Mein 20. Jahrhundert und andere kleine Erkenntnisse - Kazuo Ishiguro - E-Book

Mein 20. Jahrhundert und andere kleine Erkenntnisse E-Book

Kazuo Ishiguro

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Beschreibung

In seiner vielgelobten Nobelpreisrede zeigt uns Kazuo Ishiguro eindrücklich verschiedene Stationen seiner Werdung als Schriftsteller. Er spricht von seinem Verhältnis zu Japan und über die unterschiedlichsten Einflüsse aus Literatur, Musik und Film auf sein Denken und Werk, um zu der für ihn zentralen Frage vorzustoßen, was Literatur angesichts der globalen gesellschaftlichen Herausforderungen unserer Zeit leisten kann. - Ein engagiertes Plädoyer für eine Welt und eine Literatur, die Neues wagen und entdecken muss.

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Seitenzahl: 31

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Buch

In seiner viel gelobten Nobelpreisvorlesung zeigt uns Kazuo Ishiguro eindrücklich verschiedene Stationen seiner Werdung als Schriftsteller. Er spricht von seinem Verhältnis zu Japan und über die unterschiedlichsten Einflüsse aus Literatur, Musik und Film auf sein Denken und Werk, um zu der für ihn zentralen Frage vorzustoßen, was Literatur angesichts der globalen gesellschaftlichen Herausforderungen unserer Zeit leisten kann. – Ein engagiertes Plädoyer für eine Welt und eine Literatur, die Neues wagen und entdecken muss.

Vita

Kazuo Ishiguro, 1954 in Nagasaki geboren, kam 1960 nach London, wo er später Englisch und Philosophie studierte. 1989 erhielt er für seinen Weltbestseller Was vom Tage übrigblieb, der von James Ivory verfilmt wurde, den Booker Prize. Kazuo Ishiguros Werk wurde bisher in fünfzig Sprachen übersetzt. Er erhielt 2017 den Nobelpreis für Literatur. Der Autor lebt in London.

KAZUO ISHIGURO

Mein 20. Jahrhundert und

andere kleine Erkenntnisse

Vorlesung zur Verleihung

des Nobelpreises für Literatur 2017

Aus dem Englischen von Barbara Schaden

Blessing

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Der Originaltitel dieser Vorlesung, gehalten von Kazuo Ishiguro am 7. Dezember 2017, lautet:

My Twentieth Century Evening and Other Small Breakthroughs

Copyright © Die Nobelstiftung 2017

Autor des Textes: Kazuo Ishiguro

Copyright © 2018 by Karl Blessing Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Covergestaltung: Geviert, Grafik & Typografie, München

Satz: Leingärtner, Nabburg

ISBN: 978-3-641-23279-5V002

www.blessing-verlag.de

Der Nobelpreis für Literatur 2017 wird verliehen an den englischen Schriftsteller Kazuo Ishiguro, »der in Romanen von starker Wirkung den Abgrund unter unserer vermeintlichen Verbundenheit mit der Welt bloßgelegt hat«.

DIE SCHWEDISCHE AKADEMIE

Wären Sie mir im Herbst

Wären Sie mir im Herbst 1979 begegnet, hätten Sie vielleicht Mühe gehabt, mich einzuordnen, gesellschaftlich oder sogar ethnisch. Damals war ich 24. Meine Gesichtszüge wirkten wohl japanisch, doch im Unterschied zu den meisten Japanern, die man damals in Großbritannien zu sehen bekam, hatte ich schulterlanges Haar und einen hängenden Räuberschnurrbart. Der einzige identifizierbare Akzent war ein südenglischer, mit gelegentlichen Ausflügen in den coolen, aber damals schon altmodischen Hippiejargon. Wären wir miteinander ins Gespräch gekommen, hätten wir vielleicht über den Totalen Fußball der niederländischen Nationalelf geredet oder über das jüngste Album von Bob Dylan, vielleicht auch über mein soziales Jahr in London, in dem ich mich um Obdachlose gekümmert hatte. Hätten Sie das Gespräch auf Japan gebracht, mich nach der japanischen Kultur gefragt, hätten Sie vielleicht einen Anflug von Unwillen wahrgenommen, denn ich hätte Ihnen erklärt, dass ich nicht die geringste Ahnung habe, weil ich seit neunzehn Jahren keinen Fuß mehr in das Land gesetzt habe, nicht mal für einen Besuch in den Ferien.

Im Herbst 1979 war ich mit Rucksack, Gitarre und Reiseschreibmaschine nach Norfolk gekommen, genauer: nach Buxton, ein kleines englisches Dorf mit einer alten Wassermühle und flachem Ackerland ringsum. Ich war hier, weil ich an der University of East Anglia zu einem einjährigen Graduiertenkurs in kreativem Schreiben angenommen worden war. Die Uni war zehn Meilen entfernt, in der Kathedralenstadt Norwich, ich hatte kein Auto und kam nicht anders hin als mit einem Bus, der genau dreimal am Tag fuhr, morgens, mittags und abends. Das war aber, wie ich bald feststellte, nicht weiter schlimm, denn man wurde selten öfter als zweimal wöchentlich an der Uni erwartet. Ich wohnte in einem kleinen Haus bei einem Mann in den Dreißigern, der kurz zuvor von seiner Frau verlassen worden war; bei ihm hatte ich ein Zimmer gemietet. Vielleicht war ihm das Haus zuwider, weil seine zerbrochenen Träume darin spukten, vielleicht wollte er mir auch nur aus dem Weg gehen – jedenfalls bekam ich ihn oft tagelang nicht zu Gesicht. Der Kontrast hätte kaum größer sein können; aus meinem hektischen Londoner Leben war ich in eine ganz ungewohnt stille Einsamkeit geraten, in der ich Schriftsteller werden sollte.

Tatsächlich war das Zimmerchen, in dem ich wohnte, der klassischen Dachkammer des Dichters nicht unähnlich. Die schrägen Wände hatten etwas Beklemmendes; wenn ich mich aber auf Zehenspitzen zu meinem einzigen Dachfenster reckte, hatte ich eine endlos weite Aussicht auf gepflügte Äcker. Es gab einen kleinen Tisch, dessen Platte mit meiner Schreibmaschine und einer Lampe fast vollständig ausgefüllt war. Statt eines Bettes hatte ich auf dem Boden ein großes Schaumstoffviereck, auf dem mir allnächtlich der Schweiß ausbrach, auch in den bitterkalten Norfolker Nächten.

In diesem Zimmer nahm ich mir noch einmal die beiden Kurzgeschichten vor, die ich im Sommer geschrieben hatte; ich wollte wissen, ob sie gut genug waren, um vor meinen neuen Kommilitonen zu bestehen. (Wir waren zu sechst, wusste ich inzwischen, und sollten uns alle zwei Wochen zusammensetzen.) An erzählender Prosa hatte ich bisher wenig Bemerkenswertes zu bieten; die Teilnahme am Kurs hatte ich mir mit einem Hörspiel verdient, das von der BBC abgelehnt worden war. Überhaupt hatten sich meine literarischen Ambitionen erst jüngst bemerkbar gemacht, denn etwa bis zu meinem zwanzigsten Jahr war ich entschlossen gewesen, Rockstar zu werden. Die beiden Geschichten, über denen ich jetzt brütete, waren aus einer Art Panik heraus entstanden, nachdem ich erfahren hatte, dass ich angenommen war. Die eine handelte von einem makabren Selbstmordpakt, die andere von Straßenkämpfen in Schottland, wo ich eine Zeit lang Sozialarbeiter gewesen war. Sie waren nicht besonders gut. Ich begann mit einer dritten Geschichte; sie handelte von einem Teenager, der seine Katze vergiftet, und spielte wie die beiden anderen im zeitgenössischen Großbritannien. Aber eines Abends, nach drei oder vier Wochen in meiner Kammer, schrieb ich auf einmal anders, mit einer unbekannten, drängenden Intensität, und zwar über Japan – über die Stadt, in der ich geboren bin, Nagasaki, während der letzten Tage des Zweiten Weltkriegs.

Es überraschte mich selber, muss ich zugeben. Heute herrscht eine Atmosphäre, in der der aufstrebende Schriftsteller mit gemischtem kulturellem Erbe praktisch instinktiv seine »Wurzeln« zu erkunden sucht. Das war damals völlig anders. In Großbritannien dauerte es noch etliche Jahre, bis die »multikulturelle« Literatur regelrecht explodierte. Salman Rushdie war noch ein Unbekannter, der einen einzigen Roman veröffentlicht hatte, und der war schon vergriffen. Hätte man die führenden jungen britischen Schriftsteller der Zeit aufzählen sollen, hätte man vielleicht Margaret Drabble genannt; unter den älteren Iris Murdoch, Kingsley Amis, William Golding, Antony Burgess, John Fowles. Fremdsprachige Autoren wie Gabriel García Márquez, Milan Kundera, Borges wurden damals nur in Kleinstauflagen gelesen; selbst begeisterten Lesern sagten ihre Namen nichts.

Das war das literarische Klima, das damals herrschte, und angesichts dessen wurde ich, als ich meine erste japanische Geschichte beendet und eigentlich sehr stark das Gefühl hatte, eine wichtige neue Richtung entdeckt zu haben, sofort vom Zweifel gepackt, ob ich mit dem, was ich als Aufbruch empfand, nicht einfach nur private Bedürfnisse auslebte; ob ich nicht lieber schnell zu »normaleren« Themen zurückkehren sollte. Es dauerte lang, bis ich mich überwinden konnte, die Geschichte herzuzeigen, und ich bin meinen Kommilitonen, meinen Tutoren