Meier (eBook) - Tommie Goerz - E-Book

Meier (eBook) E-Book

Tommie Goerz

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Beschreibung

Sie hatten ihm alles genommen. Leben, Arbeit, Wohnung, Freunde, Kollegen, seinen Ruf. Zehn Jahre hatten sie ihm gestohlen. Für nichts." Ein Jahrzehnt saß Meier unschuldig im Knast, verurteilt für einen Mord, den er nicht begangen hat. Nun kommt er, der alles verloren hat, wieder frei. Doch er ist kein gebrochener Mann, er hat die Zeit gut genutzt. Hat die anderen studiert, hat genau zugehört, was sie getan haben und wie. Und er hat Kontakte geknüpft zur Unterwelt. Das Gefängnis war seine Hochschule für das Leben danach. Er hat einen Plan, wie er nach dem Knast wieder auf die Beine kommt. Und dann, zufällig, trifft er auf den Polizisten, der ihn damals eingelocht hat ... Bestsellerautor Tommie Goerz zeigt sich mit einem schonungslosen Krimi von einer ganz neuen Seite.

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Tommie Goerz

 

Meier

 

Kriminalroman

 

 

 

 

ars vivendi

 

Vollständige eBook-Ausgabe der im ars vivendi verlag erschienenen Originalausgabe (1. Auflage Februar 2020)

 

© 2020 by ars vivendi verlag GmbH & Co. KG, Bauhof 1, 90556 Cadolzburg

Alle Rechte vorbehalten

www.arsvivendi.com

 

Umschlaggestaltung: ars vivendi

Coverfoto: © royjackson / Photocase

 

Datenkonvertierung eBook: ars vivendi verlag

 

eISBN 978-3-7472-0159-6

 

Inhalt

I

II

III

IV

V

VI

VII

VIII

IX

X

XI

XII

XIII

XIV

XV

Der Autor

 

 

Die nachfolgende Geschichte ist frei erfunden. Nichts und niemand entspricht Vorkommnissen oder Personen in der Wirklichkeit. Etwaige Übereinstimmungen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

 

Die Welt des Glücklichen

ist eine andere Welt

als die des Unglücklichen.

 

Ludwig Wittgenstein,

Tractatus logico-philosophicus, 6.43

 

I

War es Montag oder Dienstag? Noch Juli oder schon August? Es ist erschreckend, wie die Tage ineinanderfließen und jede Kontur verlieren, wenn man nichts vor sich hat als eine Wand. Verputz mit altgelber Ölfarbe, an etlichen Stellen abgeplatzt oder weggekratzt, bekritzelt oder eingeritzt von anderen, die vor ihm hier gewesen waren. Gesessen hatten. Die Wand angestarrt hatten. Tage-, oft wochenlang. So wie er, immer mal wieder. So ist es im Loch, wie sie es nennen. Aber allemal besser, als bei den anderen zu sein, zumindest für ein paar Tage. In seinen ersten Jahren ließ er sich immer mal wieder dahin verlegen, wenn er die anderen nicht mehr ertrug. Alle paar Monate, wenn er seinen Moralischen hatte. Die Einsamkeit unter Leuten, auch die Hilflosigkeit. Vier waren sie in der Zelle, drei Jahre lang. Zwei Stockbetten, zwölf Quadratmeter. Stinkende Männer. Beschränkt, primitiv und aufreizend vulgär. Eigenverachtung mit Stärke verwechselnd. Rülpsend, rotzend, schniefend, hustend, schnarchend, hohl redend. Furzend und sich stöhnend entleerend hinter der kotbeschmierten Stellwand. Ein Dealer, ein Totschläger, ein Betrüger und er, ein Mörder. War er nicht, hatte ihm aber zwölf Jahre eingebracht. Und erst einmal das Bett oben rechts, über dem Dealer.

 

 

Nach drei Jahren, endlich, bekam er eine Einzelzelle, Luxus in diesem Knast. Meier, der Mörder. Frauenmörder. Erdrückende Beweise.

 

 

Dreiviertel sechs Wecken, sechs dreißig Frühstück, ab sieben Uhr arbeiten. Schreinerei oder Systemdübel montieren, Putzdienst, Wäscherei oder Küche, wenn du Glück hattest vielleicht Bibliothek. Zwölf Uhr Mittagessen, siebzehn Abendessen, zweiundzwanzig Licht aus. Eine Stunde Hofgang, dreiundzwanzig Stunden am Tag weggesperrt, sieben Tage die Woche, dreihundertfünf­undsechzig Tage im Jahr. Pfefferminztee am Abend? Musstest du einen Antrag stellen. Der oft Wochen dauerte oder den sie einfach verschlampten. Aber sie hatten die Schlüssel, also die Macht. Man fühlte sich abhängig, ausgeliefert, hilflos. Auch oft erniedrigt, entrechtet, entehrt. Verstanden sie aber nicht, dafür hatten sie kein Gespür. Verschanzten sich hinter der Vorschrift. Zwei Euro nahmen sie dir für die Kanne, dreiviertel Liter, meist lauwarme Plörre. Ein ausgelutschter Beutel. Wenn du dich beschwertest, brauchtest du die nächsten Wochen überhaupt keinen Antrag mehr zu stellen. Ein Buch? Genau das Gleiche. Etwas zum Schreiben? Zum Malen gar? Ohne Geld konntest du alles vergessen. Mit einem Schein ging vieles und schnell, mit zweien sofort. Aber wenn du keinen hattest? Niemanden draußen, der dich unterstützte? Sich alle abgewendet hatten? Dann konntest du nur abwarten. Sitzen, die Wand anstarren, überlegen, ob es Montag oder Dienstag war. Da war die Einzelzelle nicht anders als das Loch, nur komfortabler. Nein, weniger unkomfortabel.

 

 

Du konntest nicht mehr über dein eigenes Leben entscheiden. Sie hatten es in der Hand. Es sich genommen.

 

 

Seit Jahren hatte er keinen Baum mehr gesehen. Keinen Weg, der hinaus in die Felder führte, in die Weite.

 

 

Manchmal stellte er sein Blechgeschirr ins Becken und ließ das Wasser laufen. Um das Glucksen zu hören, ihm zu lauschen. Wasser macht ein so reiches Geräusch, wenn man hinhört. Geräusch von Freiheit und Ferne. Und dann, zuverlässig wie das Amen in der Kirche, kam immer der Wachmann und drehte es wieder ab. Machte Meldung, und wenn Meier Pech hatte, wanderte er wieder für zwei Tage ins Loch. Montag ... Dienstag ... Wasserverschwendung warfen sie ihm vor. Mutwillen, Renitenz, Provokation, Wiederholungstat. Wasserglucksen? Das wollten sie einfach nicht kapieren. Oder wollten sie ihn quälen? Konnte er manchmal denken. Aber es war nur Vorschrift, sie verstanden nichts. Halb so schlimm, musst du aushalten, dachte er nur. Trotzdem: Manchmal war ihm, als wollten sie ihm noch das Letzte nehmen, ihn klein machen, beugen, brechen.

 

 

Zwölf Jahre hatte er Zeit für Pläne. Nachdenken über Gerechtigkeit, Phantasien der Wiedergutmachung. Geduld üben, Genügsamkeit, Grübeln, Leben in der Warteschleife, auf dem Abstellgleis. Warten als Lebenssinn. Liegestütze, Kniebeugen, Sit-ups und wieder Liegestütze. Laufen auf der Stelle, ein Seil zum Seilhüpfen genehmigten sie ihm nicht. Könnte er sich ja mit aufhängen. Kniebeugen, Sit-ups, Warten. Phantasieren. Schuldige ausmachen, Mitschuldige, und vielleicht stellen. Rache üben vielleicht, zumindest der Gedanke daran schmeckte ja süß. Tit for Tat? Er war davon nicht überzeugt, aber der Gedanke schmeckte, hatte etwas Süßes. Süßliches. War nicht so gut.

 

 

Und immer wieder beobachten, fragen, studieren. Die Geschichten der anderen anhören, die hier waren. Wie viel haben sie gekriegt? Warum sind sie rein? Was haben sie gemacht, was richtig, was falsch? Was bedacht und was nicht? Geplant gehandelt oder im Affekt? Wie stark ist der Zufall, und ist er kalkulierbar? Bleibt ihnen was, wenn sie rauskommen, oder bleibt ihnen nichts? Was steht ihnen bevor, und was erwartet sie? Denken sie drüber nach oder nicht? Mit Mut oder ohne? Oder sollten sie vielleicht besser nicht wieder raus? Bei manchem, meinte er, wäre das besser. Auch: Was können sie, was kannst du nicht, was kannst du von ihnen lernen? Was wissen sie, was können sie dir zeigen? Es war ein umfassendes Studium, das er hier betreiben konnte. Und musste, wenn er klug war. Viel Interessantes fürs Leben, das du sonst nirgends lernst. Fürs Leben draußen, danach. Wenn sie ihm endlich die Türen öffneten hier.

Zweimal in der Woche Duschen. Graue Klamotten, die dir nicht gehörten. Und nicht passten, nie, viel zu groß. Machten die das extra? Ist nichts anderes da, hieß es nur, tut uns leid, aber hier ist auch keine Modenschau. Übertrieben lautes Gelächter, hilfloses. Hättest du Wut kriegen können, half aber nichts. Sie hatten ja das Recht.

 

 

Alles hat seine Geschichte, und nichts fängt bei Null an. Nichts kommt aus dem Nichts. Zwei Jahre vor der erschlagenen Frau war ein Kind verschwunden in der Nachbarschaft. Aus dem Schulbus gestiegen mittags, hatte die Straßenseite gewechselt und war weg. Einfach so, am helllichten Tag. Alles hatten sie abgesucht damals, jeden Stein umgedreht. Drei Wochen später hat ein Hund unten am Fluss angeschlagen. Da lag der Leichnam, halb bekleidet. Den Schulranzen fand man später auf dem Müll. Das Mädchen war gefesselt worden, geknebelt, geschlagen, missbraucht, dann erdrosselt und notdürftig verscharrt, unter Zweigen und Laub. Warum war das beim Suchen nicht aufgefallen? Schlampig gesucht? Wa­rum hatte die Wärmebildkamera vom Hubschrauber herunter den Leichnam nicht entdeckt? Aber was spielt das für eine Rolle, das Mädchen war tot. So fing es eigentlich an.

 

 

Aber wer macht so etwas? Man weiß es bis heute nicht, der wahre Täter wurde nie gefunden. Aber seine DNA hatten sie genommen damals. Meiers. Die aller Männer im Umkreis. Aller, die das freiwillig taten. Natürlich war der Täter nicht mit dabei, klar nicht, der hätte ja mit Blödheit geschlagen sein müssen. Aber so hatten sie seine DNA. Im Computer. Identisch mit der auf den zwei Kippen. Die man dort gefunden hatte, wo er nie gewesen war. Glaubte ihm aber keiner. Zwei Kippen mit DNA sind ein Beweis.

 

 

Überlautes Klopfen eines Tages, plötzlich. Standen zwei vor der Tür, zeigten ihm einen Wisch. Den er nicht lesen konnte, seine Brille lag auf dem Tisch. Die er nicht holen durfte. Draußen standen noch mehr.

Handschellen wie im Film, viel zu eng eingerastet, schnitten ein. Arme verdreht. Mitkommen!

Rein ins Auto, rumgeschubst, Kopf runtergedrückt.

Klappe halten.

Verhör. Unterschrift, bitte. Immerhin bitte.

Er unterschrieb nicht, keine Brille. Konnte ja nicht lesen, was da stand.

Sie müssen.

Nein. Einen Anwalt.

Später. Erst Ihre Unterschrift.

Aber ich kann das nicht lesen.

Dann gibt es auch keinen Anwalt.

Alles ungesetzlich, alles scheinbar ganz normal. Schien zumindest niemanden zu stören. Hast du keine Chance, auch später nicht. Glaubt dir ja keiner, du allein gegen drei Bullen, denn Bullen haben immer recht, vor jedem Richter. Weil sie glaubhaft sind, du nicht. Auch hier schon das Lachen. Die hier aber hatten ihren Spaß, waren gemein, ließen ihn ihre Macht spüren, die sie genossen. Abführen!

Aber ich habe doch nichts getan!

Das sagen sie alle.

Aber ...

Nichts aber, wir haben Beweise. Fürsattl hieß der Schärfste von denen. Schien ihn zu hassen, keine Ahnung, warum. Fürsattl war bösartig, allein schon der Blick. Es gibt solche Menschen, auch hier beim Knastpersonal. Da aber nur wenige.

 

 

Untersuchungshaft. Da wollten sie ihn zu einem Geständnis bewegen. Zwingen.

Nein!

Schweigen Sie ruhig, wir haben Beweise. Zwei Zigarettenkippen seiner Marke am Tatort, mit seiner DNA. Stuyvesant. Raucht heute doch kaum jemand mehr. Keine Ahnung, wie die dorthin gekommen waren. Meier war nie an diesem Ort gewesen. Hatte auch die Frau nicht gekannt, woher auch. Ne Lehrerin. Attraktiv.

Auch der Prügel mit dem Blut. Alter Baseballschläger. Mit DNA – mit Resten nur, weil der Stock drei Tage im Feuchten gelegen hatte, aber doch noch genug. Mikrospuren. Können die jetzt alles finden und verwerten. War ja auch kein Wunder, das mit der DNA. War ja sein Schläger. Stand in der Garage gleich rechts. Hatte er gestanden. Bis jemand den Schläger mitgenommen hat. Kurz vorher hatte er ihn erst benutzt. Auf der Leiter gestanden und die trockenen Äste vom Nussbaum abgeschlagen, die unteren zumindest, soweit er eben mit dem Prügel kam.

Ja, Reste von dem Nussholz hatten sie auch gefunden. Unter dem Blut. Und am Hirn dieser Frau, das aus dem Kopf gedrungen war. Nussholzspuren aus seinem Garten. Zweifelsfrei überführt.

Zwischen elf und halb eins in der Tatnacht? Hatte er ferngesehen, natürlich allein. Aber das ist kein Alibi. Schlecht, wenn man alleine lebt.

Wo der Transporter sei von der Frau, wollten sie wissen. Er wusste ja gar nicht, dass sie einen Transporter hatte. Peugeot Partner 1900, Baujahr 2003. Diesel, rot. Anhängerkupplung. Ist nicht wiederaufgetaucht. Bis heute nicht. Partner, wie sinnig. Und zynisch.

Den haben Sie in einem Weiher versenkt wegen dem Blut. So sprachen sie mit ihm.

Nein.

Geben Sie’s ruhig zu.

Ich kann nichts zugeben, wovon ich nichts weiß. Was ich nicht getan hab.

Ach, warten Sie nur lange genug ab, der taucht schon wieder auf. Sie lügen ja doch nur.

 

 

Fernsehen konntest du. Wenn du dir einen Fernseher liehst. Einen Antrag stelltest und zwei, drei Wochen wartetest. Oder länger. Und du das Geld hattest.

 

 

Tage sind lang, wenn sie einem nicht viel bieten. Wenig Eckpunkte haben. Er gewöhnte sich nicht daran. Aber er blendete es aus, schaltete sich ab, fuhr sich runter. Dachte sich weg. War im Kopf unterwegs, draußen. Das nahm den Druck raus.

Und er plante.

 

 

Nach zwei Jahren wusste er, wie was lief, hatte seinen Platz gefunden zwischen all den Kollegen. Bayern, Sachsen, Tschetschenen, Hessen, Österreichern, Russen, Senegalesen. Gestrandeten. Zuhältern, Mördern, Schlägern, Dealern, Betrügern. Erobert, erkämpft. Nach Wunden und Unterwerfung, Schmerzen und Unsäglichem, Unsagbarem und Zuträgerdiensten. Musste jeder durch als Neuling. Mancher wurde vergewaltigt, bis aufs Blut, vor allem die Kleinen, Knabenhaften. Anderen wurde ins Essen uriniert, manchmal einer mit Kot beschmiert nachts, alles war dabei, wie im Film. War ja auch einer, der hier lief, nur ein schlechter, aber live. Kaum einer half einem dann, alle schauten weg, bis auf ganz wenige. Dein Problem, musst du durch. Als Opfer hattest du hier keine Verbündeten, beim Wachpersonal schon gar nicht. Als ob die blind wären, zumindest taten sie so. Und wehe, wenn einer Meldung machte, sich beschwerte. Selbstmord, hieß es dann hinterher, hat sich am Fensterkreuz aufgehängt. Oder Freitod, das klang besser. Nach Freiheit und freier Entscheidung. Er hat es nicht mehr ertragen, so eingesperrt. Auch Depression, hieß es manchmal, aus Liebeskummer, der wollte raus. Nein, keiner hatte je etwas gesehen oder bemerkt. Alle hatten geschlafen, geschnarcht, da hört man doch nichts. Ist doch für uns auch nicht schön, einer so am Fensterkreuz gleich früh am Morgen. Auf nüchternen Magen. Da denkst du doch noch an nichts – und dann das! Kehliges Männerlachen, unbeholfen. Aber kein bisschen verlegen oder schuldbewusst, da waren sie dann gute Schauspieler. Taten sogar betroffen, einige auch leidend. Das hat doch keiner gewollt, nie!

Zweimal ist das vorgekommen, allein im ersten Jahr. Dann hat er nicht mehr gezählt. Es nicht mehr beachtet. Meier hatte sehr schnell verstanden. Wenig von alldem dringt je nach außen, Gefängnismauern sind dick. Und du sitzt dann da, schweigst, starrst an die Wand. Erwartest den nächsten Vorfall, und manchmal weißt du schon, wen es treffen wird. Nein, kein Flurfunk, Gespür.

 

 

»Im Vollzug der Freiheitsstrafe soll der Gefangene fähig werden, künftig in sozialer Verantwortung ein Leben ohne Straftaten zu führen (Vollzugsziel).« §2, Aufgaben des Vollzugs, aus dem Gesetz über den Vollzug der Freiheitsstrafe und der freiheitsentziehenden Maßregeln der Besserung und Sicherung (Strafvollzugsgesetz – StVollzG). Gut gemeint und auch richtig, aber Papier ist geduldig. Sie bieten dir Gesprächskreise, Einzelgespräche, Übungen, Freigang, die ganze Palette. Ist für viele nur Abwechslung im Einheitsalltag. Die Zeit verkürzende Fluchtpunkte. Geht man halt hin, gibt ja sonst nichts. Meier sah denen das an. Die anderen nicht? Er war sich da nicht so sicher. Aber auch professionelle Hoffnung ist Hoffnung, auch die stirbt zuletzt. Oder durfte nicht ehrlich sein. Oder selten. Das Ergebnis: Jeder Vierte kam wieder zurück. Weil er entwurzelt war, niemanden mehr hatte, nirgendwohin konnte. Ihn keiner mehr wollte, nirgends. Oder nur die, die hier waren. Da waren auch Helfer keine Hilfe. Alleinsein ist keine Stütze, für nichts. Auf der anderen Seite: Drei von vier schafften es draußen doch wieder, irgendwie. War aber kein Beweis für die Wirkung des Programms. Sei’s drum, er wollte es schaffen und würde es, aber anders.

Weiter heißt es: »Der Vollzug der Freiheitsstrafe dient auch dem Schutz der Allgemeinheit vor weiteren Straftaten.« Blieb zu ergänzen: »Für die Zeit der Strafe.« Doch bis auf ganz wenige, die »richtig Schweren«, ließ man alle wieder raus, irgendwann. Und jeder Vierte ...

§3: »1. Das Leben im Vollzug soll den allgemeinen Lebensverhältnissen soweit als möglich angeglichen werden.« Für Aufstehen, Frühstücken, Arbeiten, Mittagessen, Fernsehen, Schlafengehen stimmte das. Für sonst nichts. Wie auch – außer, man wollte etwas lernen. Im gebotenen Programm oder von denen, die hier waren. »Soweit als möglich« war dehnbar. »2. Schädlichen Folgen des Freiheitsentzuges ist entgegen­zuwirken.« Manchmal musste Meier grinsen.

 

 

Vielleicht war er ungerecht, ganz sicher sogar. Aber manchmal war der Zorn größer, wurde zur Wut. Ein schlechter Ratgeber für Urteile.

 

 

II

Nach zehn Jahren war er raus. Zwei Jahre vor der Zeit. Gute Führung, gute Prognose. Eines späten Vormittags stand er plötzlich auf der Straße, allein, und atmete tief. Sah Bäume, grünes Gras. Hörte Vögel, roch. Sein Blick konnte schweifen, ganz weit. Plötzlich gab es wieder einen Horizont, der den Namen verdiente. Und wenn es die Dachkante des Parkhauses war. Selten zuvor hatte er stärker gespürt, was Freiheit bedeutet. Konnte gehen, mehr als vier Schritte am Stück. Keine Wand. Dreihundertzwanzig Euro fuffzig hatte er in der Tasche. Gefängnisgeld. Oder Restlohn, nach Abzug aller Kosten, Fernseher, Tee und so. Und zehn Jahre alte Klamotten an. War ihm egal.

 

 

Ja, Geld würde er erst einmal benötigen, seine Mutter hatte ihm nichts hinterlassen. War gestorben nach dem ersten Jahr, er hatte nicht zur Beerdigung gedurft. Ratten. Nicht schon im ersten Jahr, hatten sie gesagt. Geht gar nicht. Als ob das eine Begründung wäre. Aber sie hatten die Macht. Das war der Knackpunkt gewesen. An dem Tag hatte er beschlossen zu lernen. Für danach. Damit sie ihn nie wieder drankriegten. Für nichts, was auch immer kommen sollte.

 

 

Wohin? In dem kleinen Karton waren seine paar Sachen, mehr hatte er nicht. Keine Kleider zum Wechseln. Keine Wohnung mehr, die hatten sie aufgelöst. Zahlte ja keiner die Miete, auch er nicht. Möbel, Schrankinhalte, Küchenzeugs? Irgendwo eingelagert, gegen Gebühr könne er das wieder holen. Sollte es doch verschimmeln. Er brauchte das Zeug nicht. Wohin auch damit?

Er hatte anderes vor. Ihr wollt mich kriminell? Ihr könnt mich kriminell haben. Ihr wart es doch, die mich zum Kriminellen gemacht haben. Und ich nehm viel mit aus den zehn Jahren, ich hab die Zeit gut genutzt. Zurück in die Gesellschaft kann ich sowieso nicht mehr, da müsste ich ganz bei Null wieder anfangen. Unter Null. Aber das geht auch anders.

 

 

Meier überquerte die Straße. Folgte ihm jemand? Er sah sich nicht um. Im Knast bekommt man hinten Augen. Das Gespür dafür, ob dich jemand beobachtet. Und da war nichts. Bald würde er sich auflösen in die Unsichtbarkeit.

 

 

Zwei Straßen weiter durchquerte er den Park, setzte sich auf eine Bank, drehte sich eine. Sog den Rauch tief ein. Noch Knasttabak. Atmete. Das Grün der Bäume, lachende Menschen, hinter ihm der Verkehr. Stimmen, Hupen, Bremsen, Motoren. Sie alle hier waren frei. Hatten Arbeit, Frau oder Mann zu Hause, vielleicht auch Kinder. Ein Heim.

Aber er, Meier? Dreiundfünfzig war er jetzt. Hatte nichts. Aber er war frei, konnte tun, wonach ihm war.

 

 

Vögel flogen durch die Luft, landeten, pickten im Gras wie Hühner. Amseln? Oder Tauben? Krähen? Er kannte die Vögel viel zu wenig, hatte sich nie dafür interessiert. Doch, einen Storch hätte er erkannt. Und einen Schwan vielleicht. Auch einen Kanarienvogel. Der Drechsler in der Zelle nebenan hatte einen gehabt. War ihm genehmigt worden als Lebenslänglichem. Mit dem hat er die ganze Zeit geplaudert. Der hatte seine Familie massakriert, regelrecht abgeschlachtet, und die Schwiegermutter. Erst die Frau, dann die Kinder im Schlaf, dann die Schwiegermutter, als sie am Morgen kam. Alle mit der Axt. Lebenslänglich mit Sicherungsverwahrung. Dabei war er eigentlich ganz umgänglich, nur jähzornig.

 

 

Meier hatte noch einen Auftrag. Wassiliy aufsuchen, einen Tschetschenen draußen. Ihn von Gregory grüßen und die Nummer überbringen. Sperrnummer für ein Konto irgendwo, Code für einen Safe oder Ziffernfolge für sonst was, das ging ihn nichts an. Wa­rum das alles? Weil die Nummer nie notiert werden durfte. Dreiundzwanzig Ziffern in Folge. Und weil Gregory immer überwacht wurde im Knast, wenn er Besuch hatte. Also konnten die Zahlen nicht anders raus als über Meiers Kopf. Der konnte sie sich als Einziger merken. Danach wäre Meier frei. Und hätte Chancen. Reset und Neustart. Mit neuem Betriebssystem.

 

Wassiliy könne ihm helfen, hatte Gregory, der Tschetschene, gesagt. Werde ihm helfen. Wenn du etwas brauchst. Lass dir drei Tage Zeit, hatte er gesagt, besser vier. Mindestens. Fahr nicht gleich hin. Bleib unauffällig, fahr herum, hinterlass keine Spuren. Niemand darf dir folgen. Niemand dich sehen. Wassiliy weiß, dass du kommst, er erwartet dich. Und kann dir helfen. Hilft dir, wenn du ihn brauchst. Du brauchst keine Angst zu haben, aber sei vorsichtig. Tu, was er sagt, auch seine Wachleute, immer. Er wird dir nichts antun, sie auch nicht. Aber mach keinen Spaß, so wie hier, das verstehen sie nicht.

Er hatte mit Gregory manchmal Späße gemacht.

 

 

Die Tschetschenen waren die Schlimmsten gewesen, noch brutaler als die Russen. Lebten nach eigenen Gesetzen. Hatten eigene Maßstäbe. Was ist schon ein Leben? Nichts, wenn es dir im Weg ist. Alle hatten vor den Tschetschenen Respekt. Durftest nie auffallen. Aber mit den Russen verstanden sie sich im Knast, da war kein Krieg.

Das hatte Meier in den ersten zwei Jahren gelernt: Bist du unauffällig, also machst du dich unauffällig, fällst du auf. Weil du der bist, der sich immer wegduckt. Klein macht. Das macht dich verdächtig und damit zum Opfer. Sofort. Und aus der Rolle kommst du so schnell nicht mehr raus. Einmal Opfer, lange Opfer. Steht dir auf der Stirn. Wirst du nur ganz schwer wieder los.

Aber bist du auffällig, fällst du auch sofort auf, logo, und wirst Opfer. Weil du genau das bist: zu auffällig. Zu vorlaut, zu frech, zu unvorsichtig, zu unbedacht, egal. Selbstbewusst darfst du sein im Knast, aber dich selbstbewusst zeigen und geben nicht. Den Kopf hoch tragen ist nur für ganz wenige.

Bist du aber leicht auffällig, verträglich auffällig, gar sympathisch auffällig, fast unauffällig auffällig, immer knapp neben der Norm, also irgendwie etwas Besonderes, ohne es sein zu wollen, anders als alle anderen, dann bist du zwar auch auffällig, aber positiv. Und wirst behandelt wie unauffällig. Bleibst erst mal unbehelligt. Paradox, aber war so. So konntest du leben.