er muss überwacht werden – Habe ich verstanden? –, er muss gesteuert und schließlich evaluiert werden. Wenn Schüler/innen „nicht lernen können“, also gar keine Vorstellung davon haben, wie sie sich einen Wissensbereich eigenständig lesend aneignen, dann fehlt es ihnen an Wissen über effektive Lern- bzw. Lesestrategien.

Lesestrategien erfolgreich zu lehren ist nicht einfach. Schließlich handelt es sich beim strategischen Lesen nicht allein um Wissen, sondern um ein Können, um eine Kompetenz im eigentlichen Sinn. „Wichtiges Unterstreichen“ beispielsweise hilft nur, wenn man sich verdeutlichen kann, was wofür wichtig ist innerhalb einer Textpassage. Insofern kann das Unterstreichen Ausdruck der Anwendung einer Strategie sein, nicht sie selbst. Entsprechend wurde vorgeschlagen, zwischen einzelnen Techniken wie Unterstreichen, Vorhersagen, Zusammenfassen, Klären usw. nicht den Strategiebegriff in Anwendung zu bringen: Zur Strategie wird solches Tun erst, wenn es zielorientiert und adaptiv auf den Inhalt bezogen eingesetzt wird. Abgesehen von der Praxis der Lesestrategie-Vermittlung an den Schulen, deren Erfolge sich m.W. noch nicht überzeugend gezeigt haben (vgl. Souvignier/Philipp 2016, Philipp 2015: 107f.), stellt sich die Frage, ob Strategieprogramme nun das Mittel der Wahl zur Leseförderung bei mehrsprachigen und/oder schwachen Leser/innen sind?

Auch Lesestrategievermittlung setzt gewissermaßen hoch an: Sie bezieht sich vor allem auf die Textebene, indem textseitige Darstellungsmittel systematisch auf den thematischen Zusammenhang bezogen werden. Entsprechend sind Lesestrategien Kompetenzen, die sich gut von der Erst- in die Zweitsprachenlektüre tansferieren lassen (Grabe 2009: 127, 151) – sofern sie in der Erstsprache ausgebildet wurden, was bei Zweitsprachlektüre auf akademischem Niveau der Fall wäre. Aber selbst für solche Leser/innen mit höchsten Kompetenzen in der Erstsprache fordert Grabe für den Fremdsprachenerwerb ein lesedidaktisches Primat für die Wort- und Satzebene, für die Leseflüssigkeit (ebd.: 329f.), für diejenige Ebene also, auf der auch leseschwache Schüler/innen deutlich Probleme zeigen. Trotzdem drängt sich im Zusammenhang mit der Förderung von Lesestrategien folgende Frage auf: Brauchen Leser/innen mit Deutsch als Zweitsprache teilweise andere Lesestrategien für das Lernen aus deutschsprachigen Texten als Muttersprachler/innen? Sie ist m.W. noch nicht erforscht; aber plausibel wäre das schon: Eine solche Strategie für Mehrsprachige wäre es u.U., Lernende dazu anzuhalten, auf der Wortebene gesteigerte Aufmerksamkeit auf Phonologie, Orthografie und Morphologie zu legen und so nach sprachlichen und/oder thematischen Verwandtschaften zu ihrer Muttersprache Ausschau zu halten. Einzelne unbekannte Wörter könnten beispielsweise konsequent markiert und bewusst auf den Kontext bezogen werden, statt den Leseprozess durch Nachschlagen bei jeder unbekannten Wendung zu unterbrechen oder Unverstandenes gar zu ignorieren. Sinnvoll könnte auch sein, sprachliche Konnektoren grundsätzlich zu identifizieren und zu fokussieren. Ein solches strategisches Verfahren bei der Wort- und Satzidentifikation führt zu Effizienz bei der Lektüre in der Zweitsprache, so berichtet Grabe mit Blick auf akademisches Lesen (2009: 128). Aus theoretischer Perspektive scheinen also insgesamt diejenigen Strategien erfolgversprechend, die unterhalb der Textebene angesiedelt sind und insofern als Voraussetzung für das universale Textverstehen gelten müssen. Eine weitere, über die Wort- und Satzebene hinausgehende naheliegende Hypothese: Sollten bei Lernenden mit schwächeren Deutschkenntnissen gezielt die Top-Down-Strategien gestärkt werden, also die Fokussierung auf den Einbezug des Wissens zum Textthema explizit herausgefordert werden? (Vgl. in diesem Sinn Niebuhr-Siebert/Baake 2014: 178, 255ff.). Zum strategischen Lesen bei geringeren Sprachkenntnissen fehlen Forschungen. Wir wissen allerdings, dass das Textverstehen erheblich behindert wird, wenn sich mehr als ein bis zwei Prozent unbekannte Wörter im Text befinden, die nicht textintern geklärt werden. In welchem Ausmaß unbekannte Wörter in Lesetexten das Verstehen verunmöglichen, ist naturgemäß kaum zu quantifizieren: Denn unbekannte Wörter sind nicht der einzige Faktor von Textschwierigkeit (vgl. zu Textkomplexität systematisch Rosebrock 2017). Im Kontext der Lesedidaktik fordert Allington (2009) für unabhängiges Lesen einen Anteil von 99 % an Wörtern, deren Bedeutung bekannt ist – ein Wert, der für Lernende mit Mirgrationshintergrund wohl in der Regel nicht zu realisieren ist. Wenn die gängigen Strategietrainings durch ihre Fokussierung auf die Textebene die Wort- und Satzebenen, auf der mehrsprachige Schüler/innen ebenfalls Leseprobleme haben, verfehlen, dann dürfte das auch auf die schwachen Leser/innen mit Deutsch als Muttersprache zutreffen: Auch für sie sind die sprachlichen Anforderungen der Bildungssprache oft zu hoch, auch ihre Sprachkenntnisse sind nicht ausreichend.

Im schulischen Alltag lässt sich gut beobachten, dass das mangelnde Textverstehen der schwachen Leser/innen nicht allein ein Problem mangelnder Lexik in der Zweitsprache oder fehlender Textverarbeitungsstrategien ist. Schlechtes Textverstehen, wie es die Schulleistungsstudien gemessen haben, stellt eigentlich nur die Spitze eines Eisbergs dar, unter der sich die elementareren Leseschwierigkeiten verbergen: Die Gruppe der schwachen Leser/innen hat Probleme bereits auf der Wortebene, die sich im Grad der Automatisierung der Worterkennung, in der Genauigkeit beim Dekodieren und in der Langsamkeit des Prozesses ausdrücken. Auch auf Satzebene zeigen sich Schwierigkeiten: Leseschwache Schüler/innen erkennen und verstehen grammatische Strukturen weniger rasch und insgesamt schlechter. Diese Probleme auf Wort- und Satzebene können das Verstehen auf Textebene natürlich nicht unbeschädigt lassen. Für mehrsprachige Schüler/innen kommen, wenn sie das Deutsche noch lernen, zu den Schwierigkeiten beim Dekodieren und flüssigen Erfassen der Propositionen noch Probleme des geringeren Wortschatzes, also bei der Wortbedeutung, hinzu. Der Verstehensaufwand potenziert sich, wenn auf allen genannten Ebenen Defizite im Vergleich zu den durchschnittlich oder gut lesenden Altersgleichen auftreten. Sollte die Leseförderung dann nicht an der Basis des Eisbergs ansetzen – an den hierarchieniedrigen Teilfertigkeiten des Leseprozesses also?

3.Förderung der basalen Teilkomponenten – Leseflüssigkeit

Leseschwache Kinder und Jugendliche lesen in aller Regel weit langsamer, fehlerhafter und stockender vor als sie sprechen können, und zwar auch dann, wenn der Text keine in ihrer Bedeutung unbekannten Wörter enthält. Für das Lesen in der Muttersprache lässt sich daraus schließen, dass sie die Wortgestalten, vor denen sie stocken, noch nicht in ihren Sichtwortschatz, das mentale Lexikon, aufgenommen haben. Bei Mehrsprachigen ist ggf. nicht nur das der Fall, sie stolpern zudem auch deshalb über einzelne Wörter, weil sie ihnen in allen drei Dimensionen – Lautgestalt, grafische Erscheinung, Bedeutung – unbekannt sind. Dann müssen sie sie wie ein/e Erstklässler/in im Schriftspracherwerb lautierend erlesen und versuchen, dem so Entzifferten eine Bedeutung zuzuordnen. Bei Kindern und Jugendlichen, die in den Lesetests der Leistungsstudien Defizite beim Textverstehen zeigen, lassen sich nicht immer, aber eben sehr häufig Stockungen, Verlesungen, ein insgesamt zu langsames Lesetempo und eine wenig textgerechte Intonation auch bei einfachen Texten beobachten, kurz gesagt: Probleme bei den basalen Teilfertigkeiten von Lesekompetenz, bei der Leseflüssigkeit. Bei der Gruppe der 12- bis 13-Jährigen in der Hauptschule und in den entsprechenden Zweigen von Gesamtschulen ist das der Fall: In Lesetests zeigten sie nicht nur Probleme beim Textverstehen, sondern auch erheblich unterdurchschnittliche Leistungen bei der Lesegeschwindigkeit, die als Indikator für die Leseflüssigkeit gelten kann (vgl. Rosebrock/Rieckmann/Nix/Gold 2010).

Das ausschlaggebende Argument für ein Primat der Förderung der basalen Lesefähigkeiten liegt im Voraussetzungscharakter, den die hierarchieniedrige Fähigkeit Leseflüssigkeit gegenüber den hierarchiehohen Fähigkeiten des Textverstehens hat: Wenn die Wort- und Satzerkennung durch Automatisierung flüssig geworden ist, muss sich der Leser/die Leserin nicht mehr auf die Buchstaben-, Silben- oder Worterkennung konzentrieren. Die Silben, Wörter und Wendungen sind dann in seinem Sichtwortschatz gespeichert. Dieser Sichtwortschatz ist ein mentales Lexikon, in dem die Lautgestalt eines Wortes oder Wortteils, seine grafische Erscheinung und seine Bedeutung miteinander verbunden niedergelegt sind. Ab Schuleintritt wird er systematisch aufgebaut; am Ende der Grundschule sollte der Sichtwortschatz angemessen reichhaltig sein, sodass beispielsweise Texte der Kinderliteratur flüssig gelesen werden können. Flüssig heißt: Auf Wortebene werden annähernd alle Wörter automatisiert und fehlerfrei erkannt und verstanden. Auf Satzebene zeigt sich eine akzeptable Lesegeschwindigkeit von deutlich über 100 Wörtern pro Minute beim Vorlesen (die normale Sprechgeschwindigkeit liegt bei etwa 120–160 Wörtern pro Minute, eine normale Lesegeschwindigkeit erreicht beim stillen Lesen etwa 300 Wörter pro Minute) und eine der Syntax angemessene Prosodie; beides ist beim Vorlesen der natürlichen Sprechgeschwindigkeit bzw. Intonation angenähert (vgl. Rosebrock/Rieckmann/Nix/Gold 2011).

Die Automatisierung der Wort- und Satzerkennung eröffnet eine mentale Entlastung vom Entziffern, die ihrerseits die kognitiven Ressourcen für das Textverstehen freigibt. Man kann sich die Wirkung der Automatisierung am Beispiel anderer komplexer Leistungen vergegenwärtigen: Etwa das Autofahren oder ein Musikinstrument zu spielen sind solche Leistungen. Erst wenn das Schalten, Kuppeln, Blinkersetzen und Abbremsen „in Fleisch und Blut“ übergegangen sind, kann der/die Fahrer/in auch noch den Nachrichten im Radio verstehend zuhören; erst wenn die Finger beim Klavierspielen „von alleine“ wissen, welche Bewegung vollführt werden muss, kann sich der/die Musiker/in mental dem größeren Zusammenhang der Töne, nämlich Melodie und Rhythmus, zuwenden.

Automatisierung wird prinzipiell durch Üben erworben. Das Prinzip des Übens ist die variierende Wiederholung. Auf das Lesen bezogen ergeben sich aus diesen Überlegungen zwei Förderansätze: Mit sogenannten Lautleseverfahren kann der Leseprozess selbst überwacht und ggf. korrigiert werden, und er kann wiederholt werden, bis der Übungstext flüssig erlesen werden kann. Wenn die Übungstexte ausreichend lang sind, können die Wörter und Sätze bei der wiederholten Lektüre nicht mehr einfach memoriert und auswendig daher gesagt werden, sondern müssen erneut erlesen werden. Die Lesung des gleichen Textes kann so oft geschehen, bis er flüssig vorgelesen werden kann, was heißt, dass alle in diesem Text gegebenen Wörter und Wendungen tatsächlich im Sichtwortschatz abgelegt und veknüpft wurden.

Die zweite Option wurde oben schon unter dem Begriff Viellesen genannt: Sie besteht in einer Erhöhung der Dosis. Wenn viel gelesen wird, so die Argumente für eine Wirkung von viel Lektüre auf die Leseflüssigkeit, dann werden Wörter immer wieder auftauchen und auf diese Weise angeeignet, sodass sich Leseflüssigkeit sukzessive einstellt. Man hofft, dass das Interesse an der Story die Lesemotivation aufrechthält, sodass auch tatsächlich gelesen wird (dazu unten ausführlicher). Zudem steigert das viele Lesen das Weltwissen, ebenfalls eine wichtige Teilkomponente von Lesekompetenz.

4.Studienergebnisse zu Laut- und Vielleseverfahren

In mehreren Studien haben Prof. Gold, unsere Mitarbeiter/innen und ich Laut- und Vielleseverfahren in Schulen praktisch erprobt. Die beiden Förderverfahren sind dabei nicht gegeneinander angetreten – dafür sind sie zu unterschiedlich in ihrer Anlage und Zielsetzung. Aber wir wollten von Lautlesetrainings und Vielleseverfahren wissen, ob sie bezogen auf den Leseprozess jeweils zur Steigerung der Leseflüssigkeit wirksam sind. Darüber hinaus hat interessiert, ob die Verfahren auch das Textverstehen und die Lesemotivation verbessern. Ferner war von Bedeutung, ob es Unterschiede in der Wirksamkeit für Kinder mit mehrsprachigem bzw. einsprachigem Hintergrund gibt – dafür wurde nach der Familiensprache gefragt –, ob Mädchen und Jungen unterschiedlich profitieren, und ob die kognitiven Grundfähigkeiten einen Einfluss auf die Wirkungsintensität der Förderung haben. Während diese Faktoren über Tests erhoben wurden, waren wir bei den Fragen nach dem soziokulturellen Status und nach der Wirkung der Förderungen auf die Lesemotivation und das lesebezogene Selbstkonzept auf Selbstauskünfte angewiesen.

Als Lautleseverfahren haben wir eine Routine modelliert, die wir „Lesetandems“ genannt haben. Dafür lesen zwei Kinder miteinander chorisch mehrfach einen kurzen Text. Die Kinder haben dabei unterschiedliche Aufgaben: Das etwas lesestärkere Kind tutoriert das andere, indem es Lesefehler korrigiert und mit seiner Lesung ein Lesemodell für die Intonation bereitstellt. Das leseschwächere Kind überwindet Stockungen mithilfe seines Modells und wird auf diese Weise bei Fehllesungen und in seinem Leseengagement überwacht. Die vierte Lesung des gleichen Textes, so die Annahme, wird im Tandem von beiden flüssig vollzogen. Nach der Fortbildung der Lehrkräfte wurde das Tandemlesen klassenweise ein Schulhalbjahr hindurch dreimal 20 Minuten wöchentlich durchgeführt.

Auch das Vielleseverfahren wurde mit diesem Zeitkontingent modelliert. Die Klassen bekamen jeweils etwa 100 mutmaßlich interessante und altersgemäße kinderliterarische Bücher; minimale Kontrollverfahren wurden entwickelt und eingesetzt. Auch hier wurden die Lehrkräfte zunächst fortgebildet und die korrekte Durchführung wurde in regelmäßigen Abständen überprüft. In den Deutschunterricht der Klassen, die als Kontrollgruppe dienten, wurde nicht eingegriffen.

In die erste Studie dieser Art waren 527 Schüler/innen der 6. Klassenstufe an Hauptschulen in einem städtischen Gebiet einbezogen; sie lagen im Durchschnitt in ihren Lesekompetenzen erwartungsgemäß etwa eine Standardabweichung unter ihrer Altersgruppe, was etwa einem Schuljahr entspricht. Die Lesekompetenzen der Kinder und verschiedene Hintergrundvariablen wurden über Tests und Fragebögen vor, direkt nach und erneut 4 Monate nach Beendigung der Intervention erhoben. Etwa 63 % dieser Kinder hatten einen Zuwanderungshintergrund, wobei diese Zahl auf der Frage nach der Familiensprache beruhte und vermutlich eher zu niedrig liegt (vgl. detailliert Nix 2011; Rieckmann 2010). Die anschließenden Studien in Grundschulen wurden mit über tausend Kindern in ähnlicher Weise durchgeführt; die Lesekompetenzen der Grundschüler entsprachen dem Altersdurchschnitt (Gold/Behrendt/Lauer-Schmaltz/Rosebrock 2013). Die Durchführung dieser Studien und Details der Verfahren sind publiziert und sollen hier nicht erneut ausgebreitet werden. Auch die Ergebnisse werden im Folgenden nur pauschal dargestellt.

Die Lautlesetandems hatten bei den schwach lesenden Hauptschüler/innen außerordentlich positive Wirkungen: Diese Gruppe hat in ihrer Leseflüssigkeit fast um eine halbe Standardabweichung gegenüber der Kontrollgruppe profitiert. Der durch die Förderung erreichte Vorsprung blieb auch in der Follow-Up-Testung vier Monate später im Wesentlichen erhalten, was bedeutet: Die Förderung hat die Leseflüssigkeit dieser Gruppe nachhaltig verbessern können. Getestet wurde auch das Textverstehen. Dass die Texte verstehend gelesen werden, wird in der Tandem-Routine nicht eigens angestrebt oder unterstützt, es wird nur gefordert, dass angemessen flüssig gelesen wird. Tatsächlich haben sich aber auch die Textverstehensleistungen der Tandem-Leser/innen nicht nur signifikant, sondern relativ stark verbessert, und auch hier war der Erfolg nachhaltig. Das bestätigt die theoretische Annahme vom Voraussetzungscharakter der Flüssigkeit für das Textverstehen. Durch eine lineare Regressionsanalyse konnte errechnet werden, dass die Verbesserung der Leseflüssigkeit an der Verbesserung des Textverstehens mit dem Wert von .54 (p <.01