Mehrsprachigkeit im Fremdsprachenunterricht - Sylvie Méron-Minuth - E-Book

Mehrsprachigkeit im Fremdsprachenunterricht E-Book

Sylvie Méron-Minuth

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Beschreibung

Wie gehen gymnasiale Fremdsprachenlehrkräfte mit der lebensweltlichen und schulischen Mehrsprachigkeit ihrer Schülerschaft um, und wie thematisieren und nutzen sie diese in ihrem Fremdsprachenunterricht? Anhand von qualitativen Interviews mit Lehrenden auf der Basis eines explorativen Designs wird die Bandbreite von Einstellungen und erlebter Praxis deutlich. Hieraus folgen abschließend Überlegungen zur Fremdsprachenlehrerausbildung unter dem Gesichtspunkt sprachlich und kulturell heterogener Lerngruppen.

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Seitenzahl: 627

Veröffentlichungsjahr: 2018

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Sylvie Méron-Minuth

Mehrsprachigkeit im Fremdsprachenunterricht

Eine qualitativ-empirische Studie zu Einstellungen von Fremdsprachenlehrerinnen und -lehrern

Narr Francke Attempto Verlag Tübingen

 

 

© 2018 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen www.francke.de • [email protected]

 

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

 

E-Book-Produktion: pagina GmbH, Tübingen

 

ePub-ISBN 978-3-8233-0122-6

Inhalt

Pour Christian, mon mari ...Vorwort1. Einleitung1.1 Meine Beweggründe, dieses Projekt durchzuführen1.2 Fremdsprachenlehrkräfte und die multilinguale Herausforderung1.3 Lehrerrolle und Pädagogisches Handeln1.4 Aufbau der Arbeit2. Historischer Exkurs und theoretische Grundlagen zum Konzept der Mehrsprachigkeit2.1 Europäische Sprachen- und Bildungspolitik und Mehrsprachigkeit2.2 Zweisprachigkeit – Mehrsprachigkeit: Annäherung an eine Begrifflichkeit2.2.1 Zweisprachigkeit2.2.2 Mehrsprachigkeit2.3 Gesellschaftliche Mehrsprachigkeit2.4 Individuelle Mehrsprachigkeit2.4.1 Lebensweltliche Mehrsprachigkeit2.4.2 Schulische Mehrsprachigkeit2.5 Aspekte meines eigenen Verständnisses von Mehrsprachigkeit2.6 Mehrsprachigkeitsdidaktik2.6.1 Begriffsklärung2.6.2 Integrierte Sprachdidaktik2.6.3 Interkomprehensionsforschung2.6.4 Der EuroComRom-Ansatz und seine Umsetzung2.6.5 Schulfremdsprachen als Brückensprachen und ihr Potenzial2.6.6 Lebensweltliche Sprachen als Brückensprachen und ihr Potenzial für das Erlernen einer Schulfremdsprache3. Zur Erforschung der Binnensicht von Fremdsprachenlehrkräften3.1 Terminologische Vielfalt: Subjektive Theorien – Einstellungen3.2 Zum Forschungsprozess über Einstellungen von Lehrpersonen3.3 Einstellungen und Unterrichtshandeln4. Forschungsmethodischer Ansatz und Erhebungsdesign4.1 Wissenschaftstheoretische Grundlagen – Rahmenbedingungen, Forschungsverfahren und Fragestellungen4.2 Exkurs: Veränderungen der gesellschaftlichen Situation in Deutschland seit der Datenerhebung im Jahr 20124.3 Datenerhebung – qualitative Interviews als Forschungsmethode4.3.1 Leitfaden-(halbstrukturiertes) Interview4.3.2 Das problemzentrierte Interview4.3.3 Explorativ-problemzentriertes Experteninterview4.4 Diskussion zur Auswertung von verbalen Daten aus mündlichen Befragungen4.5 Durchführung der Erhebung4.6 Transkription4.7 Auswertungsverfahren – qualitative Inhaltsanalyse4.8 Transparenz und Nachvollziehbarkeit5. Die Vorstudie5.1 Vorüberlegungen5.2 Genese der Vorstudie5.3 Die Untersuchungsgruppe5.4 Analyse und Ergebnisse der Untersuchungsergebnisse5.4.1 Kategorisierungen der Antworten – Hauptkategorien5.4.2 Nebenkategorien5.5 Fazit und Bedeutung für die Hauptuntersuchung6. Die Hauptstudie – Einzelfalldarstellungen6.1 Exemplarische Darstellung einer Interviewpartnerin – Charlotte Heilmann6.1.1 Biografisches und berufliche Rahmenbedingungen6.1.2 Einstellungen zur schulischen und lebensweltlichen Mehrsprachigkeit ihrer Schüler / Unterrichtspraxis6.1.3 Anregungen und Änderungsvorschläge6.1.4 Zusammenfassung ihrer Einstellungen6.2 Clara Mühlbauer6.2.1 Biografisches und berufliche Rahmenbedingungen6.2.2 Einstellungen zur schulischen und lebensweltlichen Mehrsprachigkeit ihrer Schüler / Unterrichtspraxis6.2.3 Anregungen und Änderungsvorschläge6.2.4 Zusammenfassung ihrer Einstellungen6.3 Anne Rieder6.3.1 Biografisches und berufliche Rahmenbedingungen6.3.2 Einstellungen zur schulischen und lebensweltlichen Mehrsprachigkeit ihrer Schüler / Unterrichtspraxis6.3.3 Anregungen und Änderungsvorschläge6.3.4 Zusammenfassung ihrer Einstellungen6.4 Natalia Peréz Sanchez6.4.1 Biografisches und berufliche Rahmenbedingungen6.4.2 Einstellungen zur schulischen und lebensweltlichen Mehrsprachigkeit ihrer Schüler / Unterrichtspraxis6.4.3 Anregungen und Änderungsvorschläge6.4.4 Zusammenfassung ihrer Einstellungen6.5 Sophie Kallmayer6.5.1 Biografisches und berufliche Rahmenbedingungen6.5.2 Einstellungen zur schulischen und lebensweltlichen Mehrsprachigkeit ihrer Schüler / Unterrichtspraxis6.5.3 Anregungen und Änderungsvorschläge6.5.4 Zusammenfassung ihrer Einstellungen6.6 Werner Scholl6.6.1 Biografisches und berufliche Rahmenbedingungen6.6.2 Einstellungen zur schulischen und lebensweltlichen Mehrsprachigkeit seiner Schüler / Unterrichtspraxis6.6.3 Anregungen und Änderungsvorschläge6.6.4 Zusammenfassung seiner Einstellungen6.7 Isabel Mayr6.7.1 Biografisches und berufliche Rahmenbedingungen6.7.2 Einstellungen zur schulischen und lebensweltlichen Mehrsprachigkeit ihrer Schüler / Unterrichtspraxis6.7.3 Anregungen und Änderungsvorschläge6.7.4 Zusammenfassung ihrer Einstellungen6.8 Grit Kaufmann6.8.1 Biografisches und berufliche Rahmenbedingungen6.8.2 Einstellungen zur schulischen und lebensweltlichen Mehrsprachigkeit ihrer Schüler / Unterrichtspraxis6.8.3 Anregungen und Änderungsvorschläge6.8.4 Zusammenfassung ihrer Einstellungen6.9 Adriana Pini6.9.1 Biografisches und berufliche Rahmenbedingungen6.9.2 Einstellungen zur schulischen und lebensweltlichen Mehrsprachigkeit ihrer Schüler / Unterrichtspraxis6.9.3 Anregungen und Änderungsvorschläge6.9.4 Zusammenfassung ihrer Einstellungen6.10 Noemie Hartmann6.10.1 Biografisches und berufliche Rahmenbedingungen6.10.2 Einstellungen zur schulischen und lebensweltlichen Mehrsprachigkeit ihrer Schüler / Unterrichtspraxis6.10.3 Anregungen und Änderungsvorschläge6.10.4 Zusammenfassung ihrer Einstellungen6.11 Constanze Schrader6.11.1 Biografisches und berufliche Rahmenbedingungen6.11.2 Einstellungen zur schulischen und lebensweltlichen Mehrsprachigkeit ihrer Schüler / Unterrichtspraxis6.11.3 Anregungen und Änderungsvorschläge6.11.4 Zusammenfassung ihrer Einstellungen6.12 Katrin Drewes6.12.1 Biografisches und berufliche Rahmenbedingungen6.12.2 Einstellungen zur schulischen und lebensweltlichen Mehrsprachigkeit ihrer Schüler/ Unterrichtspraxis6.12.3 Anregungen und Änderungsvorschläge6.12.4 Zusammenfassung ihrer Einstellungen7. Gesamtauswertung der Ergebnisse der Lehrerinterviews7.1 Beruflicher Werdegang und berufliches Selbstbild der gymnasialen Fremdsprachenlehrkräfte7.1.1 Beruflicher Werdegang7.1.2 Berufliches Selbstbild und Einstellungen zum Lehrerberuf7.2 Kenntnisse der Sprachbiografien und der lebensweltlich-kulturellen Erfahrungen der Schülerinnen und Schüler7.3 Einstellungen zu den schulischen Fremdsprachenkompetenzen der Schülerinnen und Schüler7.4 Einstellungen zu Herkunftssprachen und -kulturen der mehrsprachigen Schülerinnen und Schüler7.5 Änderungsvorschläge für die Unterrichtspraxis mit Fokus auf Mehrsprachigkeit7.5.1 Lehrerpersönlichkeit7.5.2 Institutionelle Bedingungen: G8 als Hindernis7.5.3 Fortbildungsmaßnahmen7.6 Änderungsvorschläge zur Lehrerausbildung7.6.1 Defizite im Studium und in der Lehrerausbildung7.6.2 Anregungen7.7 Das interindividuelle Gemeinsame – abschließende Thesen und Ergebnisse8. Ausblick und Forschungsperspektiven8.1 Kritik der europäischen Mehrsprachigkeitsdoktrin8.1.1 Aus der Forschung8.1.2 Aus Lehrerperspektive8.2 Forschung zum Unterrichtshandeln der Lehrkräfte: ein (wohlwollend-)kritischer Blick8.3 Forschungsdesiderata8.3.1 Bezogen auf Lehrerfort- und -weiterbildung8.3.2 Bezogen auf Unterrichtsbeobachtung / Fremdsprachenlehrpraxis8.3.3 Bezogen auf die aktuelle Migrationsentwicklung9. Literaturverzeichnis

Pour Christian, mon mari et pour David, mon fils

Vorwort

Die vorliegende Habilitationsschrift wurde im Dezember 2017 in der Philologisch-Historischen Fakultät der Universität Augsburg eingereicht und angenommen.

Mein ganz besonderer und herzlicher Dank gilt meiner Erstbetreuerin, der Lehrstuhlinhaberin Frau Prof. Dr. Christiane Fäcke, unter deren Leitung ich viele Jahre in Augsburg als wissenschaftliche Mitarbeiterin gearbeitet habe, für ihre stete Unterstützung, ihre wertvolle Beratung und engagierte Betreuung sowie ihre fachlich anspruchsvollen und konstruktiven Denkanstöße zu dieser Arbeit. Diese Betreuung erstreckte sich über die vielen Jahre meiner Tätigkeit als Mitarbeiterin und auch weit darüber hinaus.

Ein herzliches Dankeschön gebührt ebenfalls meinem zweiten Betreuer, Herrn Prof. Dr. Engelbert Thaler, der den Fortgang meiner Arbeit mit Interesse verfolgt hat und mir bereichernde Rückmeldungen – insbesondere in den Jahren 2013 und 2014 – mit auf den Weg geben konnte.

Weiterhin danke ich Frau Prof. Dr. Hélène Martinez sehr herzlich dafür, dass sie mir für die externe Betreuung meiner Habilitationsschrift unverzüglich zusagte und mir bei der Fertigstellung dieser Arbeit immer erneut Mut zuflüsterte.

Meinen ehemaligen Kolleginnen und Kollegen der Universität Augsburg und vor allem den Mitgliedern des Forschungskolloquiums in den Jahren 2013 und 2014 danke ich für bereichernde Gespräche und die vielen wertvollen Hinweise und Anregungen, die ich im Anschluss an meine Präsentationen erfahren durfte.

Allen voran gilt meiner Kollegin und Freundin Frau Dr. Senem Şahin mein lieber Dank für ihre permanente Unterstützung, für die intensiven und konstruktiven Gespräche und unseren kontinuierlichen Austausch u.a. über die Validierung der qualitativen Daten in den letzten Jahren. Ihre aufmunternden Worte waren mir eine wertvolle Hilfe und haben mich immer wieder in Phasen des Zweifels bestärkt und ermutigt, weiterzumachen.

Meinen ehemaligen Augsburger Studierenden aus dem Wintersemester 2010/11 danke ich recht herzlich für ihre Mitarbeit, den regen und produktiven Austausch während der Seminare und ihre Kooperationsbereitschaft bei der Durchführung der Vorstudie. Diese Diskussionen haben mir wichtige Impulse für die Konzeption meiner Studie geliefert. Ebenfalls bin ich meinen wissenschaftlichen Hilfskräften, Frau Kathrin Pöhlmann und Frau Beate Valadez Vazquez aus den Jahren 2011–2012 für ihre Mithilfe bei der aufwändigen Transkriptionsarbeit zu großem Dank verpflichtet.

Allen befragten Fremdsprachenlehrerinnen und -lehrern aus Bayern, Baden-Württemberg und Hessen – auch denjenigen, die aus forschungsimmanenten Gründen nicht in meine Studie aufgenommen wurden – danke ich ebenfalls sehr herzlich für die Zeit, die sie mir für ein Interview gewährt haben und für die Einblicke in ihre alltägliche Unterrichtspraxis, die ich in erzählerischer Form erfahren durfte und die mich oft an meine eigene, frühere Praxis als Lehrerin zurückdenken ließen.

Für sorgfältiges Korrekturlesen danke ich meiner derzeitigen studentischen Hilfskraft an der Universität Bonn, Frau Bareen Wahed.

Weiterhin danke ich allen Kolleginnen und Kollegen, insbesondere meiner früheren Mitarbeiterin Frau Aurélie Pérez von der Universität Regensburg für ihre engagierte Mitarbeit bei der Analyse, Ergänzung und Validierung größerer Teile der empirischen Daten, sowie meinen Freundinnen und Freunden von fern und nah, die mir im Laufe meines Forschungsprozesses interessierte Nachfragen stellten, mit mir animierende Gespräche über meine Forschungsarbeit führten und mich auf unterschiedliche Weise immer wieder motivierten.

 

Pour terminer, je souhaiterais remercier ma petite famille du fond du cœur – en particulier mon mari Christian et mon fils David – pour le soutien constant et l’amour intarissable qu’ils me témoignent depuis toujours. Sans eux, sans leur aide, ce projet n’aurait sans doute pas abouti. Je vous dis merci.

C’est à eux deux que je dédie ce travail.

 

Hirschhorn am Neckar, im August 2018    Sylvie Méron-Minuth

Er suchte zu allen Menschen in ‚ihrer’ Sprache zu sprechen, und da er diese nur nebenher auf seinen Reisen gelernt hatte, waren seine Kenntnisse, mit Ausnahme der Sprachen des Balkans, zu denen auch sein Spanisch gehörte, höchst mangelhaft. Er zählte gerne an den Fingern auf, wieviel Sprachen er spreche, und die drollige Sicherheit, mit der er es bei dieser Aufzählung – Gott weiß wie – manchmal auf 17, manchmal auf 19 Sprachen brachte, war trotz seiner komischen Aussprache für die meisten Menschen unwiderstehlich. Ich schämte mich dieser Szenen, wenn sie sich vor mir abspielten, denn was er da von sich gab, war so fehlerhaft, dass er selbst in meiner Volksschule beim Herrn Lehrer Tegel damit durchgefallen wäre, wie erst bei uns zu Hause, wo die Mutter uns mit erbarmungslosem Hohn den kleinsten Fehler verwies. Dafür beschränkten wir uns zu Hause auf bloß vier Sprachen, und wenn ich die Mutter fragte, ob es möglich sei, 17 Sprachen zu sprechen, sagte sie, ohne den Großvater zu nennen: »Nein! Dann kann man keine!« (Elias Canetti 1977: Die gerettete Zunge. Geschichte einer Jugend, S. 103)

1.Einleitung

1.1Meine Beweggründe, dieses Projekt durchzuführen

Die Ideen für die vorliegende Studie entstanden schon lange bevor ich als Lehrerin für Französisch an baden-württembergischen, sächsischen und brandenburgischen Schulen unterrichtete, oder an verschiedenen Universitäten lehren konnte. Der Themenkomplex Mehrsprachigkeit ist mir als Französin, die seit mehr als 25 Jahren in Deutschland lebt, immer bewusst gewesen. Mein eigener Migrationshintergrund unterscheidet sich in vielen Punkten von dem der meisten Migranten und Flüchtlinge, weil ich aus freien Stücken und voller Begeisterung nach Deutschland kam, um als Auslandsgermanistin meine Sprachkenntnisse zu perfektionieren und in Deutschland zu leben und zu arbeiten. Meine Motive sind nicht aus körperlicher und materieller Not geboren, niemand hat mich verfolgt oder bedroht, niemand hat mir in Deutschland unangenehme Fragen gestellt oder Hindernisse aufgebaut. Die junge Französin, die ich war, wurde als assistante de langue in Esslingen am Neckar herzlich in die Schulgemeinde aufgenommen, mein Ansehen bei den Schülerinnen und Schülern war groß, wie im Jahr darauf auch bei den Thomasschülern in Leipzig. Mein Aufenthalt in Deutschland ist dauerhaft gesichert, ich genieße (natürlich) völlige Reisefreiheit und verfüge über alle Rechte einer Bürgerin der Europäischen Union.

Die Realität der meisten Migranten in Deutschland ist dagegen vielfach eine ganz Andere. Aufgrund verschieden motivierter Migrationsbewegungen wie Arbeitsmigration, politische Verfolgung und Terror, Folter, (Bürger-)Kriege und Flucht ist die aktuelle Zuwanderungsbewegung durch Furcht und Existenzangst geprägt und von einer allgemeinen Ablehnung durch populistische, diskriminierende Parolen verunsichert. Die Migrantensprachen werden nicht wertgeschätzt, sondern als lästig und hinderlich für eine mögliche Integration angesehen.

Meine eigene Mehrsprachigkeit hingegen war ein Vorteil für meine rasche Integration in Deutschland, und als Fremdsprachenlehrerin hat es mich immer interessiert, wie Kolleginnen und Kollegen mit der in ihren Klassen vorgefundenen – schulischen und lebensweltlichen – Mehrsprachigkeit umgehen. In diesem Zusammenhang zeichnete sich mein beruflicher, wissenschaftlicher Werdegang Anfang der 2000er Jahre durch die langjährige Begleitung einer sprachlich sehr heterogenen Schülergruppe aus, die ich im Rahmen des an der Universität in Tübingen angesiedelten Pilotprojektes WIBE – Wissenschaftliche Begleitung der Pilotphase Fremdsprache in der Grundschule; Zielsprache Englisch und Zielsprache Französisch – kennenlernte und wissenschaftlich und unterrichtlich begleitete. Vier Jahre lang, während der gesamten Grundschulzeit der jungen Lernenden (damals 6 bis 10 Jahre), nahm ich am immersiv angelegten, zweistündigen Französischunterricht teil bzw. unterrichtete zuweilen selbst, beobachtete, beschrieb, analysierte und interpretierte nach und nach ihre anfänglichen und allmählich häufiger verwendeten fremdsprachlichen Kommunikationsstrategien. Diese befähigten die Lernenden zur aktiven Beteiligung an der Interaktion mit der Lehrkraft im Unterricht. Dieses umfangreiche, von mir erhobene Datenmaterial konnte ich anschließend in mein Dissertationsprojekt münden lassen (vgl. Publikationen Méron-Minuth, insbesondere von 2009 bis 2012). Die eigene Mehrsprachigkeit, die Beobachtungen des frühen Fremdsprachenlernens und der Lern- und Kommunikationsstrategien von Lernenden, mit einem nicht-romanischen, herkunftssprachlichen Hintergrund und schließlich der Kontakt mit Fremdsprachenlehrerinnen und -lehrern im Zusammenhang mit studentischen Praktika ließen immer deutlicher die Frage in mir reifen, in welcher Weise die Schule und hier speziell der Fremdsprachenunterricht mit vorhandener Mehrsprachigkeit umgehen würde.

Hinzu kamen sprachenpolitische Bestrebungen und schulische Zielsetzungen, die mich letztendlich dazu bewogen haben, einen Perspektivenwechsel von den jungen Lernenden zu den Lehrenden vorzunehmen und im Rahmen meines Habilitationsprojektes Näheres über die Einstellungen und die Unterrichtspraxis von Fremdsprachenlehrkräften zu erfahren, die im Kontext realer Mehrsprachigkeit in ihren Klassen in der Institution Schule arbeiten. Infolgedessen habe ich diese Studie in der Erwartung durchgeführt, Informationen über ihre Innenperspektive, ihre subjektiven Sichtweisen zur Mehrsprachigkeit ihrer Schülerinnen und Schüler zu sammeln und zu analysieren, um letztendlich daraus mögliche Schlussfolgerungen für eine veränderte Praxis der Lehreraus-, -fort und -weiterbildung, vor allem mit Blick auf eine sich verändernde Schülerschaft, ableiten zu können.

Denn durch Flucht, Vertreibung und Arbeitsmigration hat sich die Schülerschaft in den letzten Jahren beträchtlich verändert (vgl. dazu Kapitel 4.2). Bei den Ergebnissen der PISA-Studie von 2000 stammt bereits über ein Fünftel (21,7 %) der fünfzehnjährigen Jugendlichen aus Familien mit Migrationshintergrund (vgl. Baumert, Klieme et alii, Deutsches PISA-Konsortium 2002). Bereits die Arbeitsmigranten (Italien, Spanien, Türkei) der ersten Generation hatten mit Problemen der Integration zu kämpfen, und die Nachkommen der zweiten und dritten Generation sind teilweise heute noch die Verlierer des deutschen Bildungssystems (vgl. Bildungsbericht der Bundesregierung 2016):

„Hinsichtlich der Beteiligung an den weiterführenden Schulen zeigen sich – zunächst in der schulstatistischen Unterscheidung nach deutschen und ausländischen Jugendlichen – eklatante Unterschiede: Während deutsche Jugendliche im Schuljahr 2014/15 fast zur Hälfte am Gymnasium sind (rund 44 %) und nur zu 8 % an Hauptschulen, besucht lediglich knapp ein Viertel (24 %) der ausländischen Jugendlichen das Gymnasium und ein weiteres Viertel (25 %) die Hauptschule […].“ (Deutsches Institut für Internationale Pädagogische Forschung 2016: 173)

Der folgende Auszug aus demselben Bericht hebt die hohen Diskrepanzen hervor, die auf dem Arbeitsmarkt zwischen Ausländern und Deutschen besteht:

„Die Disparitäten in der Ausbildung setzen sich auf dem Arbeitsmarkt fort. Die Differenz im Erwerbsstatus zwischen jungen Erwachsenen ohne und mit Migrationshintergrund erweist sich als beträchtlich. Bei der Erwerbstätigkeit macht sie 13 Prozentpunkte (86 gegenüber 73 %) aus (Abb. H2–5). Die Differenz erklärt sich weniger aus Arbeitslosigkeit als aus der Quote der Nichterwerbspersonen, die bei jungen Erwachsenen mit Migrationshintergrund mehr als doppelt so hoch ist wie bei Personen ohne Migrationshintergrund (21 zu 10 %).“ (Deutsches Institut für Internationale Pädagogische Forschung 2016: 178; Hervorhebungen im Text)

Dabei ist schulische Bildung der Kinder der wichtigste Faktor der Hoffnungen der Migrantenfamilien auf Integration ihrer Sprösslinge in Deutschland. Diese Hoffnungen werden durch deren schlechte Schullaufbahnchancen häufig gedämpft. Schulische Anforderungen orientieren sich an der Majoritätskultur und der schulische Habitus ist weiterhin monolingual (vgl. Göbel & Schmelter 2016; Gogolin 1994, 2011). Die noch unzureichende Beherrschung der Schulsprache und mögliche Bildungsferne sind dabei die Hauptgründe für das Scheitern der Kinder mit Migrationshintergrund. Aus diesem Grunde haben alle Bundesländer diverse Sprachförderprogramme mit dem Anspruch der Verringerung von Disparitäten aufgelegt (vgl. Bundesministerium für Bildung und Forschung 2007). Die meisten Familien- und (vor allem) Minderheitensprachen stehen in einer möglichen Beliebtheitsliste der Sprachen ganz unten; sie werden gar im institutionellen Schulkontext ignoriert, wie es Senem Aydin (2016) hervorhebt:

“[…] the already existing migration-related multilingualism of pupils speaking minority languages is generally ignored in the school context.” (Aydin 2016: 8)

Weiterhin betrachtet Aydin kritisch, dass die Forschung im Bereich von Mehrsprachigkeit und Fremdsprachenunterricht die Bedürfnisse sowie das Potenzial der Migrationsschülerinnen und -schüler mit Minderheitensprachen vernachlässigt beziehungsweise geringgeschätzt wird. Die entsprechenden Studien in diesem Feld sind „[…] still very modest” (Aydin 2016: 9), obgleich die migrationsbedingte sprachliche Heterogenität längst zur Landschaft des deutschen Schullebens gehört:

“[…] Although migration-related linguistic heterogeneity has become part of school life in Germany, the needs of pupils with a migration background have been neglected in research in the field of multilingualism and foreign language education.” (Aydin 2016: 8)

Demgegenüber genießen die romanischen Sprachen beziehungsweise die institutionell gelehrten Fremdsprachen ein erheblich höheres Ansehen. Es bleibt allerdings festzustellen, dass dieser negative Blick kein komplettes Spiegelbild der Leistungen von Schülerinnen und Schülern mit Migrationshintergrund repräsentiert, weil diese eben auch bemerkenswerte Erfolge aufweisen, wenn ihre sprachlichen Kompetenzen und individuelle, familiäre und (schul-)kontextuale Merkmale als positive Einflussfaktoren für effizientes Englischlernen als dritte Sprache berücksichtigt werden (vgl. Özkul 2015 und Aydin 2016). Diese Aussagen sind insofern wichtig, als Berichte jüngeren Datums zeigen, dass ausländische Kinder weniger Bildungschancen haben bzw. bildungserfolgreich und demgemäß weniger an Gymnasien anzutreffen sind. Dies zeigen vor allem beispielsweise Flam und Schönefeld in einem Beitrag von 2007 oder auch Siegert in einem Bericht von 2008 zur schulischen Bildung von Migrantenkindern in Deutschland:

„Ausländische Schüler besuchen häufiger eine Hauptschule und seltener eine Realschule oder ein Gymnasium als deutsche. Darüber hinaus gehen sie häufiger auf eine Förderschule und speziell auf eine Förderschule mit dem Förderschwerpunkt Lernen.“ (Siegert 2008: 32)

Es ist also Aufgabe der Schule, die Integrationsbemühungen der Kinder mit Migrationshintergrund zu fördern und ihre verschiedenen Sprachkompetenzen und vorgängige Sprachlernerfahrungen in den Unterricht zu integrieren und zu persönlichen Erfolgserlebnissen zu verdichten. Die seit den letzten zwei Jahren präsenten Fluchtbewegungen werden zukünftig Einfluss auf die Bildungseinrichtungen der Zielländer – hier Deutschlands – haben. Denn die neu zugewanderten Menschen bringen neue Herkunftssprachen sowie bedingt durch Kriege, Konflikte etc. traumatisierende Erfahrungen mit sich, die das Leben in der Gemeinschaft in der schulischen Institution sowie in weiteren Bildungseinrichtungen in den kommenden Jahren prägen werden.

„Dabei wird aber auch deutlich, dass von „dem“ ausländischen Schüler prinzipiell nicht gesprochen werden kann. Differenziert man die ausländischen Schüler nach ihrer Staatsangehörigkeit, so zeigen sich zwischen den einzelnen Gruppen teilweise deutliche Unterschiede: Polnische, russische und kroatische Schüler können sich im deutschen Schulsystem vergleichsweise gut positionieren, Schüler aus Serbien und Montenegro, der Türkei und Italien dagegen vergleichsweise schlecht.“ (Siegert 2008: 32f.; Hervorhebungen im Text)

Aber im Zentrum der vorliegenden Arbeit stehen nicht nur die Schülerinnen und Schüler mit ihren herkunftssprachlichen Diversitäten, sondern auch die übrigen Lernenden, die ja bereits in ihrer Schullaufbahn Fremdsprachen gelernt haben und bis zu einem Punkt ihrer jeweiligen Interimssprache mehrsprachig sind. Die Einstellungen der Lehrenden zu den beiden unterschiedlichen Populationen und ihrer jeweiligen Mehrsprachigkeit soll untersucht werden, um der Antwort auf die Frage: „Mehrsprachigkeit als Ressource“ (Göbel & Schmelter 2016: 274) näher zu kommen. Die letztgenannten Autoren bemängeln zu Recht, dass in den letzten Dekaden innerhalb der Fremdsprachendidaktik kein Unterschied zwischen dem Erlernen der ersten, zweiten oder dritten Fremdsprache gemacht wurde. Auch stellen sie eingangs fest, dass weder die Herkunftssprachen noch die schulischen Fremdsprachen wirklich in den regulären Unterricht integriert würden (vgl. Göbel & Schmelter 2016). Zur Exploration dieses Problems spielt die Kenntnis der Einstellungen der Fremdsprachenlehrerinnen und -lehrer eine essenzielle Rolle und dies wird der Kern meiner Untersuchung sein.

1.2Fremdsprachenlehrkräfte und die multilinguale Herausforderung

Die Fremdsprachenlehrkräfte haben hier eine Schlüsselrolle, so Ingeborg Christ (2006: 265). Und zwar soll(te) ihre Aufgabe darin bestehen, die in den jeweiligen Klassen vorhandenen Sprachen (Mutter-, Herkunfts- und Fremdsprachen) beim Erlernen weiterer Sprachen zu berücksichtigen und sie einzubeziehen. Selbst wenn die Lehrkräfte nicht in allen Sprachen Experten sind und sein können, sollten sie sich dennoch für Phänomene anderer Sprachen und Kulturen interessieren und dies in ihren Unterricht einbeziehen, um dadurch die Lernenden an mehrsprachige Kompetenzen heranzuführen und zu unterstützen. Auf diese Weise können vorhandene Fremdsprachenkenntnisse und individuelle Mehrsprachigkeit Anerkennung, Zuspruch und Förderung finden und das Sprachenlernen kann als ganzheitlicher Prozess erfahren werden (vgl. Méron-Minuth 2015 und 2016).

Mit dem Erziehungsziel zu Mehrsprachigkeit sollen junge europäische Bürgerinnen und Bürger additional zu ihrer Muttersprache mindestens zwei (Fremd-)sprachen so weit (er-)lernen, dass die Sprachkompetenzen funktional-pragmatisch und für die Anforderungen ihres späteren Lebensweges ausreichend sind.

Dieses Ziel gilt ebenfalls für die Kinder und Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund: ihre mitgebrachte Mehrsprachigkeit sollten ihnen zugute kommen, indem sie im Unterricht berücksichtigt wird, sowie indem sie

„[…] nicht mehr in partikularen Maßnahmen, sondern in der allgemeinen Pluralisierung der Sprachenordnung, mit positiven Folgen für die gesellschaftliche Wertung ihrer mehrsprachigen Leistungen [herangezogen wird].“ (Stölting 2005: 245f.)

Stölting (2005) sieht eine mögliche Verwirklichung der Integration von Mehrsprachigkeit in das schulische Lernen darin, dass die Institution Schule „[…] unter anderem auch mehrere Sprachen für alle sichtbar und erfahrbar werden lässt“ (Stölting 2005: 246). Dies könne eintreten, so Stölting fortführend, wenn die Schule die Schülersprachen zum Vorschein kommen lässt, „[…] denn aus der Passzugehörigkeit lassen sie sich nicht mit Gewissheit ableiten.“ (Ebd.).

Eine Möglichkeit dafür besteht darin, das auf Initiative des Europarates 2001 entwickelte didaktische Instrument „Europäische Portfolio der Sprachen“ (EPS) einzusetzen (Europarat 2001). Dieses Dokument sammelt in strukturierter und anschaulicher Weise schulische und außerschulische Spracherfahrungen, die auf unterschiedliche Art gemacht wurden, und die demnach die eingeschlagenen, reflektierten Lernwege und -erfolge eines jeden einzelnen Lerners belegen (vgl. BLK Verbundprojekt 2009).

1.3Lehrerrolle und Pädagogisches Handeln

Wie lässt sich die europäische Sprachenpolitik in Bezug auf Mehrsprachigkeit und Plurilinguismus der einzelnen Schülerinnen und Schüler auf den Fremdsprachenunterricht übertragen?

Boeckmann (2012: 1) spricht an, was ein zentrales Problem der Forderung nach größtmöglichem Plurilinguismus europäischer Bürger in der Praxis für Lehrende darstellt: In der Regel werden Lehrende des Muttersprachenunterrichts weniger umfassend darin ausgebildet, Unterricht in einer Zweitsprache zu geben als Fremdsprachenlehrkräfte, und sie sind deshalb auch weniger darauf eingestellt, das plurilinguale Repertoire von Lernenden weiter zu entwickeln. Dementsprechend muss der Mehrheitssprachenunterricht mehr leisten als der Erstsprachenunterricht (vgl. Boeckmann et alii 2011).

Die Berücksichtigung der von den Schülerinnen und Schülern mitgebrachten Sprachen, die offiziell weder Teil des Muttersprachen- noch des Fremdsprachenunterrichts sind, stellt die Lehrkraft vor eine schwierige Herausforderung. Es ist wahrscheinlich, dass die Lehrkraft selbst bei weitem nicht alle von den Lernenden beherrschten Sprachen selbst zu sprechen in der Lage ist. Dennoch, könnte die Lehrperson die Heterogenität ihrer Lerngruppen als pädagogische Chance wahrnehmen (vgl. Reich 2006: 5), so ließen sich zum Beispiel bestimmte Grammatikphänomene auf andere Sprachen übertragen und die Schülerinnen und Schüler, in ihrem jeweiligen, individuellen Lernprozess, könnten so gezielt als „Experten“ in die Lehre miteinbezogen werden (vgl. Boeckmann et alii 2011). Reich (2006) betont, wie dienlich es für eine erfolgreiche Unterrichtsführung ist, die persönlichen Lernfortschritte jedes einzelnen Schülers zu berücksichtigen:

„Der Unterrichtserfolg kann in heterogenen Gruppen nicht allein durch das Erreichen der allgemeinen Lernziele definiert werden. Es werden zusätzlich die individuellen Lernfortschritte miteinbezogen.“ (Reich 2006: 5)

Dies gilt gleichermaßen sowohl in Situationen mit einer Mehrheitensprache als Unterrichtssprache und einer mitberücksichtigten Minderheitensprache, als auch im Fremdsprachenunterricht, in dem Lernstrategien und Sprachphänomene aus anderen Sprachen einbezogen und im Sinne eines differenzierten Lernens nutzbringend in das Unterrichtsgeschehen implementiert werden können (vgl. beispielsweise Hufeisen & Neuner 2003; Boeckmann et alii 2011).

Stellvertretend für die Vielzahl an vorgeschlagenen Maßnahmen zur Förderung der Mehrsprachigkeit im (Fremdsprachen-)Unterricht soll hier ein Beispiel kurz skizziert werden, das einen breit angelegten, grundsätzlichen und theoretischen Ansatz darstellt: Castelotti, Coste und Duverger (2008) schlagen sieben operationalisierbare Prinzipien für Mehrsprachigkeit im Schulkontext vor, die im Folgenden exemplifiziert und erörtert werden:

« Premier principe: Du plurilinguisme limité à certaines situations, souvent à connotation élitiste, au plurilinguisme pour tous. » (Castelotti, Coste & Duverger 2008: 14)

Mehrsprachigkeit muss dabei eine regelmäßige Erfahrung im Unterrichtsgeschehen werden; des Weiteren muss sich ein Demokratisierungsprozess in diesen Situationen realisieren. Eine stetige Integrierung verschiedener (Neben--)Sprachen im Unterricht ermöglicht es, auf die höheren Ziele der Schule abzuzielen, insbesondere auf das Konzept der Inklusion und der sozialen Zusammengehörigkeit.

« Deuxième principe : Du plurilinguisme négligé des répertoires des apprenants et de la communauté proche à un plurilinguisme inclusif reconnu et valorisé par l’école. » (Castelotti, Coste & Duverger 2008: 14)

Nur wenn die gesamte Sprachenvielfalt in einer Lerngruppe gleichermaßen im Rahmen des Unterrichts gewürdigt wird, kann Mehrsprachigkeit als Katalysator für Wertschätzung und Zusammenhalt fungieren. Allen Sprachen und Kulturen im Unterricht Bedeutung zuschreiben heißt zugleich Unterschiede anzusprechen, zu tolerieren und letztendlich schätzen zu lernen. Dies gilt gleichermaßen für in der Schule gelernte Fremdsprachen als auch für Minderheitensprachen, die nur von einigen Schülerinnen und Schülern beherrscht werden und normalerweise nicht Teil des Unterrichts sind.

« Troisième principe: De l’apprentissage de différentes langues vers une éducation langagière générale ouverte à la diversité linguistique et culturelle et aux enseignements plurilingues. » (Castelotti, Coste & Duverger 2008: 14)

Sprachenlernen sollte nicht getrennt nach einzelnen Sprachen verlaufen, sondern gemeinsam als Lernen verschiedener Sprachen auf gemeinsamer Basis geschehen. Fremdsprachen sollen dabei im Grunde wie die Muttersprache behandelt werden, was dadurch der Sprachen- und Kulturvielfalt zu Gute käme. Das präzise Vorgehen hängt aber stark von der jeweiligen Lerngruppe und den Sprachen ab. Die Grundlage dafür stellt das vierte Prinzip dar.

« Quatrième principe: De l’enseignement cloisonné de différentes langues vers une conception holistique des enseignements langagiers. » (Castelotti, Coste & Duverger 2008: 15)

Sprachvermittlung sollte zunächst immer eine ganzheitliche Idee der Vermittlung von Sprache sein, und nicht von vorn herein nur in Einzelsprachen als abgeschlossenes System gedacht werden. Der Transfer von Sprachlernstrategien und grundsätzlichen Kenntnissen von Sprachsystemen vereinfacht ein ganzheitliches Lernen von mehreren Sprachen. Zentral für diese holistische Herangehensweise sind bekannte Prinzipien der Didaktik wie integrierte Sprachendidaktik, Förderung des Sprachbewusstseins, Öffnung anderen Kulturen gegenüber, Austausch zwischen den Sprachen und ihren Sprachgemeinschaften.

« Cinquième principe: D’une politique linguistique centrale à des politiques linguistiques partagées et donc partiellement décentralisées. » (Castelotti, Coste & Duverger 2008: 15)

Aus den ersten vier Prinzipien ergibt sich das fünfte: Sprachenpolitik sollte nicht zu sehr im großen Maßstab gedacht, sondern die allgemein akzeptierten, sprachenpolitischen Prinzipien lediglich auf den jeweiligen lokalen Fall angewendet und entsprechend adaptiert werden. Dies scheint zunächst den Ideen des Europarates zu widersprechen. Dabei handelt es sich bei genauerem Hinsehen aber vielmehr um die direkte Umsetzung der Forderung nach Mehrsprachigkeit, wenn lokal unterschiedliche (Minderheiten-)Sprachen unterschiedlich viel Gewicht und Bedeutung im Unterricht bekommen, je nach dem jeweiligen Umfeld.

« Sixième principe: De la logique de l’ajout de langues au curriculum à celle d’un curriculum intégré des langues. » (Castelotti, Coste & Duverger 2008: 15)

Lehrpläne sollten stärker auf das Sprachenlernen im Allgemeinen ausgerichtet werden. Es macht für die im Folgenden zitierten Autoren mehr Sinn, Sprachenlernen so weit wie möglich als eine Einheit zu betrachten, und nicht kategorisch nach Sprachen zu unterscheiden. Die Präsenz anderer Sprachen im stetigen Verlauf des Unterrichtens würde auch das Sprachverständnis im Allgemeinen und die Mehrsprachigkeit im Konkreten fördern.

« Septième principe: D’une vision du style « tout et tout de suite » à une politique linguistique réaliste « des petits pas ». » (Castelotti, Coste & Duverger 2008: 15)

Das letzte Prinzip bezieht sich auf das Ideal einer Lernspirale, die pas à pas in kleinen Happen das Sprachenlernen fördert und nicht mit zu viel Inhalt jegliche Motivation seitens der Lernenden verhindert. Im Fall der geforderten Mehrsprachigkeit bedeutet dies zugleich, ein gesundes Gleichgewicht zwischen zu vielen Sprachen und Inhalten und zu wenig Bezug auf andere Sprachen zu finden. Kurz gefasst der bekannte Satz von Butzkamm (1989) einmal anders: „So viel wie möglich, so wenig wie nötig“. Denn Plurilinguismus und Mehrsprachigkeit dürfen nicht zu einem alles überschattenden Credo werden (vgl. auch die Kritik von Maurer unter anderem in Kapitel 8).

1.4Aufbau der Arbeit

Insgesamt setzt sich die Arbeit aus acht Teilen zusammen. In der vorliegenden Einleitung (Kapitel 1.1 bis 1.3) wurden die intrinsischen Beweggründe der Forscherin sowie die Ausgangssituation der vorliegenden Studie skizziert.

Darauf aufbauend beginnt das zweite Kapitel mit theoretischen Grundlagen des Konzepts der Mehrsprachigkeit und dessen Bedeutung für den institutionellen Fremdsprachenunterricht. Hierzu wird zunächst auf (grundlegende) sprachen- und bildungspolitische Diskurse in Europa eingegangen (Kapitel 2.1). Es folgt ein Überblick aus der Literatur über begriffsklärende und konzeptuelle Dimensionen der Zwei- und Mehrsprachigkeit (Kapitel 2.2) sowie der gesellschaftlichen und individuellen Mehrsprachigkeit (Kapitel 2.3 und 2.4), die für die Arbeit relevante (Teil-)Aspekte darstellen. Vor dem Hintergrund dieser Definitionen werden im darauffolgenden Unterkapitel das Konzept der Mehrsprachigkeitsdidaktik, ihre Ansätze und Projekte wie: integrierte Sprachdidaktik, Interkomprehension und EuroComRom sowie zentrale Zielsetzungen vorgestellt (Kapitel 2.5 bis 2.5.4). Besonderes Augenmerk wird anschließend sowohl auf die unterrichteten Schulfremdsprachen als auch die lebensweltlich erworbenen Sprachen gerichtet, da die vorhandenen Sprachkenntnisse ein nicht zu unterschätzendes, abrufbares Potenzial für das Erlernen weiterer Sprachen darstellen (Kapitel 2.5.5 und 2.5.6).

Das dritte Kapitel widmet sich verschiedenen Forschungsansätzen und Konzepten aus der Forschungsliteratur zu subjektiven Theorien, Binnensicht, Einstellungen und Überzeugungen von Fremdsprachenlehrkräften. Deren pädagogisches Handeln in der alltäglichen Berufspraxis spielt eine entscheidende Rolle bei der Förderung und Implementierung gegebenenfalls Nicht-Implementierung der Mehrsprachigkeitsdidaktik (Kapitel 3).

Gegenstand des vierten Kapitels bilden Vorüberlegungen zum Forschungsparadigma und die Vorstellung des empirischen und qualitativen Forschungsdesigns, das explorativ-interpretativ verortet ist. Derzeitige, gesellschaftliche Veränderungen in Form von Migrationsgeschehen und -wellen und Zuwanderungsbewegungen, die sich seit der Datenerhebung aus den Jahren 2011 und 2012 ergeben haben und in der vorliegenden Studie nicht berücksichtigt werden konnten, werden erörtert und diskutiert (Kapitel 4.2). Danach werden Forschungsfragen und das Erhebungsinstrument vorgestellt (Kapitel 4.3 und 4.4). In einem anschließenden Unterkapitel wird die Auswertung verbaler Daten aus mündlichen Befragungen zur Diskussion gestellt (Kapitel 4.5). Das vierte Kapitel schließt mit Angaben zur Durchführung der Studie (Kapitel 4.6), den verwendeten Transkriptionsregeln (Kapitel 4.7) und dem Auswertungsverfahren auf der Basis der qualitativen Inhaltsanalyse (Kapitel 4.8) ab.

Die nächsten zwei Kapitel (Kapitel 5 und 6) stellen die Feldarbeit umfassend dar und inkludieren Lehrerinterviews zu ihren Einstellungen und zu ihren Erfahrungen im Umgang mit Mehrsprachigkeit im täglichen Schulkontext.

Zunächst werden im fünften Kapitel Vorüberlegungen zur Vorstudie, zu ihrer Genese und den Interviewpartnerinnen und -partnern ausführlich vorgestellt und analysiert (Kapitel 5.1 bis 5.3). Daraufhin werden die erhobenen Antworten in Haupt- und Neben-Kategorien ausdifferenziert. Die so dargestellten Ergebnisse und erste Befunde können bereits Einblicke in Einstellungen und Attitüden von Fremdsprachenlehrkräften gewähren, die relevant für die Durchführung der Hauptstudie und die verwendeten Fragenstrategien sein werden (Kapitel 5.4 und 5.5).

Das sechste Kapitel entwickelt die Äußerungen der Interviewpartnerinnen und -partner der empirischen Hauptstudie mit der Darstellung und Auswertung von insgesamt zwölf Lehrerporträts. Um die Auswertung möglichst transparent und nachvollziehbar zu gestalten, werden die Aussagen und Explikationen einer der von mir interviewten Fremdsprachenlehrkräfte exemplarisch beleuchtet und ausgelotet (Kapitel 6.1). Gleich im Anschluss daran erfolgen die Einzelfalldarstellungen und -auswertungen der Interviews weiterer elf Lehrkräfte (Kapitel 6.2 bis 6.12).

Anschließend wird im siebten Kapitel der Schwerpunkt auf der Gesamtauswertung der Ergebnisse der Lehrerinterviews liegen. Zusätzlich zu den individuellen Äußerungen und Einstellungen der Fremdsprachenlehrkräfte zu ihrem pädagogischen Handeln werden ebenfalls bildungspolitische, fachdidaktische und theoretische Diskurse in den Blick (zurück) genommen. Hierzu wird das Kategorienraster verfeinert und die Gesprächsinhalte entlang von Unterkategorien systematisiert. Abschließend wird versucht, das interindividuell Gemeinsame der Einstellungen der Lehrkräfte aus der Untersuchung in Form von abschließenden Thesen und Ergebnissen zusammen zu bringen (Kapitel 7.7) und zuzuspitzen.

Die Studie schließt im achten Kapitel mit einem Ausblick auf Forschungsdesiderata und weiterführende Fragestellungen für die universitäre Lehrerausbildung sowie notwendige, potenzielle Ansatzpunkte für zukünftige Studien (Kapitel 8).

Ein Europa von Polyglotten ist kein Europa von Menschen, die viele Sprachen perfekt beherrschen, sondern im besten Fall eines von Menschen, die sich verständigen können, indem jeder die eigene Sprache spricht und die des anderen versteht, ohne sie fließend sprechen zu können, wobei er, während er sie versteht, wenn auch nur mit Mühe, zugleich ihren « Geist » versteht, das kulturelle Universum, das ein jeder ausdrückt, wenn er die Sprache seiner Vorfahren und seiner Tradition spricht. (Umberto Eco 1994: Die Gabe an Adam, S. 355)

2.Historischer Exkurs und theoretische Grundlagen zum Konzept der Mehrsprachigkeit

Mehrsprachigkeit wird in Europa im Zuge der europäischen Sprachenpolitik seit Jahrzehnten gefordert und gefördert.

Zu Beginn dieses Kapitels gilt es zunächst, auf den Themenkomplex Mehrsprachigkeit im europäischen Kontext einzugehen, auf Basis dessen sich auch die bildungspolitischen und fremdsprachendidaktischen Forderungen nach einer Mehrsprachigkeit im schulischen Bereich ableiten lassen. Da es das Ziel der vorliegenden Arbeit ist, festzustellen, ob und inwiefern die Einstellungen einer Gruppe von ausgewählten Fremdsprachenlehrenden den genannten sprachenpolitischen Zielen entsprechen und somit der gymnasiale Fremdsprachenunterricht in Deutschland der Forderung Europas nach Mehrsprachigkeit gerecht werden, und die Herkunftssprachen der Schülerinnen und Schüler in das Unterrichtsgeschehen integrieren kann, ist ein historisch-sprachenpolitischer Überblick notwendig.

Daran anknüpfend werden aus der Fachliteratur einleitend die Terminologie der Zwei- und Mehrsprachigkeit und in der Folge Ausführungen zu der gesellschaftlichen und individuellen Mehrsprachigkeit einer näheren Untersuchung unterzogen, die für die vorliegende Studie relevante (Teil-)Aspekte darstellen. Anschließend werde ich für die vorliegende Untersuchung gemäß verschiedener Diskurse aus der Forschung eigene Aspekte meines Verständnisses von Mehrsprachigkeit entwickeln.

Vor dem Hintergrund dieser Definitionen wird darauf das Konzept der Mehrsprachigkeitsdidaktik, ihre Ansätze und Projekte samt zentralen Zielsetzungen geschildert. Ein besonderer Blick wird an- und abschließend sowohl auf die unterrichteten Fremdsprachen des Gymnasiums als auch auf die lebensweltlich erworbenen Sprachen gerichtet, wobei der Fokus auf das Potenzial eben dieser vorgängig gelernten Sprachen und ihre Bedeutung für den Fremdsprachenunterricht gerichtet wird.

2.1Europäische Sprachen- und Bildungspolitik und Mehrsprachigkeit

Im Folgenden wird zunächst ein theoretischer Umriss des Begriffs Sprachenpolitik im Allgemeinen und der europäischen Sprachenpolitik im Besonderen entwickelt werden, um dann im weiteren Verlauf die knapp sechzigjährige Geschichte der gemeinsamen europäischen Sprachenpolitik, die zentralen Ziele und konkreten Auswirkungen für den Fremdsprachenunterricht darlegen zu können.

Was versteht man unter Sprachenpolitik? In einem ersten Schritt grenzen einige allgemein gefasste Definitionen den Begriff etwas ein. Bußmann (1990) sieht als Sprachenpolitik

„[…] [p]olitische Maßnahmen, die auf die Einführung, Durchsetzung und Bestimmung der Reichweite von Sprachen zielen. [Dazu zählt auch die] [p]olitische Sprachregelung. [Sie ist ein] Eingriff in den Sprachgebrauch, meist durch staatliche Stellen und mit dem Ziel, bestimmte Bewusstseinsinhalte zu wecken oder zu unterdrücken.“ (Bußmann 1990: 713)

In diesem Sinne ist Sprachenpolitik die Ausübung staatlicher Einflussnahme auf den Sprachengebrauch und die Sprachenverwendung in einem Land oder einer Region. Sprachenpolitik kann zudem als politisch motivierter Eingriff in die sprachliche Situation einer Gesellschaft verwendet werden:

„Sprachenpolitik sieht sich der Problematik gegenüber, mindestens zwei oder mehrere Sprachen in einem Staat in ein Gleichgewicht zu bringen.“ (Haarmann 1988: 1661)

Die Möglichkeit des Missbrauchs der Sprachenpolitik für andere politische Ziele liegt auf der Hand: insbesondere sprachlichen Minderheiten gegenüber (vgl. dazu die „Charta der Regional- und Minderheitensprachen als Gegenentwurf des Europarates“, Europarat 1992). In einer Stellungnahme von 2005 hat die Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) auf die vielfach missachteten Minderheitensprachen in Europa hingewiesen:

„In Frankreich haben die Verfassungsgerichte die Ratifizierung der Charta der Regional- und Minderheitensprachen und damit auch die Anerkennung der Vielsprachigkeit des Landes abgelehnt. Eine Umfrage unter 380000 französischen Staatsbürgern ergab, dass statistisch betrachtet 26 Prozent oder 11,5 Millionen Staatsbürger Frankreichs eine andere Sprache als die französische sprechen. Etwa zur Hälfte ist dies eine Minderheitensprache und zur Hälfte die eines anderen Landes. Im Dezember 2002 hat der Staatsrat entschieden, dass Französisch die einzige Unterrichtssprache ist. Diese Entscheidung hat Viele enttäuscht, insbesondere in der Bretagne, wo zahlreiche Modellschulen zweisprachig in bretonisch und französisch unterrichten. Auch andere Gegenden sind betroffen, so erhalten 8679 Schüler eine zweisprachige Erziehung mit Elsässisch, 3509 in Okzitanisch und 766 in Kalatanisch. Diese Entscheidung bedroht diese Sprachen in ihrer Existenz, insbesondere wenn man das Profil der Angehörigen von Minderheitensprachgruppen bedenkt. Mehr als die Hälfte aller, die Bretonisch sprechen, sind älter als 65 und 75 Prozent älter als 50.“ (Gesellschaft für bedrohte Völker 2005: ohne Seitenangabe)

Das Zusammenspiel von Sprachen in einem Land und seiner Gesellschaft (Sprachengemeinschaften) spielt eine wesentliche Rolle bei der Identitätsbildung. Die Sprachenpolitik ist, laut Louis-Jean Calvet (1996) im folgenden Zitat (Übersetzung durch die Verfasserin), die Sprachplanung, die sich in der Bestimmung der bedeutenden Entscheidungen bezüglich der Beziehungen zwischen Sprachen und Gesellschaft und ihrer konkreten Umsetzung manifestiert:

« […] détermination des grands choix en matière de relations entre langues et société […] » [et sa] « mise en pratique. » (Calvet 1996: 3)

Sprachenpolitik reguliert das Miteinander der Sprachen durch Sprachpflege ebenso wie Sprachförderung. Seit den Anfängen des zusammenwachsenden Europas nach dem zweiten Weltkrieg wird eine gemeinsame europaweite Sprachenpolitik politisch gewollt und vorangetrieben. Zwei große Institutionen spielen dabei eine wichtige Rolle, es sind die Europäische Union und vor allem der Europarat, die zwei unabhängige Organisationen der internationalen europäischen Politik sind. Während die Europäische Union erst 1951 mit der Gründung der Europäischen Gemeinschaft ihren Anfang nahm, besteht der Europarat, der durch den Vertrag von London gegründet wurde, bereits seit Mai 1949. Die Europäische Union lenkt heute die Geschicke von 28 Mitgliedstaaten (vgl. EU Länder 2017). Im Vergleich repräsentiert der Europarat 47 Staaten in Europa. Die Europäische Union ist seit ihrer Gründung traditionell stärker auf wirtschaftliche Zusammenarbeit ausgelegt, sie trägt folglich der Mehrsprachigkeit eher formal Rechnung, wohingegen der Europarat schon immer ein Garant für eine starke Sprachen- und Kulturpolitik in Europa war und ist (vgl. hierzu Informationen vom Conseil de l'Europe und der Union Européenne2007).

Durch den Europarat gegründet befassen sich zahlreiche weitere Unterorganisationen noch detaillierter mit der Ausrichtung der europäischen Sprachenpolitik. Die „Unité des Politiques Linguistiques“ in Straßburg existiert seit 1957 und ist für die Konzeption und Koordination der Sprachpolitik des Europarates federführend.

Bereits in der Gründungsphase des Europarates (1949) und der Europäischen Gemeinschaft wurden die Wichtigkeit der Sprachenfrage erkannt und grundsätzliche Regelungen vertraglich festgehalten. Seit 1957 war der Gedanke der europäischen Mehrsprachigkeit immer wieder ausdrücklicher Bestandteil von Gründungs- und Vertragstexten der Europäischen Gemeinschaft bzw. der Europäischen Union. In diesem Sinne existiert seither auch eine Kommission zur Mehrsprachigkeit (vgl. u.a. Jostes 2006; Europäische Union 2007; Council of Europe 2007).

Dennoch genießt die Sprachenpolitik größere Aufmerksamkeit seitens des Europarates. Im Rahmen des Schutzes der Menschenrechte in Europa spielt ebenfalls der Erhalt und Austausch der europäischen Sprachen und Minderheitensprachen für die älteste europäische Organisation eine wichtige Rolle (vgl. umfangreiche Darstellung der Sprachenpolitik des Europarats in: Jostes 2005 und 2006). In diesem Zusammenhang ist die „Europäische Charta der Regional- oder Minderheitensprachen“ bedeutsam, wo es in der Präambel aus dem Jahr 1992 heißt, dass die unterzeichnenden Mitgliedsstaaten die jeweiligen Regional- oder Minderheitensprachen schützen werden und begründen dies:

„[…] in der Erwägung, daß es das Ziel des Europarats ist, eine engere Verbindung zwischen seinen Mitgliedern herbeizuführen, um insbesondere die Ideale und Grundsätze, die ihr gemeinsames Erbe bilden, zu wahren und zu fördern;

in der Erwägung, daß der Schutz der geschichtlich gewachsenen Regional- oder Minderheitensprachen Europas, von denen einige allmählich zu verschwinden drohen, zur Erhaltung und Entwicklung der Traditionen und des kulturellen Reichtums Europas beiträgt.“ (Conseil de l’Europe 1992; Hervorhebungen im Text)

Bei der Vielzahl der Entwicklungen in der Geschichte der europäischen Sprachenpolitik sind einige Ereignisse besonders hervorzuheben, die weitreichende Folgen bis in den Fremdsprachenunterricht in der Schule haben. Ein erster Meilenstein ist das „Europäische Kulturabkommen“ des Europarates von 1954, das insbesondere das Studium von Sprachen, Geschichte und Landeskunde der Staaten Europas anregen möchte, wie es folgender Auszug aus der europäischen kulturellen Konvention hervorhebt (vgl. u.a. Europarat 1954: 1; Council of Europe 2007):

Each Contracting Party shall, insofar as may be possible,

a encourage the study by its own nationals of the languages, history and civilisation of the other Contracting Parties and grant facilities to those Parties to promote such studies in its territory, and

b endeavour to promote the study of its language or languages, history and civilisation in the territory of the other Contracting Parties and grant facilities to the nationals of those Parties to pursue such studies in its territory. (Council of Europe 2007: 34; Absatzmarkierungen im Text)

Eine erste praktische Umsetzung bedeutete in der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) der Artikel 149 des Gründungsvertrags (1957), der im Bildungswesen durch das Erlernen und die Verbreitung der Sprachen der Mitgliedstaaten in Europa die europäische Einigung institutionell vorantreiben sollte. Ein Jahr später wurden die offiziellen Sprachen der Mitgliedstaaten als gleichberechtigte Amts- und Arbeitssprachen anerkannt. Diese Verordnung gilt als Richtlinie für die weiteren sprachpolitischen Aktivitäten der Gemeinschaft. Ab 1992 ist es jedem europäischen Bürger möglich, den Schriftverkehr mit den europäischen Institutionen in seiner Muttersprache abzuwickeln. Zugleich tritt die „Charta der Regional- und Minderheitensprachen“ in Kraft (vgl. dazu auch Lebsanft & Wingender 2012), die vom Europarat ratifiziert wird und seitdem allgemein als richtungsweisend in Europa erachtet wird.

Seit die Europäische Union gegründet wurde, hat sie immer wieder Fragen zu Sprachen, ihrer Bedeutung und ihrer Förderung thematisiert. Im Vertrag von Maastricht im Jahr 1992 wurden die Entwicklung individueller Mehrsprachigkeit sowie auch das Sprachenlernen – in erster Linie die „großen“ Nationalsprachen der Gemeinschaft – in den Blick genommen. So heißt es in Artikel 126 folgendermaßen:

„Die Gemeinschaft trägt zur Entwicklung einer qualitativ hochstehenden Bildung dadurch bei, daß sie die Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten fördert und die Tätigkeit der Mitgliedstaaten unter strikter Beachtung der Verantwortung der Mitgliedstaaten für die Lehrinhalte und die Gestaltung des Bildungssystems sowie der Vielfalt ihrer Kulturen und Sprachen erforderlichenfalls unterstützt und ergänzt. Die Tätigkeit der Gemeinschaft hat folgende Ziele: Entwicklung der europäischen Dimension im Bildungswesen, insbesondere durch Erlernen und Verbreitung der Sprachen der Mitgliedstaaten.“ (Amtsblatt der europäischen Gemeinschaften 1992: C 191/01)

Im Jahr 1995 verkündet die „Charte Européenne de l’Éducation Plurilingue“ des Conseil Européen des Langues1 als wichtigste Zielsetzung, dass ein Minimum von zwei modernen Fremdsprachen von einer möglichst großen Zahl von europäischen Bürgerinnen und Bürgern erlernt werden soll (vgl. Meißner & Reinfried 1998). In diesem Zusammenhang sei Mehrsprachigkeit innerhalb der Europäischen Union "[…] ein Lernziel von hoher Verbindlichkeit" (Meißner & Reinfried 1998: 11).

Einige Jahre später – im Jahr 2000 – unterzeichnen die Präsidenten des Europäischen Parlaments, des Europarats und der Kommission die „Charta der Grundrechte der Europäischen Union“, die unter anderem die Achtung der Vielfalt der Kulturen, Religionen und Sprachen in Europa betont und jegliche Diskriminierung einzelner (Minderheiten-)Sprachen verbietet (Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften 2000, Artikel 21–22). Zwei Jahre später findet ein erster Europäischer Tag der Sprachen statt. Jedes Jahr sollen an diesem Tag aktuelle Fragen zum Thema „Sprache in Europa“ diskutiert werden. Der Ministerrat definierte dann 2002 in Barcelona konsequent das Ziel, dass jeder europäische Bürger seine Muttersprache plus zwei andere Sprachen beherrschen solle, was der Auslöser für eine aktive Förderung (z.B. Sprachprogramme) war (vgl. Kommission der Europäischen Gemeinschaften 2002: 3).

Mit dem europäischen Jahr der Sprachen 2001 setzt sich nach und nach der Begriff der Mehrsprachigkeit durch. Eine im selben Jahr veröffentlichte, wichtige Initiative des Europäischen Rates und richtungsweisende Publikation ist der „Gemeinsame Europäische Referenzrahmen für Sprachen“ (GER) (Trim et al. 2001), der für Sprachlehrende und -lernende als umfangreiche Empfehlung zu verstehen ist. Der GER behandelt das Thema des Spracherwerbs, der Sprachanwendung und der Sprachkompetenz von Lernenden. Er stellt überdies den Plurilingualismus ins Zentrum der Reflexion – sowohl als erzieherisches als auch als politisches Projekt – im Dienste und zur Weiterentwicklung der demokratischen verfassten Staaten und ihrer Bevölkerung in Europa (vgl. Europarat 2001: 16).

Im November 2005 legte die europäische Kommission dann eine erste Mitteilung zum Thema Mehrsprachigkeit in Europa unter dem Titel „Eine neue Rahmenstrategie für Mehrsprachigkeit“ (Kommission der Europäischen Gemeinschaften 2005) vor.

Die beiden großen europäischen Institutionen – der Europarat und die Europäische Union – haben sich in der Sprachenpolitik die Mehrsprachigkeit zum Ziel gesetzt und verschiedene Projekte zu deren pädagogischer Förderung initiiert. Die allgemeinen Zielsetzungen des Europarates bestehen in ihren Grundsätzen seit dem Europäischen Kulturabkommen; Die Europäische Union orientiert sich daran ebenfalls maßgeblich. Der Europarat hat es sich zur Aufgabe gemacht, Völkerverständigung, Demokratie und soziale Zusammengehörigkeit in Europa sowie die sprachliche Vielfalt und das Sprachenlernen im Bereich der Bildung zu fördern.

Das Ziel der Mehrsprachigkeit und einer mehrsprachigen Erziehung – so der Council of Europe 2007 in der englischen Fassung seiner sprachenpolitischen Erklärung – meint nicht das gleichzeitige Unterrichten einer Reihe von Sprachen, das Unterrichten durch den Vergleich verschiedener Sprachen oder noch das Unterrichten so vieler Sprachen wie möglich. Vielmehr geht es hier darum, eine mehrsprachige Kompetenz und eine interkulturelle Bildung zu entwickeln, im Sinne des friedlichen Zusammenlebens und einer sozialen Kohäsion:

“The aim of plurilingualism and plurilingual education is not simultaneously teaching a range of languages, teaching through comparing different languages or teaching as many languages as possible. Rather, the goal is to develop plurilingual competence and intercultural education, as a way of living together.” (Council of Europe 2007: 18)

Denn in einer Epoche der immer größer werdenden Mobilität, der Globalisierung und des Zusammenwachsens Europas haben sich die Anforderungen an die heutige Lernwelt grundlegend verändert (vgl. z.B. Meißner & Reinfried 1998). In einem multilingualen Europa und einer globalisierten Welt erfährt die Kenntnis fremder Sprachen eine zunehmend stärkere Aufmerksamkeit. Die Beherrschung oder zumindest das Verständnis der Sprachen der (europäischen) Nachbarn soll zur Ausbildung einer europäischen Identität und zur Friedenssicherung beitragen (vgl. Ahrens 2004: 14). Dabei werden die rund 220 geschätzten Sprachen in der europäischen Gemeinschaft nicht als Hindernis, sondern als Reichtum, als kulturelles Erbe angesehen, welches es zu schützen gilt (vgl. dazu Wiater 2006: 57 und Europäische Union 2007: 11).

In jedem Fall wird aber die individuelle Mehrsprachigkeit der europäischen Mitglieder von der europäischen Kommission als zu erreichendes Erziehungsziel erklärt, dessen Konkretisierung im Jahr 1995 im Weißbuch festgehalten wurde (vgl. Europäische Kommission 1995: 62). Der Europarat legt jedem europäischen Bürger nahe, das ganze Leben lang Sprachen aktiv zu lernen und zu sprechen und somit beständig die „europäische Idee“ der kulturellen Vielfalt zu leben. Zu diesem Zweck sei es notwendig, dass den Sprechern Mittel und Werkzeuge zur Einschätzung des eigenen Sprachvermögens und der kommunikativen Kompetenzen an die Hand zu geben; wichtige Errungenschaften des Europarats sind das europäische Sprachenportfolio oder noch der „Gemeinsame Europäische Referenzrahmen für Sprachen“.

Resümierend ist festzuhalten, dass die Sprachenpolitik des Europarats folgende Zielsetzungen für jeden einzelnen europäischen Bürger vorantreiben will:

LEPLURILINGUISME: tous les citoyens européens ont le droit d’acquérir un niveau de compétence communicative dans plusieurs langues, et ce, tout au long de leur vie, en fonction de leurs besoins

LADIVERSITELINGUISTIQUE: L’Europe est un continent multilingue et toutes ses langues ont la même valeur en tant que moyens de communication et d’expression d’une identité. Les Conventions du Conseil de l’Europe garantissent le droit d’utiliser et d’apprendre des langues

LACOMPREHENSIONMUTUELLE: La communication interculturelle et l’acceptation des différences culturelles reposent fortement sur la possibilité d’apprendre d’autres langues

LACITOYENNETEDEMOCRATIQUE: la participation aux processus démocratique et social dans des sociétés multilingues est facilitée par la compétence plurilingue de chaque citoyen

LACOHESIONSOCIALE: l’égalité des chances en matière de développement personnel, d’éducation, d’emploi, de mobilité, d’accès à l’information et d’enrichissement culturel dépend de la possibilité d’apprendre des langues tout au long de la vie. (Conseil de l’Europe 2014: ohne Seitenangaben; Hervorhebungen im Text)

Die Sprachenpolitik in Europa fußt noch immer auf der ursprünglichen Grundüberzeugung des Europarats, der es sich seit seinem Bestehen zur Aufgabe gesetzt hat, den Erwerb eines hohen kommunikativen Kompetenzniveaus aller europäischen Bürgerinnen und Bürger voranzutreiben. Diese Initiative basiert zudem auf der verstärkten Mobilität und Zusammenarbeit auf europäischer und internationaler Ebene. Die Grundidee hat dabei bis heute ihre Aktualität in Zeiten der Globalisierung nicht verloren. Um am politischen, sozialen und wirtschaftlichen Leben teilzunehmen, sei das Beherrschen mehrerer Sprachen besonders im vielsprachigen Europa fast unvermeidbar geworden. Die Vielfalt der Sprachen wird als etwas Positives und Schützenswertes betrachtet. Für den Europarat ist Mehrsprachigkeit Garant für eine starke Demokratie und gesellschaftliche Einheit. Zudem ist Mehrsprachigkeit auch Voraussetzung für den interkulturellen Austausch im 21. Jahrhundert, der nicht zuletzt helfen soll, alte Grenzen, dank einer Sprachenvielfalt, zu überwinden (vgl. dazu Conseil de l’Europe 2014). Deshalb wird angestrebt, die europäischen Bürgerinnen und Bürger lebenslang, je nach Kommunikations- und Interaktionsbedarf, zum Zwecke einer größeren Mobilität und eines besseren gegenseitigen Verstehens und Zusammenarbeitens die notwendigen Voraussetzungen zur Kommunikation in jeder anderen Gemeinschaftssprache im Sinne einer funktionalen Mehrsprachigkeit entwickeln können, die sich in dem Aufbau folgender Kompetenzen niederschlägt:

Die europäischen Bürgerinnen und Bürger sollen zum Ersten kommunikative, darunter linguistische Kompetenzen2 für den persönlichen, publiken, schulischen und ebenfalls den professionellen Bereich erwerben; zum Zweck der Kommunikation sollen sie darüber hinaus pragmatische Kompetenzen erlangen, die eine angemessene Kenntnis und Bewältigung der sozialen Dimensionen des (verständlichen) Sprachgebrauchs umfasst;

Zum anderen sollen sie allgemeine Kompetenzen wie allgemeines Weltwissen und soziokulturelles Wissen, Fertigkeiten zur Vermittlung zwischen verschiedenen Kulturen, Lernfähigkeiten und Persönlichkeitskompetenz besitzen. (vgl. dazu Wiater 2006: 57)

Sowohl im sozialen als auch im bildungspolitischen Diskurs wird deutlich hervorgehoben, dass eine migrationsbedingte Mehrsprachigkeit eine wertvolle Ressource für das schulische Lernen, für Sprachbewusstheit, für die persönliche Entwicklung und interkulturelles Lernen darstelle und in diesem Sinn zu begreifen sei (vgl. z.B. Fürstenau 2011: 25).

Jedoch entsprechen die Migrantensprachen meistens nicht dem offiziellen, schulischen Sprachenkanon, werden gesellschaftlich nicht besonders wertgeschätzt und folglich in der Schule auch nicht eingebunden (vgl. Fürstenau et al. 2017: 49). Und Adelheid Hu (2010) konstatiert:

„Während für die Schüler/innen Mehrsprachigkeit und sprachlich-kulturelle Identität zentrale Kategorien darstellten, spielten diese für die Fremdsprachenlehrer/innen kaum eine Rolle.“ (Hu 2010: 67)

Brigitte Jostes weist zu Recht kritisch darauf hin, dass die sprachenpolitischen Vorgaben der verschiedenen europäischen Institutionen, die sie mit dem Globalziel „effektive Kommunikation“ (Jostes 2005: 28) bezeichnet, bei der entscheidenden Frage nach den Kriterien im Repertoire der sprachlichen Fähigkeiten unentschieden bleiben und die Globalziele auf personale Kompetenzen abzielen, bzw. den kommunikativen Verwertungsaspekt zu sehr in den Mittelpunkt stellen.

„Mit „effektiver Kommunikation“ als einzigem Ziel jeglichen Sprachenlernens – und so hat es den Anschein, Begründung des menschlichen Sprachbesitzes schlechthin – kommt erstens bei dieser „Komplementarität, Gleichwertigkeit und Gleichberechtigung aller Sprachen“ eine „affektive, identifikatorische, sozialisierende und enkulturierende Rolle einer oder mehrerer Muttersprachen“ überhaupt nicht in den Blick. Aus dem Blick gerät zweitens der andere Sprachgebrauch, der nicht auf „effektive Kommunikation“ abzielt und den Humboldt als den „rednerischen“ bezeichnet. Erst dieser Sprachgebrauch, in dem die Sprache „als Sprache“ erscheint, liefert doch dem Leitbild der Mehrsprachigkeit seinen zugrundeliegenden Begründungszusammenhang.“ (Jostes 2005: 28f.; Hervorhebungen im Text)

Diese Kritik verweist auf die Bemerkungen von Jürgen Trabant, der anmahnt:

„Ich meine damit, […] daß man fremde Sprachen nicht nur zum effektiven Kommunizieren lernt – das machen wir ja schon mit dem Englischen –, sondern daß man sich eine andere europäische Sprache wirklich als einen Kulturgegenstand zu eigen macht, daß man eine fremde Sprache als einen Bildungsgegenstand erwirbt.“ (Trabant 2005: 103)

Trabant ist weiterhin als kritische Stimme zu lesen, wenn er 2001 am Beispiel der Wissenschaftssprachen und der Wissensgesellschaft das Funktionieren und die Umsetzbarkeit der genannten europäischen Ziele vor dem Hintergrund ökonomischer Zwänge in Zweifel zog und erklärte:

„Daher sollten gerade wir Geistes- oder Kulturwissenschaftler bei der Redeweise von der Wissensgesellschaft genau hinhören. Wir können ja nicht umhin zu bemerken, wie unser Wissen, das Wissen von nahen und fernen Kulturen, Kunstwerken, Texten, vergangenen Zeiten und von Sprachen, zunehmend und rasant gesellschaftlich entwertet wird. Die Funktion des von uns produzierten Wissens ist ins Gerede gekommen. Sie wird deswegen diskutiert, weil die schönen Zeiten vorbei sind, in denen die Produktion des Wissens überhaupt – egal wovon – als kostbar angesehen wurde und von der Gesellschaft auch bezahlt wurde. Nun aber drängen die ökonomischen Zwänge – es sind eher vermeintliche Zwänge, shareholder-Zwänge eben – uns die Diskussion um die Legitimation unseres Wissens auf. Wir müssen uns vor dem Tribunal der zukünftigen Wissensgesellschaft verantworten: Nicht jedes Wissen ist da mehr willkommen und folglich finanzierbar, sondern offensichtlich nur noch solches, das der unmittelbaren Reproduktion des geld-generierenden Wissens dient. Warum sollte da z.B. – um ein Beispiel fernerliegenden Sprachwissens zu geben – einer Lateinisch oder Nahuatl studieren? Wie schnell sind dann auch das Erlernen des Französischen und das Studium der französischen Literatur und Sprache kaum mehr zu rechtfertigen.“ (Trabant 2001: 59)

Mit diesem kurzen historischen Abriss lässt sich bereits zeigen, dass eine Erziehung zur Mehrsprachigkeit in Europa – politisch und sprachenpolitisch gesehen – am Ende des 20. Jahrhunderts an zentraler Bedeutung gewonnen hat und politisch gewollt ist, dass aber die Umsetzung dieser politischen Vorgaben keineswegs einfach zu realisieren ist und mit gesellschaftlichen Widerständen zu kämpfen hat.

2.2Zweisprachigkeit – Mehrsprachigkeit: Annäherung an eine Begrifflichkeit

Als eine Folge zunehmender gesellschaftlicher Globalisierungsprozesse haben Zwei- und Mehrsprachigkeit in den letzten Jahrzehnten den genannten Bedeutungszuwachs erfahren. Durch die Integrationsprozesse in der Europäischen Union werden mehrsprachige Kompetenzen auf Seiten der Bürgerinnen und Bürger der europäischen Länder erforderlich, wenn sie, im weitesten Wortsinn, geschäftlich miteinander in Beziehungen treten. Selbst wenn die Rolle des Englischen als Lingua franca für die Verständigung zwischen den Menschen nicht in Frage zu stellen ist, zielen die Vorstellung einer europäischen Mehrsprachigkeit mit ihrem zusätzlichen kommunikativen Wert weit darüber hinaus. Auch die Förderung von Regional- und Minderheitensprachen rückte in den letzten Jahren verstärkt in den Blickpunkt der Europäischen Union. Mit Sprach-Schutz-Programmen wird versucht, bisher an den Randgedrängte, unterdrückte oder im Niedergang befindliche Sprachen zu revitalisieren.

Zur Diskussion um die Rolle des Englischen kritisiert der Romanist und Sprachwissenschaftler Jürgen Trabant dies als eine Scheindiskussion:

„Die Frage tut so, als ob sie noch offen wäre. Die Frage ist natürlich längst beantwortet. Welche Sprache für Europa? Natürlich Englisch, globales Englisch, die Sprache der Welt oder, wie ich es nenne, Globalesisch. Globalesisch ist trotz aller französischen Eindämmungsversuche die Sprache der EU, zunehmend auch in den Korridoren und Büros in Brüssel und Straßburg.“ (Trabant 2005: 91)

Er charakterisiert ein so verstandenes, effektives Geschäftsenglisch als „Sprachenkiller“, weil es als internationale Kommunikationssprache die anderen Sprachen in ihrem Inneren bedrohe (vgl. Trabant 2005: 93). Auch könnten Menschen keine engere geistige und emotionale Bindung und Beziehung zu einer reinen Verkehrssprache aufbauen. Dieser Vorstellung stellt er das Modell der drei Sprachen gegenüber, unter denen er die Muttersprache für die jeweils eigene Identität, die praktische, internationale Kommunikationssprache und schließlich die weitere Sprache zum Verstehen des europäischen Anderen subsumiert.

Entgegen ersten Vorstellungen einer Lingua franca hat die Europäische Union sich auch zum Ziel gesetzt, die Mehrsprachigkeit ihrer Bürgerinnen und Bürger zu fördern (Muttersprache + 2) und möglichst früh mit einer gezielten Fremdsprachenförderung zu beginnen (vgl. Hufeisen 1998), denn das Phänomen europäischer Mehrsprachigkeit wird längst als der Regel- bzw. Normalfall im 21. Jahrhundert angesehen, während Zweisprachigkeit eher als Sonderfall der Mehrsprachigkeit verstanden wird (vgl. Trim; North & Coste 2001: 17 und Lutjeharms 2009: 19).

Um die Möglichkeiten zur Erfüllung dieses Ziels zu untersuchen, gilt es im Folgenden zunächst zu klären, was unter jenen Begriffen der Zwei- und Mehrsprachigkeit zu verstehen ist, und in welchen Formen sie sich hier äußern.

Es mag auf den ersten Blick einfach erscheinen: Mehrsprachigkeit heißt, mehrere Sprachen zu beherrschen. Doch schon eine solche – sehr einfach formulierte – Erklärung ist problematisch und keinesfalls so klar, wie sie auf den ersten Blick scheint. Denn Mehrsprachigkeit, so machen etliche Forscher deutlich, ist beileibe kein klares Konzept und es gibt zahlreiche, unterschiedliche Kategorisierungen dieses Konzept (vgl. u.a. Bertrand & Christ, 1990; Meißner, 1993; de Cillia 2010; Bär, 2004; Boeckmann et alii 2012: 79).

So weist exemplarisch eine Reihe von Forscherinnen und Forschern (z.B. Beacco & Byram 2007: 17; Riehl 2009; Hu 2011; Boeckmann et alii 2012) auf die im „Gemeinsamen europäischen Referenzrahmen für Sprachen“ (Europarat 2001) vorgenommene Unterscheidung von Plurilingualismus (individuelle, persönliche Mehrsprachigkeit) und Mehrsprachigkeit / Vielsprachigkeit (gesellschaftliche Mehrsprachigkeit) hin. Diese begriffliche Unterscheidung wird allerdings in den meisten Beiträgen nicht übernommen1; vielmehr geht es hauptsächlich um die persönliche Mehrsprachigkeit, die immer in gesellschaftlich mehrsprachigen Kontexten entwickelt bzw. gefördert werden soll. Doch auch die persönliche Mehrsprachigkeit lässt sich nicht ohne Weiteres konzeptuell erfassen. So widmet sich die Forschung einerseits der so genannten "lebensweltlichen Mehrsprachigkeit" und Fragen zur damit zusammenhängenden gesellschaftlichen Multikulturalität bzw. zur Mehrsprachigkeit in Migrationsgesellschaften (Hu 2003; Krumm 1994; Gogolin 2001; Fürstenau 2011; Lengyel 2017). Weitere Forscherinnen und Forscher (z.B. Hu 2004; Mordellet-Roggenbuck 2009; Jakisch 2014, 2015; Heydt & Schädlich 2015) beschäftigen sich schwerpunktmäßig mit dem schulischen bzw. institutionellen Fremdsprachenlernen, das zur individuellen Mehrsprachigkeit führen soll.

2.2.1Zweisprachigkeit

In der umfangreichen Literatur zu dem komplexen Thema der Zweisprachigkeit bzw. des Bilingualismus findet sich eine große Vielfalt von Definitionen und Herangehensweisen der einzelnen Autorinnen und Autoren sowie verschiedenste Untersuchungen zu einzelnen Aspekten des Zweitspracherwerbs (vgl. Forschungsstand z.B. in: Apeltauer 2001, Ahrenholz 2008; Ahrenholz & Oomen-Welke 2014; Grießhaber 2016). Der Terminus Zweisprachigkeit, der gleichzeitig mit Bilingualismus oder auch Bilinguismus (vgl. Müller; Kupisch; Schmitz & Cantone 2011: 15) sinnverwandt benutzt wird, beschreibt sowohl das Individuum, das Sprecher von mindestens zwei Sprachen ist, die es als Kleinkind im natürlichen Kontext als Muttersprachen simultan erworben hat, als auch die Institutionen und Gesellschaften, in denen dieses Individuum lebt (vgl. Coste; Moore & Zarate 2009: 16). Eine bilinguale Situation tritt dann auf, wenn ein Land, ein Staat oder auch eine Gegend zweisprachig ist, und wenn Angehörige zweier unterschiedlicher Ethnien in engem Kontakt zusammenleben und untereinander kommunizieren (vgl. Zydatiß 2010: 339).

Je nach Wissenschaftsdisziplin wie beispielhaft in der Erziehungswissenschaft, der Psychologie, der Soziologie, der Sprachwissenschaft sowie auch der Zweitsprachenerwerbsforschung wird Zweisprachigkeit als Forschungsfeld unter verschiedenen Aspekten analysiert. Es existiert dementsprechend eine Kumulierung von Definitionsansätzen, die nicht einheitlich erfasst werden können (vgl. dazu Hu 2011: 214). Bilingualismus wird beispielsweise in der Zweitsprachenerwerbsforschung als Form von Mehrsprachigkeit betrachtet (Ebd.).

Wirft man aber einen Blick in die Literatur der Psycholinguistik und der Zweitsprachenerwerbsforschung der vergangenen Dekaden, so werden Menschen als bilingual bezeichnet, wenn sie auch nur mindestens eine der vier Fertigkeiten Hörverstehen, Sprechen, Lesen und Schreiben in einer anderen Sprache als ihrer Muttersprache besitzen, so wie es Macnamara 1967 verdeutlicht:

“[…] I will use the term bilingual of persons who possess at least one of the language skills even to a minimal degree in their second language.” (Macnamara 1967: 59f.)

Eine entgegengesetzte Position vertritt Bloomfield (1976, 1984), der für das Vorliegen von Bilingualismus höhere Kompetenzen voraussetzt, und ihn demzufolge als quasi muttersprachliche Beherrschung von zwei Sprachen charakterisiert: "[…] the native-like control of two languages" (Bloomfield 1984: 56). Seiner Auffassung nach gehört ein annähernd muttersprachlicher Perfektionsgrad dazu, um als zweisprachig betrachtet zu werden.

Was Edwards (1994) angeht, so ist dieser einer ähnlichen Auffassung bezüglich des Bilingualismus wie Macnamara und unterstreicht, dass „Everyone [sic] als bilingual“ bezeichnet wird (Edwards 1994: 55). Für Edwards genügen bereits geringe Kenntnisse in einer Fremdsprache, um als zweisprachig zu gelten und zwar unabhängig davon, ob diese Kenntnisse ausschließlich in einem bestimmten Bereich, wie dem Mündlichen, ausgebildet sind (vgl. auch Aronin & Singleton 2012: 1f.).

Diese dichotomen Sichtweisen verdeutlichen, wie umstritten die Abgrenzungsproblematik betreffs des Bilingualismus ist (vgl. Wode 1985: 36) und wie weit diese Aussagen ebenfalls auf den Plurilingualismus übertragbar sind (vgl. Christ 2004: 31). Bloomfields Position wurde in den darauffolgenden Jahren als überholt angesehen, so Wode (1995); vielmehr öffnen sich Publikationen in der Tertiärsprachenforschung und der Fremdsprachendidaktik den eher weiter gefassten Begriffen von Zwei- bzw. Mehrsprachigkeit (vgl. Wode 1995: 36; Hu 2011: 11).

Gegenwärtige Begriffsbestimmungen für die individuelle Zweisprachigkeit – per exemplum Coste, Moore und Zarate (2009) – beschreiben damit Einzelpersonen, die eine Sprachbeherrschung in zwei linguistischen Codes aufweisen, welche im Idealfall auf annähernd gleichem Niveau sind.

Eine aktuelle Definition von Zweisprachigkeit erfordert jedoch mehr Flexibilität und muss verschiedene Aspekte berücksichtigen. Der ideale Muttersprachler (Trim; North & Coste 2001: 17) als maximale Anforderung betreffend der Sprachkompetenz gilt nicht mehr als das Maß der Dinge, so wie im Verständnis von Bloomfield (vgl. Definition von Bloomfield1 [1933] 1984: 55f.).

Fäckes Definition (2010) erscheint einleuchtender und trifft die Unterscheidung zwischen individueller und gesellschaftlicher Zweisprachigkeit. Erstere wird noch einmal in simultane oder primäre Zweisprachigkeit und sukzessive oder sekundäre Zweisprachigkeit unterteilt (Fäcke 2010: 86