Mehrsprachigkeit und das Politische -  - E-Book

Mehrsprachigkeit und das Politische E-Book

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Beschreibung

Dieser Band vermittelt Kenntnisse zu aktuellen Entwicklungen in der deutschsprachigen und baltischen exophonen Literatur. Der besondere Schwerpunkt liegt auf der Wechselbeziehung zwischen Mehrsprachigkeit und dem Politischen. Der politische Aspekt bleibt dabei nicht auf das politische Engagement der Autoren oder die erzählten politischen Hintergründe beschränkt, sondern das Politische des Literarischen selbst wird in dem Sinne miteinbezogen, dass der politische Raum durch kulturelle Phänomene geformt wird, durch die Erzeugung von Weltansichten. Mit Yoko Tawada, José FA Oliver, Christian Kracht, Peter Waterhouse, Barbi Markovic, Margeris Zarinš und Gohar Markosjans sind nur einige der Autorinnen und Autoren genannt, deren Texte im Band untersucht werden.

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Seitenzahl: 1008

Veröffentlichungsjahr: 2020

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Marko Pajević

Mehrsprachigkeit und das Politische

Interferenzen in zeitgenössischer deutschsprachiger und baltischer Literatur

Narr Francke Attempto Verlag Tübingen

Der Druck des Bandes erfolgt mit freundlicher Unterstützung des Instituts für deutsche Sprache und Literatur und für Interkulturalität der Universität Luxemburg sowie der Universität Tartu. Die dem Band zugrundeliegende Forschung wurde unterstützt vom Baltisch-Deutschen Hochschulkontor sowie dem Europäischen Fonds für Regionale Entwicklung.

 

ISSN 2627-9010

 

 

© 2020 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen www.narr.de • [email protected]

 

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

 

ISBN 978-3-7720-8712-7 (Print)

ISBN 978-3-7720-0140-6 (ePub)

Inhalt

Interferenzen. EinführungLiteraturverzeichnisHeute sprechen. Literatur, Politik und andere Sprachen im Lied (Herder, Alunāns, Barons)1 Sprechen und Gegenwart2 Andere Sprachen I: Das Paradox der Synchronie (Saussure)3 Literatur I: Volkslieder und Muttersprache (Herder)4 Literatur II: Dseesminas und Dainas (Alunāns und Barons)5 Andere Sprachen II: Synchronie und ModerneLiteraturverzeichnisSprache und Schrift im baltischen Raum1 Gesprochene und geschriebene Sprachen2 Mehrsprachigkeit in der Literatur3 Postkoloniale Mehrsprachigkeit in Estland und Lettland4 Exophonie der heutigen Literatur(en) EstlandsLiteraturverzeichnisWiderspiegelungen der gesellschaftlichen Mehrsprachigkeit in der deutschbaltischen Literatur am Beispiel von Georg Julius von Schultz-Bertram, Monika Hunnius und Edzard Schaper1 Einleitung2 Soziokulturelle und sprachliche Rahmenbedingungen der analysierten Werke2.1 Georg Julius von Schultz-Bertram und die Zeit um die Mitte des 19. Jahrhunderts2.2 Monika Hunnius und ihr Rückblick auf Estland in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts2.3 Edzard Schaper und die gesellschaftlichen Umwälzungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts3 Elemente der Mehrsprachigkeit in den analysierten Werken3.1 Manifeste und latente Mehrsprachigkeit in den analysierten Texten3.2 Baltizismen in den analysierten Texten3.3 Estnisch in den analysierten Texten4 ZusammenfassungLiteraturverzeichnisVom historischen Erbe zur selbstbestimmten Sprach(en)politik? Literarische Mehrsprachigkeit in Litauen und Lettland1 Sowjetische Sprach(en)politik und ihre Auswirkungen auf die Literatur2 Sprach(en)politik und literarische Mehrsprachigkeit in Litauen3 Sprach(en)politik und literarische Mehrsprachigkeit in Lettland4 Übersetzungen im Kontext literarischer MehrsprachigkeitLiteraturverzeichnisÜber die Mehrsprachigkeit in den Romanen von Gohar Markosjan-Käsper1 Einleitung2 Gohar Markosjan-Käsper als Autorin transkultureller Literatur3 Zur Funktion der Mehrsprachigkeit in Gohar Markosjan-Käspers Romanen „Helena“ und Penelopa4 Zum SchlussLiteraturverzeichnisSprachwechsel in der neuesten litauischen Migrations- und Mobilitätsliteratur1 Einleitung2 Theoretische und methodische Grundlagen3 Kontextuelle Hintergründe: litauische Migrations- und Mobilitätsliteratur nach 20004 Sprachliche und kulturelle Hybridität in Gabija Grušaitės Roman Stasys Šaltoka5 SchlusswortLiteraturverzeichnisDinner with Mock Faustus: Multilingual Cuisine Cooks the Identity1 Shopping List2 To Each Language its Own Tongue3 Getting Groceries4 Literary Menu à la carte5 The Words on the Table6 Satur venter or Palatal Criticism of Words7 AftertasteBibliographyLiteratur – grundsätzlich mehrsprachig!? Das politische Potential literarischer Mehrsprachigkeit heute, am Beispiel von Barbi Marković’ Superheldinnen1 Einleitung2 Mehrsprachige Autorinnen und Autoren – Barbi Marković3 Barbi Marković’ Roman Superheldinnen als mehrsprachiger Text4 Grenzen und Herausforderungen literarischer MehrsprachigkeitLiteraturverzeichnis„Ich werde eingetaucht/in vás“? Peter Waterhouses Prosperos Land als Dynamisierung von T.S. Eliots The Waste LandLiteraturverzeichnisJosé F. A. Oliver zwischen Politik und Literatur: von Häusern, Müttern und MuttersprachenLiteraturverzeichnisSprachabenteuer: Yoko Tawadas exophone Erkundungen des Deutschen1 Abenteuer und Sprache2 Tawadas mehrsprachiges Denken3 Das Beispiel der Personalpronomina4 Die Konsequenzen für ein mehrsprachiges DenkenLiteraturverzeichnisMehrsprachige Literaturen gegen die „Pathologie des Universellen“. Die politische Relevanz von poetischem Sprachdenken heute1 Hintergrund2 In Sprachen denken: gegen den europäischen Sprach-Universalismus3 Die Strategie der intraduisibles in mehrsprachigen Literaturen: Gegen das monolinguale Paradigma als Universalität von oben4 Yoko Tawadas poetische Strategie der intraduisibles und die Erforschung einer lateralen UniversalitätLiteraturverzeichnis„Die Sprache hat also ihren Ort.“ Zur Mehrsprachigkeit von Maja Haderlaps Roman Engel des Vergessens1 Zur Mehrsprachigkeit von Text und Territorium2 Der Roman Engel des Vergessens als Entwicklungsgeschichte3 Historischer Exkurs4 Zum Verhältnis von Sprache und Erzählweise des Romans5 Das Leben im Niemandsland zwischen zwei Welten6 Sprachwechsel im Roman7 Zur Mehrsprachigkeit von Text und SpracheLiteraturverzeichnisSprach‑ und Weltalternativen: Mehrsprachigkeit als Ideologiekritik in kontrafaktischen Werken von Quentin Tarantino und Christian Kracht1 Alternativen: Sprachen, Welten und das Politische2 Quentin Tarantino: Inglourious Basterds3 Christian Kracht: Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten4 Tarantino und Kracht: Ein Vergleich5 Ausblick: Für eine Fiktionstheorie literarischer MehrsprachigkeitLiteraturverzeichnisTrain of language, train of thought: Notes of an exophonic anomalyIIIIIIIVVVIVIIVIIIIXXXIXIIBibliographyAutorinnen und AutorenSachregisterAdelbert-von-Chamisso-PreisPersonenregisterAistis, Jonas

InterferenzenInterferenz. Einführung

Marko Pajević

Interferenz ist ein Begriff aus der Physik und bezeichnet die Änderung der Amplitude bei der Überlagerung von Wellen. Die verschiedenen Wellen durchdringen einander und ihre Ausschwingungen treten miteinander in Beziehung und verstärken einander beziehungsweise gleichen einander aus. Es ist ein Phänomen des Zwischen, inter, und der Gegenseitigkeit bei einem Zusammentreffen.

Sprache besteht aus Schallwellen und jedes Sprechen hat seinen eigenen Sprachfluss. Allerdings sollten wir uns dabei nicht die regelmäßig an den Strand schlagenden Wellen eines Meeres vorstellen, sondern eher das Fließen eines Flusses, also eine sich unablässig ändernde Form in Bewegung. Émile BenvenisteBenveniste, Émile hat auf diese vorplatonische Bedeutung des Wortes RhythmusRhythmus/rhythm hingewiesen (Benveniste 1966) und Henri MeschonnicMeschonnic, Henri hat dies zur Grundlage seiner Rhythmustheorie gemacht (Meschonnic 1982), die nicht nur für die Sprach- und Literaturtheorie von großer Bedeutung ist, sondern sich als PoetikPoetik/poetics der Gesellschaft versteht, also unsere SprachstrukturenSprachstrukturen mit unseren Denkstrukturen gleichsetzt und somit auf unsere Vorstellungen von Welt schließen lässt.

Wilhelm von HumboldtHumboldt, Wilhelm von nannte Sprachen „WeltansichtenWeltansicht“ (Humboldt IV:27). Die Sprache, die wir sprechen, gibt uns die Perspektive auf die Welt. Sprache bestimmt unsere Beziehungen zur Welt und zu uns selbst. Dabei dürfen wir uns die NationalsprachenNationNationalsprache nicht als Gedankengefängnisse denken, wir können durchaus individuell über die Sprachkonvention Sprachkonvention hinausdenken und tun dies im jeweiligen Sprechen immerzu (TrabantTrabant, Jürgen 2003: 277). Im Prinzip hat jedes Individuum eine individuelle Sprache, geprägt durch die individuellen Erfahrungen und Assoziationen. Laut Humboldt gibt es letztlich genauso viele WeltansichtenWeltansicht wie es Individuen gibt. Bis zu einem gewissen Grad jedoch ist unser Denken, das für Humboldt mit unserer Sprache gleichzusetzen ist, durch die jeweilige NationalspracheNationNationalsprache mitgeprägt.

MehrsprachigkeitMehrsprachigkeit greift dementsprechend selbstverständlich in diese Weltvorstellungsprozesse ein und lässt die WeltansichtenWeltansicht überlappen, dabei kommt es zu InterferenzenInterferenz. Verschiedene WeltansichtenWeltansicht kommen miteinander ins Schwingen und beeinflussen einander, neue Schwingungen entstehen. Sprachliche InterferenzenInterferenz wirken kreativ. Anders als in der Physik, in der es lediglich eine Verstärkung oder eine Auslöschung der Amplitude gibt, entstehen bei sprachlichen InterferenzenInterferenz unzählige kleine Schwingungsveränderungen, die jeweils die Perspektive auf die Dinge verschieben und erweitern. Eine erweiterte Perspektive auf die Welt aber ist eine größere Welt, ganz im Sinne von Ludwig WittgensteinsWittgenstein, Ludwig berühmtem Satz: „Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt.“ (Wittgenstein 1963: Satz 5.6) Mehrsprachigkeit ist eine Entgrenzung, eine Möglichkeit, neue Sichtweisen einzunehmen.

MehrsprachigkeitMehrsprachigkeit, es sei an dieser Stelle erneut betont, ist keineswegs die Ausnahme, sondern weltweit eher der Normalfall. Es gibt keinen Ort ohne Vermischung von Kulturen und Sprachen – und das auf verschiedensten Ebenen. Jede Sprache ist in sich mehrsprachigMehrsprachigkeitmehrsprachig und hat sich im Austausch mit diversen anderen Sprachen entwickelt. Immer und überall haben Menschen verschiedener Kulturen und Sprachen zusammengelebt oder Handel miteinander getrieben. Auch der geistige Austausch hat seit Urzeiten stattgefunden und ist geradezu die Grundlage aller kulturellen Entwicklung. Nicht umsonst wurde immer wieder darauf hingewiesen, dass die Sprache EuropasEuropa (und nicht nur EuropasEuropa) die ÜbersetzungÜbersetzung/translation ist.1 Die grundlegenden Texte unserer Zivilisation sind ÜbersetzungenÜbersetzung/translation,2 in EuropasEuropa Fall die Bibel und die griechischenGriechischgriechisch Philosophen, die nahezu von keinem Europäer im Original rezipiert werden.

Die Vorstellung von EinsprachigkeitEinsprachigkeit ist dementsprechend ein Konstrukt, das an den Realitäten unserer SprachkonstitutionSprachkonstitution vorbeigeht. Und selbst wenn wir Sprache auf der einfachsten Ebene als DeutschDeutschlandDeutsch, EnglischEnglisch/English, LitauischLitauenLitauisch usw. verstehen, gibt es weltweit weitaus mehr Sprechende von mehreren solchen Sprachen als wirklich Einsprachige.

InterferenzenInterferenz zwischen und innerhalb der Sprachen sind also allgegenwärtig und sie prägen das Miteinander der Menschen. Insofern das PolitischePolitik/politicsPolitische, das die Organisation der gesellschaftlichen Beziehungen ist und unsere Sprache als unsere WeltansichtWeltansicht unsere Beziehungen prägt, ist Sprache nicht vom PolitischenPolitik/politicsPolitische, das zu trennen und das PolitischePolitik/politicsPolitische, das ohne das Sprachliche undenkbar – ganz abgesehen davon, dass Begriffe immer sprachlich sind und man dementsprechend immer in Sprache denkt.

Der vorliegende Band möchte aus der Perspektive literarischer MehrsprachigkeitMehrsprachigkeit Licht auf dieses Wechselverhältnis zwischen PolitischemPolitik/politicsPolitische, das und Sprache werfen. Wie wirkt sich Mehrsprachigkeit auf das Leben in Gemeinschaft aus? Der Blickwinkel ist dabei in erster Linie die ExophonieExophonie, also Literatur, die in einer ZweitspracheZweitsprache geschrieben wurde und diesen sprachlichen Umstand in irgendeiner Weise thematisiert (vgl. Arndt/Naguschewski/Stockhammer 2007 sowie Ivanovic 2017: 172). ExophoneExophonieexophon/exophonic Literatur ist ein privilegiertes Feld für das Verständnis der mehrsprachigenMehrsprachigkeitmehrsprachig Prozesse, da SchriftstellerInnen allgemein einen bewussteren Umgang mit Sprache haben müssen und dementsprechend ihre sprachliche Situation der Exophonie reflektieren. Natürlich sind ihre vertieften und intimen Kenntnisse von mindestens zwei Kulturen auch von politischemPolitik/politicspolitisch/political Interesse, aber es soll hier nicht nur um die Schilderung politischerPolitik/politicspolitisch/political Hintergründe und Situationen gehen oder um daraus erfolgendes politischesPolitik/politicspolitisch/political Verständnis und Engagement. Vielmehr interessiert hier das PolitischePolitik/politicsPolitische, das des Literarischen selbst, also die Frage, inwiefern der politischePolitik/politicspolitisch/political Raum durch sprachliche Phänomene geformt wird, durch die Erzeugung von WeltansichtenWeltansicht.

Der Großteil der hier versammelten Beiträge wurde bei einer von mir organisierten und vom Baltisch-DeutschenDeutschlandDeutsche Hochschulkontor finanzierten Konferenz mit dem Titel MehrsprachigkeitMehrsprachigkeit und PolitikPolitik/politics in zeitgenössischer deutschsprachigerDeutschlanddeutschsprachig und baltischer Kultur in Tartu vom 14. bis 15. November 2019 vorgestellt. Dieser Band vermittelt dementsprechend Kenntnisse zu aktuellen Entwicklungen in der deutschsprachigenDeutschlanddeutschsprachig und baltischenBaltikumBaltischexophonenExophonieexophon/exophonic Literatur. Mit baltisch sind hier die heutigen drei Baltischen Republiken gemeint: EstlandEstland/Estonia, LettlandLettland/Latvia und LitauenLitauen. DeutschsprachigDeutschlanddeutschsprachig ist offensichtlich ein problematischer Begriff in diesem Zusammenhang, in dem ja gerade die Mehrsprachigkeit auch in den deutschsprachigenDeutschlanddeutschsprachig Ländern thematisiert wird – es soll damit lediglich deutlich gemacht werden, dass es um Literatur aus DeutschlandDeutschland, ÖsterreichÖsterreich und der SchweizSchweiz geht. Andere deutschsprachigeDeutschlanddeutschsprachig Länder und Regionen werden leider hier nicht behandelt.

Es gibt ja in den letzten Jahren eine Fülle von Veröffentlichungen zu ExophonieExophonie und MehrsprachigkeitMehrsprachigkeit – auch das ist ein Zeichen der politischenPolitik/politicspolitisch/political Relevanz in unserer heutigen gesellschaftlichen Situation. Allein die Herausgabe eines Handbuchs zu Literatur und Mehrsprachigkeit (Dembeck/Parr 2017) sowie die Existenz der von Till Dembeck und Rolf Parr herausgegebenen Buchreihe Literarische MehrsprachigkeitMehrsprachigkeitliterarische Mehrsprachigkeit/Literary Multilingualism, in der auch die vorliegende Veröffentlichung erscheint, spricht wortwörtlich Bände. Allerdings dürfte dem deutschsprachigenDeutschlanddeutschsprachig Publikum bisher wenig zur diesbezüglichen Situation in den baltischenBaltikumBaltisch Republiken bekannt sein. Dabei gibt es ja sehr alte Verbindungen zwischen dem deutschenDeutschlanddeutsch und dem baltischenBaltikumBaltisch Kulturraum. Die baltischenBaltikumBaltisch Länder, vor allem LettlandLettland/Latvia und EstlandEstland/Estonia, lassen sich ohne den deutschenDeutschlanddeutsch kulturellen Einfluss nicht verstehen, und auch die deutscheDeutschlanddeutsch Kultur hat große Bereicherungen aus dem BaltikumBaltikum empfangen (wenn eine solche Trennung zwischen baltischer und deutschbaltischerDeutschbaltendeutschbaltisch Kultur geschichtlich großteils überhaupt sinnvoll ist), viele bedeutende deutscheDeutschlanddeutsch Denker und Dichter stammen aus diesem Gebiet bzw. haben dort für längere Zeit gelebt, KantKant, Immanuel und HerderHerder, Johann Gottfried fallen einem wohl als erstes ein (wobei Königsberg ja nicht zu den heutigen baltischenBaltikumBaltisch Republiken, wohl aber zum historischenhistorisch Kulturraum zählt), Hamann, Lenz, Keyserling und Bergengruen sind weitere. Die Beiträge zur Literatur aus EstlandEstland/Estonia, LettlandLettland/Latvia und LitauenLitauen sind also eine besondere Bereicherung der Mehrsprachigkeitsdiskussion im deutschsprachigenDeutschlanddeutschsprachig Raum.

Im Übrigen findet sich selbst im BaltikumBaltikum relativ wenig Forschungsliteratur zu zeitgenössischer mehrsprachigerMehrsprachigkeitmehrsprachig und exophonerExophonieexophon/exophonic Literatur und auch deren politischePolitik/politicspolitisch/political Dimension wird wenig behandelt. Die Debatte, gerade in Bezug auf die Germanistik, befasst sich weit überwiegend mit der Geschichte, meist derjenigen vor der Entstehung der baltischenBaltikumBaltisch Republiken nach dem Ersten WeltkriegWeltkriegErster Weltkrieg. Das hat gute Gründe, denn seit 1919 spielt das DeutscheDeutschlandDeutsch kaum noch eine Rolle in diesen Ländern und wurde spätestens 1944 mit der sowjetischenSowjetunionsowjetisch/Soviet Okkupation politischPolitik/politicspolitisch/political inopportun. Zwar haben gebildete Balten der älteren Generationen noch gut DeutschDeutschlandDeutsch gelernt, aber wie überall im östlichen EuropaEuropa hat die Bundesregierung nach 1990 versäumt, diese bestehenden Strukturen ausreichend zu unterstützen, und heute lernen nurmehr wenige junge Balten diese in ihrer Geschichte so wichtige Sprache – EnglischEnglisch/English ist auch hier mittlerweile ganz eindeutig die internationale Verkehrssprache. Die bis Anfang des 20. Jahrhunderts kulturell dominierenden DeutschbaltenDeutschbalten und ihre Sprache sind Vergangenheit und wenn es heute exophoneExophonieexophon/exophonic Literatur im BaltikumBaltikum gibt, so ist diese eher mit dem RussischenRusslandRussisch/Russian als mit dem DeutschenDeutschlandDeutsch verknüpft.

Doch gerade solche Verschiebungen führen beeindruckend vor Augen, wie sehr Sprachen politischPolitik/politicspolitisch/political sind und wie sehr die PolitikPolitik/politics in die Sprachsituation eingreift und sich der wichtigen Rolle von Sprache und Sprachen bewusst ist. Heute ist die Frage der SprachpolitikSprachpolitik in den baltischenBaltikumBaltisch Republiken von größter Bedeutung in dem heiklen Balanceakt zwischen neu gewonnener Selbstbestimmung und Selbstbehauptung sowie wirtschaftlich und politischPolitik/politicspolitisch/political notwendiger Internationalisierung. MehrsprachigkeitMehrsprachigkeit in der Literatur, ebenso wie exophoneExophonieexophon/exophonic und mehrsprachigeMehrsprachigkeitmehrsprachig AutorInnen, spielen in diesen ständigen Identitätsfindungsprozessen einer Gesellschaft eine nicht zu unterschätzende Rolle.

In der Überzeugung, dass sowohl die deutscheDeutschlanddeutsch als auch die baltische Seite aus einer besseren Kenntnis der Konstellationen, Probleme und Phänomene des anderen lernen kann, geht die Zielsetzung dieses Bandes also in beide Richtungen: Diese Sammlung möchte gegenseitig informieren über die Hintergründe und die jüngsten Entwicklungen auf einem sowohl literarisch als auch politischPolitik/politicspolitisch/political spannenden und relevanten Gebiet.

 

Der Band beginnt mit vier Beiträgen, die sich den sprachgeschichtlichen Hintergründen der Literatur im BaltikumBaltikum widmen, wobei die deutschDeutschlanddeutsch-baltische Verflechtung und die Schwierigkeiten einer nationalenNationnational Literaturgeschichtsschreibung offenkundig wird. Allerdings nähern sich die AutorInnen dieser Frage aus unterschiedlichen Richtungen und mit unterschiedlichem Augenmerk.

Zunächst untersucht Till Dembeck drei VolksliedersammlungenVolkVolkslied aus der Zeit vom späten 18. Jahrhundert bis etwa 1900 sowie deren kulturpolitischePolitik/politicskulturpolitisch Bedeutung. 1778/79 hat der zu jener Zeit in Riga lebende Johann Gottfried HerderHerder, Johann Gottfried im Kontakt mit den baltischenBaltikumBaltisch Sprachen über seine VolksliedersammlungVolkVolkslied auf DeutschDeutschlandDeutsch einen poetischenPoetik/poeticspoetisch Neuanfang für die deutschDeutschlanddeutscheDeutschlanddeutsch Literatur ausgelöst und zugleich der VolkskulturVolk und zuvor für minderwertig erachteten Völkern zur kulturellen und politischenPolitik/politicspolitisch/politicalEmanzipationEmanzipation verholfen. Juris AlunānsAlunāns, Juris hat dann 1856 mit einer Sammlung von ins LettischeLettland/LatviaLettisch/Latvian übersetzten europäischenEuropaeuropäisch Gedichten die lettischeLettland/Latvialettisch Sprache modernisiert und an die europäischenEuropaeuropäisch Literaturen angeschlossen. Krišjānis BaronsBarons, Krišjānis dann hat um 1900 lettischeLettland/LatvialettischVolksliederVolkVolkslied herausgegeben, um die von Herder initiierte EmanzipationsbewegungEmanzipation weiterzuführen.

Liina Lukas bietet einen historischenhistorisch Abriss der baltischenBaltikumBaltisch literaturgeschichtlichen Entwicklung mit Hinblick auf die SchriftSchrift- und Sprachensituation in EstlandEstland/Estonia und LettlandLettland/Latvia. Sie zeigt, wie sehr die estnischeEstland/Estoniaestnisch Literatur in ihren Anfängen mit dem DeutschbaltischenDeutschbaltenDeutschbaltisch zusammenhängt und erst nach und nach in Auseinandersetzung und Reibung mit diesen Anfängen eine eigene Literatur entwickelt. Ihr Überblick führt bis in unsere Zeit und erlaubt, die Verschiebungen im Zusammenhang mit den politischPolitik/politicspolitisch/political-geschichtlichen Veränderungen besser zu verstehen.

Natalia Blum-Barths Beitrag bietet einen ähnlichen Überblick über die literarische Situation in LitauenLitauen und LettlandLettland/Latvia. Sie konzentriert sich dabei zunächst auf die sowjetischeSowjetunionsowjetisch/Soviet Sprach(en)politik und zeigt diverse Formen literarischer MehrsprachigkeitMehrsprachigkeit auf. Anschließend untersucht sie die literarische Mehrsprachigkeit im postsowjetischenSowjetunionpostsowjetisch Litauen und LettlandLettland/Latvia und die entsprechenden sprach(en)politischen Tendenzen. Ein besonderes Augenmerk gilt dabei auch der literarischen ÜbersetzungÜbersetzung/translation.

Maris Saagpakk hat gemeinsam mit ihren Studierenden Marin Jänes, Annika Saar und Marianne Laura Saar Mehrsprachigkeitsformen in der deutschbaltischenDeutschbaltendeutschbaltisch Literatur EstlandsEstland/Estonia untersucht mit Hinblick auf die Funktionen der MehrsprachigkeitMehrsprachigkeit und um die sprachlichen, kulturellen und sozialen Differenzen im historischenhistorischBaltikumBaltikum zu beleuchten. Grundlage der Analyse sind drei Werke der deutschbaltischenDeutschbaltendeutschbaltisch Literatur: Mein Onkel Hermann von Monika HunniusHunnius, Monika (1921), Briefe eines baltischenBaltikumBaltisch Idealisten (1934) von Georg Julius von Schultz-BertramSchultz-Bertram, Georg Julius von und Der Henker von Edzard SchaperSchaper, Edzard (1940). Obgleich die Erscheinungsdaten nahe beieinander liegen, sind die Werke über einen Zeitraum von über hundert Jahren entstanden und vermitteln einen Eindruck der Situation in verschiedenen historischenhistorisch Epochen. Auch hier wird wieder deutlich, dass der Umgang mit den Sprachen nicht von der politischenPolitik/politicspolitisch/political Situation zu trennen ist.

Die nächsten drei Beiträge beschäftigen sich dann mit zeitgenössischeren Werken der baltischenBaltikumBaltisch Literatur. Aigi Heero untersucht transkulturellesTranskulturalitättranskulturell Schreiben anhand zweier Romane der armenischstämmigen in EstlandEstland/Estonia lebenden und auf RussischRusslandRussisch/Russian schreibenden Gohar Markosjan-KäsperMarkosjan-Käsper, Gohar (1949–2015) mit Hinblick auf Erscheinungsformen und Funktion der MehrsprachigkeitMehrsprachigkeit.

Rūta Eidukevičienės Beitrag konzentriert sich auf die jüngste litauischeLitauenlitauisch Migrations- und MobilitätsliteraturMobilität und die Formen literarischen SprachwechselsSprachwechsel, die Aufschluss sowohl über Integrationsprobleme litauischerLitauenlitauischMigrantenMigrant/in als auch die Herausbildung von globalen IdentitätenIdentität/identity erlauben. Tatsächlich kommt literarische MehrsprachigkeitMehrsprachigkeitliterarische Mehrsprachigkeit in erster Linie bei litauischenLitauenlitauisch AutorInnen vor, die entweder bereits gleich nach dem Zweiten WeltkriegWeltkriegZweiter Weltkrieg im Ausland geboren und sozialisiert wurden oder LitauenLitauen nach dem politischenPolitik/politicspolitisch/political Wandel um 1990 verlassen haben. Vor allem der Aspekt neuer globaler IdentitätenIdentität/identity wird eingehender am Beispiel des Romans Stasys Šaltoka (2017) von Gabija Grušaitė Grušaitė, Gabija untersucht.

Mārtiņš Laizāns widmet sich der Verbindung von Geistes- und Gaumenfreuden. Kulinarische und gastronomische Aspekte der Literatur sind naturgemäß, aufgrund der internationalen Verbreitung der diversen cuisines, mehrsprachigMehrsprachigkeitmehrsprachig und ihre literarische Verarbeitung dient gesellschaftlichen und politischenPolitik/politicspolitisch/political Positionsbeziehungen. Am Beispiel des lettischenLettland/LatvialettischpostmodernenPostmodernepostmodern, 1973 erschienenen aber sofort vergriffenen und erst in den letzten Jahren neuaufgelegten Romans Falscher FaustFaust/Faustus von Marģers Zariņš Zariņš, Marģers verweist Laizāns auf die komplexe Verfilzung von Kulinarischem und Sprachlichem in dieser bemerkenswerten humorvollen Auseinandersetzung mit der verworrenen lettischenLettland/Latvialettisch Geschichte der Jahre von 1930 bis 1945.

Die darauffolgenden Beiträge konzentrieren sich auf exophoneExophonieexophon/exophonic AutorInnen in der zeitgenössischen deutschsprachigenDeutschlanddeutschsprachig Literatur. Sandra Vlasta stellt das politischePolitik/politicspolitisch/political Potential literarischer MehrsprachigkeitMehrsprachigkeit am Beispiel von Barbi Marković Marković, Barbi’ Roman Superheldinnen (2016) heraus. Sie verweist auf sprachliche, mediale, formale und kulturelle Grenzüberschreitungen einer grundsätzlich mehrsprachigMehrsprachigkeitmehrsprachig gedachten Literatur, welche bisherige literaturwissenschaftliche Kategorien und literaturpolitische Institutionen sprengt und zu einem Überdenken solcher Muster und Strukturen zwingt.

Auch Dinah Schöneichs Analyse stellt sprachliche und nationaleNationnational Grenzziehungen in Frage, indem sie am Beispiel von T.S. EliotsEliot, T.S.The Waste Land und Peter WaterhousesWaterhouse, PeterProsperos Land aufzeigt, wie mittels von MehrsprachigkeitMehrsprachigkeit und MehrdeutigkeitMehrdeutigkeitDynamikDynamik erzeugt wird. Während bei Eliot das Nebeneinander der Sprachen als Herausforderung für die Verständigung dargestellt und poetischPoetik/poeticspoetisch überwunden werden sollen, radikalisiert Waterhouses Gedicht das noch einmal, indem sprachliche und nationaleNationnational Grenzziehungen überhaupt unterwandert werden.

Tomás Espino Barrera untersucht José F.A. OliversOliver, José F.A. Prosawerk auf seine nomadische IdentitätIdentität/identity hin. Der aus Andalusien stammende in einem alemannischenalemannisch Schwarzwalddorf aufgewachsene Oliver bewegt sich zwischen den Sprachen und DialektenDialekt/Mundart und hinterfragt aus dieser transnationalentransnational und transregionalen IdentitätIdentität/identity heraus die deutscheDeutschlanddeutsch Staatsbürgerschaftspolitik. Am Beispiel von Olivers Einsatz von Mütter- und HausmetaphernMetapher/metaphor zeigt Espino Barrero das emanzipatorische und demokratische Potential dieser mehrsprachigenMehrsprachigkeitmehrsprachig Literatur auf.

Marko Pajević’ Beitrag beleuchtet die EthnographieEthnographie der deutschenDeutschlanddeutschWeltansichtWeltansicht bei der japanisch-deutschenDeutschlanddeutsch Schriftstellerin Yoko TawadaTawada, Yoko. Am Beispiel dreier Gedichte zu den deutschenDeutschlanddeutsch Personalpronomina demonstriert der Essai die sprachbewusstseinssteigernde Wirkung exophonerExophonieexophon/exophonic Literatur. Der Vergleich von japanischenJapanJapanisch und deutschenDeutschlanddeutschSprachstrukturenSprachstrukturen ermöglicht eine neue Sicht auf die eigene Sprache und die Erfahrung einer alternativenAlternativealternativ Weltansicht. Diese Relativierung der gewohnten Perspektive führt zu einer politischenPolitik/politicspolitisch/political Öffnung auf Verschiedenheit hin.

Auch Hélène Thiérard bezieht ihre theoretischen Überlegungen auf TawadasTawada, Yoko Werk. Thiérard stellt ExophonieExophonie und MehrsprachigkeitMehrsprachigkeit in den Zusammenhang der aktuellen UniversalismusdebatteUniversalitätUniversalismus/universalisme und präsentiert mit Hilfe von Barbara CassinCassin, Barbara und Souleymane Bachir DiagneDiagne, Souleymane BachiralternativeAlternativealternativ Möglichkeiten, UniversalitätUniversalität zu denken, nachdem sich der europäischeEuropaeuropäischUniversalismusUniversalitätUniversalismus/universalisme durch das immer größer werdende Bewusstsein seiner kolonialenKolonialismuskolonial Verzerrung disqualifiziert hat. Die Frage der ÜbersetzungÜbersetzung/translation und der UnübersetzbarkeitenÜbersetzung/translationUnübersetzbarkeiten/intraduisibles, die in mehrsprachigerMehrsprachigkeitmehrsprachig Literatur deutlich vor Augen tritt, macht eine andere Konzeption von Universalität erfahrbar und wird somit zu einem wichtigen Akteur in drängenden politischenPolitik/politicspolitisch/political Fragen unserer Zeit.

Silke Pasewalck und Dieter Neidlinger untersuchen die spezifische MehrsprachigkeitMehrsprachigkeit des Romans Engel des Vergessens (2011) der slowenischSlowenienslowenisch-österreichischen Autorin Maja HaderlapHaderlap, Maja und zeigen auf, inwieweit dieses Buch nicht nur ein Bericht über die konfliktgeladene historischehistorisch Mehrsprachigkeit in KärntenKärnten darstellt, sondern darüber hinaus auch, wie diese poetologischPoetik/poeticspoetologisch den Text prägt. Diese Mehrsprachigkeit ist aus dem Niemandsland zwischen den Sprachen heraus geschrieben und ist dadurch mehr-sprachlichmehr-sprachlich, d.h. Haderlap entwickelt neue Sprachformen aus dem Spannungsfeld der Sprachen heraus.

Michael Navratils Beitrag untersucht MehrsprachigkeitMehrsprachigkeit im Alternate HistoryAlternate History-Genre und in KontrafaktikKontrafaktik am Beispiel von Film und Literatur, indem er die Auseinandersetzung mit SprachalternativenSprachalternative in Quentin TarantinosTarantino, QuentinInglourious Basterds und Christian KrachtsKracht, ChristianIch werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten beleuchtet. Navratil weist nach, wie das sowohl der Mehrsprachigkeit als auch der Alternate History inhärente AlternativendenkenAlternativeAlternativdenken in beiden Werken ideologiekritisch problematisiert wird.

Abschließend berichtet der norwegischeNorwegen/NorwayNorwegisch/Norwegian, in EstlandEstland/Estonia und NorwegenNorwegen/Norway lebende Lyriker Øyvind Rangøy Rangøy, Øyvind, der 2019 einen renommierten estnischenEstland/Estoniaestnisch Literaturpreis für seinen ersten auf EstnischEstland/EstoniaEstnisch/Estonian verfassten Gedichtband erhielt, von seiner eigenen exophonenExophonieexophon/exophonic literarischen Praxis und den dieser zugrundeliegenden Erfahrungen und Fragestellungen.

Literaturverzeichnis

Arndt, Susan/Naguschewski, Dirk/Stockhammer, Robert (Hrsg.) (2007). Exophonie. Anderssprachigkeit (in) der Literatur. Berlin: Kulturverlag Kadmos.

Benveniste, Émile (1966). La notion de ’rythme’ dans son expression linguistique. In:

Problèmes de linguistique générale 1. Paris: Gallimard, 327–335.

Dembeck, Till/Parr, Rolf (Hrsg.) (2017). Literatur und Mehrsprachigkeit. Ein Handbuch. Tübingen: Narr/Francke/Attempto.

Humboldt, Wilhelm von (1903–36). Gesammelte Schriften, hrsg. von A. Leitzmann. Berlin: Behr.

Ivanovic, Christine (2010). Exophonie und Kulturanalyse. Tawadas Transformation Benjamins. In: dieselbe (Hrsg.) Yoko Tawada. Poetik der Transformation. Beiträge zum Gesamtwerk. Tübingen: Stauffenburg, 171–206.

Meschonnic, Henri (1982). Critique du rythme. Anthropologie historique du langage,

Lagrasse: Verdier.

Meschonnic, Henri (1999). Poetique du traduire. Lagrasse: Verdier.

Rancière, Jacques (2007). Politique de la littérature. Paris: Galilée.

Trabant, Jürgen (2003). Mithridates im Paradies. Kleine Geschichte des Sprachdenkens, München: Beck.

Wittgenstein, Ludwig (1963) [1922]. Tractatus logico-philosophicus. Logisch-philosophische Abhandlung. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Heute sprechen. Literatur, Politik und andere Sprachen im Lied (Herder, Alunāns, Barons)

Till Dembeck

Abstract: Der Beitrag geht am Beispiel dreier Publikationsprojekte aus dem 18. und 19. Jahrhundert der Frage nach, wie sich der (kultur‑)politische GegenwartsbezugGegenwartGegenwartsbezug von Literatur über ihren Umgang mit SprachvielfaltSprachvielfalt regelt. Die VolksliedersammlungVolkVolkslied Johann Gottfried HerderHerder, Johann Gottfrieds von 1778/79 wird als Versuch eines paratextuell programmierten poetischenPoetik/poeticspoetisch Neuanfangs gelesen, der Sprachvielfalt qua ÜbersetzungÜbersetzung/translation einer muttersprachlichen OriginalitätsästhetikOriginalitätOriginalitätsästhetik zuführt. Die Form des LiedsLied dient hier der SynchronisierungSynchronieSynchronisierung und zugleich der DynamisierungDynamikDynamisierung sprachlicher Mittel im Namen einer neuen Literatur. Die Dseesmiņas (LiedchenLied), eine 1856 von Juris AlunānsAlunāns, Juris publizierte Sammlung von ÜbersetzungenÜbersetzung/translationeuropäischerEuropaeuropäisch Lyrik ins LettischeLettland/LatviaLettisch/Latvian, importieren diesen poetischenPoetik/poeticspoetisch Erneuerungsanspruch und verbinden ihn mit dem Versuch einer antikolonialenKolonialismusAntikolonialismusSynchronisierungSynchronieSynchronisierung und Modernisierung der lettischenLettland/Latvialettisch Sprache. Die von Krišjānis BaronsBarons, Krišjānis um 1900 in sechs Bänden herausgegebene lettischeLettland/LatvialettischVolksliedersammlungVolkVolksliedLatwju DainasDainas wiederum greift Herders Bemühen um den Erhalt von VolksliedernVolkVolkslied auf. Barons leistet die Synchonisierung eines dialektalDialekt/Mundart, stofflich und überlieferungshistorisch so vielfältigen wie reichhaltigen Liedcorpus im Namen einer antikolonialenKolonialismusAntikolonialismusEmanzipationsbewegungEmanzipation. KulturpolitischPolitik/politicskulturpolitisch geht es hier um die Vergegenwärtigung eines vormodernen Volkslebens unter den Bedingungen der Moderne.

 

Keywords: Mehrsprachigkeit; Volkslied; Synchronie; Kulturpolitik; Herder, Johann Gottfried; Barons, Krišjānis

Dieser Beitrag erfüllt das Thema ‚Gegenwartsliteratur‘ eher in einem abstrakten Sinn, denn es geht nicht um die Literatur unsererGegenwartGegenwart, sondern um die Frage, wie sich Literatur allgemein zu GegenwärtigkeitGegenwartGegenwärtigkeit verhalten kann, inwiefern sie in ihrem Gegenwartsverhältnis politischPolitik/politicspolitisch/political ist und wie sich es sich mit Blick auf SprachvielfaltSprachvielfalt artikuliert.1 Konkret behandele ich drei literatur- und kulturpolitischePolitik/politicskulturpolitisch Projekte des 18. und 19. Jahrhunderts, die in einem Zusammenhang stehen, auch wenn ich zahllose Zwischenschritte der Entwicklung, die sie verbindet, auslassen muss. Im Anschluss an einleitende Überlegungen zum Problem zeitgemäßenZeitgemäßheitzeitgemäß Sprechens (1) und zum Spannungsfeld von SynchronieSynchronie und Sprachvielfalt (2) wende ich mich zunächst der VolksliedersammlungVolkVolkslied von Johann Gottfried HerderHerder, Johann Gottfried zu, die bekanntlich im heutigen LettlandLettland/Latvia ihren Ausgang nahm (3), und sodann zwei Publikationen, die dieses Projekt in einem je spezifischen Sinne fortsetzen, die lettischenLettland/LatvialettischDseesmiņas (‚LiedchenLied‘) von Juris AlunānsAlunāns, Juris und Latwju DainasDainas (lettischeLettland/LatvialettischVolksliederVolkVolkslied) von Krišjānis BaronsBarons, Krišjānis (4). Abschließend versuche ich aus dem Erarbeiteten allgemeinere Schlussfolgerungen zu ziehen (5).

Für HerdersHerder, Johann Gottfried Volksliedprojekt wird aufgezeigt, dass es einer zeitgemäßenZeitgemäßheitzeitgemäß Erneuerung oder sogar Neubegründung der deutschsprachig-muttersprachlichen Lyrik durch SynchronisierungSynchronieSynchronisierung mit anderssprachigenanderssprachig Traditionen und Ausdruckspotentialen zuarbeitet. Die Publikation von ins LettischeLettland/LatviaLettisch/Latvian übersetzten ‚LiedchenLied‘ durch AlunānsAlunāns, Juris hat ein vergleichbares Ziel, während BaronsBarons, Krišjānis die in den lettischsprachigen Gebieten nicht zuletzt dank Herder in Gang gekommene Volksliedersammeltätigkeit mit einem emanzipatorischen Impuls aufnimmt. Auch in diesen beiden Fällen geht es um die Synchonisierung von SprachvielfaltSprachvielfalt, allerdings expliziter im Namen einer neu zu begründenden Nationalität. Was die Theorie der Sprachvielfalt angeht, so beziehe ich mich auf einschlägige Arbeiten aus der jüngeren Zeit, ziehe aber auch Ferdinand de SaussureSaussure, Ferdinand de hinzu, und zwar deshalb, weil er zum Zusammenhang von Sprachvielfalt und SynchronieSynchronie Argumente beigetragen hat, die heute leider zu wenig bekannt sind.

1Sprechen und GegenwartGegenwart

Dass SprachvielfaltSprachvielfalt immer Gegenstand politischerPolitik/politicspolitisch/political Auseinandersetzung gewesen ist, wundert nicht, erzeugt sie doch Grenzen des Verstehens und damit vielfältige In- und Exklusionseffekte. Eben diese Effekte sind gerne Gegenstand von Geschichten und diese Geschichten wiederum machen gerne PolitikPolitik/politics. Gerade Geschichten von sprachlicher Inklusion – beispielsweise die Geschichte des PfingstwundersPfingstwunder – können weitreichende Folgen zeitigen, ausgesprochen exklusiv wirken und viel Gewalt nach sich ziehen. Immerhin resultierte die Verheißung einer menschheitlichen Verständigung im rechten Glauben, als die Petrus das Wunder der ApostelgeschichteApostelgeschichte zufolge deutete (Apg. 2), in einer zwei Jahrtausende währenden Bewegung der Mission, an die das Sendungsbewusstsein der westlichen Gesellschaften noch heute anschließt.

Mir geht es im Folgenden indes nicht – oder doch nicht in erster Linie – um Fragen der In- und Exklusion, der literarischen Repräsentation oder der SprachpolitikSprachpolitik im engeren Sinne des Wortes. Ich schlage vielmehr einen Ebenenwechsel vor und möchte fragen, wie der literarische Umgang mit SprachvielfaltSprachvielfalt mit einem Grundproblem jeden politischenPolitik/politicspolitisch/political Engagements verbunden ist, nämlich mit der Frage der ZeitgemäßheitZeitgemäßheit, genauer: des GegenwartsbezugsGegenwartGegenwartsbezug.

Dieses Grundproblem lässt sich recht einfach erläutern: Wir alle wissen, dass jedwede Intervention in die komplexen Zusammenhänge und Prozesse insbesondere (aber nicht nur) moderner Gesellschaften unter anderem deswegen so schwierig ist, weil man immer erst im Nachhinein weiß, ob man den rechten Augenblick für die Intervention gefunden haben wird. Diesen rechten Augenblick kennzeichnet, dass sich eine Art Lücke auftut, in die herein man wirken und Strukturen verändern kann; die MetapherMetapher/metaphor des Zeitfensters oder die Allegorie der occasio, der Gelegenheit, die man beim Schopfe ergreifen muss, machen dies deutlich. Dieser heikle GegenwartsbezugGegenwartGegenwartsbezug des politischenPolitik/politicspolitisch/political Handelns hat heute oft langwierige Streitigkeiten um Tagesordnungen, Wahltermine etc. zur Folge, aber er bedingt auch, dass beispielsweise das Dasein eines Revolutionärs oft aus nichts als langem Warten besteht. Kurzum: das Problem, das eigene Handeln mit prinzipiell unvorhersehbaren Umweltprozessen so synchronisieren zu müssen, dass man seine Ziele erreichen kann, stellt sich für politischePolitik/politicspolitisch/political Bewegungen jeglicher Couleur.1

Ich kann an dieser Stelle keine ausgearbeitete Theorie des politischenPolitik/politicspolitisch/political Umgangs mit Zeit entfalten, noch kann ich erschöpfend behandeln, welche Folgen das Problem der ZeitgemäßheitZeitgemäßheit und des GegenwartsbezugsGegenwartGegenwartsbezug für das politischePolitik/politicspolitisch/political Engagement von Literatur im allgemeinen hat. Ich möchte nur darauf hinweisen, dass im Falle der Literatur die medialen Rahmenbedingungen zusätzliche Komplikationen mit sich bringen. Das hängt zum einen mit den Bedingungen von SchriftlichkeitSchriftSchriftlichkeit zusammen. Eine Intervention qua SchriftSchrift kann den Zeitpunkt, zu dem sie stattfindet, nur bedingt selbst bestimmen. Papier ist geduldig, und wann wer was liest, weiß man vorher nie. Literatur wendet sich daher immer schon an viele unterschiedliche Gegenwarten. Das dies riskant ist, weiß schon der Sokrates aus Platons Phaidros (275 c). Zum anderen führt das für Literatur charakteristische Engagement von Einbildungskraft und Phantasie zu potentiellen Kontrollverlusten. Wir wissen bekanntlich nie, wohin uns Einbildungskraft und Phantasie, wenn wir uns ihnen einmal überlassen, führen werden – und wie viel größer ist das Risiko, wenn wir die Produkte unserer Einbildungskraft dann auch noch anderen überlassen.2

Damit ist ein Problem benannt, das sich für das politischePolitik/politicspolitisch/political Engagement von Literatur mit Blick auf ihren GegenwartsbezugGegenwartGegenwartsbezug ergibt – wie auch immer unzureichend und verkürzt. Wie verhält sich dieses Problem zur Frage der SprachvielfaltSprachvielfalt? Einen ersten Hinweis auf dieses Verhältnis kann man den Grundannahmen der RhetorikRhetorik/rhetoric entnehmen. Denn die Anpassung einer Rede an die jeweilige Situation, die Frage des aptumaptum, ist dort immer schon (auch) eine Frage der richtigen Auswahl der sprachlichen Mittel, die – sonst könnte man nicht auswählen – immer schon als vielfältig vorgestellt sind. Man muss, wie man dann sagt, die richtige Sprache finden. Man meint damit zwar im allgemeinen nicht die Auswahl zum Beispiel zwischen DeutschDeutschlandDeutsch und UngarischUngarisch. Aber ich möchte im Folgenden argumentieren, dass zwischen dieser Auswahl und derjenigen der richtigen sprachlichen Mittel zumindest eine funktionale Äquivalenz besteht.

Das wird besonders dann deutlich, wenn man die Frage nach der SprachvielfaltSprachvielfalt systematisch zusammendenkt mit derjenigen der Sprachentwicklung. Sprachvielfalt ist immer Ergebnis von Sprachentwicklung, und Sprachentwicklung findet potentiell in jedem Moment von SprachgebrauchSprachgebrauch statt.3 Der engagierte, also auf eine Wirkung bedachte Gebrauch sprachlicher Mittel ist potentiell immer auch auf Sprachentwicklung, auf die zeitgemäßeZeitgemäßheitzeitgemäß Veränderung von Sprache aus und wirkt damit an der Gestaltung von Sprachvielfalt mit. Der GegenwartsbezugGegenwartGegenwartsbezug von Literatur besteht daher immer auch darin, dass sie auf Sprache selbst einwirkt und Sprache verändert. Sie möchte Zeitfenster und Gelegenheiten nutzen, um neue Sprache, zeitgemäßereZeitgemäßheitzeitgemäß Sprechweisen zu etablieren. Das politischePolitik/politicspolitisch/political Moment des literarischen Umgangs mit Sprachvielfalt besteht also auch darin, dass der Umgang mit der Zeitlichkeit von Sprache zugleich ein Umgang mit ihrer Vielfalt ist und umgekehrt.

2Andere Sprachen I: Das Paradox der SynchronieSynchronie (SaussureSaussure, Ferdinand de)

Bevor ich zu meinen literarischen Beispielen komme, möchte ich in einem ersten Schritt einige theoretische Vorüberlegungen anstellen. Sie betreffen weit verbreitete Vorstellungen davon, was unter einer Sprache zu verstehen sei – Vorstellungen, die ihrer Wirkmächtigkeit zum Trotz daran hindern, das politischePolitik/politicspolitisch/political Moment literarischer SprachvielfaltSprachvielfalt voll in den Blick zu bekommen.

Es gehört zum Gemeinwissen der Geschichte der LinguistikLinguistik, dass sowohl Ferdinand de SaussureSaussure, Ferdinand de als auch die strukturalistische Saussure-Rezeption die aus dem 19. Jahrhundert herrührende, eng mit der MetapherMetapher/metaphor der MutterspracheMuttersprache/mother tongue verbundene Beschreibung von EinzelsprachenEinzelsprache als Quasi-Organismen, an deren Wachstum man dann interessiert war, ablehnen.1 Saussure – und ich spreche hier in erster Linie von dem Saussure der Notizbücher, nicht von dem Saussure des Cours2 – hat unter anderem darauf hingewiesen, dass zwar einerseits der Sprachwandel, dem sich der Großteil der Sprachforschung des 19. Jahrhunderts gewidmet hatte, erklären kann, woraus sich gegebene SprachstrukturenSprachstrukturen entwickelt haben; dass andererseits aber diese ‚Erklärung‘ nichts darüber aussagt, wie wirkliche Sprecherinnen mit ‚ihrer‘ Sprache umgehen (Saussure 2003: 285–29). Die Beschreibung des Zustands der Sprache hat so betrachtet mit der Beschreibung der Geschichte der Sprache nichts zu tun, obwohl die Möglichkeitsbedingungen des Sprechens und die Sprachgeschichte zugleich wechselseitig aufeinander bezogen sind. Dabei macht Saussure gerade das Sprechen (paroleparole) in seiner jeweiligen situativen GegenwärtigkeitGegenwartGegenwärtigkeit für den Sprachwandel verantwortlich: Das Sprechen greift zwar rekursiv auf la languelangue als Bedingung seiner Möglichkeit zurück, ist aber zugleich selbst Bedingung der Möglichkeit für deren Reproduktion und kann sie jederzeit verändern, ohne dass die Sprecher dies wiederum jemals planen könnten. Die Einheit der Sprache erweist sich damit als paradoxe Gleichzeitigkeit von Kontinuität und Diskontinuität: Weil man immer weiter spricht, verändert sich die Sprache (Saussure 2003: 251). Sprache ist zu ihrer Fortsetzung dauernd auf „Identitätsurteil[e]“ (Saussure 2003: 298) der Sprecherinnen angewiesen, die (synchron) auf ein Gegebenes verweisen, das sie zugleich (diachron) womöglich modifizieren. Die langue, von der Saussure in den Notizbüchern spricht, ist daher eine durch und durch paradoxale Bezugsgröße. Sie hat als soziale Tatsache keinen festen Ort, an dem sie auffindbar wäre. Sie muss zwar durchgängig als konkret wirksame soziale Tatsache vorgestellt werden, doch ihre Rekonstruktion in Form von Regelwerken löst sie gerade aus dem dynamischen sozialen Zusammenhang, innerhalb dessen allein sie hier und jetzt existiert, heraus.

Diese Einsicht SaussuresSaussure, Ferdinand de wird in der Bearbeitung der Vorlesungsmitschriften, die dem Cours zugrundeliegen, überdeckt. Vor allem aber hat die auf dem Cours aufbauende strukturalistische LinguistikLinguistik die Paradoxie des languelangue-Begriffs weitgehend dadurch ausgeblendet, dass sie ihn in erster Linie auf EinzelsprachenEinzelsprache bezogen und diese wiederum als abgelöst von jeder soziokulturellen und historischenhistorisch Bindung betrachtet hat. Der Saussure der Notizen spricht aber nicht zufällig durchgängig von la languelangue – und eben nicht von une langue oder von langueslangue im Plural (vgl. Stockhammer 2014: 348–352). Er denkt keinesfalls daran, der synchronen Sprachwissenschaft die Aufgabe zu geben, auf der Grundlage entweder von Korpusanalysen oder von muttersprachlicher Introspektion jeweils die unterschiedlichen langueslangue an sich zu rekonstruieren, die Sprecher benutzen, um einzelsprachige parolesparole zu produzieren. Eher hätte la langue, auf Saussures Notizen aufbauend, auch als etwas Nicht-Einsprachiges gedacht werden könnte, etwa so, wie sich Jacques DerridaDerrida, Jacques (1996) die „EinsprachigkeitEinsprachigkeit des Anderen“ vorstellt – als singuläre, aber in sich vielgestaltige Sprachfähigkeit des Einzelnen (in diesem Sinne: „Einsprachigkeit …“), die zugleich vollständig auf die Einflussnahme der sehr unterschiedlichen Sprechweisen vieler anderer Sprecher zurückgeht (in diesem Sinne: „… des Anderen“).

Die Geschichte der LinguistikLinguistik und der Sprachphilosophie hat viele Versuche gesehen, die von SaussureSaussure, Ferdinand de in den Blick genommene paradoxale Zeitlichkeit von Sprache in den Griff zu bekommen. Besonders bekannt ist Wilhelm von HumboldtsHumboldt, Wilhelm von Rede von ergon und energeia, also dem systematischen Aspekt von Sprache, ihrer Orientierung an ‚Regeln‘ einerseits und ihrem kreativen, potentiell die Regeln überschreitenden und den Sprachwandel antreibenden Gebrauch andererseits (Humboldt 1836: 46). Vor dem Hintergrund der angeführten Arbeit von DerridaDerrida, Jacques ist insbesondere Michail BachtinsBachtin, Michail Hinweis darauf erwähnenswert, dass sich der Horizont der languelangue als des wie auch immer regulären Bereichs, auf den sich konkretes, gegenwärtiges Sprechen bezieht, ebenfalls aus nichts anderem als konkretem, gegenwärtigem Sprechen konstituiert, so dass im Grunde die Unterscheidung von langue und paroleparole selbst ins Wanken gerät (Holquist 2014; vgl. Bachtin 1934/35). In der ‚Einsprache‘, von der Derrida spricht, also in dem Sprachwissen, das einzelne Sprecherinnen benutzen, wenn sie hier und jetzt Rede produzieren oder rezipieren, ist die Rede der anderen intertextuellintertextuell/intertextual gegenwärtig und steht zugleich zur Disposition.

Mir ist dieser Zusammenhang, der natürlich eine viel ausführlichere Behandlung verdient hätte, deshalb so wichtig, weil er die alltägliche, aber auch viele wissenschaftliche Untersuchungen prägende Unterscheidung von Ein- und MehrsprachigkeitMehrsprachigkeit berührt, die bestimmt, es sei Mehrsprachigkeit, wenn irgendwo (in einer Person, in einem Text) mehrere Sprachen vorkommen (eine Person kann EstnischEstland/EstoniaEstnisch/Estonian und DeutschDeutschlandDeutsch, der Zauberberg mischt DeutschDeutschlandDeutsch und FranzösischFrankreichFranzösisch). Auf der Grundlage dieser Bestimmung ist es einfach, Mehrsprachigkeit ‚politischPolitik/politicspolitisch/political‘ zu befürworten. Aber diese Bestimmung unterschlägt nicht nur die ursprüngliche Vielfältigkeit von la languelangue als Grundlage des Sprechens und ersetzt sie durch ursprüngliche Einheit (EinzelsprachenEinzelsprache); sondern sie übersieht überdies, dass die Quelle von SprachvielfaltSprachvielfalt das konkrete, die Grenzen der EinsprachigkeitEinsprachigkeit überschreitende Sprechen im Hier und Jetzt ist.

Das wiederum heißt für die Analyse von literarischer SprachvielfaltSprachvielfalt, dass sie sich nicht damit zufrieden geben darf zu konstatieren, welche Sprachen Autoren benutzten, um dies dann z.B. politischPolitik/politicspolitisch/political zu interpretieren. Die Frage muss vielmehr auch sein, wie Texte auf je unterschiedliche, mehr oder weniger konkret rekonstruierbare sprachliche Ressourcen zurückgreifen und wie sie sich zur potentiellen Vielfalt dieser Ressourcen stellen (siehe ausführlich Dembeck 2018 sowie Dembeck/Parr 2017). Aus dieser Perspektive kann man die politischePolitik/politicspolitisch/political Dimension literarischer Sprachvielfalt ergründen, indem man überprüft, inwiefern Texten unterstellt werden kann, dass sie Sprache verändern wollen, und indem man zeigt, mit welchen sprachlichen Mitteln sie dies tun. Dabei können dann im Grunde alle jene Strukturen eine Rolle spielen, welche LinguistikLinguistik und LiteraturwissenschaftLiteraturwissenschaft mit Blick auf Sprachvielfalt unterscheiden, also z.B. SoziolekteSoziolekt, DialekteDialekt/Mundart und nationaleNationnational Standardsprachen, aber auch poetischePoetik/poeticspoetisch Formen wie Metren oder andere Gattungstraditionen. Daher darf eine MehrsprachigkeitsphilologieMehrsprachigkeitMehrsprachigkeitsphilologie sich nicht auf die Analyse von MehrsprachigkeitMehrsprachigkeit im soeben genannten alltäglichen Sinn des Wortes beschränken, sondern muss alle Formen von Sprachvielfalt, alle Formen divergenter sprachlicher Mittel einbegreifen.

3Literatur I: VolksliederVolkVolkslied und MutterspracheMuttersprache/mother tongue (Herder Herder, Johann Gottfried)

Eine Vorstellung, die besonders viele politischePolitik/politicspolitisch/political Einsätze mit Blick auf literarische SprachvielfaltSprachvielfalt motiviert, ist diejenige der MutterspracheMuttersprache/mother tongue. Wir haben bereits gesehen, dass in vielen Bereichen der LinguistikLinguistik zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Einsicht in die unhintergehbare Komplexität des jederzeit wandelbaren, sich selbst stabilisierenden Geschehens ‚Sprache‘ zwar zur Verabschiedung der organologischen Modelle der vormaligen historischenhistorisch Sprachwissenschaft führte, nicht aber zur Verabschiedung des Narrativs der MutterspracheMuttersprache/mother tongue. Im Gegenteil: Die MutterspracheMuttersprache/mother tongue ist der feste Grund, auf den sich die languelangue-Linguistik problemlos beziehen zu können glaubt – gleich, ob dies durch die Beobachtung von Sprecherinnen oder durch die Introspektion muttersprachlicher Linguisten selbst geschieht. Im Muttersprachler glaubt man bis heute – und das gilt nicht nur für viele Richtungen der Linguistik, sondern vor allem auch für das Alltagsverständnis – Sprachen als unproblematisch zu bezeichnende und wohlunterschiedene Einheiten dingfest machen zu können. Ich möchte anhand meines ersten Beispiels die literarischen Anfänge dieser Argumentationsfigur in den Blick nehmen und widme mich daher – wenn auch nur in einer arg verkürzten Skizze – Johann Gottfried HerderHerder, Johann Gottfried.

Bereits in HerdersHerder, Johann Gottfried frühen SchriftenSchrift, genauer: in den Fragmenten Über die neuere deutscheDeutschlanddeutsch Literatur von 1767/68, geschrieben in Riga, findet sich eine mustergültige Formulierung zum Zusammenhang von MutterspracheMuttersprache/mother tongue und Literatur, die auf SprachvielfaltSprachvielfalt und Sprachentwicklung bezogen werden kann.1 Herder postuliert, dass Originalliteratur nur in der MutterspracheMuttersprache/mother tongue geschrieben werden könne:

[W]enn in der Poesie der Gedanke und Ausdruck so fest an einander kleben: so muß ich ohne Zweifel in der Sprache dichten, wo ich das meiste Ansehen, und Gewalt über die Worte, die größeste Känntnis derselben, oder wenigstens eine Gewißheit habe, daß meine Dreustigkeit noch nicht Gesetzlosigkeit werde: und ohne Zweifel ist dies die MutterspracheMuttersprache/mother tongue. (HerderHerder, Johann Gottfried 1767: 407)

Auf den ersten Blick scheint HerderHerder, Johann Gottfried hier die MutterspracheMuttersprache/mother tongue genau im Sinne der languelangue-LinguistikLinguistik zu bestimmen, und David Martyn hat dementsprechend einen Großteil seines Arguments über die Entstehung der modernen EinsprachigkeitEinsprachigkeit auf dieser Passage aufgebaut (Martyn 2014). In der Muttersprachlerin scheint die MutterspracheMuttersprache/mother tongue inkarniert, und in ihr sind für ihn wiederum „Gedanke und Ausdruck“ ununterscheidbar. Allerdings ist die MutterspracheMuttersprache/mother tongue für Herder eben nicht ein feststehendes Regelwerk, sondern vielmehr Garant sprachlicher Kreativität. Es geht ihm ja gerade um die Beförderung von OriginalitätOriginalität. Weil aber die Originalität des Denkens in Herders Augen von der Besonderheit des Ausdrucks abhängt, ja, mit ihr identisch ist, muss man bei der Produktion origineller poetischerPoetik/poeticspoetisch Werke dasjenige sprachliche MediumMedienMedium nutzen, das als einziges unmittelbar an die KognitionKognition gebunden ist, also die MutterspracheMuttersprache/mother tongue.

So schlüssig dies auch klingt, so ist es doch wichtig zu registrieren, welche Denkmöglichkeit HerdersHerder, Johann Gottfried Überlegungen ausschließen. Denn es liegt auf der Hand, dass literarische OriginalitätOriginalität prinzipiell im Rückgriff auf alle möglichen Arten von SprachvielfaltSprachvielfalt erreicht werden könnte, ohne die Beschränkung auf die eine MutterspracheMuttersprache/mother tongue. Dies läge im Grunde in der Konsequenz der OriginalitätsästhetikOriginalitätOriginalitätsästhetik und des Innovationszwangs der modernen Literatur, die immer von „Dreustigkeit“ getrieben sein muss. Herder lässt das aber nicht gelten, und zwar, weil diese Dreistigkeit in „Gesetzlosigkeit“ münden könnte. Es ist, so gesehen, das paradoxe Bestreben, zugleich innovativ und in der Tradition verhaftet zu sein, vor dessen Hintergrund Herder die MutterspracheMuttersprache/mother tongue als festen Grund beschwört. Gerade weil es der „neueren deutschenDeutschlanddeutsch Literatur“ auf Originalität ankommt, weil sie im Kern eine Form der sprachlichen Kreativität und „Dreustigkeit“ ist, weil sie also Sprachentwicklung und damit Sprachvielfalt befördert, sieht sich Herder, will er „Gesetzlosigkeit“ vermeiden, dazu gezwungen, die erlaubten Mittel zu ihrer Erzeugung einzuschränken.

HerdersHerder, Johann Gottfried Streben nach OriginalitätOriginalität gründet in der wohlwollenden Einsicht in die Eigendynamiken der Moderne, die nach neuen (literarischen) Mitteln verlangt; es ist insofern in einem ganz grundlegenden Sinne politischPolitik/politicspolitisch/political. In anderen Zusammenhängen, z. B. in seiner 1778/79 veröffentlichten VolksliedersammlungVolkVolkslied, hat Herder durchaus auch auf anderssprachigeanderssprachigpoetischePoetik/poeticspoetisch Formen und Quellen als MediumMedienMedium der Erneuerung zurückgegriffen.2 Größtenteils im MediumMedienMedium der ÜbersetzungÜbersetzung/translation präsentiert er hier bekanntlich liedförmige Texte aus sehr unterschiedlichen Kontexten und Zeiten, denen aber gemeinsam ist, dass sie Originale sein sollen in dem Sinne, den Herder dem Wort zuvor sowohl in seinen Überlegungen zur Ode als auch in seinem Ossian-Briefwechsel gegeben hatte: So wie die antiken Oden Herder zufolge an der Grenze von Natur- und Sprachlaut arbeiten, dem SprachmaterialSprachmaterial also seine Ausdrucksfähigkeit erst abgewinnen, erschließen die Herder’schen VolksliederVolkVolkslied neue Formen des sprachlichen Ausdrucks; sie sind sprachschöpferisch und können gerade deshalb einer neuen Zeit dienlich sein. Die unterstellte Nähe zum VolkVolk ist nur bedingt in einem modernen nationalenNationnational Sinne zu verstehen, und die „neuere deutscheDeutschlanddeutsch Literatur“, der die VolksliedersammlungVolkVolkslied sich zurechnet, ist auch im alten Sinne des Wortes ‚deutschDeutschlanddeutsch‘, also ‚vom Volk‘, indem sie dessen undisziplinierte Energie kanalisiert – in ein allerdings zumindest auf der Oberfläche einsprachiges MediumMedienMedium.

Anders als viele anschließende Projekte – darauf komme ich gleich zurück – ist HerdersHerder, Johann GottfriedVolksliedersammlungVolkVolkslied daher nur bedingt ein Instrument der Nationenbildung. Es geht natürlich um Anschluss an die Tradition, sowohl mit Blick auf deutscheDeutschlanddeutsch Kultur als auch mit Blick auf das Gedächtnis der Menschheit. Politisch ist die Sammlung aber auch und vor allem als Instrument der sprachlichen Erneuerung. Explizit betont dies das Schlusswort der Sammlung, das nicht nur die Offenheit der Sammlung für Ergänzungen hervorhebt, sondern eine produktive Rezeption auch jenseits des Sammelns in Aussicht stellt. Herder rät seinem Leser, die LiederLied nicht „in Einem Atem fortzulesen, damit er das Buch abtue und justifiziere“, auch nicht „sich schwindelnd aus Völkern in Völker [zu] werfen“, also aus ethnologischemethnologisch Interesse zu lesen, sondern „jedes Stück an seiner Stelle und Ort [zu] betrachten“ (Herder 1778/79: 427). Damit ist nicht zuletzt der durch die Sammlung, durch den Druck selbst gegebene Zusammenhang gemeint.3 Die Sammlung stilisiert sich als zeitgemäßerZeitgemäßheitzeitgemäß Rahmen, als Anordnung, die den einzelnen Texten hier und jetzt Bedeutsamkeit gibt. Die Herder’schen VolksliederVolkVolkslied sind in emphatischem Sinne Gegenwartsliteratur, ja, sie sollen die Erneuerung der Poesie katalysieren. Er könne, so Herder, „sehr beredt sein, wenn ich von dem Nutzen schwätzen wollte, den manche verdorrte Zweige unsrer Poesie aus diesen unansehnlichen Tautropfen fremderFremdheitfremd Himmelswolken ziehen könnten. Ich überlasse dies aber dem Leser“ (Herder 1778/79: 427). Da schon die Einleitung zum zweiten Teil der Sammlung die gegebenen LiederLied als „Materialien zur Dichtkunst“ (Herder 1778/79: 245) ausweist, darf man hierin eine Aufforderung zur Fortsetzung sehen, aber nicht nur zur Sammlung weiterer Materialien, sondern auch zur Produktion zeitgenössischer Originaldichtung. Es ist den Rezipienten aufgegeben, eine populäre Form der lyrischen Dichtung zu entwickeln, die tatsächlich ‚lebendig‘, das heißt, zukunftsfähig ist.

Es ist diese abschließende Geste, die HerdersHerder, Johann Gottfried Vorhaben auf die Spitze treibt und am deutlichsten demonstriert, worum es ihm bei der Sammlung der VolksliederVolkVolkslied geht: Sicherlich ist er auch auf der Suche nach volkstümlicher OriginalitätOriginalität im Interesse eines anthropologischenAnthropologieanthropologischUniversalismusUniversalitätUniversalismus/universalisme, wie es Herders doppeldeutiger Begriff von ‚VolkVolk‘ nahelegt. Sicherlich dient die Besinnung auf Ursprünglichkeit auch dem Streben nach einer neuen Ganzheitlichkeit der menschlichen Existenz. Und sicherlich geht es auch um die Stiftung einer „Zusammenstimmung“, wie Gaier formuliert (1990: 879). Allerdings ist diese Harmonisierung nicht im Sinne von Folklore gemeint, und sie ist auch weniger bewahrend orientiert als avantgardistisch. Herder will die Konstitution einer neuen Gattung initiieren, die er VolksliedVolkVolkslied nennt und der ‚lyrischen Dichtung‘ zuordnet. Diese Gattung soll sich durch Modulation fortschreiben, sie soll ein großes nationalesNationnational und internationales Publikum erreichen, in diesem modernen Sinne populär sein – und im MediumMedienMedium des Drucks ermöglichen, was die alte Volksdichtung im MediumMedienMedium der MündlichkeitMündlichkeit ermöglicht hat.4 Von hier aus lässt sich auch Herders Wertschätzung originaler Poesie im historischenhistorisch Sinne verstehen. Denn OriginalitätOriginalität, ob sie nun alt oder neu ist, muss letztlich immer als Folge der unvorhersehbaren modulierenden Veränderung überkommener Formen verstanden werden.

HerderHerder, Johann Gottfried hat den Zeitpunkt der Publikation seiner VolksliedersammlungVolkVolkslied lange herausgezögert – aus unterschiedlichen Gründen, aber unter anderem auch deshalb, weil er daran zweifelte, die Zeit sei bereit für sie. Und offenkundig dienen die Anordnung und der Rahmen, die Herder seiner Sammlung gibt, auch zur Einhegung jener potenzierten Gefahr der Fehlwirkung, der sich, wie eingangs ausgeführt, jede literarisch-politischePolitik/politicspolitisch/political Intervention aussetzt. Vor diesem Hintergrund ließe sich fragen, inwiefern die Gesetzestreue, der sich die Herder’sche Muttersprachensemantik verschreibt und die auch im Einsprachigkeitsprinzip der VolksliedersammlungVolkVolkslied zum Ausdruck kommt, vielleicht weniger aus Überzeugung denn aus Wirkungskalkül gesucht wird. Herder ist womöglich weniger der ‚Erfinder‘ der modernen Muttersprachlichkeitssemantik,5 als dass er die literarische OriginalitätsästhetikOriginalitätOriginalitätsästhetik schlicht besonders geschickt an sprachpolitischeSprachpolitiksprachpolitisch Tatsachen angepasst hat. Immerhin lassen sich auch jenseits der Muttersprachensemantik starke evolutionäre Kräfte benennen, welche die moderne EinsprachigkeitEinsprachigkeit begünstigt haben – der durch den BuchdruckBuchdruck ausgelöste StandardisierungsdruckStandardStandardisierung ist eine davon. Wie dem auch sei, klar ist, dass für Herder eine Literatur, die zeitgemäßZeitgemäßheitzeitgemäß sein und auf GegenwartGegenwart wirken will, an der Diversifizierung der sprachlichen Mittel arbeiten muss. Vielleicht ist die programmatische EinsprachigkeitEinsprachigkeit der Literatur, wie Herder sie ins Auge fasst, nur ein politischerPolitik/politicspolitisch/political Trick, der es ermöglicht, überhaupt SprachvielfaltSprachvielfalt zur Entfaltung kommen zu lassen.

4Literatur II: Dseesminas und DainasDainas (Alunāns Alunāns, Juris und Barons Barons, Krišjānis)

Ein im weitesten Sinne literarisches Projekt aus dem baltischenBaltikumBaltisch Raum, das gerne mit HerdersHerder, Johann GottfriedVolksliedersammlungVolkVolkslied in Verbindung gebracht wird, ist die Sammlung sowie vor allem Redaktion und Ordnung einer sehr großen Zahl lettischerLettland/LatvialettischVolksliederVolkVolkslied oder DainasDainas (wie der litauischeLitauenlitauisch Begriff für VolksliederVolkVolkslied lautet) durch Krišjānis BaronsBarons, Krišjānis.1 Die Verbindung ist naheliegend, geht doch Herders Interesse am VolksliedVolkVolkslied unter anderem auf seinen Kontakt mit lettischenLettland/LatvialettischVolksliedernVolkVolkslied in seiner Rigenser Zeit zurück. Und auch wenn Barons in seiner Einleitung zum ersten Band der Latwju DainasDainas von 1894 (die restlichen fünf Bände erschienen bis 1915) Herder mit keinem Wort erwähnt, so ist doch seine Sammeltätigkeit ebenso wie die einer Vielzahl von Vorläufern und Mitarbeitern durch Herder inspiriert.2 Allerdings gilt für Barons Latwju Dainas, was eben für Herders VolksliedersammlungVolkVolkslied nicht gesagt werden kann: Sie sind, ebenso wie die zwischenzeitlich im deutschsprachigenDeutschlanddeutschsprachig Raum auf den Weg gebrachten Projekte (z.B. Des Knaben Wunderhorn), Teil einer (anti-kolonialen!) nationalenNationnationalKulturpolitikPolitik/politicsKulturpolitik.3 Dabei arbeitet sich auch Barons’ Projekt, wie ich zeigen möchte, an der Problematik einer zeitgemäßenZeitgemäßheitzeitgemäß Präsentation des in den DainasDainas vorliegenden Kulturerbes ab. Barons politischesPolitik/politicspolitisch/political Engagement zwingt ihn sehr unmittelbar zur Auseinandersetzung mit Fragen von Sprachentwicklung und SprachvielfaltSprachvielfalt, die er in einem ausgesprochen modernen Sinne angeht.

Bevor ich zu BaronsBarons, Krišjānis komme, sei mit einem Seitenblick aber noch ein Unternehmen zumindest gestreift, das eine andere Linie des HerderHerder, Johann Gottfried’schen Engagements aufgreift, nämlich Juris AlunānsAlunāns, Juris’ Sammlung übersetzter Dseesmiņas, LiedchenLied, die 1856 in Tartu erschienen ist. Alunāns, der als Schöpfer einer Vielzahl von Neologismen im LettischenLettland/LatviaLettisch/Latvian gilt, widmete sich mit dieser Sammlung der modernen europäischenEuropaeuropäisch (tatsächlich vor allem der deutschsprachigenDeutschlanddeutschsprachig) Lyrik, und zwar mit dem Ziel einer Modernisierung des LettischenLettland/LatviaLettisch/Latvian. Alunāns geht es vordergründig um eine Säuberung der lettischenLettland/Latvialettisch Sprache von Fremdeinflüssen, und das Nachwort zu seiner Sammlung enthält umfassende Vorschläge dazu, wie anderssprachigeanderssprachig Eigennamen besser als bisher ins LettischeLettland/LatviaLettisch/Latvian und die ihm eigentümliche Wortbildung eingefügt werden könnten (Alunāns 1856: 62–70). (Sehr viele dieser Vorschläge haben sich tatsächlich durchgesetzt.) Die Säuberung impliziert aber nicht nur eine Systematisierung des Regelwerks der lettischenLettland/Latvialettisch Sprache, sondern auch ihrer Fortbildung in Auseinandersetzung mit anderen Sprachen. LettischLettland/LatviaLettisch/Latvian soll eine eigenständige Sprache nach dem Modell des DeutschenDeutschlandDeutsch und anderer europäischerEuropaeuropäischNationalsprachenNationNationalsprache werden – es geht Alunāns, so gesehen, um die Selbstermächtigung eines kolonialisierten IdiomsIdiom, er sucht den Anschluss an die (sprachliche) Moderne EuropasEuropa. Diesem Ziel dienen die ÜbersetzungenÜbersetzung/translation, die einen ähnlichen Modernisierungsschub initiieren wollen wie Herders VolksliederVolkVolkslied. Alunāns möchte eine gewisse formale Bandbreite zur Schau stellen und legt Wert darauf, den Übersetzungscharakter der Texte, selbst wenn die Originale größtenteils beigegeben sind, zu verschleiern. Die ÜbersetzungenÜbersetzung/translation sollen sich wie Originale lesen, und so setzt denn die Sammlung ein mit einer ÜbersetzungÜbersetzung/translation von Heines Loreley-Gedicht, das im LettischenLettland/LatviaLettisch/Latvian mit „Laura“ überschrieben ist und an der Daugava spielt, nicht am Rhein (Alunāns 1856: 6–7).

Zurück zu BaronsBarons, Krišjānis. Natürlich ist es ganz unmöglich, ein derartig umfassendes Projekt wie die Latwju DainasDainas hier und jetzt angemessen zu würdigen.4 Ich beschränke mich auf eine Lektüre der Einleitung von 1894, in der Barons ausführlich über die Entstehung der Sammlung und über die Schwierigkeiten Auskunft erteilt, die es vor der Publikation zu überwinden gab. Von Interesse sind dabei weniger die Ausführungen zur Sammeltätigkeit selbst. Hervorgehoben werden muss lediglich, dass sich Barons der Unvollständigkeit und des kontingenten Zuschnitts seiner Sammlung genau bewusst ist: Das lettischsprachige Territorium ist weder gleichmäßig noch vollständig repräsentiert. Wichtiger ist die Frage, wie Barons mit der enormen Mannigfaltigkeit des gesammelten Materials umgeht und wie er seine Entscheidungen begründet.5

Die Mannigfaltigkeit des gesammelten Materials ergibt sich zum ersten aus einer enormen Vielfalt von VariantenVariante; sehr viele der erfassten DainasDainas sind von unterschiedlichen Quellen in unterschiedlicher Form übermittelt. Zum zweiten konstatiert BaronsBarons, Krišjānis eine gewisse formale Vielfalt; neben trochäischen oder dayktylischen Vierzeilern finden sich viele andere Formen. Zum dritten gibt es eine große Bandbreite an Stoffen und Themen. Barons betont, es mache keinen Sinn, die einzelnen DainasDainas in längere narrative Zusammenhänge zu binden. Zwar lägen durchaus Überlieferungen vor, die offenbar auf den Vortrag einer Vielzahl thematisch zusammenhängender DainasDainas zurückgehen; Barons zufolge sind solche Vorträge aber allein mnemotechnisch motiviert, d.h., sie gehen auf Memorierübungen zurück. Die Zersplitterung der DainasDainas in Tausende von Vierzeilern erzeugt nun aber eine besonders markante Unübersichtlichkeit. Zum vierten zeigen die Einsendungen eine dialektaleDialekt/Mundart Vielfalt, die durch die im 19. Jahrhundert noch stark schwankende (in Barons’ Worten: „truhziga“; Barons 1894: xiv) OrthographieOrthographie des LettischenLettland/LatviaLettisch/Latvian weiter verstärkt wird (so dass im Einzelnen nicht unbedingt klar ist, ob eine Abweichung von zu Barons’ Zeit sich etablierenden StandardsStandard auf dialektalenDialekt/Mundart Einfluss zurückgeht oder auf orthographische Unkenntnis).6

BaronsBarons, Krišjānis’ Umgang mit der auch sprachlichen Mannigfaltigkeit seines Gegenstands, die sich auf all diesen Ebenen entfaltet, zeichnet sich dadurch aus, dass er Lösungen findet, die auf mehreren Ebenen zugleich Komplexität reduzieren – und vermutlich hat seine Arbeit gerade deshalb eine so enorme Wirkung entfaltet. Die wichtigste dieser Lösungen liegt in der Anordnung der DainasDainas, welche die anschließende Folkloristik im Großen und Ganzen bis heute beibehalten hat und mit der meines Wissens noch heute jedes lettischeLettland/Latvialettisch Schulkind spätestens in der fünften Klasse bekannt gemacht wird. Diese Anordnung folgt im Wesentlichen dem Lebensrhythmus des VolksVolk. So schreibt Barons: „Jo dabiſkaki dſeeſmu eedaliſchana peeſleenàs tautas dſihwei, jo weeglaki un pareiſaki kahrtotajam weikſees dſeeſmas ſawâs nodaļâs eeweetot“ („Je natürlicher sich die Einteilung der LiederLied an das Leben des VolksVolk anschmiegt, desto einfacher und richtiger wird es dem Herausgeber gelingen, die LiederLied ihren Abteilungen zuzuordnen“; Barons 1894: xii).7 Um aber dem Leben des VolksVolk nahezukommen, genügt es nicht, nach dem Inhalt der LiederLied zu gehen, vielmehr muss man wissen, „wann und wo sie eigentlich zu singen sind“ („kad un kur tas pateeſi dſeedamas“; Barons 1894: xii), und der Herausgeber „nedrihkſt rihkotees weeglprahtigi, pats dſeeſmu pilnigi neſapratis, tikai ahriſchki turotees pee kautkahda wahrda, kas tanî minets“ („darf nicht so leichtsinnig verfahren, dass er, ohne völlig zu verstehen, sich nur äußerlich an irgendein Wort hält, das darin [im LiedLied] vorkommt“; Barons 1894: xii). Barons wendet sich aber nicht nur gegen eine Anordnung nach den in den DainasDainas behandelten Themen (z.B. also in LiederLied über die ‚Elemente‘, über Flora, Fauna und das Menschenleben), sondern auch gegen eine Anordnung nach Herkunftsort. Das Argument, auf diese Weise könne die dialektaleDialekt/MundartVarianzVarianz des LettischenLettland/LatviaLettisch/Latvian vor Augen geführt werden, lässt er nicht gelten:

Ari dſeeſmu uſrakſtitaji dialektus, ja maſ, tad wiſai pawirſchi, nepilnigi un nekonſekwenti eewehrojuſchi. Wiņu leelaka daļa pat no wideem, kur walda it noteikta ſawada islokſne, uſrakſtijuſchi dſeeſmas muhſu rakſtu walodâ ar retàm iſlokſchņu peedewàm, ta ka ſcho pehdeju dehļ ween nebuhtu pareiſi, wispahrejâ krahjumâ dſeeſmas pehz weetàm ſchķirt. Tos retos, dialektu ſiņâ nopeetnos, plaſchakos manuſkriptu krahjumus, kas muhſu rokas nahkuſchi, doſim pehz eeſpehjas krahjuma beigàs ſawruhp un pilnigakâ ortografijâ. Beidſot, dſeeſmu ſadaliſchana pehz weetam ſarauſta nepareiſi paſchas dſeeſmu grupas, un ſchķir lihdſigas dſeeſmas tahlu weenu no otras, beſ kahdeem panahkumeem preekſch paſchas leetas. (BaronsBarons, Krišjānis 1894: xiv)

Allerdings haben die Schreiber die DialekteDialekt/Mundart, wenn überhaupt, dann nur ganz oberflächlich, unvollkommen und inkonsequent berücksichtigt. Die meisten von ihnen, selbst diejenigen aus Gegenden, in denen eine besonders ungewöhnliche Aussprache üblich ist, haben die LiederLied in unserer SchriftspracheSchriftSchriftsprache aufgezeichnet, mit einigen wenigen Beigaben in der originalen Aussprache, und schon deshalb wäre es nicht richtig, die LiederLied nach Orten anzuordnen. Die wenigen mit Blick auf den DialektDialekt/Mundart ernstzunehmenden, umfassenderen Handschriftensammlungen, die in unsere Hände gekommen sind, werden wir nach Möglichkeit am Ende der Sammlung für sich und in verbesserter OrthographieOrthographie zu lesen geben. Schließlich würde die Anordnung nach Orten zusammengehörige LiederLied auseinanderreißen und ähnliche LiederLied weit voneinander entfernen, ohne dass in der Sache etwas gewonnen wäre.

Was aber ist diese ‚Sache‘, in der etwas zu gewinnen ist? Das Beispiel, das BaronsBarons, Krišjānis im Anschluss an diese Stelle gibt, ist ausgesprochen erhellend. Barons erläutert, dass von den vielen unterschiedlichen Typen von Hochzeitsliedern, die jeweils in konkreten Situationen eine konkrete Funktion haben, die nach dem bisher Gesagten nur der ethnographischEthnographieethnographisch bewanderte Herausgeber einschätzen kann, von den meisten Orten jeweils nur wenige überliefert sind. Ein Gesamtbild der lettischenLettland/Latvialettisch Hochzeitsliedtradition kann so nicht entstehen – und genau dieses Gesamtbild ist aber die Sache selbst.8 Unterstellt wird also nicht nur die rhythmische Gleichförmigkeit des Volkslebens in den Lebensläufen und im Jahresverlauf, sondern auch, dass das Volksleben diesem einen RhythmusRhythmus/rhythm im gesamten lettischsprachigen Territorium folgt und damit so etwas wie das lettischeLettland/LatvialettischVolkVolk überhaupt erst erzeugt.

Mit der gesamtlettischen ethnographischenEthnographieethnographisch Synthese wird, so ist der soeben zitierten Passage zu entnehmen, zugleich das Problem der sprachlichen Vielfalt der Quellen gelöst, wie auch dasjenige der VariantenVariante: Dialektale Differenzen können weitgehend beseitigt werden, weil sie zwar Ausdruck einer auch BaronsBarons, Krišjānis wichtigen lokalen PartikularitätPartikularität/particularité sind, aber sich eben doch auf den Lebensrhythmus eines einheitlichen VolksVolk zurückbeziehen. VariantenVariante werden zwar gesammelt und Barons gibt auch an, sie hätten allesamt in die gedruckte Sammlung Eingang gefunden; tatsächlich aber genügt ein exemplarischer Abgleich mit dem dainu skapis, dem ‚Volksliederschrank‘, der die handschriftlichen Vorlagen für den Druck der DainasDainas enthält, um zu zeigen, dass das nicht stimmt.9 Vor dem Hintergrund dieses Homogenisierungsprogramms kann Barons noch die UnzeitgemäßheitZeitgemäßheitUnzeitgemäßheit vieler DainasDainas zum Ausdruck einer tieferen Volkseinheit umdeuten:

Preekſch jaunakeem dſihiwes apſtahkļeem laba daļa no wiņàm rahdijàs nowezejuſchàs. Bet iſlobot muhſu tautas dſeeſmu ihſto weſeligo kodolu, mums atklahjàs wiņâs zilweka gara labakee idealee zenteeni, zilweka ſirds un dwehſeles daiļakàs, tikumigakàs, dſiļakàs juhtas, kas nekad nenowezejàs, lai ari wiſs zits ahriſchks ſawa laika peederums pahrgroſàs. (BaronsBarons, Krišjānis 1894: xviii)

Vor dem Hintergrund der neueren Lebensumstände erscheint ein Teil von ihnen [der LiederLied] veraltet. Aber wenn wir aus unseren VolksliedernVolkVolkslied den lebendigen Kern herausschälen, dann finden wir in ihnen die besten idealen Bestrebungen und die schönsten, verlässlichsten und tiefsten Gefühle der Seele, die nie veralten, selbst wenn sich alles Äußere, seiner Zeit Zugehörige verändert.

Die SynchronisierungSynchronieSynchronisierung des gesamtlettischen Volkslebens, die BaronsBarons, Krišjānis unternimmt, stellt also zugleich eine Verbindung her zu einer mythischen, in Zyklen organisierten Zeit, die sich über die lineare Zeit des Geschichtsverlaufs hinweg erhält. Diese mythische Zeit macht Barons unter anderem dadurch zugänglich, dass er die Effekte von Sprachentwicklung (hier: die DialekteDialekt/Mundart