Mehrsprachigkeit in der Literatur -  - E-Book

Mehrsprachigkeit in der Literatur E-Book

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Beschreibung

Der Band versammelt 12 Beiträge, die verschiedene Aspekte literarischer Mehrsprachigkeit in den Fokus rücken. So wird das Potenzial mehrsprachiger Texte zur Erneuerung literarischer Formen analysiert. Literarische Übersetzungsstrategien sowie Momente der Intertextualität und Intermedialität bilden einen weiteren Schwerpunkt. Schließlich beleuchten die Beiträge Sprachbilder und Komposita, die aus anderen Sprachen übertragen oder neu gebildet werden. Gemeinsam ist all diesen Schreibverfahren, dass sie sprachliche Automatismen hinterfragen - dadurch eröffnen sich kritische Perspektiven auf sprachliche Formen und Inhalte sowie auf die Materialität von Sprache. Konventionelle Sprachregeln werden kritisch untersucht, neu gedacht, überschritten oder auf den Kopf gestellt und das auf eine spielerische Weise - mehrsprachige Texte erweitern somit das Set der Spielregeln. Die Beiträge untersuchen diese Schreibpraktiken bei Albert Drach, Johann Wolfgang von Goethe, Kurt Lanthaler, Klaus Modick, Karl Philipp Moritz, Herta Müller, Jean Paul, Yael Ronen, Yoko Tawada, Vladimir Vertlib, Olivia Wenzel, Uljana Wolf und Stefano Zangrando.

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Seitenzahl: 700

Veröffentlichungsjahr: 2023

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Áine McMurtry / Barbara Siller / Sandra Vlasta

Mehrsprachigkeit in der Literatur

Das probeweise Einführen neuer Spielregeln

 

Die Publikation erfolgte mit freundlicher Unterstützung durch das King’s College London und das College of Arts, Celtic Studies and Social Sciences am University College Cork.

 

DOI: https://doi.org/10.24053/9783772057830

 

© 2023 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KGDischingerweg 5 • D-72070 Tübingen

 

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetztes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

 

Alle Informationen in diesem Buch wurden mit großer Sorgfalt erstellt. Fehler können dennoch nicht völlig ausgeschlossen werden. Weder Verlag noch Autor:innen oder Herausgeber:innen übernehmen deshalb eine Gewährleistung für die Korrektheit des Inhaltes und haften nicht für fehlerhafte Angaben und deren Folgen. Diese Publikation enthält gegebenenfalls Links zu externen Inhalten Dritter, auf die weder Verlag noch Autor:innen oder Herausgeber:innen Einfluss haben. Für die Inhalte der verlinkten Seiten sind stets die jeweiligen Anbieter oder Betreibenden der Seiten verantwortlich.

 

Internet: www.narr.deeMail: [email protected]

 

ISSN 2627-9010

ISBN 978-3-7720-8783-7 (Print)

ISBN 978-3-7720-0247-2 (ePub)

Inhalt

Einleitung. Das probeweise Einführen neuer SpielregelnLiterarische und nichtliterarische Mehrsprachigkeitsforschung – Überlegungen zur Analyse von mehrsprachigen Texten1. Mehrsprachigkeit in Sprach- und Literaturwissenschaft2. Schnittstellen: Literatur – Linguistik – Mehrsprachigkeit3. „die rache der sprache ist das gedicht“ – zwischen grammatischer Regelmäßigkeit und poetischer SprachinventionSpiegel im eigenen Wort. Beispiele der Selbstübersetzung in der transkulturellen deutschsprachigen Literatur1. Einleitung2. Yoko Tawada3. Vladimir Vertlib4. Weitere Beispiele4.1. Franco Biondi4.2 Yüksel Pazarkaya4.3 Zwetelina Damjanova5. Fazit„Nichts habe ich häufiger hier gehört, als den Ausdruck: never mind it!“ – Reiseberichte vom Ende des 18. bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts als mehrsprachiges Genre1. Mehrsprachige AutorInnen von Reiseberichten2. Manifeste Mehrsprachigkeit im Reisebericht3. Formen latenter Mehrsprachigkeit im Reisebericht4. Zum AbschlussJean Pauls Poetik der Anderssprachigkeit1. Jean?2. Reinheit als Vielfalt3. Witz und Doppelwörter4. Fruchtbare MonstrenIntensivierte Sprachigkeit und Vielstimmigkeit in Das Delta und Il delta von Kurt Lanthaler und Stefano Zangrando: Fortsetzung, Rezeption und Übersetzung1. „Romanzo italiano scritto in tedesco“ ‒ die Sprachigkeit in Das Delta2. Der Begriff ‚Sprachigkeit‘3. Intensivierte Sprachigkeit, Vielstimmigkeit und Dialogizität in Das Delta4. Das Prinzip der sprachlichen Fortschreibung / Fortsetzung im Das Delta5. Die Rezeption eines vielstimmigenTextes6. Delta 2 – Übersetzung als explizite Fortsetzung und der begrenzte ‚Verlust‘ durch das Prinzip der Fortschreibung7. Das Delta und Il delta – Randpositionen innerhalb der Gegenwartsliteratur„du die fürwörter, ich die fürwaswörter“. Uljana Wolfs Poetik der Beziehung1. in deiner sprache und in meiner: Kippfigur, Fleck, Lauschen2. folgt revolte: bleibt weiter3. oder zu beginn: Text-Anfänge4. gene und ich und laura und sophie[k]eine Sprache des Ankommens: die transatlantische Schreibpraxis von Uljana Wolf1. Kritische Mehrsprachigkeit in Wolfs „alien I : eine insel“2. Eine lyrische Antwort auf Kategorien des Hegemonialdiskurses3. Die Kehrseite des amerikanischen Traums4. Grenzpolitik und Pathologie5. Schluss: „Sprache, die sich zur Stimme emanzipiert“„Eine Frauennase in einem Männergesicht“. Zum Verhältnis von Körper- und Raummetaphern der Mehrsprachigkeit1. Mit Metaphern arbeiten: Methodische Vorüberlegungen2. Körper- und Raummetaphern3. Kreis und Gesicht4. Das zusammengeflickte Gesicht der Mehrsprachigkeit5. Zungen und Augen6. Herta Müller: Hybridität und Doppelbödigkeit7. Yoko Tawada: Durchlässigkeit und ÜberschichtungDie Poetik fluider Bedeutungszuschreibungen in der postmigrantischen mehrsprachigen Gegenwartsliteratur: Olivia Wenzels 1000 Serpentinen Angst und Yael Ronens The Situation1. 1000 Serpentinen Angst – Das Umkreisen passender Bezeichnungen2. Glossodiversität und (Nicht)Verstehen im interkulturellen Kontext3. Yael Ronen und Ensemble: The SituationApplikationen englischsprachiger Popmusik in Texten mit deutscher Basissprache1. Ausgangsbeobachtung und Fragestellung2. Der Fokus: Applikationen3. Warum anderssprachiges Zitatmaterial?4. FazitDas schicksalhaft Einmalige der Sprache. Strategien der Ich- und Weltkonstruktion in der LiteraturEinleitung1. Achillesferse: Identität2. Das medial-konstruktivistische Identitätskonzept von Marijana Kresic3. AusblickAlbert Drachs „Protokolle“ als Beispiel literarisch juristischer Mehrsprachigkeit1.2.3.4.5.Autorinnen und AutorenPersonen- und Sachregister

Einleitung. Das probeweise Einführen neuer SpielregelnSpielregeln, neue1

Ludwig WittgensteinWittgenstein, Ludwig hat die Verbindung zwischen SpielSpiel und Sprache hergestellt und daraus seine Definition für das SprachspielSprachspiel entwickelt. Den Ausgangspunkt bildet dabei zunächst die Betrachtung der Sprache als System, das Augustinus folgend für die Kommunikation ausschlaggebend ist, die vielfältigen Aspekte der Sprache jedoch nicht beschreiben kann, wie WittgensteinWittgenstein, Ludwig sodann veranschaulicht:

Augustinus beschreibt, könnten wir sagen, ein System der Verständigung; nur ist nicht alles, was wir Sprache nennen, dieses System. Und das muß man in so manchen Fällen sagen, wo sich die Frage erhebt: ‚Ist diese Darstellung brauchbar, oder unbrauchbar?‘ Die Antwort ist dann: ‚Ja, brauchbar; aber nur für dieses eng umschriebene Gebiet, nicht für das Ganze, das du darzustellen vorgabst.‘

Es ist, als erklärte jemand: ‚SpielenSpiel besteht darin, daß man Dinge, gewissen RegelnRegeln gemäß, auf einer Fläche verschiebt …..‘ – und wir ihm antworten: ‚Du scheinst an die Brettspiele zu denken; aber das sind nicht alle SpieleSpiel. Du kannst deine Erklärung richtigstellen, indem du sie ausdrücklich auf diese SpieleSpiel einschränkst.‘2

SpielenSpiel wird also zunächst als ein automatisierter Prozess verstanden, in dem der Spieler bestimmten RegelnRegeln folgt, selbst aber keinen ‚Spielraum‘ hat, diese abzuändern, kreativkreativ damit umzugehen oder sogar gegen die Regeln zu verstoßen. Offensichtlich wird dabei ein grundsätzlich entscheidender Aspekt des Spielens, nämlich das Regelsystem, das jedem SpielSpiel zugrunde liegt. Wenn WittgensteinWittgenstein, Ludwig sich dann auf ‚das Ganze‘ bezieht und dabei eine weitläufige Definition des Sprachspiels entwickelt, spricht er von „der Sprache und [den] Tätigkeiten, mit denen sie verwoben ist“3 und auch dem SprachspielSprachspiel in Verbindung mit einer „Lebensform“.4 Spiel hat also auch mit FormenFormen zu tun und gleichzeitig mit einem vergnüglichen und scherzhaften Umgang mit FormenFormen, wenn man die Etymologie des Wortes berücksichtigt. ‚Spiel‘ meint im Alt- und Mittelhochdeutschen unter anderem „Tanz, Zeitvertreib, Scherz, Unterhaltung, Vergnügen, Musik“5. Jedoch selbst die FormenFormen verfügen über ihre eigene „agencyagency“6 und haben ihre ganz spezifischen Bedeutungen oder „affordancesaffordance“7, wie Caroline LevineLevine, Caroline es nennt. Der Begriff „affordancesaffordance“ stammt ursprünglich aus der Psychologie, wanderte dann ins Feld des Designs weiter und findet inzwischen vielfach Verwendung in der Linguistik, insbesondere im Forschungsbereich der Mehrsprachigkeit und des SpracherwerbsSpracherwerb. ‚Affordances’ steht für die Eigenschaft eines Gegenstandes oder einer Umgebung, die dem Individuum Möglichkeiten und ein bestimmtes HandlungspotentialPotential eröffnet: Im Fall der SpracherwerbsforschungSpracherwerb, beispielsweise, bezieht sich der Begriff auf die Lernmӧglichkeiten, die den Lernenden geboten werden und die sie je nach Situation annehmen oder nicht. Angewandt auf die mehrsprachigen Literaturen bedeutet dies, dass deren ästhetische FormenFormen über ihr ganz eigenes PotentialPotential verfügen. Sie stehen in einem Verhältnis zu sozialen FormenFormen8, wenn beispielsweise ein Neologismus herkömmliche Denk- und Lebensmuster in Frage stellt. FormenFormen kӧnnen neue Bedeutungen kreieren, geläufige Denkkategorien hinterfragen und Denkmuster unterlaufen und sind daher flexible ‚Kategorien‘, die für Verӓnderung offen sind und diese auch anregen kӧnnen:

[…] form is about the potentialPotential for transformationTransformation and of an unceasing translation of what surrounds us. As such, form transformsTransformation us and also serves to transformTransformation how we see and read the world.9

Wenn wir also vom probeweisen Einführen neuer SpielregelnSpielregeln, neue sprechen, wollen wir alle diese Bedeutungen des SpielsSpiel und die Funktionen der FormenFormen in unsere Betrachtungen der Sprache(n) in mehrsprachiger Literatur mitaufnehmen: Sprache ist ein auf Konventionen basierendes System mit bestimmten RegelnRegeln und FormenFormen mit ganz spezifischen Bedeutungen, mit denen die SprecherInnen kreativkreativ und spielerischSpiel umgehen und die sie abwandeln können. Dies kann durchaus auch unterhaltsam und scherzhaft sein, wie mehrere der Beitrӓge im folgenden Band darstellen. Der kreativekreativ und innovative Umgang, der – wie Esther KilchmannKilchmann, Esther in ihrem Beitrag ‘Poetik des fremden Worts. Techniken und Topoi heterolingualer Gegenwartsliteratur’ darstellt10– den Blick auf die Sprache deautomatisiertEntautomatisierung oder verfremdetVerfremdung, und, mit Viktor ŠklovskijŠklovskij, Viktor gesprochen den Gramling, DavidStein wieder zum Stein macht, uns also die Bedeutung der Wörter wieder fühlen lässt11, ist ein Kennzeichen von Literatur Schmitz-Emans, Monikagenerell. Der Fokus des vorliegenden Bandes liegt postmonolingualauf Texten mit Deutsch als Basissprache, die mit den Regeln und FormenFormen verschiedener Sprachen spielen, also auf mehrsprachigen Phänomenen in der moderneren deutschsprachigen Literatur. Wie Till DembeckDembeck, Till und Rolf ParrParr, Rolf schon 2017 in ihrer Einleitung zum Handbuch zur Literatur und Mehrsprachigkeit betonten, ist „[i]n der internationalen literatur- und kulturwissenschaftlichen Forschung […] das Interesse an Mehrsprachigkeit in den vergangenen Jahren stark gestiegen.“12 Seit der Jahrtausendwende kann literarische Mehrsprachigkeit als neues Forschungsfeld beschrieben werden.13 Laut DembeckDembeck, Till und ParrParr, Rolf fördere diese Entwicklung „einen wichtigen Zugang zu Phänomenen sprachlicher, kultureller und auch sozialer Differenz“ und öffne ein „erstarkte[s] Interesse an der sprachlichen Struktur der literarischen Textualität“, sowie „die Möglichkeit, die Einschränkungen der nationalphilologischen Betrachtungsweise zu überwinden.“14

Vor diesem Forschungshintergrund und im Kontext des ständig Wolf, Uljanaanwachsenden Feldes zur literarischen Mehrsprachigkeit bietet dieser Band Fallstudien im Bereich der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Im Sinne Esther KilchmannsKilchmann, Esther werfen auch einige der hier versammelten Beiträge „Schlaglichter auf eine verdeckte Geschichte mehrsprachigen Schreibens in der deutschen Literatur“, die immer noch vergleichsweise wenig erforscht ist.15 In den mehrsprachigen Werken im Fokus dieser Studie, so unsere These, ergeben sich durch die Begegnung zwischen verschiedenen Sprachen und SprachvarietätenSprachvarietäten besondere FormenFormen mit ihren eigenen, innovativen SpielregelnRegeln, die im Mittelpunkt der hier versammelten Beiträge stehen. So spricht die mehrsprachige Lyrikerin und Übersetzerin Uljana Wolf zum Beispiel von ihrem „Pendeln zwischen SpielSpiel und Strenge“, wobei die Unsicherheit als „Erkenntnismotor“ für ihre Schreibpraxis gelte.16 Für die japanisch-deutsche Schriftstellerin Yoko Tawada erlaubt die Verwendung der Fremdsprache einen freieren Umgang mit der Sprache, der in ihrem bekannten Bild des Heftklammerentferners vermittelt wird:

In der Muttersprache sind die Worte den Menschen Tawada, Yokoangeheftet, so dass man selten spielerische Freude an der Sprache empfinden kann. Dort klammern sich die Gedanken so fest an die Worte, dass weder die ersteren noch die letzteren frei fliegen können. In einer Fremdsprache hat man aber so etwas wie einen Heftklammerentferner: Er entfernt alles, was sich aneinander heftet und sich festklammert.17

Die SprachkontakteSprachkontakt in diesen Werken haben unterschiedliche formale ErscheinungsformenFormen und verschiedene Funktionen: Es lassen sich zum Beispiel Perspektivenwechsel erzeugen, Distanz zu den Sprachen herstellen, spielerische, subversive und komische Momente generieren und polyvalente Bedeutungen kreativkreativ nutzen. Mehrsprachigkeit kann zur Erneuerung einer Gattung dienen oder auch zur Positionierung oder dem self-fashioning18 der AutorInnen. Auf diese und andere Weisen entstehen durch die Mehrsprachigkeit Brüche, die auf EntautomatisierungEntautomatisierung und VerfremdungVerfremdung von Sprache abzielen und dadurch kritische Funktion haben können. Laut Yasemin YildizYildiz, Yasemin ermögliche die „kritische MehrsprachigkeitMehrsprachigkeit, kritische“ eine alternative Konzeptualisierung der Muttersprache, die sprachliche Herkunft, gemeinschaftliche Zugehörigkeit und affektive Investitionen trenne.19 Yildiz setzt beim problematischen Begriff der multilingualMuttersprache an, um neuere FormenFormen der Mehrsprachigkeit zu untersuchen, die in den letzten Jahren durch erhöhte Migration, globale Bewegungen sowie neue Technologien und Medien zirkulieren und neu wahrgenommen werden können. Wie Esther KilchmannKilchmann, Esther hervorgehoben hat, schlägt Yildiz die Wendung „postmonolingualpostmonolingual“ vor, um die Spannung zwischen der Kritik der Einsprachigkeit und den damit verbundenen Identitätskonzepten einerseits und dem Entwurf Tawada, Yokodieser multilingual orientierten Ordnungen andererseits beschreiben zu können.20 Yildiz argumentiert, dass postmonolingualepostmonolingual Texte das einsprachige Modell nicht umstürzen wollen, aber kritische Perspektiven auf seine Einschränkungen bieten, die neue Verbindungen und Denkmuster ermöglichen, da sie Methoden der SprachwechselSprachwechsel und SprachmischungSprachmischung vorziehen, die nichts mit angeborener, sprachlich determinierter Zugehörigkeit zu tun haben. Der Begriff der „kritischen MehrsprachigkeitMehrsprachigkeit, kritische“ ist bekannterweise auch von anderen Forschern – zum Beispiel im Titel der Zeitschrift Critical Multilingualism Studies, die 2012 von den nordamerikanischen GermanistInnen David Gramling und Chantelle Warner gegründet wurde – aufgenommen worden, um transdisziplinäre Praktiken zu untersuchen, die einerseits Ideologien der EinsprachigkeitIdeologien der Einsprachigkeit zerlegen, andererseits aber kritisch mit dem breitgefächerten Begriff umgehen.21 Für die Aufsätze in diesem Band ist dieser breite Begriff der „kritischen MehrsprachigkeitMehrsprachigkeit, kritische“ hilfreich, um die Verbindung zwischen diversen multilingualen FormenFormen – unter anderen Sprachwechsel, Code-switchingCode-Switching und Sprachmischung – und ihre Problematisierung der engen Definitionen und Kategorien des Hegemonialdiskurses zu verstehen.

Auch Caroline LevineLevine, Caroline hat sich mit dem kritischen PotenzialPotential von FormenFormen auseinandergesetzt und dafür plädiert, FormenFormen im literaturwissenschaftlichen Kontext in einem weiteren Sinne zu definieren. Für eine fruchtbare Analyse literarischer Werke sowie anderer kultureller Artefakte sei nicht nur der Blick auf die ästhetischen, sondern auch auf die sozio-politischenpolitisch FormenFormen (die aus dem sozialen und politischenpolitisch Kontext in ein Werk einfließen, wie Institutionen, Hierarchien, zeitliche Abläufe etc.) wichtig bzw. die Verschränkung der beiden Zugänge. Zudem unterstreicht sie die verschiedenen Eigenschaften, die FormenFormen im literatur- und kulturwissenschaftlichen Diskurs zugeschrieben werden, wie die Einschränkung durch FormenFormen, deren abgrenzende oder differenzierende Wirkung, ihr Überlappen, ihre Beweglichkeit sowohl in historischer als auch sozialer Perspektive und, schließlich, ihre politischepolitisch Funktion in bestimmten historischen Kontexten. Diese Eigenschaften seien bei einer Analyse mitzudenken, um zu einer neuen Theorie der FormFormen zu gelangen.

LevineLevine, Caroline versteht FormenFormen als Politik – sie denkt zum Beispiel an die Aufteilung von Räumen, die Verteilung von Ressourcen sowie die Einteilung von Zeit, die ohne FormFormen nicht denkbar wären.22 Doch es geht ihr nicht nur um die OrdnungOrdnung, die in und durch verschiedene FormenFormen erzählt wird – binäre Strukturen wie Mann-Frau, schwarz-weiß etc. –, sondern gerade auch um die UnordnungUnordnung, die „disorganization“ oder „collision“, wie sie es nennt.23 Denn sie will politischepolitisch Verhältnisse und Ideologien Wolf, Uljananicht nur analysieren (etwas, worauf sich ihrer Meinung nach die Linke zu sehr konzentriert hat), sondern spricht sich für einen Formalismus aus, der „radical social change“24 mit sich bringt. Dies wird möglich eben durch ein Augenmerk auf Kollisionen, dem Aufeinandertreffen verschiedener FormenFormen. Das bringt uns zurück zu den Texten, die im Mittelpunkt dieses Bandes stehen: Sprachen, gesehen als ästhetische sowie soziale FormenFormen, als FormenFormen mit verschiedenen, sich auch widersprechenden Eigenschaften, treffen in den mehrsprachigen Texten, die hier im Mittelpunkt stehen, wortwörtlich aufeinander. Damit passiert in diesen Texten eine Kollision auf formaler Ebene (d. h. auch auf syntaktischer, lexikalischer, teilweise auch auf morphologischer Ebene), der verschiedene Aufeinandertreffen auf der (semantischen) Ebene der Handlung, der Figuren sowie der soziolinguistischen Ebene der Rezeption (und auch schon der Produktion) etc. entsprechen. Viele der in diesem Band besprochenen Texte sind ein Beispiel dafür, wie „the multiple formsFormen of the world come into conflict and disorganizeUnordnung experience in ways that call for unconventional political strategies.“25 So eröffnet in den Schriften Uljana Wolfs das SpielSpiel um die Wanderwege der Wörter zwischen Sprachen und Ländern politischepolitisch Fragen der Migration, Einwanderung und Sprachpolitikpolitisch. Literatur, die Geschichten mehrsprachig erzählt und Momente einer konventionellen, linearen Kommunikation unterbricht, unterwandert FormenFormen und bricht sie auf. Sehr deutlich wird dies in Kurt Lanthalers literarischem Werk, das durch seinen kreativkreativ-spielerischen Umgang mit Sprach- und Übersetzungsebenen das monolinguale Paradigma gänzlich durchbricht und mehrsprachige Welten Einsprachigkeitsparadigma/monolinguales Paradigmaerschafft, die SprachhierarchienSprachhierarchien, wie jene zwischen Standardsprachen und SprachvarietätenSprachvarietäten, durchqueren. Noch existentieller betont der mehrsprachige Lyriker José F.A. Oliver die Wichtigkeit, kommunikative SprachformenFormen zu stören, um stattdessen Fälle von Unverständnis, Spannung und aktivem Nichtverstehen zuzulassen:

Das Nicht-Verstehen zulassen, immer tiefer hineinhören in die w:orte, um gehört zu werden angesichts all der Erklärungsmuster, die immer auch Ausgrenzung bedeuten. . . . Sprachwirksamkeit und Wortwirksamkeit, die zerstören: vernichten. Wie diese zur Shoa geführt haben. Nicht „führten“. Kein Präteritum des Wortes „führen“, denn die Tat ist vergangen, nicht die Zeit mit ihr zu leben.26

Durch ihr teils radikal experimentelles Umgehen mit SprachregelnRegeln und -konventionen kritisieren multilinguale Texte bestehende FormenFormen und fordern das Hinterfragen von FormenFormen heraus. Hierin liegt schließlich das radikale politischepolitisch PotentialPotential der Texte: Sie zeigen auf der Ebene der Texte, wie wir, mit Roberto Mangabeira Unger gesprochen, unser soziales Leben sinnvoller als „makeshift […] order“ denn als kohärentes System verstehen können.27

Die Beiträge im vorliegenden Band loten die neuen SpielregelnRegeln aus, die literarische Mehrsprachigkeit in die ,deutschsprachige‘ Literatur einbringt. Diese neuen SpielregelnRegeln betreffen Sprache, FormFormen und Inhalte, aber auch theoretische Zugänge und literaturwissenschaftliche Ansätze. Schließlich haben sie auch Auswirkungen auf die Rezeption und sind im Kontext des literarischen Feldes zu denken. Dementsprechend vielfältig sind Nicht-Verstehendie folgenden Artikel. Sie versuchen, die Forschung zur literaturwissenschaftlichen Mehrsprachigkeit theoretisch und methodisch zu erweitern, indem sie – nicht zuletzt im Sinne von Till DembecksDembeck, Till Vorschlag einer MehrsprachigkeitsphilologieMehrsprachigkeitsphilologie – die Schnittstellen zwischen Philologie und Linguistik sowie Literatur- und Translationswissenschaft dafür fruchtbar machen. Andere Beiträge sind historischen Studien gewidmet, die unser heutiges Verständnis einer scheinbar monolingualen Romantik bzw. des ganzen 19. Jahrhunderts hinterfragen, wenn nicht sogar widerlegen. Mehrere Beiträge zeigen anhand konkreter Textanalysen, wie AutorInnen mehrsprachiger Texte mit Stilmitteln wie der MetapherMetapher, aber auch anderen literarischen Strategien wie intertextuellen Verweisen und ÜbersetzungÜbersetzung, Bedeutungen verschieben und neuen Sinn produzieren.

Katrin Gunkel beleuchtet in ihrem Beitrag die Schnittstellen zwischen der Philologie und der Linguistik, die ihrer Ansicht nach für die Forschung der literarischen Mehrsprachigkeit bisher zu wenig fruchtbar gemacht wurden. Wenngleich sich das in den letzten Jahren zu verändern beginnt, u. a. mit den Arbeiten Tawada, Yokovon Jochen Bär, Jana-Katharina Mende und Pamela Steen (2015) im Bereich der ‚Literaturlinguistik‘, so verdeutlicht der Beitrag, gibt es hier noch viel ForschungspotentialPotential. Dies zeigt sich beispielsweise am Code-switchingCode-Switching, wo sich die mündliche FormFormen von der schriftlichen oft kaum unterscheidet. Das Verständnis der Strategien des Code-switchingsCode-Switching, die in den unterschiedlichen Ansätzen der Linguistik von der „soziolinguistische[n] Mehrsprachigkeitsforschung, [über] die kognitiv-psycholinguistische Mehrsprachigkeitsforschung [bis hin zur] SprachkontaktforschungSprachkontakt“ (31) beschrieben werden, kann nicht nur interessante Einsichten für literarisches Code-switchingCode-Switching bieten, sondern liefert auch Begrifflichkeiten, die durchaus auch für die Philologie nutzbar sein können. MehrsprachigkeitsphilologieMehrsprachigkeitsphilologie versteht Gunkel als jene Disziplin, die sich sowohl von der Linguistik als auch von der Philologie bereichern lässt und die es versteht, Verknüpfungspunkte zwischen den Disziplinen wahrzunehmen und herzustellen.

Ramona Pellegrino nähert in ihrem Beitrag ebenfalls zwei Disziplinen an, nämlich jene der Literaturwissenschaft und die der Übersetzungswissenschaft. Sie untersucht SelbstübersetzungSelbstübersetzung bei einigen deutschschreibenden AutorInnen, deren Erstsprache nicht das Deutsche ist, wie Franco Biondi, Zwetelina Damjanova, Yüksel Pazarkaya, Yoko Tawada und Vladimir Vertlib. Pellegrino hält fest, dass es sich bei den fraglichen Texten, die sie der transkulturellen Literatur zurechnet, um keine Selbstübersetzung im rein translationswissenschaftlichen Sinne handelt, sondern diese eng mit RealisierungsformenFormen der literarischen Mehrsprachigkeit verbunden ist. In ihrem Beitrag analysiert sie die unterschiedlichen Motivationen, Entstehungskontexte und FormenFormen der Selbstübersetzung der untersuchten AutorInnen, um damit die Komplexität dieses Phänomens innerhalb des umfangreichen Korpus der deutschsprachigen Texte, die in einem mehrsprachigen bzw. von SprachwechselSprachwechsel geprägten Umfeld entstanden sind, zu unterstreichen.

Auch der Beitrag von Sandra Vlasta bezieht sich auf die von Till DembeckDembeck, Till in die Diskussion eingebrachte MehrsprachigkeitsphilologieMehrsprachigkeitsphilologie und schlägt vor, die Gattung Reisebericht als mehrsprachig zu verstehen. Vlasta analysiert historische Reiseberichte von Johann Wolfgang von Goethe, Georg Forster, Karl Philipp Moritz und Fanny Lewald, die üblicherweise der deutschsprachigen Literatur zugerechnet werden und zwischen dem Ende des 18. und der Mitte des 19. Jahrhunderts entstanden sind. Dabei geht sie von der These aus, dass literarische Mehrsprachigkeit ein typisches Element der Gattung Reisebericht ist. Diese Mehrsprachigkeit zeigt sich in den konkreten Texten auf unterschiedliche Weise, so zum Beispiel im Rahmen der Produktion von mehrsprachigen ReiseschriftstellerInnen, als expliziteMehrsprachigkeit, manifeste und latente MehrsprachigkeitMehrsprachigkeit, latente in den Texten oder als ‚mehrsprachige Intertextualität‘. Dementsprechend vielfältig ist auch die Funktion der literarischen Mehrsprachigkeit im Reisebericht: sie kann helfen, den Bericht authentisch erscheinen zu lassen; sie kann exotisierende Bakhtin, Mikhail M.Funktion haben; sie kann zur Inszenierung bzw. Positionierung des Erzählenden/Reisenden dienen oder sie kann die LeserInnen stärker in den Bericht einbeziehen. Der Beitrag zeigt, dass unsere heutige Wahrnehmung des 19. Jahrhunderts als einer Zeit, in der die Einsprachigkeit im Rahmen der Ausbildung der Nationen die angestrebte Norm war, nur bedingt gültig ist. Die zu jener Zeit äußerst beliebte Gattung des Reiseberichts war jedenfalls hochgradig mehrsprachig.

Der Aufsatz von Till DembeckDembeck, Till zeigt ebenfalls eine Traditionslinie literarischer Sprachpolitikpolitisch auf, die angesichts des aktuellen Interesses für die Etablierung des ‚EinsprachigkeitsparadigmasEinsprachigkeitsparadigma/monolinguales Paradigma‘ im Zeitalter des romantischen Nationalismus oft übersehen wird. Anhand einer Analyse von Texten Jean Pauls, aber auch von Aspekten wie dem des ‚anderssprachigen‘ Namens dieses Autors, fragt DembeckDembeck, Till nach dem Stellenwert der Mehrsprachigkeit bei dem Romantiker und der Verbindung von Witz und HumorHumor und Mehrsprachigkeit. Jean Paul vertrete eine humoristische Poetik der sprachlichen Fülle, die andere Sprachen als funktional äquivalente Mittel zur Erweiterung des Ausdrucksvermögens und zumal des ‚Witzes‘ nutzten. Wie DembeckDembeck, Till in seinem Beitrag zeigt, verwendet Jean Paul scheinbar konservative, von ihm propagierte Verfahren wie die Sprachreinigung und die Beseitigung des Fugen-s auf humoristische Weise zur VerfremdungVerfremdung der deutschen Einsprachigkeit. Dieses Denken zeige, so DembeckDembeck, Till, dass Einsprachigkeit nur als „Ergebnis einer humoristischen Verwechslung vorstellbar ist“ (85) und deshalb mit Humor behandelt werden muss.

Barbara Siller liest Kurt Lanthalers Roman Das Delta (2007) als einen Text, der durch eine ausgesprochene VielstimmigkeitVielstimmigkeit (Bakhtin 1986) und intensivierte SprachigkeitSprachigkeit, intensivierte (Beyer 2002,Beyer, Marcel Stockhammer/Stockhammer, RobertArndt/Naguschewski 2007) gekennzeichnet ist und dadurch besondere kulturelle und politischepolitisch Implikationen hat. Der Roman entwickelt sich in den Sprachen und durch die Sprachen, nämlich das Deutsche, das Italienische und die unterschiedlichen Varietӓten der Regionen Italiens, die der Protagonist aufsucht. Der Beitrag untersucht, wie der Text aufgrund der vielfältigen Übersetzungsstrategien, die der Autor wählt, insbesondere des „einschließenden code-switchingCode-Switching“ (109), eine Reihe von Lesemӧglichkeiten eröffnet sowie auch einem Lesepublikum nahe gebracht werden kann, das die italienischen Textteile nicht versteht. Wie dieser bereits mehrsprachige Roman dann ins Italienische übersetzt werden kann, wird anhand der ÜbersetzungÜbersetzung durch Stefano Zangrando beleuchtet, der sich mit den verschiedenen FormenFormen von ‚Verlusten‘ durch Übersetzung konfrontieren musste. Die sprachliche, literarische und politischepolitisch Relevanz dieser mehrsprachigen Literatur und deren Übersetzung ist Siller zufolge unumstritten, jedoch kaum anerkannt und zu wenig wertgeschätzt, was zur Folge hat, „dass Texte wie jene von Kurt Lanthaler und Stefano Zangrando […] eine Randposition einnehmen und zu den ‚minorised literatures‘ zählen.“ (132)

Die Beiträge von Brigitte Rath und Áine McMurtry sind der explizit mehrsprachigen Schreibpraxis von Uljana Wolf gewidmet, einer der wichtigsten Stimmen der deutschen Gegenwartslyrik. Wolf ist für ihre experimentelle Schreib- und ÜbersetzungsarbeitenÜbersetzung im deutschsprachigen als auch im internationalen Raum anerkannt. Sie lebt in Berlin und Brooklyn und überträgt vor allem Lyrik aus germanischen und slawischen Sprachen. Weitere gemeinsame Wolf, UljanaÜbersetzungsprojekteÜbersetzung ermöglichen ihr auch Zugang zu anderen Sprachen. Für den Aufsatzband ‚Etymologischer Gossip‘ gewann Wolf zuletzt den Leipziger Sachbuchpreis im Jahr 2022. Diese Sammlung gelte als Musterbeispiel für Essayistik und die Aufsätze erkunden Wortwanderungen zwischen Sprachen und offenbaren Momente und Prozesse der Übertragung. Vor diesem Hintergrund untersucht Brigitte Rath die ‚Poetik der Beziehungen‘ in Gedichten aus den Bänden falsche freunde (2009) und meine schönste lengevitch (2013), um das lyrische Infragestellen von sprachlichen Grenzen und Absperrungen aufzuzeigen. Anhand von vier Analysen zeigt Rath wie Wolf durch neue Verbindungen neue Bedeutungen schafft: „dust bunnies“ teste die Grenzen zwischen Sprachen, „rede mit langen leinen“ die GattungsgrenzeGattungsgrenzen zwischen Prosa und Gedicht, „art—apart“ die Grenzen eines TextesGattungsgrenzen, und die TransformationenTransformation von „subsisters“ mit ihrem pronominalen SpielSpiel erkunde die Grenze zwischen Figuren, ihren Schauspieler:innen und Rezipient:innen. Laut Rath öffne Wolfs Poetik der Beziehung neue „borderscapesborderscapes“, die eine Aufforderung zu immer neuer Sinnbildung in sich tragen. Um das Besondere an Wolfs „transatlantischen“ borderscapes zu untersuchen, bespricht Áine McMurtry in ihrem Kapitel den Gedichtzyklus „alien I: eine insel“, aus Wolfs zweiter Lyriksammlung. Dieser Zyklus konzentriert sich auf die amerikanische GrenzpolitikGrenzpolitik des frühen 20. Jahrhunderts durch eine lyrische Auseinandersetzung mit dem Fall von Ellis Island, der Insel im New Yorker Hafengebiet, die lange Zeit als zentrale Sammelstelle für Einwanderer in die USA diente. Laut McMurtry hinterfrage die lyrische Behandlung von Flucht und Vertreibung begrenzte Auffassungen von Volk und Nation. Durch diverse literarische Methoden, mehrsprachig/Mehrsprachigkeitakustische AusdrucksformenFormen und intertextuelle Hinweise vermittle Wolfs Zyklus Ausblicke, die Stimmen und Werke anderer Epochen abrufen. Der Text baue ein komplexes Netz von transhistorischen und transkulturellen Referenzen, das unterschiedliche Erfahrungen von Diskriminierung und Ausgrenzung in nicht-hierarchische Beziehung setze. Indem ihr mehrsprachiger Text assoziative Verbindungen schafft, löse sich Wolf vom singulären Begriff der Muttersprache und erschließe stattdessen diverse Verwandtschaften und neue Gemeinschaften.

In Rainer Guldins Beitrag wird das Zusammenspiel von Körper- und RaummetaphernMetapher der Mehrsprachigkeit in der Herausbildung von Diskursen über Ein- und Mehrsprachigkeit besprochen. Durch die Betrachtung mehrsprachiger Werke von Herta Müller und Tawada Yōko untersucht Guldin Netzwerke von vielschichtigen MetaphernMetapher, die den organischen Zusammenhalt und die Einmaligkeit von Sprachen hinterfragen. Herta Müllers bekannte MetapherMetapher einer Frauennase in einem Männergesicht Tawada, Yokosprenge zum Beispiel „auf subversive Art und Weise die Vorstellung einer homogenen in sich geschlossenen Sprache.“ (186) Bei Tawada Yōko fungiert die Zunge als ein vielfältiger Ort der Sprachvermischung und eine vielschichtige MetapherMetapher der Mehrsprachigkeit. Tawadas Zunge sei „grundsätzlich rebellisch und nicht zu zähmen“ (191) und vielfach von Sprachen und Akzenten überschichtet. Guldins Analyse zeigt, wie die Texte Müllers und Tawadas das Dynamische und die kontinuierliche Veränderung unabhängiger Körperteile betonen. Die einzelnen MetaphernMetapher tauchen aus dem Textfluss auf, seien aber durch vielfache Beziehungen miteinander verbunden. Diese Leseerfahrung reproduziere „die grundlegende Erfahrung von Mehrsprachigkeit, die darin besteht, aus dem scheinbar Disparaten eine neue vielschichtige Wirklichkeit zu konstruieren.“ (200) Damit stellt Guldin seinen Ansatz in einen klaren Zusammenhang mit dem multilingualen Verständnis von Sprache im Werk von Yasemin YildizYildiz, Yasemin (2012), als auch mit der new linguistic dispensation von Larissa Aronin und Vasilis Politis (2015).

Ulrike Gardes Beitrag ist zwei Texten der jüngsten Gegenwartsliteratur gewidmet: Olivia Wenzels Roman 1000 Serpentinen Angst (2020) und dem Drama The Situation (2015), das Yael Ronens gemeinsam mit dem Ensemble der Premiere entwickelte. Beide Texte setzen spielerischSpiel Mehrsprachigkeit als literarische Strategie der Bedeutungsproduktion und -verschiebung in interkulturellen Rahmen ein. In ihrer Analyse geht Garde davon aus, dass mehrsprachige Literatur, wie die beiden untersuchten Werke, den interlingualen SprachkontaktSprachkontakt in der Figurenrede dazu nutzt, semantische Eindeutigkeit zugunsten einer ausführlichen Erkundung von Bedeutungen und Assoziationen aufzulösen. Die Vieldeutigkeit, die fiktionale Texte prinzipiell kennzeichnet, wird in mehrsprachiger Literatur erweitert, indem sie ihre semantischen Erkundungen nicht auf die mehrschichtigen Bedeutungen ‚innerhalb‘ einer Sprache beschränkt, sondern gleichzeitig explizit den semantischen Spielraum auslotet, der sich durch den SprachkontaktSprachkontakt ergibt. Der sprachliche Reichtum, der sich daraus ergibt, zeigt sich zum Beispiel in Formulierungen und Interferenzen, die von deutschsprachigen Leserinnen und Lesern möglicherweise als fremd und anders empfunden werden. Außerdem bleiben mehrere Bedeutungen nebeneinander Sein-in-der-Sprachebestehen und in der Schwebe, ohne zugunsten einer ‚eindeutigen‘ Interpretation aufgelöst zu werden – Garde bezeichnet dies als „Poetik fluider Bedeutungszuschreibungen“.

Rolf ParrParr, Rolf widmet seinen Beitrag einer bisher meist übersehenen FormFormen der Mehrsprachigkeit, die dann entsteht, wenn sich Texte und englischsprachige Popmusik begegnen. Dem von Jürgen Link und Ursula Link-Heer (1980) entlehnten Begriff ‚Applikationen‘ folgend, beleuchtet ParrParr, Rolf die unterschiedlichen Einbettungsmechanismen englischer Songzitate in Texte, deren Bedeutung für das Textgewebe sowie die daraus entstehenden Effekte. Die Texte von Klaus Modick bilden die Hauptgrundlage für seine Untersuchung. ParrParr, Rolf versteht die Songtexte sowohl als „abrufbare und dabei zugleich aktualisierbare Elemente des kulturellen Gedächtnisses“ (226) als auch als eine Erweiterung des „Umfangs und damit [der] Semantik des eigentlichen deutschsprachigen Textes“ (226). Spannend ist dabei der Versuch, den ParrParr, Rolf unternimmt, alle Zitate aus dem Text zu tilgen, um zu verstehen, welcher Text dann noch zurückbleibt. Der Beitrag geht außerdem der Frage nach, welches Lesepublikum diese mehrstimmigenVielstimmigkeit Texte in all ihrer semantischen Komplexität rezipieren kann und inwiefern die Applikationen bewusst als eine Abgrenzung gegen ältere Generationen eingesetzt werden. Mit dem Blick auf „synästhetische […] Effekte“ (231), die durch Text und Musik entstehen, macht ParrParr, Rolf eine interessante Feststellung, nämlich dass „IntermedialitätIntermedialität […] Hand in Hand mit Mehrsprachigkeit“ (231) gehe.

Anita Czeglédy erprobt in ihrem Beitrag die Umsetzbarkeit von Marijana Kresics sprachkonstruktivistischem Modell der multiplen SprachidentitätSprachidentität auf die Literatur. Das Modell geht von “mehrsprachige[n] Identitäten als ‘Normalfall’ aus und zeigt das identitätskonstitutive Moment der Verwendung verschiedener Sprachen und SprachvarietätenSprachvarietäten” (236). Das von Kresic entwickelte Konzept, das Sein-in-der-Sprache, ermӧglicht ein sprachlich-interaktionales, sprechaktgebundenes und prozessuales Verständnis von Identitӓten mit einem Fokus auf die innersprachliche Mehrsprachigkeit des Individuums, die alle Sprachvarietäten miteinschließt. Angewandt auf die mehrsprachige Literatur, sieht Czeglédy in diesem Ansatz ein bedeutendes PotentialPotential, „weil die Erfassung und Erfahrung der Existenz durch die Sprache und in der Sprache es den Menschen ermöglichen, sich in der Welt, wie sie auch immer ist, heimisch zu machen.“ (246). Der sprachzentrierte und sprachpoetische Ansatz setzt auf die Mӧglichkeiten der Sprache in der Literatur, sowohl transformative ProzesseTransformation – „Neugeburten“ (246) durch die Sprache –, als auch die Integration von Differenzen innerhalb der Identitӓtskonstruktionen zuzulassen.

Ester Saletta widmet ihren Beitrag der Sprachkunst des jüdisch-ӧsterreichischen Juristen und Romanciers Albert Drach (1902–1995), dessen Werke vom Literaturbetrieb lange Zeit nicht gewürdigt wurden. Als Grund dafür sieht Saletta die „unproduktive[…] narrative[..] Struktur der fiktiven Geschichtsdarstellung“ (250) und die „für Drachs Sprachkunst so charakteristische Darstellungsmodalität des Protokollstils, des alles Symbolische, Metaphorische und Imaginative ausschließenden Faktenberichts“ (250). Sie liest die Zusammenführung der juridischen und literarischen Sprache in Drachs Protokollen als eine besondere FormFormen der Mehrsprachigkeit, als SprachkoexistenzSprachkoexistenz und als „immanente SprachpolyvalenzSprachpolyvalenz“ (247). Der nüchterne Protokollstil, der Nominalstil und die reduzierte Verwendung von Nebensӓtzen, die Drach dazu benutzt, um mit sich selbst, mit den Frauen und seinem Umfeld hart ins Gericht zu gehen, hat Saletta zufolge dazu geführt, dass seine Literatur oftmals nicht den Erwartungen der Literatukritiker entsprach, die aufgrund ihrer fixierten Vorstellung von ‚Literatursprache‘ die Sprachkoexistenz nicht als Wert erkannten. Saletta schlussfolgert, dass der Autor „gerade durch die Schöpfung des Protokollstils paradoxerweise an eine Erzähldimension gedacht [hat], in der die KoexistenzSprachkoexistenz von unterschiedlichen FormenFormen des Schreibens und des Darstellens die Regel ist“ (252), die immer mit Sprachpolyvalenz verknüpft ist.

Die theoretisch-methodischen Ansätze, die in den vorliegenden Beiträgen geboten werden, und die Darstellungen von spezifischen Phänomenen der literarischen Mehrsprachigkeit spiegeln die kreativ-spielerischekreativ Vielfalt wider, die diese FormenFormen der Literatur eröffnen. Sie sind gedacht als Anregungen für weiterführende Auseinandersetzungen mit Texten, die es wagen, SpielregelnRegeln zu durchbrechen und probeweise neue einzuführen.

Literarische und nichtliterarische Mehrsprachigkeitsforschung – Überlegungen zur Analyse von mehrsprachigen Texten

Katrin Gunkel

Abstract: Mehrsprachigkeit stellt ein Forschungsgebiet dar, in dem die Erkenntnisse von Sprach- und Literaturwissenschaft wechselseitig füreinander fruchtbar gemacht werden können. Was das für die Analyse mehrsprachiger literarischer Texte bedeutet, zeigt sich bei der Betrachtung von auf der Sprachoberfläche sichtbaren Mehrsprachigkeitsphänomenen. Anhand von Beispielen wird deutlich, inwieweit sich linguistische Konzepte wie Code-SwitchingCode-Switching und SprachtransferSprachtransfer auf literarische Texte übertragen lassen und inwieweit die Übergänge zwischen den Phänomenen im linguistischen Sinne und poetischer Sprachinvention verwischt werden. Die Verknüpfung beider Disziplinen ermöglicht es, ein tiefergehendes Verständnis von Mehrsprachigkeitsverfahren, ihren Funktionen und ihren Korrelationen mit anderen (mehrsprachigen) Verfahren zu erhalten.

 

Keywords: LiteraturlinguistikLiteraturlinguistik, SprachwechselSprachwechsel, Code-SwitchingCode-Switching, SprachmischungSprachmischung, SprachtransferSprachtransfer

Dass es fruchtbare Schnittstellen zwischen Philologie und Linguistik gibt, betonte bereits Roman JakobsonJakobson, Roman und mit ihm der Prager Strukturalistenkreis in den 1930er Jahren. JakobsonJakobson, Roman sprach sich gegen die „hartnäckige Trennung von Linguistik und Poetik“ aus, denn „PoesiePoesie sei Sprache in ihrer ästhetischen Funktion“.1 Er sah in der Dichtersprache den Status der Sprache schlechthin und in diesem Sinne sei Poesie als Kunst der Ausgangspunkt jeder wissenschaftlichen Analyse über die Grundlagen der Sprache.2

Die in der morphologischen und syntaktischen Struktur der Sprache verborgene Quelle der PoesiePoesie, kurz die Poesie der Grammatik und ihr literarisches Produkt, die Grammatik der Poesie, sind den Kritikern selten bekannt, wurden von den Linguisten fast gänzlich übersehen und von schöpferischen Schriftstellern meisterhaft gehandhabt.3

Literaturwissenschaftliche Konzepte mit linguistischen Denkansätzen finden sich auch in anderen strukturalistischen Theorien wie Gérard GenettesGenette, Gérard Narratologie4 oder Julia KristevasKristeva, Julia Intertextualitätsverständnis5. Trotz der angestoßenen Verknüpfungspunkte fanden Sprach- und Literaturwissenschaft in den letzten Jahrzehnten nur bedingt Bakhtin, Mikhail M.zueinander: „Bis heute neigen germanistische Literaturwissenschaft und germanistische Linguistik dazu, die Fragestellungen und Beschreibungsansätze der jeweils anderen Seite zu ignorieren“, heißt es in dem 2015 von Jochen Bär, Jana-Katharina Mende und Pamela Steen herausgegebenen Sammelband „LiteraturlinguistikLiteraturlinguistik – philologische Brückenschläge“, der sich gegen eben diese Trennung richtet.6 Der Terminus Literaturlinguistik sei nicht als Determinativkompositum, sondern als „Klammer-Kopulativkompositum“ gemeint, das heißt, er sei „nicht zu verstehen als ‚Linguistik, die sich mit Literatur beschäftigt‘, sondern soll Literaturwissenschaft und Linguistik als gleichgewichtig erscheinen lassen“7. Entsprechend des Forschungsansatzes werden in dem Band unterschiedliche thematische Teilbereiche wie Textlinguistik oder Gesprächsanalyse mit Erzähltheorie oder Motivanalyse verknüpft. Einer der Beiträge, verfasst vom Literaturwissenschaftler Leonhard Herrmann und dem Sprachwissenschaftler Beat Siebenhaar, beschäftigt sich mit der DialektliteraturDialektliteratur. Darin zeigen sie auf, dass die Verschriftlichung dialektalen Sprachgebrauchs per se eine Verfremdung darstelle, die der Fiktionalität literarischer Texte ähnlich sei. Sie verbinden eine variationslinguistisch-dialektologische Analyse der dialektalen Formen innerhalb der untersuchten Texte mit der fiktionalitätstheoretischen Frage nach der Wirklichkeit von Dialekt in Literatur.8 Aufgezeigt werden die Grenzen der literarischen Repräsentierbarkeit und Verschriftlichung von mündlichen Varietäten. Deutlich wird ebenso, dass diese Grenzen literarischer Wirklichkeitsreproduktion in der DialektliteraturDialektliteratur zuweilen bewusst evoziert und inszeniert werden. Zu fruchtbaren Begegnungspunkten zwischen Sprach- und Literaturwissenschaft führt auch ihre Betrachtung der Metaebene, auf der Dialekt- und Literaturreflexionen angestellt werden. Der Beitrag verknüpft die Teilbereiche DialektliteraturDialektliteratur und Dialektologie und ist für den vorliegenden Aufsatz deshalb von Interesse, da er einen Brückenschlag zum Forschungsfeld der Mehrsprachigkeit erlaubt. Er, wie auch der Sammelband, veranschaulichen, wie „literaturwissenschaftliche Fragestellungen aus (zusätzlichen) linguistischen Blickwinkeln eine Bereicherung erfahren: indem sprachliches Wissen […] explizit mit in die Literaturanalyse einbezogen wird“9. Aber auch umgekehrt komme es zu einer fruchtbaren Bereicherung, „allein schon durch die Beschäftigung [der Linguistik] mit literarischen Texten“10. Eine Referenz auf Eugenio CoseriuCoseriu, Eugenio, Romanist und Allgemeiner Sprachwissenschaftler, veranschaulicht, warum: Zu Lebzeiten betonte er – ähnlich wie Roman JakobsonJakobson, Roman –, dass literarische Sprache „nicht eine Modalität des Sprachgebrauchs unter anderen“ sei, Literatur sei vielmehr die „volle Entfaltung aller sprachlichen Möglichkeiten“, sie müsse „als Sprache schlechthin angesehen werden“.11

Mehrsprachigkeit stellt ein Forschungsgebiet dar, in dem die Erkenntnisse von Sprach- und Literaturwissenschaft wechselseitig füreinander fruchtbar gemacht werden können. Insbesondere für die Analyse von auf der Sprachoberfläche sichtbarer Mehrsprachigkeit in literarischen Texten bietet sich die Verbindung von linguistischen Methoden und literaturwissenschaftlichen Fragestellungen an – auch, um ein tiefergehendes Verständnis von den Verfahren, ihren Funktionen und der Korrelation zu anderen Mehrsprachigkeitsphänomenen zu erlangen.

1.Mehrsprachigkeit in Sprach- und Literaturwissenschaft

In der linguistischen Forschung wird unter Mehrsprachigkeit das Zusammenspiel von mehreren Sprachen oder Varietäten in individuellen und gesellschaftlichen Zusammenhängen verstanden.1 Beide Ebenen sind in der Regel miteinander verwoben und beeinflussen sich gegenseitig. In der Linguistik gilt es zudem als erwiesen, so die Sprachwissenschaftlerin Claudia Maria Riehl, eine der führenden Forschungsstimmen zu den Themen SprachkontaktSprachkontakt und Mehrsprachigkeit, dass „im Bereich der Schriftlichkeit ähnliche Prozesse ablaufen können wie in der gesprochenen Sprache“2. Mehrsprachige Phänomene wie SprachwechselSprachwechsel bzw. Code-SwitchingCode-Switching (Wechsel zwischen [zwei oder mehr] Sprachen oder Varietäten, wobei sich die verwendeten Sprachen nicht verändern), und SprachtransferSprachtransfer bzw. SprachmischungSprachmischung (Vermischung von zwei oder mehr Sprachen auf unterschiedlichen sprachlichen Ebenen [Syntax, Semantik, Morphologie, Phonologie etc.], wobei sich die verwendeten Sprachen verändern)3 fänden sich gleichfalls in literarischen Texten und das nicht erst in der modernen Literatur, sondern bereits seit der Antike.4 Dass beim Schreiben ähnliche Prozesse wie beim Sprechen ablaufen, bestätigen auch die Beiträge des von Mark Sebba, Shahzad Mahootian und Carla Jonsson herausgegebenen Sammelbandes „Language Mixing and Code-Switching in Writing. Approaches to Mixed-Language Written Discourse“ (2012)5. Der Band schafft einen theoretischen und methodischen Rahmen für die Untersuchung verschiedener mehrsprachiger Texte und liefert Beispiele für empirische Studien – von literarischen Texten über Textnachrichten wie SMS bis hin zu E-Mails und Internettexten. Betont wird, dass schriftliche Mehrsprachigkeit erstens eine Ressource für sprachliche Vielfalt sei, und zweitens sei sie keine Ausnahme, sondern eine Norm in einer zunehmend globalen Sprachlandschaft. Aber auch Studien wie die von Laura Callahan, die sich in ihrer Monografie „Spanish/English codeswitching in a written corpus“ (2004)6 mit Sprachwechsel in der Latino-LiteraturLatino-Literatur in den Vereinigten Staaten von Amerika beschäftigt, bekräftigen, dass beim Schreiben ähnliche Prozesse wie beim Sprechen ablaufen. Callahan betrachtet 30 Romane und Kurzgeschichten, die zwischen 1970 und 2000 von insgesamt 24 Autorinnen und Autoren veröffentlicht wurden. Ihre Erkenntnis: Schriftliches Code-SwitchingCode-Switching folgt größtenteils denselben syntaktischen Mustern wie das gesprochene Gegenstück.7 Sie betont, dass es eine grundsätzliche Ähnlichkeit zwischen schriftlichem und gesprochenem Code-Switching gäbe, und dass schriftliches Code-SwitchingCode-Switching „does not require a separate model of syntactic constraints“.8 Es erfülle nicht nur dieselben authentischen Diskursfunktionen, die Verwendung stelle auch die gelebte strategische „rejection of monolingual English as well as of monolingual Spanish“ dar.9

Auch in der literaturwissenschaftlichen Forschung geht man von Parallelen zwischen beiden Disziplinen aus. Bereits vor Jahrzehnten wurde dafür argumentiert, dass die Ergänzung literaturwissenschaftlicher Fragestellungen um linguistische Methoden eine Bereicherung für die Analyse literarischer Texte darstellt – zum Beispiel bei der Betrachtung literarisch fingierter Dialoge in erzählenden Texten oder im Drama.10 Gerold Ungeheuer sieht in seinem Aufsatz „Gesprächsanalyse an literarischen Texten“ (1980) literarische Texte als die „Projektion der kommunikativen Gesamterfahrung des Autors“ und argumentiert dafür, dass literarische Gespräche wie natürliche untersucht werden können.11 Ähnliche Ansichten vertritt Ernest Hess-Lüttich in seinem Buch „Soziale Interaktion und literarischer Dialog“, wenn er schreibt, „daß sich den Grundprinzipien dialogischer Verständigung auch der Autor literarischer Texte unterwirft, dessen fiktive Modellierung des Dialogs in seiner Kommunikationserfahrung gründet“.12 Auch die jüngere Mehrsprachigkeitsforschung sieht bereichernde Schnittstellen zwischen Sprach- und Literaturwissenschaft, wenn es um die Analyse literarischer Mehrsprachigkeitsphänomene geht. Unter literarischer Mehrsprachigkeit wird in der Forschung weitestgehend das Schreiben in mehreren Sprachen gefasst, sei es in Form eines mehrsprachigen Gesamtwerks eines Autors (und seiner Mehrsprachigkeit) oder eines mehrsprachigen Einzelwerks.13 Daneben gibt es auch ein weitläufigeres Verständnis des Begriffs. Monika Schmitz-EmansSchmitz-Emans, Monika und Manfred SchmelingSchmeling, Manfred konstatieren beispielweise, dass unter literarischer Mehrsprachigkeit auch „gemischtsprachige Länder oder Regionen und ihre Literaturen“ verstanden werden können.14 Bei der Erforschung der Mehrsprachigkeit eines Textes liegt der derzeitige Fokus – ähnlich wie in der Linguistik – auf der Betrachtung von auf der Sprachoberfläche sichtbaren Mehrsprachigkeitsphänomenen. „Hauptsächliches Objekt der wissenschaftlichen Untersuchung ist bislang ihre sichtbare Präsenz, das heißt die manifeste Form der literarischen Mehrsprachigkeit“, so Natalia Blum-Barth.15 Anknüpfend an die bisherige Forschung, zählt sie zu den häufigsten manifesten Formen literarischer MehrsprachigkeitMehrsprachigkeit, manifeste „SprachwechselSprachwechsel“ und „SprachmischungSprachmischung“.16SprachwechselSprachwechsel in Texten werden in Anlehnung an den linguistischen Begriff des Code-SwitchingsCode-Switching als „[U]mschalten“ zwischen unterschiedlichen Sprachen verstanden.17 Das Phänomen läge dann vor, „wenn stellenweise von der Grundsprache [eines Textes] in eine andere Sprache gewechselt wird.“18Sprachmischung wird in Beziehung zu KontaktsprachenKontaktsprachen gesetzt.19 Von einer Kontaktsprache wird in der Linguistik gesprochen, wenn die „Strukturen und Elemente“ mindestens zweier Sprachen miteinander kombiniert werden, sodass eine neue Sprache erzeugt wird.20 Blum-Barth zählt hierzu auch die Entstehung von „Phantasiesprachen“.21 Die grammatischen Kombinationsmöglichkeiten können alle sprachlichen Ebenen, von der Syntax über die Morphologie bis hin zur Lexik, betreffen. Latente mehrsprachige Verfahren rücken erst jüngst vermehrt in den Forschungsmittelpunkt.22 Latente literarische MehrsprachigkeitMehrsprachigkeit, latente sei in der „Tiefenstruktur des Textes verortet“ und an der Oberfläche des Textes nicht sichtbar.23 Ein Text sei immer dann latent mehrsprachig, „wenn andere Sprachen nur unterschwellig vorhanden und nicht unmittelbar wahrnehmbar sind; er weist also auf den ersten Blick eine einsprachige Oberfläche auf.“24 Zu häufigen Realisierungsformen zählen Sprachreflexionen und Sprachverweise, aber auch Übersetzungen.25

Die vorliegende Arbeit schließt sich dem engeren Verständnis von literarischer Mehrsprachigkeit aus pragmatischen Gründen an, da sie sich zum Ziel setzt, die Techniken mehrsprachigen Schreibens zu untersuchen. Konzentriert wird sich auf manifeste Mehrsprachigkeitsverfahren innerhalb eines Textes mit Blick auf die Mehrsprachigkeit der Autoren. Denn gerade auf der Textoberfläche sichtbare Mehrsprachigkeitsverfahren wie die des SprachwechselsSprachwechsel und der SprachmischungSprachmischung erlauben Bezüge zu linguistischen Forschungsansätzen. Das verdeutlicht auch die Studie von Dagmar Winkler. In ihrem Aufsatz „,Code-SwitchingCode-Switching‘ und Mehrsprachigkeit. Erkennbarkeit und Analyse im Text“ (2010) weist sie nach, dass viele manifest mehrsprachige TexteMehrsprachigkeit, manifeste der Autorin Marica Bodrožićs den Prozess des linguistischen Code-SwitchingsCode-Switching ästhetisch abbilden.26 Auch in dem von Till Dembeck und Rolf Parr 2017 herausgegebenen Handbuch „Literatur und Mehrsprachigkeit“ greifen linguistische und literaturwissenschaftliche Parameter Hand in Hand.27 Sprachwissenschaftliche Methoden können gemäß Till Dembeck auch auf literarische Texte zur literaturwissenschaftlichen Erfassung angewendet werden.28 Er betont allerdings den Unterschied zwischen mündlichen und schriftlich fixierten Phänomenen, die zudem in einem literarischen Kontext stehen:

Natürlich können diese linguistischen Beschreibungsmodelle einzelne philologische Befunde nicht aus sich heraus erklären. Sie erleichtern es aber, abzuschätzen, inwiefern sich ein Text an den linguistischen Gegebenheiten seines Kontextes bzw. des Kontextes der dargestellten Handlung orientiert, inwiefern seine Mehrsprachigkeit also ,akkurat‘ ist.29

Diese Erkenntnis ermöglicht die Einschätzung, inwiefern die Mehrsprachigkeit der außerliterarischen Realität imitiert und stilisiert wird. Einen sprachwissenschaftlichen Fokus setzt auch Anna Benteler in ihrer Monografie „Sprache im ExilExil. Mehrsprachigkeit und Übersetzung als literarische Verfahren bei Hilde Domin, Mascha Kaléko und Werner Lansburgh“ (2019). Darin nutzt sie Konzepte mehrsprachiger Praktiken wie Code-SwitchingCode-Switching und SprachtransferSprachtransfer aus dem Bereich der linguistischen Mehrsprachigkeitsforschung als Referenzpunkte zur systematischen Analyse der Mehrsprachigkeit in den literarischen Texten.30

Sowohl in der Literaturwissenschaft als auch in der Linguistik herrscht Einigkeit darüber, dass (literarische) Mehrsprachigkeit ein Phänomen darstellt, das beide Disziplinen gleichermaßen behandeln und das deshalb zu einer gegenseitigen Bereicherung führen kann. Doch wie sehen diese Schnittstellen und die damit einhergehende Bereicherung für die Analyse mehrsprachiger Texte konkret aus? Um hier mehr Klarheit zu schaffen, ist es zunächst notwendig, die unterschiedlichen Forschungsparadigmen beider Disziplinen genauer zu betrachten, als es bisher geschah. Anhand zweier, in der Literatur häufig vorkommender, manifester MehrsprachigkeitspraktikenMehrsprachigkeit, manifeste und ihrer Konzepte – SprachwechselSprachwechsel/Code-SwitchingCode-Switching und SprachmischungSprachmischung/SprachtransferSprachtransfer – können anschließend potenzielle Schnittstellen und der Mehrwert dieser für die Analyse mehrsprachiger literarischer Texte herausgearbeitet werden.

2.Schnittstellen: Literatur – Linguistik – Mehrsprachigkeit

Gesprochene und geschriebene Sprache unterliegen unterschiedlichen Gesetzmäßigkeiten. Es gibt zwar einen klassischen Sender und Empfänger und dazwischen einen Kanal, aber die Kommunikation läuft anders ab. Die unterschiedlichen Gesetzmäßigkeiten hängen, so Riehl, beispielsweise mit der Anwesenheit bzw. Abwesenheit der Kommunikationspartner im Raum zusammen.1 Gesprochene und geschriebene Sprache unterliegen aber auch unterschiedlichen Produktionsbedingungen: „Während man im Gesprochenen unmittelbar sprachlich handeln muss, hat man in einer typischen schriftlichen Situation mehr Planzeit“2, aber auch Korrekturzeit. Auch die Rezeption unterscheidet sich: Das gesprochen Wort sei „flüchtig, kann nur einmal wahrgenommen werden, und ist darüber hinaus nur linear wahrnehmbar. Wenn Äußerungen in geschriebener Form vorliegen, kann man sie wiederholt lesen“3, Dinge nachschlagen – zum Beispiel unbekannte Wörter. Sicherlich gibt es auch Mischformen, wie Vorträge, die als (medial) mündlich, aber konzeptionell schriftlich zu bestimmen sind. Diese unterschiedlichen Gesetzmäßigkeiten werden auch relevant, wenn es um die Betrachtung von (literarischer) Mehrsprachigkeit geht.

Tatsächlich handelt es sich bei Mehrsprachigkeit um ein genuin mündliches Phänomen, das es schon immer gegeben hat – auch in der Literatur, entsprechend der gelebten Sprachrealität.4 Das seit der Antike bekannte FigurengedichtFigurengedicht, für das nicht nur die Überschreitung der konventionellen Grenzen eines Textes zu den Strukturen eines Bildes hin charakteristisch ist, sondern auch die Überschreitung von Sprachgrenzen zwischen dem Lateinischen und dem Griechischen, ist beispielhaft.5 Die systematische Untersuchung von Mehrsprachigkeit in literarischen Texten nimmt erst Mitte des 20. Jahrhunderts ihren Anfang.6 Die ersten analytischen Betrachtungen finden ihren Ausgangspunkt in der Dichtung. In den 30er Jahren des 19. Jahrhunderts leistet Friedrich Wilhelm Genthe mit seiner Monografie zur „Geschichte der Macaronischen PoesiePoesie“ (1829), die er um eine „Sammlung der vorzüglichsten Denkmale“ makkaronischer Dichtungmakkaronische Dichtung ergänzt, „Pionierarbeit“.7 Genthe etabliert einen der ersten Termini für mehrsprachige Literatur, die er jedoch auf das Scherzhafte, Komische reduziert. Lange Zeit überwiegt die Ansicht, multilinguale Texte als scherzhaftes Randphänomen zu betrachten.8 Alfred Liede ist eine der ersten Forschungsstimmen, die davon abrückt. Sein zweibändiges Werk „Dichtung als Spiel. Studien zur Unsinnspoesie an den Grenzen der Sprache“ (1963) thematisiert zwar ebenso ludische Formen der mehrsprachigen Dichtung. Liede betont allerdings eine gewisse Ernsthaftigkeit dahinter und stellt sprachpolitische Funktionen heraus. Die makkaronische Poesie betrachtet er als eine Reaktion auf die puristische Sprachpolitik der (italienischen) Humanisten.9 Er sieht darin eine Parodie des humanistischen Gelehrtenlateins.10 In den folgenden Jahrzehnten wird Mehrsprachigkeit in der Regel auf einen Kontext außerhalb des Textes zurückgeführt. Im Mittelpunkt stehen die Mehrsprachigkeit der Autorinnen und Autoren oder literarische Diskurse, die als besonders anfällig für Mehrsprachigkeit galten, so zum Beispiel die MigrationsliteraturMigrationsliteratur oder die ExilliteraturExil.11 Erst in den letzten Jahren rückt die Betrachtung der konkreten Sprachlichkeit als Interpretationselement stärker in den Blick der Forschung.12

Ihren Anfang nimmt die Mehrsprachigkeitsforschung in der Sprachwissenschaft mit der BilingualismusforschungBilingualismusforschung zu Beginn des 20. Jahrhunderts.13 Im Fokus steht zunächst die Zweisprachigkeit sowohl in Bezug auf Einzelpersonen (individueller Bilingualismus) als auch auf ganze Gesellschaften (gesellschaftlicher Bilingualismus). Im Laufe der Zeit haben sich unterschiedliche Forschungsrichtungen ausgeprägt, die sich mit verschiedenen Aspekten der Mehrsprachigkeit beschäftigen. Drei zentrale sind: die soziolinguistische Mehrsprachigkeitsforschung, die kognitiv-psycholinguistische Mehrsprachigkeitsforschung und die SprachkontaktforschungSprachkontakt.14 Gegenstand der soziolinguistischen Untersuchungen ist einerseits die soziale, politische und kulturelle Bedeutung sprachlicher Systeme und der Variationen des Sprachgebrauchs sowie andererseits die kulturell und gesellschaftlich bedingten Einflüsse auf die Sprache. Psycholinguistische Untersuchungen fokussieren vorrangig das mehrsprachige Verhalten und Erleben eines Individuums – vom Spracherwerb über das Sprachwissen bis hin zur Sprachverarbeitung. SprachkontaktSprachkontakt bezeichnet das Aufeinandertreffen von zwei oder mehreren Einzelsprachen oder sprachlichen Varietäten entweder auf kollektiver Ebene (Sprechergemeinschaft) oder auf individueller Ebene (einzelne Sprachbenutzer).15 Betrachtet man die Sprachkontaktphänomene beim Individuum, und darauf liegt im Folgenden der Fokus, spricht man von Sprach-„TransferSprachtransfer“ und „Code-SwitchingCode-Switching“16.

Ein zentraler Teil der linguistischen Mehrspachigkeitsforschung ist die Untersuchung der grammatischen Bestimmungen und Strukturen von Transfer- und Code-SwitchingCode-Switching-Prozessen. Die grammatischen Regelmäßigkeiten des SprachwechselsSprachwechsel umfassen unter anderem die Erkenntnis, dass der Wechsel meist an Satzgrenzen, nach einem Teilsatz oder nach einem bestimmten Wort erfolgt. Dementsprechend wird zwischen intersententiellem Code-Switching, von Satz zu Satz, und intrasententiellem Code-Switching, innerhalb eines Satzes, unterschieden.17 Eine ähnliche grammatisch bedingte Differenzierung nimmt auch Dembeck vor, wenn er zwischen „alternational code-switching“, hierbei wird die Sprache am Übergang von Satz(-teil) zu Satz(-teil) gewechselt, und „insertional code-switching“, wenn einzelne anderssprachige Wörter verwendet werden, differenziert.18 Wie das zweite der folgenden Beispiele zeigt, kann es auch in einem literarischen Text zum Code-Switching kommen.

 

Beispiel 1 (realsprachlich)

Sprecher: Wenn ich so gestresst von der Arbeit komme, gehe ich in meinen Garten und well look after my flowers. Ähm… Ich kümmere mich um meine Blumen, gieße sie und ziehe Unkraut.

Beispiel 2 (literarisch)

Richtig ist, dass Weiße ebenso betroffen sind von den Fragen, die mit Rassismus zusammenhängen. […] [W]ährend der besserwisserische Kompetenztonfall des amerikanischen Idioms an den falschen Stellen mit Vorschlaghämmern hantiert, können sich andererseits von unschuldig tuenden Fragen und passiven Zuhörerangeboten Betroffene verarscht und alleingelassen vorkommen. How to be a good ally muss ich von Fall zu Fall entscheiden, durch Haltung und Taten mehr als durch Worte.19

In beiden Beispielen kommt es zu einem intrasententiellen SprachwechselSprachwechsel bzw. Code-SwitchingCode-Switching. Das erste, mündliche Beispiel stammt von einem englischen Auswanderer in Deutschland und entstand im Kontext einer Frage nach dem Befinden. In der linguistischen Mehrsprachigkeitsforschung geht man davon aus, dass die Wechsel in eine andere Sprache bestimmte Bedeutungen haben. Die eingebettete englische Einheit hängt beim ersten Beispiel mit der Mehrsprachigkeit des Äußernden zusammen und ist psycholinguistisch motiviert. Psychologisch motiviertes Code-Switching wird auch als nicht-funktionales Code-Switching bezeichnet. Der Wechsel erfolgt bei Sprechern unbewusst. Es steckt also keine intendierte kommunikative Funktion dahinter. Beispielhaft sind Äußerungen, in denen es nach dem Code-Switching zur Selbstkorrektur kommt, wie es beim ersten Beispiel der Fall ist. Auslöser für nicht-funktionales Code-Switching können sogenannte „triggerwords“ (dt. ,Auslösewörter‘) sein, mit denen ein vollständiger Wechsel in eine andere Sprache einhergehen kann. Triggerwords sind beispielsweise bilinguale Homophone, lexikalische Übernahmen oder Eigennamen, die den Übergang in eine andere Sprache erleichtern.20 Auslöser können aber auch strukturelle Ähnlichkeiten zwischen Sprachen sein.

Psychologisch motiviertes Code-SwitchingCode-Switching kann in literarischen Texten ebenso vorkommen. Da das Schreiben eines literarischen Textes jedoch selten ein unbewusster Prozess ist, handelt es sich in der Regel um eine Nachahmung. Das ist beim zweiten Beispiel der Fall, in dem Fragen und die Haltung zum Thema Rassismus erläutert werden. Es stammt aus dem literarischen, autobiografisch geprägten Essayband „Fast dumm. Essays von on the road“ (2017) der deutsch-amerikanischen Autorin Ann CottenCotten, Ann. Ann CottenCotten, Ann wurde in den Vereinigten Staaten von Amerika geboren, ist in Wien aufgewachsen und lebt nun dort sowie in Berlin. Die Essays entstanden unter anderem auf einer ausgedehnten Amerika-Reise. Der SprachwechselSprachwechsel im zweiten Beispiel hängt mit der Mehrsprachigkeit der Autorin zusammen, die auf die Figur mit dem Namen Ann CottenCotten, Ann übertragen wird. Die Mehrsprachigkeit hat damit die poetische Funktion einer realistischen Charakterzeichnung der handelnden Figur und es wird eine psycholinguistisch motivierte Sprachverwendung suggeriert. Der Sprachwechsel zeigt die Zugehörigkeit zum Land sowie zur Sprache an. Angelehnt an die Typologisierung von Blum-Barth und der dazugehörigen Funktionszuschreibung hat Mehrsprachigkeit hier folglich nicht nur die Funktion einer „sprachlichen Charakterisierung“, sondern ist auch Ausdruck der „Biografie“, der „Herkunft“ der Autorin.21 Dass sich der Sprachwechsel an den grammatischen Regelmäßigkeiten realsprachlicher Phänomene orientiert, bestärkt die beschriebenen poetischen Funktionen.

Erfolgt das Code-SwitchingCode-Switching aus pragmatischen Gründen, spricht man in der Linguistik von funktionalem Code-Switching. Die möglichen Funktionen können von der Verständnissicherung über Bevorzugung/Vermeidung bestimmter Wörter bis hin zu einer poetischen oder expressiven Absicht reichen. Letztere lässt sich in beiden Beispielen ausmachen: Die SprachwechselSprachwechsel hängen mit der jeweiligen Gefühlswelt zusammen. In seinem Garten fühlt sich der Sprecher von Beispiel eins ebenso wohl wie in der englischen Sprache, was mit einem Erinnerungsvorgang an seine Heimat zusammenhängt. Eine expressive, auf Emotionalität basierende Funktion22 lässt sich auch beim zweiten, literarischen Beispiel ausmachen. Linguistische Untersuchungen haben ergeben, dass ein Wechsel dann häufig erfolgt, wenn persönliche Werte und Einstellungen ausgedrückt werden.23 Wie zuvor, steht bei dem literarischen Beispiel auch die dargestellte expressive Funktion in einem poetischen Kontext und dient der Charakterisierung der Figur.

Zum funktionalen SprachwechselSprachwechsel kann es auch aufgrund von „äußeren Faktoren“24 kommen. Dazu zählt zum Beispiel die Situation:

Ein situativer SprachwechselSprachwechsel erfolgt als Konsequenz einer neuen Situation, die sich zum Beispiel durch den Wechsel des Gesprächspartners, des Themas oder des Ortes ergeben kann. Eine solche Situation kann im literarischen Text imitiert und damit als Ursache für einen Sprachwechsel angegeben werden. Sie kann jedoch ebenso die Schriftstellerin oder den Schriftsteller betreffen, wenn diese/dieser beispielsweise während des Schreibprozesses in ein anderes Land reist und die Erfahrungen der anderen Sprache und Kultur in den Text einfließen lässt.25

Der SprachwechselSprachwechsel ist in beiden Beispielen auch situativ motiviert. Beim ersten Beispiel hängt er mit dem Wechsel des Themas vom stressigen Arbeitsalltag hin zur entspannten Gartenarbeit in der Freizeit zusammen. Das Besondere am literarischen Beispiel ist, dass der Sprachwechsel auch im Zusammenhang mit der Reise und der Sprachkontaktsituation der Autorin steht. Das Beispiel stammt aus einem Essay, in dem Ann CottenCotten, Ann ihre Erlebnisse und Gedanken während eines Aufenthalts in Kansas City und Detroit darstellt. Diese englischsprachige Umgebung wird in der fiktiven Welt imitiert und beeinflusst die Figur. So heißt es früher im Essay:

Main Street entlang, feeling corn-fed-up, cruisend wie ein Studebaker Convertible, an der Videothek vorbei, mehreren verschiedenen Drive-in-Burgerbuden, Tankstellen. Organic Food, […].26

Beim literarischen Beispiel kommt mit der Verwendung der englischen Sprache noch eine andere Funktion hinzu, eine gesellschaftspolitische. Ann CottensCotten, Ann Essays entstehen im Rahmen einer Amerika-Reise kurz nach der Wahl von Donald Trump zum 45. Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika. „Was er nicht ertragen kann, kann er nicht kapieren“ lautet der Klappentext des Buches und darin lässt sich die Schreibhaltung der Autorin erkennen: Es geht weniger um die „objektive Auflistung der Realität“27, es geht um Eindrücke und deren Reflektion: „Beim Anflug auf New York hatte ich mehrere Aufgaben im Kopf. Eine von ihnen war, herauszufinden, was es mit dem Trump-Problem wirklich auf sich hat“28. Um zu „kapieren“, wie Donald Trump amerikanischer Präsident werden konnte, muss das Land an den Stellen „ertragen“ werden, an denen er gewählt wurde. Beschrieben wird ein Land voller Konflikte, sozialer Klüfte und innerer Verwerfungen.29 Das Thema Rassismus ist hierfür ein Beispiel.

Dass es Parallelen zwischen Sprach- und Literaturwissenschaft gibt, zeigen auch die folgenden Beispiele zur SprachmischungSprachmischung bzw. zum SprachtransferSprachtransfer. Während es beim Code-SwitchingCode-Switching zum Übergang von einer Sprache in die andere kommt und beide Sprachen unverändert bleiben, wird beim Sprachtransfer etwas von einer Sprache in eine andere übernommen und in deren System eingegliedert.30 Den Ausgangspunkt der grammatischen Analyse bildet die sogenannte Einfluss-Sprache. Nach ihrem grammatischen System wird die andere Sprache verändert. Werden die sprachlichen Elemente in die Zielsprache integriert, kommt es zur Entwicklung einer Zwischensprache. Das ist beispielsweise bei PidginsprachenPidginsprache der Fall. Die vereinfachten Sprachbildungen weisen kein vollständig ausgebautes Sprachsystem auf. Sie verfügen über einen begrenzten Wortschatz, eine einfache Grammatik und dienen dazu, die Kommunikation zwischen verschiedensprachigen Personen zu ermöglichen.31 Solche Zwischensprachen, oder auch Phantasiesprachen32, finden sich ebenso in der Literatur. Man denke an die Makkaronische Poesiemakkaronische Dichtung, die die Morphologie zweier Sprachen miteinander kombiniert. Die folgenden zwei Beispiele weisen klassische Transferprozesse auf:

 

Beispiel 3 (realsprachlich)

Sprecher A: Wo warst du gerade gewesen?

Sprecher B: Ich war gerade am Bahnhof, als es fing an schrecklich zu regnen.

engl. ,when it started to rain heavily‘

Beispiel 4 (literarisch)

Die Leute [in Los Angeles] sind so cool. Wieder packt mich die Sehnsucht danach, mich irgendwann irgendwo richtig zu integrieren. Vertraut zu werden. Man muss ja nicht alles als Problem framen Ann.33

engl. ,to frame‘, dt. ,rahmen, entwerfen‘

Transfererscheinungen können unterschiedliche Ebenen der Sprache betreffen und finden sich sowohl im mündlichen wie im schriftlichen, literarischen Sprachbereich. Im ersten Beispiel, bei dem es sich um mündliche Äußerungen handelt, kommt es zu einer Generalisierung der Verbzweitstellung für Haupt- und Nebensatz. Die Äußerung stammt von einem deutschen Auswanderer in Amerika und erfolgte im Rahmen eines Alltagsgesprächs. Das zweite Beispiel, in dem ein englisches Verb deutsch konjungiert wird, stammt erneut aus dem Essayband „Fast dumm“ (2017) der Autorin Ann CottenCotten, Ann.

Betrachtet man die Funktionen von SprachtransferSprachtransfer lassen sich ähnliche Befunde wie beim Code-SwitchingCode-Switching ausmachen.34 Es kann erneut zur bewussten Mischung aus funktionalen Gründen kommen, zum Beispiel aus diskursstrategischen Gründen, um die Zugehörigkeit zu einer Gruppe, Kultur oder auch Sprache anzuzeigen. Ebenso kann die Mischung unbewusst erfolgen und psychologisch motiviert sein. Letzteres trifft erneut auf das realsprachliche Beispiel zu, bei dem die SprachmischungSprachmischung auf interne Prozesse der Sprachproduktion, also auf die Mehrsprachigkeit des Äußernden zurückzuführen ist. Die Mehrsprachigkeit von Ann CottenCotten, Ann, so lässt sich annehmen, beeinflusst ebenso ihre Textproduktion. Dem literarischen Beispiel können zudem, neben einer realistischen Charakterzeichnung der Figur Ann CottenCotten, Ann, deren Sehnsucht dargestellt wird, sowie der literarischen Aufarbeitung der Reise, weitere poetisch-ästhetische Funktionen zugesprochen werden wie Klangästhetik35 oder ein mit dem Wort „framen“ einhergehender Aufmerksamkeits- und auch (falls unbekannt) Verfremdungseffekt – Blum spricht hier auch von der „Erzeugung des Nichtverstehens“36. Zwar ist die deutsche Konjugation des englischen Verbs per se nichts Neues, aber es sind Sprachgestaltungen wie diese, die neue sprachliche Strukturen hervorbringen, aufgreifen oder auch stärken können. In diesem Sinne sind sie auch für die Sprachwissenschaft von Interesse.37

3.„die rache der sprache ist das gedichtGedicht“ – zwischen grammatischer Regelmäßigkeit und poetischer Sprachinvention

Ähnliche Formen, ähnliche Funktionen – die eine Hälfte der vier angeführten Beispiele ist realsprachlich/mündlich, die andere literarisch/schriftlich und sie alle zeigen die Gemeinsamkeiten zwischen den sprachwissenschaftlichen und den literarischen Phänomenen der Mehrsprachigkeit. Als Vergleichspunkt zur genaueren Betrachtung von Sprachdifferenzen in literarischen Texten werden in der Literaturwissenschaft zunehmend realsprachliche Phänomene und linguistische Termini und Parameter herangezogen – insbesondere die des Code-SwitchingsCode-Switching und Sprachtransfers. Ebenso wie die Parallelen werden auch die Unterschiede hervorgehoben. Auslöser bei Sprechern, wie Situationsgebundenheit oder Spontanität, oder Funktionen wie Wortfindungsschwierigkeiten werden nur als bedingt auf literarische Texte anwendbar angesehen. Ähnliches gilt für grammatische Regelmäßigkeiten. Entscheidend ist der Unterschied zwischen mündlichen und schriftlich fixierten Phänomenen, die zudem in einem literarischen Kontext stehen. Diese Differenz zeigten auch die vier Beispiele auf. Welche Schlussfolgerungen lassen sich daraus für die Analyse mehrsprachiger Literatur ziehen? Natürlich lässt sich mit linguistischen Begrifflichkeiten und Beschreibungsmodellen arbeiten, um zum Beispiel zu analysieren, wie Prozesse wie SprachtransferSprachtransfer oder Code-SwitchingCode-Switching in literarischen Darstellungen funktionieren.1 Doch die Analyse steht unter anderen Vorzeichen. Es gilt, unterschiedliche Aspekte zu berücksichtigen: Die aus pragmatischen Gründen gesetzten Begrifflichkeiten und schematischen Modelle der Linguistik müssen in Anbetracht der Beweglichkeit der Sprache und des Sprachwandels ihre Grenzen haben und zunächst für provisorisch gehalten werden. Es liegt in der Natur der Begrifflichkeiten und Konzepte, Gegenstände und Sachverhalte zu vereinfachen und zu vereinheitlichen. Schon Wilhelm von HumboldtHumboldt, Wilhelm von unterschied in Bezug auf die Sprache zwischen Ergon und Energeia, also dem systematischen Aspekt von Sprache, ihrer Orientierung an Regeln einerseits, und ihrem kreativen Potenzial, die Regeln überschreitenden und den Sprachwandel antreibenden Gebrauch andererseits: „Die Sprache, in ihrem wirklichen Wesen aufgefaßt, ist etwas beständig und in jedem Augenblicke Vorübergehendes. Selbst ihre Erhaltung durch die Schrift ist immer nur eine unvollständige, mumienartige Aufbewahrung […]. Sie selbst ist kein Werk (Ergon), sondern eine Tätigkeit (Energeia)“.2 Insbesondere mehrsprachige Texte zeichnen sich meist gerade dadurch aus, das kreative Potenzial von Sprache auszuschöpfen. Sie arbeiten mit der Beweglichkeit der Sprache, potenzieren sie gleichsam. Es handelt sich um Merkmale, die Literatur grundsätzlich kennzeichnen:

Man muss davon ausgehen, dass sich im konkreten, stets singulären Sprachgebrauch und zumal in der Literatur, die ja in besonderer Weise auf die Originalität ihrer Ausdrucksmittel bedacht ist, immer schon eine beständige Veränderung dessen vollzieht, was man als Sprachsystem [bzw. Sprachnorm] bezeichnet.3

Neben dem Unterschied zwischen schriftlicher und gesprochener Sprache sind es vor allem poetische Vorzeichen, die bei der Betrachtung von literarischen Texten in den Mittelpunkt rücken. Die Alltagssprache wird in der Literatur imitiert, reproduziert, ist jedoch mit ihr nicht identisch. Literarische mehrsprachige Phänomene weisen unterschiedliche Formen der Stilisierung und Ästhetisierung der außerliterarischen Realität auf. Maßgeblich sind die eigenen literarischen Gesetzmäßigkeiten, die für den jeweiligen Text entworfen werden. Ernst JandlJandl, Ernst ist mit seiner besonderen Art des mehrsprachigen, avantgardistischen GedichtsGedicht ein prägnantes Beispiel, das zugleich zeigt, inwieweit die Übergänge zwischen den Phänomenen im linguistischen Sinne und poetischer Sprachinvention verwischt werden können. In seinem Gedicht „calypso“ (1957) verbindet er deutsche (nach Wiener Bauart) und pidgin-englische Bestandteile zu einer PoesiePoesie, die zahlreiche mehrsprachige Verfahren – auch SprachmischungSprachmischung und SprachwechselSprachwechsel – kombiniert:

calypso

 

 

 

ich was not yet

 

in brasilien

 

nach brasilien

 

wulld ich laik du go

[4]

 

 

wer de wimen

 

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so quait ander

 

denn anderwo

[8]

[…]

 

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[21]

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ich laik du go sehr […]4

 

Das GedichtGedicht handelt von der Sehnsucht nach einem fernen, fremden Land und der Kenntnis vieler fremder Sprachen. JandlJandl, Ernst