9,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 9,99 €
Wenn das Herz schwer ist und gleichzeitig hüpft vor Glück. Kann man gleichzeitig tieftraurig und unglaublich glücklich sein? Henrik muss miterleben, wie sein geliebter Onkel Simon an Krebs erkrankt und schließlich stirbt. Gleichzeitig verliebt Henrik sich in die lebensfrohe Kjersti. Hin und her gerissen zwischen Liebe, Trauer und Schuldgefühlen erfährt Henrik: das Leben geht weiter. Und nicht nur das. Trotz aller Traurigkeit ist das Leben schön. Nur eben anders. Ein berührendes Buch - schonungslos offen und poetisch erzählt - über die erste große Liebe, das Abschiednehmen und den Tod. Ausgezeichnet mit dem renommierten norwegischen Brage-Preis 2013.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 67
Veröffentlichungsjahr: 2015
Für Helle, Olav und Ingeborg
Am besten kann ich mich an seine gelben Zähne erinnern.
Seine Sachen hingen an ihm herunter wie an einem Kleiderständer.
Lange nicht gesehen, Henrik. Zwinkernd gab er mir die Hand.
Wie ein Schwamm fühlte sie sich an.
Der Bruder meiner Mutter hieß Simon.
In der ersten Ferienwoche lag er tagsüber auf unserem Sofa.
In der ersten Nacht mit Simon unter einem Dach weckte mich ein Wimmern.
Wie von einem angeschossenen Tier.
Ich stand auf und ging in den Flur.
Die Badezimmertür war nicht ganz zu.
Ich sah Simons Rücken.
Er kniete vor der Kloschüssel und übergab sich.
Kotzte sich die Seele aus dem Leib.
Ich sah seine Poritze.
Und die Wirbelsäule, die sich durch seine Haut bohrte.
Die Schulterblätter wölbten sich wie Möwenflügel.
Nachdem er sich ein letztes Mal erbrochen hatte, sackte er auf dem Fußboden in sich zusammen.
Schwer atmend blieb er auf der Seite liegen.
Sein Brustkorb hob und senkte sich.
Ich stand einfach da.
Ich traute mich nicht zu sprechen.
Ich traute mich nicht hinein.
Ich stand nur da und sah ihn an.
Sein nackter Körper schien sich aufzulösen.
Am nächsten Morgen lag Simon mit einem nassen Waschlappen auf der Stirn da.
Ich konnte nur sein Gesicht sehen, denn er war in eine Decke eingewickelt.
Ich setzte mich mit der Zeitung in den Sessel.
Simon öffnete die Augen.
Konntest du meinetwegen nicht schlafen?, fragte er.
Ich hatte einen Kloß im Hals.
Hatte er mich gesehen?
Nein, antwortete ich und legte die Zeitung in den Schoß.
Simon stand vom Sofa auf.
Die Decke hielt er fest. Er schien zu zittern.
Ich vertrage meine Tabletten nicht, sagte er.
Ich nickte.
Simon lächelte.
Die gelben Zähne.
Er war erst einunddreißig.
Und sah aus wie ein alter Mann.
Sein dünnes kurzes Haar klebte verschwitzt am Kopf.
Die Lippen rissig und spröde.
Wollen wir eine Runde spazieren gehen?, fragte er.
Spazieren gehen?
Er nickte.
Aber ich muss mich an dir festhalten, sagte er.
Er trug einen schwarzen Cowboyhut als Sonnenschutz.
Einen weiten Pullover und eine blaue Jogginghose.
Ich hatte ein T-Shirt und Shorts an.
Der Himmel war blau und der Asphalt glühte.
Wir gingen zum Supermarkt.
Simon hielt sich an mir fest. Obwohl er größer war als ich, wog er nicht viel.
Es fühlte sich fast so an, als würde ich meine Skier tragen.
Oder das Skelett aus dem Abstellraum neben dem Klassenzimmer holen.
Er atmete schwer.
Beim Luftholen drang ein Rasseln aus seiner Brust.
Vor dem Supermarkt blieben wir stehen.
Hast du Lust auf ein Eis?, fragte ich.
Er lachte.
Bist du verrückt, Henrik? Eis ist viel zu kalt!
Ich war klitschnass geschwitzt und wusste gar nicht, was er meinte.
Geh ruhig hinein, ich setze mich hierhin, sagte er.
Ich half Simon auf die weiße Bank.
Im Laden nahm ich ein großes Eis aus der Tiefkühltruhe.
Als ich an der Kasse wartete, sah ich ihn durch die Scheibe.
Er war aufgestanden.
Er schien fast davonzufliegen, so leicht und zerbrechlich wirkte er.
Ich ließ das Eis fallen und rannte hinaus.
Simon lag auf dem Boden.
Seine Augen waren geschlossen, aber er atmete.
Aus seiner Nase tropfte Blut.
Seine Haut war schneeweiß.
Die blauen Adern an den Schläfen pulsierten.
Als Simon zum zweiten Mal eine längere Zeit bei uns verbrachte, konnte er sich kaum auf den Beinen halten.
Abends saß ich im Sessel und unterhielt mich mit ihm.
Ich las ihm aus der Zeitung vor.
Und erzählte ihm von Kjersti, einem Mädchen aus meiner Klasse. Kurz vor den Ferien hatte ich sie geküsst.
Jetzt war sie mit ihrer Familie in Italien.
Wie hat es geschmeckt?, fragte er.
Sie zu küssen?
Ja.
Ich weiß nicht.
Doch, Henrik, das weißt du.
Es war warm und weich.
Warm und weich?
Sie hat mir eine Postkarte geschickt, sagte ich.
Auf der Vorderseite war das Kolosseum abgebildet.
Warst du schon mal in Rom?, fragte ich.
Simon schüttelte den Kopf.
Nein, aber eigentlich wollte ich mit einem Freund nach Italien und noch in andere Länder fahren.
Quer durch Europa.
In Hostels schlafen und mit schönen Frauen feiern gehen.
Das war letztes Jahr, als ich krank wurde.
Deshalb ist nichts daraus geworden.
Woran hast du gemerkt, dass du krank bist?, fragte ich.
Ich habe es einfach gespürt, in der Brust, im Rücken und im Kopf.
Als ob mich jemand gepackt und zugedrückt hätte.
Ganz fest und lange.
Als wäre ich ihm vollkommen ausgeliefert.
Es hat nur noch wehgetan, die ganze Zeit, Tag und Nacht.
Simon musste husten.
Wo tut es am meisten weh?, fragte ich.
Im Kopf, antwortete Simon.
An manchen Tagen ging es Simon besser.
Er konnte im Garten unter dem Sonnenschirm sitzen.
Er konnte ein bisschen Grillfleisch essen, wenn Mutter es ihm klein schnitt.
Er konnte Limo mit dem Strohhalm trinken.
Er konnte ein bisschen Eis lecken.
Er konnte stundenlang im Liegestuhl schlafen.
Ganz ohne Schmerzen.
Das brachte meine Mutter zum Weinen.
Ihre Arme zitterten, ihr Blick verschwamm.
Als es Nacht wurde, trug meine Mutter Simon ins Haus.
Sie brachte ihn die Treppe hinauf und ins Schlafzimmer.
Die Matratze schien kaum zu bemerken, dass Simon auf ihr lag.
Als schwebte der dünne zarte Körper einige Zentimeter über ihr.
In diesem Sommer ging meine Mutter nicht ins Büro.
Sie versteckte sich nicht hinter Stapeln von Ordnern und Büchern.
Saß nicht am Schreibtisch und schrieb lange Texte.
Sie stand auch nicht vorm Spiegel und übte Vorträge.
Meckerte nicht mit mir, wenn ich sie störte.
Ihre schicken Klamotten ließ sie im Schrank.
Manchmal waren ihre Haare fettig oder zerzaust.
Das Gesicht ungeschminkt.
All die Brote, die sie schmierte und die dann doch niemand aß.
Abends suchte sie im Internet nach alternativen Behandlungsmethoden.
Schickte Mails an Ärzte und Heiler.
Checkte ständig ihren Posteingang.
Druckte endlose Dokumente aus und ackerte sie durch. Falls die Ärzte nicht alles versuchen würden.
Die ganze Zeit war sie hier.
Sie sah mich.
Aber sie sagte nichts.
Sie konnte mir gegenübersitzen und mich anstarren.
Und trotzdem nicht zuhören.
Ich kann mich nicht erinnern, sie je so gesehen zu haben.
So anwesend.
Und doch ganz weit weg.
Einmal kam sie abends in mein Zimmer.
Mit der Kaffeetasse in der Hand.
Ungekämmt.
Müde.
Als sie gähnte, sah ich, wie sehnig und dünn sie war.
Fast wie Simon.
Manchmal dachte ich, dass meine Mutter nichts aß.
Wegen Simon.
Als wollte sie wie er sein.
Solange Simon krank war, wollte sie nicht gesund sein und zunehmen.
Sie stellte die Kaffeetasse auf meinem Schreibtisch ab.
Bist du wieder bei Facebook?, fragte sie.
Ich nickte.
Mit wem chattest du?
Mit Sverre und einem Mädchen aus meiner Klasse.
Mit einem Mädchen? Wie heißt sie?
Kjersti.
Sie macht Urlaub in Italien.
Kann ich ein Bild von ihr sehen?
Ich klickte auf ihr Profil.
Da rief er aus seinem Zimmer.
Meine Mutter zuckte zusammen.
Ich blieb sitzen.
Das Würgen.
Das Wimmern.
Die sanfte Stimme meiner Mutter.
Eines Nachts wurde ich wieder von einem Wimmern geweckt.
Ich ging in den Flur, aber im Bad brannte kein Licht.
Simons Zimmertür stand einen Spaltbreit offen.
Eine Hand ragte heraus.
Ich öffnete die Tür und schrie.
Simon lag in seinem Erbrochenen.
Er bewegte die Beine.
Wie eine halbtote Wespe.
Wenn du ihnen den Kopf abschneidest, krabbeln die Beine weiter.
Meine Mutter machte das Licht im Flur an und kam zu uns.
Du musst ihm den Kopf halten, sagte sie.
Ich kniete mich neben ihn und hob Simons Kopf.
Aus seinem Mund lief noch immer eine gelbrote Flüssigkeit.
Ich verstand nicht, wo das alles herkam.
Er aß kaum und trank fast nichts.
Es war, als ob er seine eigenen Organe erbrach.
Als würde er seine Gedärme, seinen Magen, die Lunge und das Herz herauswürgen.
Und bald war da nichts mehr zum Auskotzen.
Bald war er leer.
Bald würde er nur noch aus Haut und Knochen, Haaren und gelben Zähnen bestehen.
Meine Mutter rief den Notarzt.
Dann setzte sie sich neben mich und legte Simons Kopf auf ihren Schoß.
Sie strich Simon über das Gesicht. Ein paarmal öffnete er die Augen.