Der begrabene Riese - Kazuo Ishiguro - E-Book

Der begrabene Riese E-Book

Kazuo Ishiguro

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Beschreibung

Britannien im 5. Jahrhundert: Nach erbitterten Kriegen zwischen den Volksstämmen der Briten und Angelsachsen ist das Land verwüstet. Axl und Beatrice sind seit vielen Jahren ein Paar. In ihrem Dorf gelten sie als Außenseiter, und man gibt ihnen deutlich zu verstehen, dass sie eine Belastung für die Gemeinschaft sind. Also verlassen sie ihre Heimat, in der Hoffnung, ihren Sohn zu finden, den sie seit langer Zeit nicht mehr gesehen haben. Ihre Reise ist voller überraschender Begegnungen und Gefahren, und bald ahnen sie, dass in ihrem Land eine Veränderung heraufzieht, die alles aus dem Gleichgewicht bringen wird, sogar ihre Beziehung.

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Das Buch

Britannien im 5. Jahrhundert: Nach erbitterten Kriegen zwischen den Volksstämmen der Briten und Sachsen ist das Land verwüstet. Axl und Beatrice sind seit vielen Jahren ein Paar. In ihrem Dorf gelten sie als Außenseiter und man gibt ihnen deutlich zu verstehen, dass sie eine Belastung für die Gemeinschaft sind. Also verlassen sie ihre Heimat, in der Hoffnung, ihren Sohn zu finden, den sie seit langer Zeit nicht mehr gesehen haben. Ihre Reise ist voller überraschender Begegnungen und Gefahren, und bald ahnen sie, dass in ihrem Land eine Veränderung heraufzieht, die alles aus dem Gleichgewicht bringen wird, sogar ihre Beziehung.

Ein gewaltiger, intensiver, spannender Roman, der uns mitnimmt auf eine so tiefgründige wie faszinierende Reise. Kazuo Ishiguros unprätenziöser und zugleich betörender Realismus macht ihn zu einem feinsinnigen Meister des Erzählens.

Der Autor

Kazuo Ishiguro, 1954 in Nagasaki geboren, kam 1960 nach London, wo er später Englisch und Philosophie studierte. 1989 erhielt er für seinen Weltbestseller »Was vom Tage übrigblieb«, der von James Ivory verfilmt wurde, den Booker Prize. Kazuo Ishiguros Werk wurde bisher in 50 Sprachen übersetzt. Sein Roman »Alles, was wir geben mussten« (Blessing, 2005) wurde mit Keira Knightley in der Hauptrolle verfilmt. Der Autor lebt in London. 2017 erhielt er den Nobelpreis für Literatur.

KAZUO ISHIGURO

DER

BEGRABENE

RIESE

Roman

Aus dem Englischen

von Barbara Schaden

HEYNE

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen. Originaltitel: The Buried Giant

Originalverlag: Faber & Faber, London

1. Auflage

Copyright © 2015 by Kazuo Ishiguro

Copyright © 2015 by Karl Blessing Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München.

Covergestaltung: Rumberg Design

Covermotiv: Trevillion Images / Ebru Sidar

Satz: Leingärtner, Nabburg

e-ISBN: 978-3-641-15326-7V003

www.blessing-verlag.de

DEBORAHROGERS

1938–2014

TEIL I

1. KAPITEL

Nach den kurvenreichen Sträßchen und beschaulichen Wiesen, für die England später berühmt wurde, hättet ihr lange gesucht. Gefunden hättet ihr stattdessen endlose Weiten, ödes, unbestelltes Land; hier und dort einen Saumpfad über felsiges Bergland, durch karges Moor. Die von den Römern zurückgelassenen Straßen waren bis dahin meist schon geborsten oder überwuchert, oft von der Wildnis zurückerobert. Über Flüssen und Sumpf hing ein eisiger Nebel, was den Menschenfressern, die es damals noch gab, nur allzu gelegen kam. Die dort lebenden Menschen – man fragt sich, welche Verzweiflung sie dazu getrieben hatte, sich in derart trübsinnigen Gegenden niederzulassen – mochten sich wohl gefürchtet haben vor diesen Geschöpfen, die man, lang bevor ihre Missgestalt aus dem Nebel auftauchte, an ihrem rasselnden Atem erkennen konnte. Aber nicht diese Wesen waren es, die Anlass zur Verwunderung gaben. Für die Menschen damals waren sie alltägliche Gefahren; es gab doch so viel anderes, worum man sich Gedanken machen musste. Wie man dem harten Boden Nahrung abtrotzte, was zu tun war, damit einem das Brennholz nicht ausging; wie man die Krankheit besiegte, der an einem einzigen Tag ein Dutzend Schweine zum Opfer fielen und die auf den Wangen der Kinder grünen Ausschlag hervorrief.

Die Menschenfresser waren jedenfalls nicht so schlimm, solange man sie nicht provozierte. Man musste damit leben, dass hin und wieder ein solches Wesen, vielleicht nach einem undurchsichtigen Streit in der Sippe, in wildem Zorn ins Dorf gestapft kam, trotz allem Gebrüll und Waffengerassel dort herumtobte und schrie und jeden verletzte, der nicht schnell genug das Weite suchte. Oder dass gelegentlich einer ein Kind raubte und mit ihm im Nebel verschwand. Solchen Untaten begegnete man damals möglichst mit philosophischem Gleichmut.

In einer dieser Siedlungen, die im Schatten zerklüfteter Felsen, am Rand eines ausgedehnten Sumpfgebiets lag, lebte ein älteres Paar, Axl und Beatrice. Es mochten nicht genau oder nicht ihre vollständigen Namen sein, doch der Einfachheit halber wollen wir sie so nennen. Ich würde sagen, dass dieses Paar ein zurückgezogenes Leben führte, aber »zurückgezogen« in einem heutigen Sinn war damals kaum jemand. Wärme und Schutz suchte die Landbevölkerung in Behausungen, die teils tief in den Hügel gegraben und durch unterirdische Gänge und gedeckte Gräben miteinander verbunden waren. Unser älteres Paar lebte mit rund sechzig weiteren Bewohnern in einem solchen Bau – »Gebäude« wäre ein zu großes Wort dafür. Wärt ihr, aus diesem Bau kommend, zwanzig Minuten rund um den Hügel gewandert, so wärt ihr zur nächsten Siedlung gelangt und hättet sie als der ersten völlig gleich empfunden. Ihre Bewohner jedoch hätten zahlreiche Unterschiede wahrgenommen, Kleinigkeiten, die ihnen Anlass zu Stolz oder Scham gegeben hätten.

Es ist nicht meine Absicht, euch den Eindruck zu vermitteln, dass das Britannien jener Tage nicht mehr zu bieten hatte; dass wir hierzulande kaum die Eisenzeit überwunden hatten, während in anderen Teilen der Welt große Kulturen erblühten. Durchaus nicht: Hättet ihr die Möglichkeit gehabt, nach Belieben durchs Land zu streifen, so hättet ihr Burgen entdeckt, in denen es Musik, gutes Essen, herausragende Athleten gab; oder Klöster, deren Bewohner ins Studium vertieft waren. Aber es hilft nichts: Selbst auf einem starken Pferd und bei gutem Wetter hättet ihr tagelang reiten können, ohne dass ihr im grünen Urwald eine Burg, ein Kloster erspäht hättet. Gefunden hättet ihr vor allem Gemeinschaften wie die oben beschriebene, und wärt ihr nicht mit Nahrung oder Kleidung als Geschenken gekommen oder bewaffnet bis an die Zähne, so wärt ihr wohl nicht empfangen worden. Es tut mir leid, dass ich kein hübscheres Bild von unserem Land, wie es damals war, zeichnen kann, aber so ist es eben.

Kehren wir zu Axl und Beatrice zurück. Dieses ältere Paar lebte, wie gesagt, im Außenbereich eines Gemeinschaftsbaus, wo ihre Unterkunft den Elementen stärker ausgesetzt war und vom Feuer im Großen Saal, um das sich abends alle versammelten, kaum profitierte. Vielleicht hatten sie früher näher beim Feuer gewohnt; in einer Zeit, als sie mit ihren Kindern zusammenlebten. Eigentlich war das nur so ein Gedanke, der Axl in den Sinn kam, wenn er in den leeren Stunden vor Tagesanbruch im Bett lag, neben sich seine tief schlafende Frau, und ein Gefühl von namenlosem Verlust empfand, das an seinem Herzen fraß und ihn nicht wieder einschlafen ließ.

Vielleicht war das der Grund, weshalb sich Axl an diesem besonderen Morgen überhaupt aus dem Bett erhob und leise ins Freie schlich, um auf der windschiefen alten Bank neben dem Eingang zu sitzen und aufs erste Licht zu warten. Es war Frühling, aber noch herrschte eine schneidende Kälte; das spürte er trotz Beatricens Umhang, den er auf dem Weg nach draußen mitgenommen hatte, um sich darin einzuwickeln. Doch dann war er so tief in seinen Gedanken versunken, dass ihm die Kälte erst ins Bewusstsein drang, als die Sterne fast verblasst waren und am Horizont ein leuchtender Streif erschien und breiter wurde, während sich aus dem Dämmer das erste Vogelgezwitscher erhob.

Langsam stand er auf. Jetzt bereute er, dass er so lang draußen geblieben war. Er war bei guter Gesundheit; aber das letzte Fieber war er lang nicht losgeworden, und einen Rückfall wollte er vermeiden. Jetzt spürte er zwar die feuchte Kälte in den Beinen, doch als er sich anschickte, wieder hineinzugehen, war er recht zufrieden: Es war ihm an diesem Morgen manches wieder eingefallen, an das er sich schon seit einer ganzen Weile vergeblich zu erinnern versucht hatte. Und er ahnte, dass er im Begriff war, eine folgenreiche Entscheidung zu treffen, die er schon zu lang vor sich herschob; jetzt erfüllte ihn eine Erregung, die er unbedingt mit seiner Frau teilen wollte.

Drinnen war alles noch vollkommen dunkel, und er musste sich den kurzen Weg bis zur Tür seiner Kammer ertasten. Viele »Türen« innerhalb des Gemeinschaftsbaus waren einfach bogenförmige Öffnungen, durch die man eine Kammer betrat. Die offene Bauweise hätten die Bewohner durchaus nicht als Verletzung ihrer Privatsphäre empfunden; schließlich kam ihnen jeder warme Hauch zugute, der vom großen oder den kleineren im Bau erlaubten Feuern durch die Gänge wehte. Der Raum, den Axl und Beatrice bewohnten, lag aber weitab von jedem Feuer und hatte daher etwas, das uns entfernt als Tür erschiene: einen breiten hölzernen Rahmen, in den kreuz und quer kleine Äste, Ranken und Disteln eingeflochten waren; zwar musste man ihn, wenn man den Raum betrat oder verließ, jedes Mal zur Seite stellen, aber er hielt die kalte Zugluft fern. Axl hätte liebend gern darauf verzichtet, Beatrice jedoch hatte mit der Zeit beträchtlichen Stolz auf diese Tür entwickelt. Oft fand er, wenn er heimkam, seine Frau damit beschäftigt, welke Teile aus dem Gebilde zu zupfen und frische Stecklinge einzuflechten, die sie tagsüber gesammelt hatte.

An diesem Morgen schob Axl die Tür nur so weit zur Seite, dass er hindurchkam, und bemühte sich, möglichst leise zu sein. Durch die Spalten und Ritzen der Außenwand drang das frühmorgendliche Licht herein. Undeutlich erkannte er seine Hand vor den Augen und auf dem Grasbett Beatricens Gestalt unter den dicken Decken. Sie schlief noch immer fest.

Es reizte ihn sehr, seine Frau zu wecken. Ein Teil von ihm war sicher, dass, wäre sie in diesem Augenblick wach, ein Gespräch mit ihr die letzten Hürden, die ihn von seiner Entscheidung noch trennten, einreißen würde. Aber bis die Gemeinschaft aufstand und mit dem Tagwerk begann, dauerte es noch eine Weile, und Axl setzte sich auf den niedrigen Schemel in der Ecke, fest in den Umhang seiner Frau gewickelt.

Er dachte an den Nebel; überlegte, wie dicht er an diesem Morgen wohl war und ob man, wenn es heller wäre, sehen könnte, wie er durch die Ritzen in die Kammer eindrang. Aber bald trieben seine Gedanken von solchen Fragen wieder fort und kehrten zurück zu dem, was ihn beschäftigt hatte. Hatten sie immer so gelebt, nur sie beide, am Rand der Gemeinschaft? Oder war es einmal ganz anders gewesen? Vorhin, draußen, waren kurze Erinnerungsbilder aufgeblitzt: wie er, den Arm um eines seiner Kinder gelegt, durch den langen Mittelgang des Baus ging, leicht gebückt, aber nicht weil er altersgebeugt war, wie wohl heute, sondern weil er vermeiden wollte, im trüben Zwielicht mit dem Kopf an die Balken zu stoßen. Womöglich hatte das Kind mit ihm gesprochen, hatte etwas Lustiges gesagt, denn sie lachten beide. Aber es hielt sich jetzt nichts mehr so recht in seinem Geist, wie vorhin, draußen, und je mehr er sich konzentrierte, desto blasser wurden die Erinnerungen. Vielleicht waren es nur die Hirngespinste eines alten Narren. Vielleicht hatte ihnen Gott ja niemals Kinder geschenkt.

Ihr fragt euch vielleicht, weshalb Axl nicht seine Nachbarn bat, ihm dabei zu helfen, sich die Vergangenheit in Erinnerung zu rufen, aber so einfach, wie man annehmen möchte, war es nicht. Es wurde in dieser Gemeinschaft kaum über frühere Zeiten gesprochen. Das soll nicht heißen, die Vergangenheit sei tabu gewesen. Es soll heißen, dass sie aus irgendeinem Grund in einem Nebel versunken war, der so dicht war wie die Dampfschwaden über den Sümpfen. Es kam diesen Menschen einfach nicht in den Sinn, über Vergangenes nachzusinnen – nicht einmal über das, was erst vor Kurzem passiert war.

Um ein Beispiel zu nennen, eine Angelegenheit nämlich, mit der sich Axl schon seit einer Weile plagte: Er war sicher, dass vor nicht allzu langer Zeit eine Frau mit langem rotem Haar unter ihnen gewesen war – eine Frau, die als sehr wichtig für dieses Dorf galt. Wenn jemand erkrankte oder sich verletzt hatte, wurde nach dieser rothaarigen Frau geschickt, die eine erfahrene Heilerin war. Und jetzt war ebendiese Frau nirgends mehr zu finden, aber offenbar fragte sich niemand, was denn passiert war, oder äußerte wenigstens ein Bedauern, dass sie nicht mehr da war. Als Axl eines Morgens die Sache gegenüber drei Nachbarn erwähnte, während sie gemeinsam den gefrorenen Acker aufhackten, erkannte er an ihren verständnislosen Mienen, dass sie tatsächlich keine Ahnung hatten, wovon er sprach. Einer hielt sogar in der Arbeit inne, so sehr strengte er sein Gedächtnis an, doch am Ende schüttelte er bloß den Kopf. »Muss schon lang her sein«, sagte er.

»Ich habe auch keine Erinnerung an die Frau«, sagte Beatrice, als er das Thema abends zur Sprache brachte. »Vielleicht hast du sie dir zusammengeträumt, Axl, weil du sie nötig hattest, obwohl du doch eine Frau hast, die hier neben dir liegt und einen geraderen Rücken hat als du.«

Das war irgendwann im vergangenen Herbst gewesen, und sie hatten in pechschwarzer Nacht nebeneinander auf dem Bett gelegen und dem Regen gelauscht, der auf ihr Schutzdach trommelte.

»Das ist wahr, du bist im Lauf der Jahre wirklich kaum gealtert, Prinzessin«, sagte Axl. »Aber die Frau war kein Traum, und du würdest dich selber erinnern, wenn du dir einen Moment Zeit zum Nachdenken nehmen würdest. Erst vor einem Monat stand sie hier vor unserer Tür, eine freundliche Seele, und fragte, ob sie uns etwas bringen könnte. Bestimmt erinnerst du dich.«

»Warum wollte sie uns überhaupt etwas bringen? War sie verwandt mit uns?«

»Das glaube ich nicht, Prinzessin. Sie war einfach freundlich. Bestimmt erinnerst du dich. Sie stand oft vor der Tür und wollte wissen, ob wir froren oder Hunger hatten.«

»Was ich wissen will, Axl, ist dieses: Wieso kam sie auf die Idee, ausgerechnet zu uns so freundlich zu sein?«

»Das habe ich mich damals selber gefragt, Prinzessin. Ich weiß noch, dass ich dachte, hier steht eine Frau, die sich um die Kranken kümmert, und hier sind wir, alle beide so gesund wie jeder andere im Dorf. Ist vielleicht eine Seuche im Verzug, und die Frau ist hier, um ein Auge auf uns zu haben? Aber wie sich herausstellt, kommt keine Seuche, und sie ist einfach freundlich. Jetzt, wo wir über sie reden, fällt mir sogar noch mehr ein. Sie stand da und sagte, wir sollen es uns nicht zu Herzen nehmen, wenn die Kinder uns beschimpfen. Das war’s. Danach haben wir sie nie wiedergesehen.«

»Diese rothaarige Frau ist nicht nur ein Traum, der deinem Hirn entsprungen ist, Axl, sondern auch eine Närrin, wenn sie sich wegen ein paar Kindern und ihren Spielen den Kopf zerbricht.«

»Genau das dachte ich damals auch, Prinzessin. Was können uns die Kinder schon tun, sie vertreiben sich doch nur die Zeit, wenn das Wetter draußen zu widerwärtig ist. Ich sagte zu ihr, wir hätten uns ja gar nichts draus gemacht, aber sie meinte es trotzdem nur freundlich. Und dann weiß ich noch, dass sie sagte, es sei ein Jammer, dass wir die Nächte ohne Kerze verbringen müssten.«

»Wenn diese Person Mitleid mit uns hatte, weil wir keine Kerze haben«, sagte Beatrice, »dann hatte sie immerhin in diesem einen Punkt recht. Es ist eine Beleidigung, dass sie uns in Nächten wie dieser eine Kerze verbieten, dabei sind unsere Hände genauso ruhig wie die der anderen. Während solche, die jede Nacht vom Apfelwein betäubt sind oder mit einer randalierenden Kinderbande leben, sehr wohl eine Kerze haben dürfen. Aber ausgerechnet uns haben sie die Kerze weggenommen, und jetzt sehe ich nicht mal mehr deinen Umriss, Axl, obwohl du direkt neben mir bist.«

»Sie haben es nicht böse gemeint, Prinzessin. So war es eben schon immer – mehr steckt nicht dahinter.«

»Also nicht nur deine Traumfrau findet es seltsam, dass uns die Kerze abgenommen wurde. Gestern, oder war es vorgestern, da war ich am Fluss und ging an den Frauen vorbei, und als sie glaubten, ich sei außer Hörweite, da sagten sie – und ich bin ganz sicher, dass ich sie richtig verstanden habe –, sie sagten, es sei doch eine Schande, dass ein rechtschaffenes Paar wie wir jede Nacht im Dunkeln sitzen muss. Deine Traumfrau ist also nicht die Einzige, die so denkt, wie sie denkt.«

»Prinzessin, ich sag’s dir, sie ist keine Traumfrau. Noch vor einem Monat kannte sie jeder hier, und jeder hatte ein gutes Wort für sie. Wie kann es sein, dass jeder, auch du, vergisst, dass sie je gelebt hat?«

Als er jetzt, an diesem Frühlingsmorgen, an dieses Gespräch zurückdachte, war Axl nahe daran, zuzugeben, dass er mit der rothaarigen Frau falschlag. Er war schließlich nicht mehr jung und konnte schon einmal in Verwirrung geraten. Dabei war die Geschichte mit der rothaarigen Frau nur eine in einem anhaltenden Strom rätselhafter Zwischenfälle dieser Art. Ärgerlicherweise fielen ihm jetzt gar nicht so viele Beispiele ein, aber sie waren zahlreich gewesen, daran war nicht zu rütteln. Wie etwa der Vorfall mit Marta.

Das war ein kleines Mädchen, neun oder zehn Jahre alt, das berühmt war für seine Furchtlosigkeit. All die haarsträubenden Geschichten darüber, was streunenden Kindern widerfahren konnte, schienen ihre Abenteuerlust nicht im Mindesten zu dämpfen. Als sich dann eines Abends, höchstens eine Stunde vor Einbruch der Dunkelheit, während bereits der Nebel aufstieg und am Berghang die Wölfe heulten, die Nachricht herumsprach, dass Marta fehlte, hielten alle erschrocken in ihren Beschäftigungen inne. Eine Zeit lang riefen von allen Seiten Stimmen ihren Namen durch den Bau, und die Gänge hallten von hastigen Schritten, denn die Bewohner durchsuchten jede Schlafkammer, die Vorratslöcher, die Hohlräume unter den Sparren, jeden Ort, an dem ein Kind sich zum Spaß verstecken konnte.

Inmitten dieser Panik traten zwei Hirten, die vom Viehhüten in den Hügeln heimkamen, in den Großen Saal und wärmten sich am Feuer. Dabei erzählte der eine, er habe einen Zaunkönigadler über ihnen kreisen sehen, einmal, zweimal und ein drittes Mal. Irrtum ausgeschlossen, sagte er, es sei ein Zaunkönigadler gewesen. Es sprach sich rasch im ganzen Bau herum, und bald hatte sich eine Menschenmenge ums Feuer versammelt und lauschte den Hirten. Sogar Axl war gleich zu ihnen gestoßen, denn dass in ihrem Land ein Zaunkönigadler auftauchte, war allerdings unerhört. Zu den zahlreichen Kräften, die dem Zaunkönigadler zugeschrieben wurden, zählte die Fähigkeit, Wölfe zu vertreiben: Anderswo im Land waren dank dieser Vögel die Wölfe angeblich überhaupt ganz verschwunden.

Zuerst mussten die Hirten wieder und wieder ihre Geschichte erzählen und Rede und Antwort stehen. Bald aber wuchs unter den Zuhörern die Skepsis. So was sei doch schon oft behauptet worden, wandte jemand ein, und jedes Mal habe es sich als haltlos erwiesen. Jemand anderes wies darauf hin, dass ebendiese zwei Hirten erst im vergangenen Frühjahr mit der gleichen Geschichte aufgewartet hätten, der Vogel aber seither von keinem mehr gesichtet worden sei. Die Hirten widersprachen zornig: Niemals hätten sie so etwas berichtet; und bald spaltete sich die Menge in die einen, die auf der Seite der Hirten standen, und die anderen, die sich an den angeblichen Vorfall im Jahr zuvor zu erinnern meinten.

Als der Streit hitziger wurde, verspürte Axl dieses vertraute Bohren, das ihm sagte, dass hier etwas nicht mit rechten Dingen zuging, und er entzog sich dem Geschrei und Gedränge und ging hinaus, um in den dunkelnden Himmel, auf den sich über den Boden wälzenden Nebel zu starren. Und nach einer Weile begannen sich in seinem Geist Bruchstücke von Erinnerungen – an die verschwundene Marta, an die Gefahr, an die gemeinschaftliche Suche nach ihr vor nicht allzu langer Zeit – zusammenzusetzen. Aber schon gerieten diese Erinnerungen durcheinander, ganz ähnlich wie ein Traum Sekunden nach dem Erwachen, und nur unter Aufbietung äußerster Konzentration konnte Axl den Gedanken an das Kind Marta überhaupt festhalten, während hinter ihm laut und unverdrossen über den Zaunkönigadler gestritten wurde. Und plötzlich, wie er so dastand, hörte er die Stimme eines kleinen Mädchens, das vor sich hin sang, und vor ihm aus dem Nebel trat Marta.

»Du bist aber ein merkwürdiges Kind«, sagte Axl, als sie hüpfend auf ihn zukam. »Hast du denn keine Angst vor der Dunkelheit? Vor den Wölfen, den Menschenfressern?«

»O doch, Herr, ich habe schon Angst«, sagte sie lächelnd. »Aber ich weiß, wie ich mich vor ihnen verstecken kann. Hoffentlich haben meine Eltern nicht nach mir gefragt. Ich bekam so eine schlimme Tracht Prügel letzte Woche.«

»Nach dir gefragt? Natürlich haben sie nach dir gefragt. Sucht nicht das ganze Dorf nach dir? Hör doch mal, wie es dort drinnen zugeht. Alles deinetwegen, Kind.«

Marta lachte und sagte: »Ach, lass nur, Herr! Ich weiß, dass sie mich nicht vermisst haben. Und ich hör schon – um mich geht es nicht bei dem Geschrei.«

Als sie das sagte, erkannte Axl, dass sie natürlich recht hatte: Die Stimmen dort drin stritten keineswegs ihretwegen; es ging um etwas ganz anderes. Er beugte sich zur Tür, um besser zu hören, und als er in dem lautstarken Stimmengewirr den einen oder anderen Satzfetzen verstand, fiel es ihm nach und nach wieder ein – es ging um die Hirten und ihren Zaunkönigadler. Er überlegte, ob er Marta etwas erklären sollte, aber sie huschte schon an ihm vorbei in den Bau.

Er folgte ihr und stellte sich die allgemeine Erleichterung und Freude vor, die ihr Anblick auslösen würde. Und ehrlich gesagt, kam ihm dabei auch in den Sinn, dass ihre Rückkehr, wohlbehalten, wie das Kind war, ein wenig auch ihm zugeschrieben würde, wenn er mit ihr den Großen Saal betrat. Doch die Bewohner waren noch derart von ihrer Streiterei über die Hirten in Anspruch genommen, dass kaum jemand zu ihnen herschaute, als sie hereinkamen. Allerdings löste sich Martas Mutter aus der Menge, gerade lang genug, um zu ihrem Kind zu sagen: »Da bist du ja! Was fällt dir ein, einfach wegzulaufen! Wie oft muss ich dir das noch sagen?« Gleich darauf wandte sie ihre Aufmerksamkeit wieder dem Gezänk rund um das Feuer zu, und Marta grinste Axl breit an, wie um zu sagen: »Siehst du?« Dann verschwand sie im Dunkeln, um nach ihren Kameraden zu suchen.

Im Raum war es erheblich heller geworden. Ihre Kammer hatte, eben weil am äußeren Rand gelegen, ein kleines Fenster nach draußen, das allerdings zu hoch war, als dass man hinausschauen konnte, ohne sich auf einen Schemel zu stellen. Nachts war es mit einem Tuch verhängt, aber jetzt drang bereits ein früher Sonnenstrahl durch einen Spalt und warf einen Lichtbalken in den Raum, der bis zu der schlafenden Beatrice reichte. In diesem Strahl sah Axl etwas Insektenartiges, das direkt über dem Kopf seiner Frau schwebte. Eine Spinne, so erkannte er, die an ihrem unsichtbaren senkrechten Faden hing, und während er sie beobachtete, machte sie sich sacht an den Abstieg. Axl erhob sich lautlos, durchquerte den kleinen Raum, fuhr mit der Hand durch die Luft dicht über seiner schlafenden Frau und fing die Spinne in der Faust. Dann stand er einen Moment nur da und blickte auf Beatrice hinunter. In ihrem schlafenden Gesicht lag eine Friedlichkeit, die es im Wachzustand nur noch selten zeigte, und die jähe Glückseligkeit, die ihn bei dem Anblick erfasste, überraschte ihn. Nun wusste er, dass seine Entscheidung gefallen war, und wieder wollte er sie wecken, weil er es nicht erwarten konnte, ihr endlich alles zu sagen. Aber er sah ein, dass es selbstsüchtig gewesen wäre – und wie konnte er sich überhaupt ihrer Reaktion so sicher sein? Schließlich kehrte er leise zu seinem Schemel zurück, und als er sich setzte, fiel ihm die Spinne wieder ein, und er öffnete vorsichtig die Faust.

Als er draußen auf der Bank gesessen und aufs erste Tageslicht gewartet hatte, hatte er sich zu erinnern versucht, wie zwischen ihm und Beatrice zum ersten Mal die Idee einer Reise zur Sprache gekommen war. Er hatte gemeint, ein bestimmtes Gespräch, das sie eines Abends in dieser Kammer hier geführt hatten, aufgespürt zu haben, doch jetzt, als er die Flucht der Spinne über seine Handkante und hinunter zum Erdboden verfolgte, war ihm auf einmal völlig klar, dass dieses Thema zum allerersten Mal an dem Tag erwähnt worden war, an dem die Fremde in abgerissenen dunklen Kleidern ins Dorf gekommen war.

Es war ein grauer Morgen gewesen – im November? War es schon so lang her? –, und Axl war unter tief hängenden Weiden weit ausschreitend dem Pfad am Fluss gefolgt. Er war auf dem Rückweg vom Feld und hatte es eilig, vielleicht um ein Werkzeug zu holen oder neue Anweisungen von einem Vorarbeiter entgegenzunehmen. Jedenfalls hielt ihn lautes Gezeter aus mehreren Kehlen auf, das aus den Büschen rechts von ihm drang. Sein erster Gedanke war: Menschenfresser; und er sah sich rasch nach einem großen Stein oder Stock um. Dann aber wurde ihm klar, dass die Stimmen – allesamt weiblich – zwar zornig und aufgeregt waren, doch es fehlte die Panik, die mit dem Angriff eines Menschenfressers stets einhergeht. Gleichwohl zwängte er sich durch ein Wacholderdickicht und stolperte endlich auf eine Lichtung hinaus, auf der fünf Frauen – nicht mehr in der Blüte der Jugend, aber immer noch im gebärfähigen Alter – dicht beieinanderstanden. Sie hatten ihm den Rücken zugewandt, und ihr Geschrei galt etwas oder jemandem in der Ferne. Er war fast bei ihnen, als die erste Frau ihn bemerkte und zusammenzuckte; die anderen drehten sich daraufhin ebenfalls um, betrachteten ihn aber beinahe anmaßend.

»Sieh an, sieh an«, sagte eine. »Das mag Zufall sein oder Fügung. Aber hier ist der Ehemann, und hoffentlich wird er sie zur Vernunft bringen.«

Die Frau, die ihn als Erste entdeckt hatte, sagte: »Wir haben deiner Frau gesagt, sie soll das sein lassen, aber sie hört nicht. Sondern will unbedingt dieser fremden Person Essen bringen, obwohl das wahrscheinlich ein Dämon oder verkleideter Elf ist.«

»Ist meine Frau in Gefahr? Bitte sprecht.«

»Da ist eine fremde Frau. Sie ist den ganzen Morgen um uns herumscharwenzelt«, antwortete eine andere. »Die Haare offen auf dem Rücken und ein Umhang aus schwarzen Lumpen. Angeblich Sächsin, aber sie ist nicht gekleidet wie irgendein Sachse, den man je zu Gesicht bekommen hat. Sie wollte sich an uns heranschleichen, als wir am Flussufer die Wäsche gewaschen haben, aber wir haben sie rechtzeitig entdeckt und verjagt. Aber sie kam immer wieder und tat so, als sei sie untröstlich wegen irgendwas, dann wieder bettelte sie um Essen. Wir glauben, dass sie währenddessen deine Frau direkt mit ihrem Zauber belegt hat, Herr, denn wir mussten Beatrice heute schon zweimal an den Armen zurückhalten, so versessen war sie darauf, zu dem Dämon hinzugehen. Und jetzt hat sie uns alle abgeschüttelt und ist zum alten Dorn hinauf, wo der Dämon hockt und auf sie wartet. Wir haben sie so fest gehalten, wie wir konnten, Herr, aber offensichtlich steht sie schon unter dem Bann des Dämons, denn dass eine so Dünnknochige und Alte wie deine Frau so viel Kraft hat, ist ganz unnatürlich.«

»Der alte Dorn …«

»Sie ist erst vor Kurzem losgegangen, Herr. Aber das ist ganz bestimmt ein Dämon, und wenn du ihr nachgehst, pass bloß auf, dass du nicht stolperst oder dich an einer vergifteten Distel schneidest – das heilt nie.«

Axl ließ sich seinen Ärger über diese Frauen nicht anmerken, sondern sagte höflich: »Ich bin dankbar, ihr Frauen. Ich gehe und sehe nach, was sie vorhat. Entschuldigt mich.«

Für unsere Dorfbewohner bezeichnete »der alte Dorn« sowohl einen landschaftlich schönen Fleck als auch den tatsächlichen Weißdorn, der dort auf einem Felsvorsprung nicht weit vom Gemeinschaftsbau direkt aus dem Stein herauszuwachsen schien. An sonnigen Tagen, wenn kein zu starker Wind ging, ließ sich hier auf sehr angenehme Weise die Zeit vertreiben. Man hatte einen guten Blick übers Land bis hinunter zum Wasser, zur Biegung des Flusses und auf die Sümpfe dahinter. An Sonntagen spielten die Kinder gern zwischen seinen knorrigen Wurzeln, und manchmal wagten sie von der Kante des Felsvorsprungs zu springen, der ja tatsächlich nicht hoch war, sodass ein Kind sich nicht wehtat, wenn es unten ankam, sondern wie ein Fass den grasbewachsenen Hang hinabrollte. An einem Morgen wie diesem aber, an dem Erwachsene und Kinder alle Hände voll zu tun hatten, war der Fleck verlassen, und Axl, der durch den Nebel den Hang hinaufstieg, war nicht überrascht, als er die zwei Frauen allein dort sah. Wie schwarze Silhouetten ragten ihre Gestalten in den weißen Himmel. Die Fremde, die mit dem Rücken am Felsen lehnte, war in der Tat sonderbar gekleidet. Ihr Umhang schien, jedenfalls von Weitem betrachtet, aus zahlreichen Stoffstücken zusammengenäht zu sein, und weil er im Wind flatterte, sah die Frau damit aus wie ein großer Vogel, der Schwung zum Auffliegen holt. Neben ihr wirkte Beatrice, die noch stand, aber den Kopf zu ihrer Gefährtin neigte, federleicht und gebrechlich. Sie waren in ein ernstes Gespräch vertieft, doch als sie Axl zu ihnen heraufkommen sahen, verstummten sie beide und blickten ihm schweigend entgegen. Bis Beatrice an die Felskante trat und hinabrief:

»Bleib dort stehen, Mann, geh nicht weiter! Ich komme zu dir. Aber steig nicht herauf, stör nicht den Frieden dieser armen Frau, wo sie jetzt endlich die Füße ausruhen und ein Stück vom gestrigen Brot essen kann.«

Axl wartete wie geheißen, und es dauerte nicht lang, bis er seine Frau den langen Feldweg herab- und auf ihn zukommen sah. Sie trat dicht zu ihm und sagte leise, sicher aus Sorge, der Wind könnte ihre Worte zu der Fremden hinauftragen:

»Haben diese dummen Frauen dich hinter mir hergeschickt, Mann? Als ich so jung war wie sie, waren es ganz gewiss die Alten, die voller Ängste und irrer Überzeugungen waren und jeden Stein für verflucht und jede streunende Katze für einen bösen Geist hielten. Aber jetzt, wo ich selber alt geworden bin, was muss ich feststellen? Dass es die Jungen sind, die den Kopf voller Flausen haben, als hätten sie nie etwas vom Versprechen des Herrn gehört, zu allen Zeiten an unserer Seite zu gehen. Sieh sie dir an, die arme Frau, sieh mit eigenen Augen, wie erschöpft und einsam sie ist, seit vier Tagen wandert sie durch Wälder und über Felder, und in jedem Dorf wird sie abgewiesen. Sie ist in einem christlichen Land unterwegs und wird für einen Dämon gehalten oder für eine Aussätzige, auch wenn ihre Haut kein Anzeichen davon zeigt. Du, Mann, bist hoffentlich nicht hier, um mir zu sagen, ich soll dieser Armen nicht Trost spenden oder die armselige Vesper überlassen, die ich bei mir habe.«

»Das würde ich nicht sagen, Prinzessin, ich sehe ja selbst, dass du die Wahrheit sprichst. Auch ich dachte, bevor ich herkam, was für eine Schande es ist, dass wir es nicht mehr fertigbringen, Fremde freundlich bei uns aufzunehmen.«

»Dann geh wieder an die Arbeit, Mann, denn sicher werden sie sich schon wieder darüber beklagen, wie langsam du bist, und eh’ wir uns versehen, hetzen sie wieder die Kinder zu Spott gegen uns auf.«

»Niemand hat je behauptet, ich sei langsam beim Arbeiten, Prinzessin. Wo hast du denn so etwas her? Ich habe nie ein Wort der Klage gehört, ich kann dieselbe Last tragen wie jeder zwanzig Jahre Jüngere.«

»Ich scherze doch nur, Mann. Es stimmt schon, niemand beschwert sich über deine Arbeit.«

»Wenn die Kinder uns beschimpfen, so hat das nichts damit zu tun, wie schnell oder langsam ich arbeite, sondern mit Eltern, die zu dumm sind oder wahrscheinlich zu betrunken, um den Kindern Manieren und Respekt beizubringen.«

»Beruhige dich, Mann. Ich sage doch, ich hab nur Spaß gemacht, ich mach es nicht wieder. Die Fremde hat mir etwas erzählt, das mich sehr interessiert und vielleicht auch dich irgendwann angeht. Aber sie muss es mir noch zu Ende erzählen. Lass mich dich deshalb bitten, dass du zurück an deine Arbeit gehst, während ich sie anhöre und ihr Trost und Zuspruch gebe, soweit ich kann.«

»Tut mir leid, Prinzessin, wenn ich unfreundlich zu dir war.«

Aber Beatrice hatte sich schon wieder abgewandt und stieg den Pfad hinauf, zurück zum Weißdorn und der Frau mit dem flatternden Umhang.

Kurz darauf, als er seinen Besorgungsgang erledigt hatte und auf dem Rückweg zu den Feldern war, wich Axl, auch auf die Gefahr hin, die Geduld seiner Kollegen auf eine harte Probe zu stellen, noch einmal von seinem Weg ab und machte einen Abstecher zum alten Dorn. Denn er teilte zwar die Verachtung, die seine Frau dem instinktiven Argwohn der Klatschweiber entgegenbrachte, konnte sich aber nicht ganz von dem Gedanken befreien, dass die Fremde dennoch eine gewisse Gefahr darstellte, und er empfand ein dumpfes Unbehagen, seitdem er Beatrice allein mit ihr zurückgelassen hatte. Daher war er erleichtert, als er seine Frau auf dem Felsvorsprung stehen und in den Himmel starren sah. Sie wirkte tief in Gedanken versunken und bemerkte ihn erst, als er zu ihr hinaufrief. Und während er beobachtete, wie sie, langsamer als zuvor, den Pfad herunterkam, fiel ihm wieder auf, wie ihr Gang sich in letzter Zeit verändert hatte. Es war nicht eigentlich ein Hinken, aber es sah doch so aus, als hätte sie irgendwo im Körper einen geheimen Schmerz. Als sie nahe genug war, fragte er sie, was aus ihrer eigenartigen Gefährtin geworden sei, doch Beatrice sagte nur: »Sie ist wieder ihres Weges gegangen.«

»Sie war dir sicher dankbar für deine Freundlichkeit, Prinzessin. Hast du lang mit ihr gesprochen?«

»Ja, und sie hatte einiges zu sagen.«

»Ich sehe dir an, dass sie etwas gesagt hat, was dich verstört, Prinzessin. Vielleicht hatten diese Frauen doch recht, und sie ist eine, der man besser aus dem Weg geht.«

»Verstört hat sie mich nicht. Aber nachdenklich gemacht.«

»Du bist in einer merkwürdigen Stimmung. Bist du sicher, dass sie keinen Zauber über dich gelegt und sich anschließend in Luft aufgelöst hat?«

»Geh hinauf zum Dorn, Mann, und du wirst sie auf dem Pfad davongehen sehen; sie hat sich eben erst auf den Weg gemacht. Sie erhofft sich mehr Freundlichkeit von den Bewohnern der Dörfer rund um den Hügel.«

»Gut, nachdem dir nichts geschehen ist, Prinzessin, lasse ich dich in Ruhe. Gott wird dir die Freundlichkeit vergelten, die du ihr erwiesen hast, wie es deine Art ist.«

Aber diesmal schien die Frau ihn gar nicht gern gehen zu lassen. Sie ergriff seinen Arm, wie um Halt zu suchen, und legte den Kopf an seine Brust. Fast instinktiv hob sich seine Hand, um ihr über das windzerzauste Haar zu streichen, und als er den Blick zu ihr senkte, überraschten ihn ihre weit aufgerissenen Augen.

»Du bist wirklich in einer merkwürdigen Stimmung«, sagte er. »Was hat sie dir denn erzählt, die Fremde?«

Beatrice rührte sich zuerst nicht. Dann ließ sie ihn los und rückte von ihm ab. »Jetzt, wo ich darüber nachdenke, Axl, könnte an dem, was du immer sagst, tatsächlich etwas dran sein. Es ist wirklich seltsam, wie alle Welt Menschen und Dinge schon am nächsten und übernächsten Tag wieder vergessen hat. Als seien wir alle von einer Krankheit befallen.«

»Genau das meine ich, Prinzessin. Diese rothaarige Frau zum Beispiel …«

»Um die geht’s mir gar nicht, Axl. Es geht mir um alles, was wir vergessen!« Sie hatte, während sie dies sagte, in die fernen Nebelschichten gestarrt; jetzt hob sie den Blick und sah ihn unverwandt an, und er sah ihre Augen voll Trauer und Wehmut. Und es war, da war er ganz sicher, dieser Moment, als sie zu ihm sagte: »Du bist ja ganz und gar dagegen, Axl, das weiß ich schon lang. Aber es ist nun an der Zeit, dass wir noch einmal neu darüber nachdenken. Da ist eine Reise, die wir unternehmen müssen, und wir dürfen sie nicht länger vor uns herschieben.«

»Eine Reise, Prinzessin? Was für eine Reise?«

»Wir müssen ins Dorf unseres Sohnes gehen. Es ist nicht weit, Mann, das wissen wir, ein Stück östlich hinter der Großen Ebene. Sogar mit unseren langsamen Schritten sind wir höchstens ein paar Tage unterwegs. Und bald ist ja Frühling.«

»Gewiss könnten wir das tun, Prinzessin. Hat diese Fremde irgendetwas zu dir gesagt, was dich jetzt auf den Gedanken gebracht hat?«

»Ich denke darüber schon lange nach, Axl, aber nach dem, was die arme Frau gesagt hat, meine ich, wir müssen uns bald auf den Weg machen. Unser Sohn erwartet uns in seinem Dorf. Wie lang dürfen wir ihn noch warten lassen?«

»Wenn der Frühling da ist, Prinzessin, werden wir sicher über so eine Reise nachdenken. Aber warum sagst du, ich sei immer dagegen gewesen?«

»Ich weiß nicht mehr, was in dem Zusammenhang alles zwischen uns gewesen ist, Axl. Nur dass du immer strikt dagegen warst, das weiß ich, während ich es mir so sehr gewünscht habe.«

»Gut, Prinzessin, lass uns weiter darüber reden, wenn keine Arbeit mehr auf uns wartet und keine Nachbarn uns mehr langsam nennen können. Lass mich jetzt gehen. Wir reden bald wieder.«

Während der folgenden Tage erwähnten sie zwar immer wieder einmal die Idee dieser Reise, aber nie sprachen sie ausführlich darüber. Denn sie stellten fest, dass sie beide ein seltsames Unbehagen empfanden, wann immer das Thema zur Sprache kam, und es dauerte nicht lang, bis sie, auf die wortlose Art, wie langjährige Paare sich verständigen, zu dem Einvernehmen gelangt waren, das Thema, soweit möglich, zu meiden. Ich sage »soweit möglich«, denn gelegentlich schien der eine oder die andere ein Bedürfnis danach zu haben, ja fast einen Zwang zu verspüren, der keinen Aufschub duldete. Aber sämtliche Diskussionen, die sie unter solchen Umständen führten, mündeten unvermeidlich und sehr schnell in Ausflüchte oder Verdrossenheit. Und das eine Mal, als Axl seine Frau direkt fragte, was die fremde Frau am alten Dorn zu ihr gesagt habe, umwölkte sich Beatricens Miene, und es schien, als bräche sie gleich in Tränen aus. Fortan vermied Axl jede Erwähnung der Fremden.

Nach einer Weile konnte er sich nicht mehr erinnern, wie das Thema Reise überhaupt aufgekommen war, und er wusste auch nicht mehr, was sie sich anfangs davon erwartet hatten. Nur an diesem Morgen, als er in der kalten Stunde vor Tagesanbruch draußen saß, schien sich sein Gedächtnis zumindest teilweise zu klären, und es fiel ihm manches wieder ein – die rothaarige Frau, Marta, die Fremde in dunklen Lumpen, andere Erinnerungen, die uns hier nicht zu beschäftigen haben. Aber er erinnerte sich, sogar recht lebhaft, was erst vor ein paar Wochen an einem Sonntag passiert war, als man Beatrice die Kerze weggenommen hatte.

Der Sonntag war der Ruhetag im Dorf, zumindest insoweit, als an dem Tag nicht auf den Feldern gearbeitet wurde. Dennoch musste das Vieh versorgt werden, und nachdem auch so viele andere Arbeiten auf Erledigung warteten, hatte der Pfarrer eingesehen, dass ein Verbot für alles, was als Arbeit ausgelegt werden könnte, nicht durchführbar war. So kam es, dass Axl, als er an diesem besonderen Sonntag, nachdem er den Vormittag hindurch Stiefel geflickt hatte, in die Frühlingssonne hinaustrat, vom Anblick seiner Nachbarn empfangen wurde, die sich auf dem weiten Gelände vor dem Bau verteilten, manche auf Grasbüscheln sitzend, andere auf Schemeln oder Holzklötzen, schwatzend, lachend und dabei arbeitend. Überall spielten Kinder; einige hatten sich um zwei Männer geschart, die dort im Gras das Rad für einen Karren bauten. Es war in diesem Jahr der erste Sonntag, an dem solche Tätigkeiten im Freien erfolgen konnten, weil das Wetter mitspielte, und es herrschte eine fast festliche Atmosphäre. Aber während Axl am Eingang des Baus stand und über die Leute hinweg den Blick in die Ferne richtete, wo sich das Land zu den Sümpfen hin absenkte, sah er Nebel aufsteigen und rechnete damit, dass schon am Nachmittag wieder graues Geniesel vom Himmel fiele.

Er hatte eine ganze Weile hier gestanden, als er auf einen Tumult aufmerksam wurde, der sich drüben am Zaun zum Weideland gebildet hatte. Erst interessierte es ihn nicht weiter, doch dann drang aus dem Stimmengewirr, das der Wind herüberwehte, etwas an sein Ohr, das ihn alarmierte. Anders als seine Augen, die mit den Jahren ärgerlich trüb geworden waren, konnte er sich auf sein Gehör noch immer verlassen und war sicher, dass er aus dem vielstimmigen Geschrei der Menge am Zaun Beatricens Stimme herausgehört hatte. Sie war in Bedrängnis.

Auch andere hielten in ihrer Beschäftigung inne und drehten sich neugierig nach dem Aufruhr um. Jetzt aber zwängte sich Axl schon zwischen ihnen hindurch, wich mehrmals um ein Haar herumlaufenden Kindern und liegen gebliebenen Gegenständen aus, doch ehe er das kleine, wogende Gedränge erreicht hatte, fuhr es plötzlich auseinander, und in der Mitte kam Beatrice zum Vorschein, die mit beiden Händen etwas an die Brust drückte. Die Mienen der Umstehenden wirkten in der Mehrzahl amüsiert, nur das Gesicht der Frau, die jetzt rasch von hinten auf Beatrice zutrat – es war die Witwe eines Schmieds, der im vergangenen Jahr an einem Fieber gestorben war –, war vor Wut verzerrt. Beatrice entzog sich ihrer Peinigerin, und während der ganzen Zeit war ihr Gesicht eine fast ausdruckslose Maske; erst als sie Axl auf sich zukommen sah, geriet es in jähen Gefühlsaufruhr.

Jetzt, im Nachhinein, hatte er den Eindruck, dass die Miene seiner Frau zu dem Zeitpunkt vor allem ein Ausdruck grenzenloser Erleichterung gewesen war. Es war nicht so, dass Beatrice geglaubt hatte, alles würde gut, sobald er nur da wäre; doch allein seine Anwesenheit bedeutete ihr unendlich viel. Sie hatte ihn nicht nur mit Erleichterung angesehen, sondern ihm mit flehentlichem Blick den Gegenstand hingehalten, den sie so eifersüchtig an sich gedrückt hatte.

»Das ist unsere, Axl! Wir müssen nicht länger im Dunkeln sitzen. Nimm sie schnell, Mann, sie gehört uns!«

Sie hielt ihm eine plumpe, ein wenig unförmige Kerze hin. Noch einmal versuchte die Witwe des Schmieds sie ihr zu entreißen, doch Beatrice schlug deren zudringliche Hand fort.

»Nimm sie, Mann! Dieses Kind hier, die kleine Nora, hat sie selber gemacht, eigens für uns, und sie mir heute Morgen gebracht – sie dachte, wir sind es leid, jede Nacht im Dunkeln zu sitzen.«

Nun erhob sich ein neuerliches Geschrei, allerdings mit vereinzeltem Gelächter dazwischen. Beatrice aber starrte Axl unverwandt an, und ihre Miene drückte eine Mischung aus Vertrauen und Beschwörung aus. Dieser Gesichtsausdruck war es, was ihm am Morgen auf der Bank, als er vor dem Bau auf den Tagesanbruch gewartet hatte, als Erstes eingefallen war. Wie konnte es sein, dass er den Vorfall vergessen hatte – es konnten seither doch nicht mehr als drei Wochen vergangen sein? Wie konnte es sein, dass er bis heute nicht mehr darüber nachgedacht hatte?

Er hatte zwar den Arm ausgestreckt, war aber nicht in der Lage gewesen, die Kerze an sich zu nehmen – die Leute hinderten ihn immer wieder daran –, und hatte deshalb, vernehmlich und ziemlich überzeugt gesagt: »Keine Sorge, Prinzessin. Hab keine Angst.« Noch während er sprach, war er sich bewusst, wie hohl seine Worte waren, und er wunderte sich, dass die Menge verstummte, sogar die Witwe des Schmieds einen Schritt zurücktrat. Dann aber begriff er, dass nicht er diese Reaktion ausgelöst hatte, sondern die Person, die sich jetzt von hinten näherte. Es war der Pfarrer.

»Was sind das für Manieren am Tag des Herrn?« Mit weit ausgreifenden Schritten ging der Pfarrer an Axl vorbei und blitzte die verstummte Versammlung zornig an. »Und?«

»Es geht um Frau Beatrice«, sagte die Witwe des Schmieds. »Sie hat sich eine Kerze beschafft.«

Beatricens Gesicht war wieder zur Maske erstarrt, doch als sich der Blick des Pfarrers auf sie richtete, wich sie nicht aus.

»Das sehe ich, Frau Beatrice«, sagte der Pfarrer. »Den Erlass des Rats, wonach dir und deinem Mann keine Kerze in eurer Kammer mehr erlaubt ist, wirst du wohl nicht vergessen haben.«

»Wir haben in unserem Leben noch keine Kerze umgestoßen, Herr. Wir werden nicht Nacht für Nacht im Dunkeln sitzen.«

»Der Beschluss steht, und ihr werdet euch daran halten, bis der Rat anders entscheidet.«

Axl sah den Zorn in ihren Augen flackern. »Das ist grausam und lieblos. Nichts anderes.« Das sagte sie leise, fast flüsternd, blickte den Pfarrer aber unverwandt an.

»Nehmt ihr die Kerze ab«, sagte der Pfarrer. »Tut, was ich sage. Nehmt sie ihr ab.«

Als mehrere Hände nach ihr griffen, bekam Axl den Eindruck, dass sie die Worte des Pfarrers nicht ganz erfasst hatte. Denn sie stand zwischen den drängelnden, stoßenden Menschen und umklammerte wie aus einem vergessenen Instinkt heraus noch immer die Kerze. Dann schien sie auf einmal von Panik erfasst, und wieder streckte sie Axl die Kerze entgegen, bis ein heftiger Stoß sie aus dem Gleichgewicht brachte. Sie fiel aber nicht – im dichten Gedränge ringsum war das nicht möglich –, fing sich wieder und versuchte ihm abermals die Kerze zu reichen. Und er versuchte abermals sie zu nehmen, aber eine Hand schnappte sie ihm weg, und dann ertönte donnernd die Stimme des Pfarrers:

»Genug! Lasst Frau Beatrice in Frieden, und keiner von euch sage ein unfreundliches Wort zu ihr. Sie ist eine alte Frau, die nicht alles versteht, was sie tut. Genug, sage ich! Das ist kein angemessenes Verhalten am Tag des Herrn.«

Dann war Axl endlich bei ihr, nahm sie in die Arme, und die Menge ging auseinander. Als ihm dieser Moment wieder einfiel, war ihm, als hätten sie lange so gestanden, dicht beieinander, sie, wie an dem Tag, an dem die fremde Frau durchs Dorf gekommen war, mit dem Kopf an seiner Brust, als wäre sie nur erschöpft und wollte einfach verschnaufen. Er hielt sie noch, als der Pfarrer die Leute aufforderte, ihrer Wege zu gehen. Als Axl und Beatrice sich endlich voneinander lösten und sich umsahen, stellten sie fest, dass sie allein waren, neben der Kuhweide und ihrem hölzernen Gatter.

»Was macht das schon, Prinzessin?«, fragte er. »Wozu brauchen wir eine Kerze? Wir sind es doch gewohnt, uns ohne Licht in unserer Kammer zu bewegen. Und unterhalten wir uns nicht sehr gut miteinander, Kerze hin oder her?«

Er musterte sie aufmerksam. Sie wirkte verträumt und nicht besonders aufgebracht.

»Tut mir leid, Axl«, sagte sie. »Jetzt ist sie verloren, die Kerze. Ich hätte sie geheim halten sollen, für uns beide. Aber ich war außer mir vor Freude, als das kleine Mädchen sie mir brachte, und es hat sie doch eigenhändig gemacht, nur für uns. Na ja.«

»Denk dir nichts, Prinzessin.«

»Sie halten uns für ein verrücktes Paar, Axl.«

Sie ging einen Schritt auf ihn zu und legte wieder den Kopf an seine Brust. Und das war der Moment, in dem sie – mit einer so dumpfen Stimme, dass er sich erst verhört zu haben meinte – sagte:

»Unser Sohn, Axl. Erinnerst du dich an unseren Sohn? Vorhin, als sie mich gestoßen haben, fiel mir unser Sohn wieder ein. Ein guter, starker, aufrechter Mann. Warum müssen wir hierbleiben? Gehen wir doch ins Dorf unseres Sohnes. Er wird uns beschützen und dafür sorgen, dass uns niemand schlecht behandelt. Willst du dich nicht noch einmal besinnen, Axl? Nach all den Jahren, die vergangen sind? Sagst du immer noch, wir können nicht zu ihm?«

Während sie leise gegen seine Brust sprach, prasselten so viele Erinnerungsfetzen auf ihn ein, dass ihm fast die Sinne schwanden. Er lockerte seine Umarmung und rückte von ihr ab, weil er fürchtete, zu schwanken und sie damit ebenfalls aus dem Gleichgewicht zu bringen.

»Was sagst du da, Prinzessin? Ich war derjenige, der nicht wollte, dass wir ins Dorf unseres Sohnes gehen?«

»Aber natürlich du, Axl. Natürlich du.«

»Wann habe ich gesagt, ich sei dagegen, Prinzessin?«

»Ich dachte immer, du bist dagegen, Mann. Aber ach, Axl, jetzt, wo du fragst, weiß ich es nicht mehr genau, ich erinnere mich nicht. Und warum stehen wir hier draußen an einem schönen Tag wie heute?«

Beatrice wirkte wieder völlig durcheinander. Sie sah ihm ins Gesicht, blickte sich dann um, nahm den angenehmen Sonnenschein wahr, die Nachbarn, die sich wieder ihren Arbeiten zugewandt hatten.

»Gehen wir und setzen uns in unsere Kammer«, sagte sie nach einer Weile. »Lass uns doch eine Zeit lang nur beisammen sein. Es ist wirklich ein schöner Tag, das ist wahr, aber ich bin müde, vollkommen erschöpft. Gehen wir hinein.«

»Gut, Prinzessin, gehen wir aus der Sonne, und du setzt dich und ruhst dich aus. Dann geht’s dir bald besser.«

Unterdessen waren auch andere erwacht, aus allen Teilen des Gemeinschaftsbaus kamen Geräusche. Die Hirten hatten sich wohl schon vor einer ganzen Weile auf den Weg gemacht, aber er war so in Gedanken gewesen, dass er sie nicht gehört hatte. Am anderen Ende des Raums gab Beatrice einen leise summenden Laut von sich, als finge sie gleich zu singen an; dann drehte sie sich unter den Decken um. Axl, der die Signale kannte, ging leise zum Bett hinüber, setzte sich behutsam auf die Kante und wartete.

Beatrice drehte sich jetzt auf den Rücken, machte die Augen einen Spalt auf und sah Axl an.

»Guten Morgen, Mann«, sagte sie schließlich. »Ich bin sehr froh, dass die Geister dich nicht fortgeholt haben, während ich schlief.«

»Prinzessin, ich möchte etwas mit dir besprechen.«

Die Augen noch immer halb geschlossen, blickte Beatrice zu ihm hoch. Dann setzte sie sich mit einem Ruck auf. Der Lichtstrahl, in dem sich vorhin die Spinne bewegt hatte, lag jetzt auf ihrem Gesicht. Ihre schlafzerzauste graue Mähne hing ihr starr über die Schultern, bei Axl aber löste ihr Anblick im Morgenlicht ein Glücksgefühl aus.

»Was gibt es denn, Axl? Was ist so dringend, dass du mich nicht mal den Schlaf aus den Augen wischen lässt?«

»Wir haben doch schon einmal über eine Reise gesprochen, die wir unternehmen könnten, Prinzessin. Also, der Frühling ist da, und vielleicht ist es jetzt Zeit, dass wir aufbrechen.«

»Aufbrechen, Axl? Wann aufbrechen?«

»Sobald es geht. Wir müssen ja nur ein paar Tage fort sein. Das Dorf kann auf uns verzichten. Wir können mit dem Pfarrer reden.«

»Und werden wir unseren Sohn besuchen, Axl?«

»Genau das ist der Zweck. Unseren Sohn zu besuchen.«

Draußen hatte ein Vogelchor eingesetzt. Beatrice blickte zum Fenster und zu dem Sonnenstrahl, der durch den Vorhangspalt eindrang.

»An manchen Tagen erinnere ich mich ganz deutlich an ihn«, sagte sie. »Und am nächsten Tag ist es, als hätte sich ein Schleier über die Erinnerung gelegt. Dabei ist unser Sohn ein guter und prächtiger Mann, das weiß ich bestimmt.«

»Warum ist er jetzt nicht hier bei uns, Prinzessin?«

»Ich weiß es nicht, Axl. Es könnte sein, dass er Streit mit den Ältesten hatte und gehen musste. Ich habe herumgefragt: Niemand hier erinnert sich an ihn. Aber er hätte doch niemals etwas getan, das Schande über ihn bringt, da bin ich sicher. Kannst du dich nicht an etwas erinnern, Axl?«

»Als ich vorhin draußen war und mir in der Stille wirklich den Kopf zermartert habe, ist mir vieles wieder eingefallen. Aber an unseren Sohn erinnere ich mich nicht, weder an sein Gesicht noch an seine Stimme, obwohl ich mir manchmal denke, ich sähe vor mir, wie ich ihn als kleinen Jungen an der Hand halte und mit ihm das Flussufer entlanggehe. Oder wie er einmal weinte und ich zu ihm hinging, um ihn zu trösten. Aber wie er heute aussieht, wo er lebt, ob er selbst einen Sohn hat, davon weiß ich nicht das Geringste. Ich hatte eigentlich gehofft, du weißt noch mehr, Prinzessin.«

»Er ist unser Sohn«, sagte Beatrice. »Deshalb spüre ich manches, auch wenn ich mich nicht klar erinnere. Und ich weiß, er wünscht sich, dass wir von hier fortgehen und bei ihm leben, unter seinem Schutz.«

»Er ist unser Fleisch und Blut; warum sollte er nicht wollen, dass wir bei ihm sind?«

»Dennoch wird mir unser Zuhause hier fehlen, Axl. Diese kleine Kammer, die uns gehört, und dieses Dorf. Ist nicht leicht, von einem Ort wegzugehen, an dem man sein ganzes Leben verbracht hat.«

»Niemand verlangt von uns, dass wir es unüberlegt tun, Prinzessin. Vorhin, als ich auf den Sonnenaufgang gewartet habe, dachte ich, wir sollten zum Dorf unseres Sohnes gehen und mit ihm reden. Denn auch wenn wir seine Eltern sind, haben wir doch nicht das Recht, eines schönen Tages einfach bei ihm aufzutauchen und Aufnahme in sein Dorf zu verlangen.«

»Da hast du recht, Mann.«

»Noch etwas macht mir Kopfzerbrechen, Prinzessin. Dieses Dorf mag nur ein paar Tage entfernt sein, wie du sagst. Aber wie finden wir den Weg dorthin?«

Beatrice gab keine Antwort; sie starrte vor sich hin, ihre Schultern hoben und senkten sich sacht mit ihrem Atem. »Ich glaube, wir kennen den Weg ganz gut, Axl«, sagte sie schließlich. »Auch wenn wir noch nicht genau wissen, in welchem Dorf er lebt, war ich doch mit den anderen Frauen mit unserem Honig und Zinn oft genug auf Handelschaft in den umliegenden Dörfern. Zur Großen Ebene und dem Sachsendorf dahinter, wo wir oft Rast gemacht haben, finde ich blind. Das Dorf unseres Sohnes kann nur noch ein Stück weiter sein, es zu finden dürfte uns keine große Mühe machen. Axl, werden wir wirklich bald aufbrechen?«

»Ja, Prinzessin. Noch heute fangen wir mit den Vorbereitungen an.«

2. KAPITEL

Es war jedoch noch vieles zu erledigen, bevor sie sich auf den Weg machen konnten. In einem Dorf wie diesem waren zahlreiche Gegenstände, die sie auf der Reise brauchen würden – Decken, Wasserflaschen, Zunder –, in Gemeinschaftsbesitz, und um sich ihren Gebrauch zu sichern, war viel Handeln und Feilschen mit den Nachbarn nötig. Außerdem hatten Axl und Beatrice, obwohl schon betagt, die Last ihrer Alltagspflichten zu tragen und konnten ohne das Einverständnis der Gemeinschaft nicht einfach fortgehen. Und als sie dann endlich bereit zum Aufbruch waren, machte ihnen zuletzt noch das Wetter einen Strich durch die Rechnung, und sie mussten noch einmal warten. Denn wozu die Gefahren von Nebel, Regen, Kälte auf sich nehmen, wenn die Frühlingssonne nicht lange auf sich warten lassen würde?

Irgendwann aber war es so weit, und an einem klaren Morgen mit weißen Federwölkchen und starkem Wind machten sie sich mit Bündel und Wanderstock und Bündel auf den Weg. Axl wäre gern beim allerersten Tageslicht losgegangen – er wusste bestimmt, dass es ein schöner Tag würde –, doch Beatrice hatte darauf bestanden, noch zu warten, bis die Sonne höher am Himmel stand. Das Sachsendorf, in dem sie für die erste Nacht unterkommen wollten, sei ohne Weiteres an einem Tag zu erreichen, wandte sie ein; die Hauptsache sei doch, den Ausläufer der Großen Ebene möglichst zu Mittag zu durchqueren, denn dann lagen die dunklen Mächte, die dort wohnten, höchstwahrscheinlich im Schlaf.

Es war schon eine ganze Weile her, seitdem sie zuletzt eine größere Strecke miteinander gewandert waren, und Axl hatte sich Gedanken um das Durchhaltevermögen seiner Frau gemacht. Doch nachdem sie eine Stunde unterwegs gewesen waren, schwanden seine Sorgen: Zwar fiel ihm auf, dass ihr Gang ein bisschen schief war, als versuchte sie einem Schmerz auszuweichen, doch sie ging langsam und stetig, den Kopf gegen den Wind gesenkt, der über das freie Gelände fegte, und wich auch nicht vor Distelgestrüpp und Dickicht zurück. Führte der Weg sie bergauf oder durch Morast, wo es zur Anstrengung wurde, einen Fuß vor den anderen zu setzen, wurde sie langsamer, aber stehen blieb sie nie.

In den Tagen vor dem Aufbruch war Beatrice immer zuversichtlicher geworden, dass sie sich an den Weg schon erinnern würden: zumindest bis zu dem Sachsendorf, zu dem sie im Lauf der Jahre mit den anderen Frauen ja viele Male gegangen war. Doch kaum waren die schroffen Hügel oberhalb ihrer Siedlung außer Sichtweite, kaum lag das Tal jenseits des Moors hinter ihnen, wich ihre Gewissheit wieder. Wenn der Weg sich gabelte, wenn vor ihnen eine Grasfläche lag, über die der Wind hinwegfegte, blieb sie stehen und sann lange nach, und in ihren Blick, den sie über das Land gleiten ließ, stahl sich Furcht.

»Keine Sorge, Prinzessin«, sagte Axl dann. »Keine Sorge. Lass dir so viel Zeit, wie du brauchst.«

»Aber Axl«, protestierte sie und drehte sich zu ihm, »wir haben doch keine Zeit. Wir müssen zu Mittag bei der Großen Ebene sein, wenn wir sie gefahrlos durchqueren wollen.«

»Wir sind ganz bestimmt rechtzeitig dort, Prinzessin. Lass dir ruhig Zeit.«

Hier ist vielleicht der Hinweis angebracht, dass die Orientierung im freien Gelände damals unvergleichlich schwieriger war, und nicht nur deshalb, weil es keinen Kompass und keine verlässlichen Landkarten gab. Es gab auch noch nicht die typisch englischen Feldrandhecken, die das Gelände so gefällig in Feld, Weg und Wiese unterteilen. Zu jener Zeit war der Wanderer zumeist in einer unstrukturierten Landschaft unterwegs, und die sah mehr oder minder gleich aus, egal, welche Richtung er einschlug. Eine Reihe aufgerichteter Steine am Horizont, eine Flussbiegung, der besondere Hangverlauf eines Tals – das waren die einzigen Anhaltspunkte, anhand deren sich eine Route beschreiben ließ. Und die falsche Abzweigung zu nehmen, hatte häufig fatale Folgen. Zu schweigen von den Unbilden des Wetters, die ebenfalls tödlich sein konnten: Vom Weg abzukommen hieß, dass man sich noch viel mehr der Gefahr aussetzte, Wegelagerern zu begegnen – ob Mensch oder Tier oder übernatürliche Wesen –, die abseits der bekannten Straßen lauerten.

Ihr hättet euch gewundert, wie wenig die beiden miteinander sprachen, während sie unterwegs waren, dieses Paar, das einander sonst so viel zu sagen hatte. Aber zu einer Zeit, in der ein gebrochener Knöchel, eine infizierte Schürfwunde lebensbedrohlich sein konnten, verstand es sich von selbst, dass man auf jeden einzelnen Schritt achten musste. Auch wäre euch aufgefallen, dass immer Beatrice voranging, nicht Axl, sobald der Weg zu schmal wurde, als dass zwei nebeneinandergehen konnten. Auch darüber hättet ihr euch vielleicht gewundert: Scheint es nicht natürlicher, wenn in gefahrvollem Gelände der Mann vorausgeht? Wenn sie durch ein Waldgebiet kamen oder durch eine Gegend, in der Wölfe oder Bären heimisch waren, wechselten sie die Reihenfolge, ohne dass ein Wort nötig war. Die meiste Zeit aber ließ Axl seine Frau vorausgehen, und der Grund dafür war, dass praktisch jeder Feind oder böse Geist, dem sie unterwegs begegnen konnten, seine Beute bekanntlich am hinteren Ende einer Reisegesellschaft machte – sehr ähnlich, vermute ich, wie eine Raubkatze den Nachzüglern der Antilopenherde auflauert. Wie oft hatte man erlebt, dass ein Reisender sich zu seinem Gefährten umdreht, nur um feststellen zu müssen, dass der spurlos verschwunden ist. Diese Furcht war es, aus der heraus Beatrice in regelmäßigen Abständen fragte: »Bist du noch da, Axl?« Worauf er ebenso regelmäßig antwortete: »Noch da, Prinzessin.«

Am späten Vormittag erreichten sie den Rand der Großen Ebene. Axl schlug vor weiterzugehen, um die Gefahr möglichst rasch hinter sich zu bringen, doch Beatrice ließ sich nicht erweichen: Sie müssten bis Mittag warten, verlangte sie. Sie setzten sich auf einen Felsen am oberen Ende des Hangs, der zur Ebene hinabführte, und beobachteten aufmerksam die sich verkürzenden Schatten ihrer Stöcke, die sie aufrecht vor sich hielten.

»Es mag ein guter Himmel sein, Axl«, sagte sie. »Und ich habe noch von keinem gehört, der in dieser Ecke der Ebene von Bösem überfallen worden wäre, aber lass uns lieber bis Mittag warten. Dann kommt ganz bestimmt kein Dämon auf die Idee, nach uns Ausschau zu halten.«

»Wie du meinst, Prinzessin. Warten wir. Und du hast recht, schließlich ist dies die Große Ebene, auch wenn das hier eine recht harmlose Ecke ist.«

So saßen sie noch eine Weile, blickten hinab auf das Land vor ihnen, sprachen kaum ein Wort. Irgendwann aber sagte Beatrice:

»Wenn wir unseren Sohn sehen, Axl, wird er doch sicher wollen, dass wir zu ihm in sein Dorf kommen. Wird es nicht merkwürdig sein, unsere Nachbarn zu verlassen, mit denen wir so viele Jahre gelebt haben, auch wenn sie sich manchmal über unsere grauen Haare lustig machen?«

»Es ist noch nichts entschieden, Prinzessin. Wir besprechen alles mit unserem Sohn, wenn wir ihn sehen.« Und dabei blickte er unverwandt über die Große Ebene hin. Doch dann schüttelte er den Kopf und sagte leise: »Ist das seltsam, wie ich mich jetzt so überhaupt nicht an ihn erinnere.«

»Ich dachte letzte Nacht, dass ich von ihm geträumt habe«, sagte Beatrice. »Er stand an einem Brunnen. Drehte sich ein kleines Stück zur Seite und rief nach jemandem. Was vorher und nachher passierte, weiß ich nicht mehr.«

»Immerhin hast du ihn gesehen, Prinzessin, auch wenn’s im Traum war. Wie sah er aus?«

»Ein starkes, gutes Gesicht, so viel weiß ich noch. Aber die Farbe seiner Augen, die Linie seiner Wange – keine Erinnerung habe ich daran.«

»Ich weiß gar nichts mehr von seinem Gesicht«, sagte Axl. »Das muss doch das Werk dieses Nebels sein. Ich will ihm gern vieles überlassen, aber dass wir uns an eine solche Kostbarkeit nicht erinnern, ist grausam.«

Sie rückte näher zu ihm und ließ den Kopf an seine Schulter sinken. Der Wind fuhr sie beide hart an, und Beatricens Umhang hatte sich teilweise gelöst. Axl legte einen Arm um sie, um ihn einzufangen und wieder fest um sie zu legen.

»Tja«, sagte er, »ich würde sagen, dass sich einer von uns beiden schon bald wieder erinnern wird.«

»Versuchen wir’s, Axl. Versuchen wir’s beide. Es ist, als hätten wir einen Edelstein verlegt. Aber wenn wir uns beide bemühen, finden wir ihn wieder, bestimmt.«

»Ganz bestimmt, Prinzessin. Aber schau, die Schatten sind fast weg. Zeit für den Abstieg.«

Beatrice richtete sich auf und begann in ihrem Bündel zu kramen. »Da, schau, lass uns die hier bei uns tragen.«