Mein Herz hat eine Heimat - Corinna Volkner - E-Book

Mein Herz hat eine Heimat E-Book

Corinna Volkner

5,0

Beschreibung

Große Schriftstellerinnen wie Patricia Vandenberg, Gisela Reutling, Isabell Rohde, Susanne Svanberg und viele mehr erzählen in ergreifenden Romanen von rührenden Kinderschicksalen, von Mutterliebe und der Sehnsucht nach unbeschwertem Kinderglück, von sinnvollen Werten, die das Verhältnis zwischen den Generationen, den Charakter der Familie prägen und gefühlvoll gestalten. Mami ist als Familienroman-Reihe erfolgreich wie keine andere! Seit über 40 Jahren ist Mami die erfolgreichste Mutter-Kind-Reihe auf dem deutschen Markt! Es ist ein schöner sonniger Maitag.Mutter Bona hat gerade den Gartenweg vom Blütenschnee der Kirschbäume freigelegt, als ihr der Postbote einen Brief über den Zaun reicht.»Aus Hamburg«, ruft er dabei und lacht in sich hinein, denn mit der Post von Frau Bona hat es so seine Bewandtnis.»Also von der Dorothea«, freut sich Frau Bona und stellt den Besen zur Seite.»Das ist doch das Jüngste.Stimmt's, Mutter Bona?Der Postbote besteigt gemächlich wieder sein Fahrrad.»Nein, nein! Meine Jüngste ist die Rosalie. Der käme es nie in den Sinn, anderswo zu studieren als hier in unserem schönen Tübingen.Der Postbote zuckte die Schultern und gibt zurück: »Versteh einer seine Kinder. Mein Junge will auch fort von zu Hause. Will auf eigene Füße kommen. Da kann man nichts tun, gar nichts.Sie seufzt und blickt dem Postboten nach, der den schmalen Weg zwischen Seeufer und Parkgrundstück zurückradelt. Es gibt nur diesen einen Weg hier heraus, und der endet etwa hundert Meter weiter bei der herrschaftlichen Villa dort drüben hinter den Fliederbüschen.In dieser Villa, die lange schon von den Besitzern, einem alten Professorenehepaar verlassen wurde, um sie gegen einen Platz in der Familiengruft derer von Eschwalds einzutauschen, hatten Anna und Oswald Bona gedient. Sie als Köchin und ihr guter Oswald, der schon seit einigen Jahren tot ist, als Gärtner und Chauffeur.Arbeitsreiche Jahre, gewiss, denn da kamen ja auch in schöner Reihenfolge die vier Töchter zur Welt.Vier Töchter!

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Mami Bestseller – 10 –

Mein Herz hat eine Heimat

Das Vermächtnis ihrer Schwester wies ihr den Weg

Corinna Volkner

Es ist ein schöner sonniger Maitag.

Mutter Bona hat gerade den Gartenweg vom Blütenschnee der Kirschbäume freigelegt, als ihr der Postbote einen Brief über den Zaun reicht.

»Aus Hamburg«, ruft er dabei und lacht in sich hinein, denn mit der Post von Frau Bona hat es so seine Bewandtnis.

»Also von der Dorothea«, freut sich Frau Bona und stellt den Besen zur Seite.

»Das ist doch das Jüngste.

Stimmt’s, Mutter Bona?«

Der Postbote besteigt gemächlich wieder sein Fahrrad.

»Nein, nein! Meine Jüngste ist die Rosalie. Der käme es nie in den Sinn, anderswo zu studieren als hier in unserem schönen Tübingen.«

Der Postbote zuckte die Schultern und gibt zurück: »Versteh einer seine Kinder. Mein Junge will auch fort von zu Hause. Will auf eigene Füße kommen. Da kann man nichts tun, gar nichts.«

»Nein«, erwidert Frau Bona gedankenvoll, »da kann man nichts tun als hoffen, dass …«

Sie seufzt und blickt dem Postboten nach, der den schmalen Weg zwischen Seeufer und Parkgrundstück zurückradelt. Es gibt nur diesen einen Weg hier heraus, und der endet etwa hundert Meter weiter bei der herrschaftlichen Villa dort drüben hinter den Fliederbüschen.

In dieser Villa, die lange schon von den Besitzern, einem alten Professorenehepaar verlassen wurde, um sie gegen einen Platz in der Familiengruft derer von Eschwalds einzutauschen, hatten Anna und Oswald Bona gedient. Sie als Köchin und ihr guter Oswald, der schon seit einigen Jahren tot ist, als Gärtner und Chauffeur.

Arbeitsreiche Jahre, gewiss, denn da kamen ja auch in schöner Reihenfolge die vier Töchter zur Welt.

Vier Töchter!

Frau Bona stößt ein kleines, herzliches Lachen aus, während sie ins Haus geht, um den Brief zu lesen, den ihr Dorothea aus Hamburg geschickt hat.

Oh, dieser Oswald! Vier Töchter! Dabei wollte er unbedingt einen Sohn haben. Hat sie, die gutmütige Anna, sein Ännchen, immer wieder beschwatzt, beim nächsten Mal sei es gewiss ein Junge.

Denkste! Ein Mädchen kam und noch eines. Bis es schließlich vier waren, und sie, die Anna Bona, ein energisches Wort sprach. Genug seien es nun. Alle seien sie gesund und wohlgestaltet.

So war es bei Priska, Hermine, Dorothea und Rosalie Bona geblieben, was auch den alten Herrschaften drüben in der Villa Eschwald nur recht gewesen ist. Schließlich hatte die gute Anna sich auch noch um deren Kochtöpfe zu kümmern, die nicht selten überzuquellen drohten von dem, was übrig blieb für die kleinen, später größer werdenden Mäuler der Familie Bona.

Aber das Professorenehepaar gab gern und von Herzen, denn es mochte die heitere Mädchenschar, die plötzlich den weiten Park um die alte Villa herum mit lärmender Geschäftigkeit und Lebensfreude aus seinem Dornröschenschlaf aufschreckte.

Doch leider verging der Kindheitstraum der Barontöchter schnell wie die Jahre selbst. Kaum flügge geworden, zogen die ersten aus. Priska studierte Medizin und nahm sich in der Stadt ein kleines Zimmer, Hermine begann nach einigen Semestern Jura ihre ersten Erfahrungen als Journalistin bei einer Münchener Zeitung zu sammeln.

Ja, und dann gingen auch die beiden jüngsten fort …

Frau Bona ist in der Küche und holt aus dem Nähkästchen ihre Brille. Sie lässt sich am Fenster in einem Korbstuhl nieder und blickt auf das Kuvert in ihren Händen.

»Hamburg«, murmelte sie und versucht ruhig zu bleiben. Vorhin, da hat sie dem Postboten wohl lachend entgegnet, der Brief sei von ihrer Dorothea. Hat es so fröhlich gesagt, dass sich Franzl Schnitzler, der Postbote, bestimmt gedacht hat, auch mit dieser Bonatochter stehe alles zum Besten.

Aber das ist leider nicht so. Frau Bona ahnt es schon längst. Wohl lesen sich Dorotheas Brief leicht, denn sie klagt nie, ihre zweitjüngste, die vor Tagen zweiundzwanzig Jahre alt geworden ist.

»Warum der Mann nur so hart ist?«, murmelte Bona und öffnet schnell den Umschlag. »Wenn sich die Kinder doch lieben. Warum verweigert ein Vater da seinen Segen?«

Zwei tiefe Atemzüge, dann beginnt sie zu lesen. Es ist ein langer Brief, und er weckt gemischte Gefühle in ihrem Herzen. Doch zum Schluss überwiegt die Freude, und Bona presst die beiden eng beschriebenen Briefbögen an ihre Brust.

»Ja, so was?«, ruft sie unter Tränen aus. »Da werde ich ja bald Oma. Und hier soll es sein. Hier in Tübingen will sie ihr Baby bekommen, die Dorothea.«

Nach diesem ersten Freudenausbruch verfällt Bona in tiefes Nachdenken.

Eine Heirat gibt es vorerst nicht, weil Stefans Vater dagegen ist. Nie empfangen hat er Dorothea auf seinem Gut in Schleswig-Holstein. Sein Sohn sei zu jung zum Heiraten.

Das kann Frau Bona fast verstehen, denn Stefan ist genauso alt wie ihre Tochter, nämlich zweiundzwanzig. Die beiden haben sich beim Studium kennengelernt. Längst noch nicht ist der Stefan in der Lage, eine Familie zu ernähren.

Ist alles richtig. Dennoch!

Energisch richtet sich Bona im Sessel auf, schiebt die Briefseiten zurück ins Kuvert und beschließt, zuerst einmal ihre älteste Tochter Priska anzurufen.

Priska weiß Rat für alles, sie ist ruhender Punkt ihrer Familie geworden, seit Vater Bona dies nicht mehr sein kann.

Zweiunddreißig Jahre ist Priska nunmehr, und Mutter Bona denkt nur ungern daran, dass es da im Tübinger Krankenhaus einen Oberarzt gibt, mit dem Priska demnächst wohl enger zusammenleben wird.

Heiraten werden sie wohl, die beiden, denkt Bona, während sie die Telefonnummer ihrer Tochter wählt.

Um diese Zeit ist Priska auf der Kinderstation anzutreffen. Bald vernimmt Bona die ruhige, wohltönende Stimme ihrer ältesten.

»Ja, Mutter, was gibt’s denn?«

»Etwas, worüber ich gern mit dir reden möchte, Priska. Weißt du, die Doro hat geschrieben … Ja, heute! Stell dir vor, sie – bekommt ein Kind.«

Stille!

Frau Bona hält einen Atemzug lang die Augen fest geschlossen und betet inbrünstig, Priska möge so reagieren, wie sie im Allgemeinen zu reagieren pflegt, nämlich mit Ruhe und Nachsicht.

Da sagt Priska zur Erleichterung ihrer ängstlich lauschenden Mutter: »Damit mussten wir ja fast rechnen bei den beiden. Sind doch noch ziemlich unreife Kinder. Aber nun sprich dich endlich aus, Mutter. Was steht in dem Brief? Geht es ihr gut? Will Doro heimkommen?«

Bona nickt unter Tränen. Bis ihr einfällt, dass Priska sie nicht sehen kann. Da ruft sie schnell in den Hörer: »Ja, Priska! Sie will das Kind zu Hause bekommen. Hier bei uns. Sie schreibt, dass du bei ihr sein sollst in ihrer schweren Stunde. Weil – weil der Arzt in Hamburg doch meint, es könnten Zwillinge sein. Stell dir das nur mal vor!«

Schweigen, dann die leicht amüsierte Stimme der jungen Ärztin: »Ich stelle es mir vor, Mutter. Ach, du meine Güte, fast tut mir der alte Mann auf seinem großen Gut leid. Wie stellt sich Olav Bredersen denn dazu?«

Bona schluckt, dann sagt sie bitter: »Er will es nicht wahrhaben, glaube ich. Er hat seinen Sohn kalt abblitzen lassen, als Stefan ihn vor vierzehn Tagen aufgesucht und um Unterstützung gebeten hat. Dabei kann das Baby täglich kommen, schreibt Dorothea wenigstens.«

Einen Augenblick herrscht Stille am Telefon, und Bona glaubt schon, die Verbindung sei unterbrochen. Doch dann meldet sich Priska wieder, und ihre Stimme klingt warm und mitfühlend.

»Arme Dorothea! Du, Mutter, wir sollten Stefan dazu bringen, seinen Vater eine Weile zu vergessen. Das Kind, oder die Kinder, falls es wirklich Zwillinge sind, müssen ja nicht unbedingt einen Großvater haben. Bei einer Omi und drei Tanten wie uns wird es ihnen gewiss an nichts fehlen. Außerdem – was hindert Dorothea und Stefan dran, hier zu heiraten und zu leben?«

Bona stößt einen tiefen Seufzer aus. »Ach, Priska, die beiden sind leider richtige Großstadtkinder, das weißt du doch. Vielleicht stößt sich dieser Gutsherr auch daran, dass Doro und Stefan ihr Studium nicht sehr ernsthaft betreiben und – und so – herumgammeln, wie die Leute es nennen.«

Ein fast ärgerliches Lachen, dann Priskas Antwort: »Die Zeiten ändern sich eben, Mutter, und deine beiden jüngsten Töchter sind ein Spiegelbild dieser Veränderungen. Dorothea und Rosalie sind keinesfalls schlechter als Hermine und ich. Sie haben nur andere Zielvorstellungen. Das sollte man ruhig akzeptieren.«

Ja, ja, schon gut, denkt Mutter Bona und ist doch ein wenig getröstet. Es ist alles gut gesagt von Priska, aber nimmt ihr, der Mutter, dennoch nichts von den Sorgen um die beiden Jüngsten.

»Wann wollen die beiden denn kommen?«, fragt Priska und scheint ein wenig in Zeitbedrängnis zu sein. Dafür hat Anna Bona ein gutes Ohr.

So antwortet sie schnell: »Morgen schon, Priska. Stelle dir das vor. Schon morgen! Ich wollte es dir gleich mitteilen. Jetzt richte ich das Zimmer her. Und einkaufen muss ich auch noch.«

»Lass dir Zeit, Mutter! Ich komme morgen früh und bringe Lebensmittel mit. Du sollst dich damit nicht abschleppen. Aber nun entschuldige bitte, ich muss zur Visite.«

»Danke, Priska«, sagt Anna und fügt leiser hinzu: »Warst du bei Rosalie?«

»War ich, Mama«, gibt die Ärztin schnell und, wie es Anna Bona scheint, ausweichend zurück. »Ich will versuchen, Rosalie morgen mitzubringen.«

»Das wäre schön, Priska«, seufzt Anna Bona und legt den Hörer auf.

*

Am nächsten Morgen kommt Priska den schmalen Seeweg heraufgefahren.

Anna Bona hat sie schon erwartet und hilft wenig später beim Ausladen der vielen Tüten und des großen Korbs mit Obst und Gemüse. Das geschieht immer einmal in der Woche, denn für Anna Bona ist das Einkaufen mit einem langen, mühsamen Weg verbunden. Es gibt hier im Stillen Seewinkel längst keinen Laden mehr. Wozu auch? Die wenigen Ansiedler drüben in der Ortschaft fahren alle zum Einkaufen nach Tübingen.

»Ich habe etwas mehr eingekauft«, sagt Priska und stellt den Korb in der Küche ab. »Vielleicht kommt ja auch Hermine zum Wochenende aus München. Die Modemesse ist zu Ende gegangen, und darüber schreiben kann sie hier ungestört.«

»Sie wird schon eintrudeln«, gibt Anna Bona lachend zurück. »Ist ja immer froh, mal frische Luft zu schnuppern und ruhig zu schlafen, die Hermine.«

Auch Priska muss lachen und meint: »Ist schon eine tolle Stadt, ihr heißgeliebtes München. Eine schöne laute dazu.«

Rosalie, ihre Jüngste. Anna Bona fällt nun wieder ein, dass Priska gestern am Telefon gesagt hat, sie wolle versuchen, Rosalie heute Morgen mitzubringen. Samstag fällt der Kunstunterricht ja aus.

Da beginnt die junge Ärztin von selbst: »Rosalie lag noch im Bett, als ich vorhin bei ihr angehalten habe. Sie war gestern auf einer Fete und dementsprechend unausgeschlafen. – Aber, Mutter! Warum gleich wieder so angstvolle Augen?«

Priska legt einen Arm um die rundlichen Schultern der Mutter und fügt seufzend hinzu: »Denkst du denn, mir gefällt es, dass unsere Kleine in dieser Wohngemeinschaft lebt? Aber ich sehe keine Alternative zu dieser Art von Rosalies Drang, etwas Sinnvolles tun zu wollen. Genauso verhält es sich nämlich. Die jungen Leute in der Kommune nutzen Rosalie ziemlich übel aus. Sie spielt dort das Hausmütterchen und sorgt für die ganze Clique in rührender Weise. Mich wundert nur, dass sie nebenher noch die Zeit zum Studium findet.«

Währenddessen ist Priska mit der Mutter vors Haus getreten. Sie blickt auf die nahen Apfelbäume, die wohl in den nächsten Tagen ausschlagen. Dick und prall sind die Knospen, während die Kirschen nun schon verblüht sind.

Tief atmet Priska die milde Luft ein. »Gut, dass Dorothea sich dazu entschlossen hat, zu uns zu kommen, Mutter. Und hoffentlich löst sich Hermine für ein paar Tage von ihrer Hektik in der Redaktion. Ja, ich fürchte, Mama, zum Wochenende wird’s bei dir turbulent zugehen.«

Das hört Anna Bona gern. Ihre Augen strahlen, als sie entgegnet: »Einen Lammbraten werde ich zubereiten und natürlich eine Käsetorte backen. Eure Zimmer habe ich gut durchgelüftet und die Betten frisch bezogen. Kommt nur ruhig, Mädels. Kommt heim, wann immer ihr wollt.«

*

Es ist später Nachmittag.

Dr. Priska Bona begibt sich zur letzten Visite auf die Kinderstation. Flüchtig denkt sie dabei an ihre Schwester Dorothea und den jungen Stefan Bredersen, den sie nur einmal gesehen hat. Das war am Heiligabend, als sich die beiden zu einem Besuch bei Mutter Bona befanden.

»Ach, die Frau Doktor ist bei unserer kleinen Heulliese«, sagt die Stationsschwester lächelnd, als sie die Nachtmedizin für die Kinder bringt.

»Geben Sie Melanie nicht zu viel, Schwester Alma. Wir kurieren die Infektion auch so aus«, mahnt Priska noch und erhebt sich vom Stuhl.

»Frau Doktor, ehe ich’s vergesse, Sie möchten so bald es geht ins Casino kommen, auf eine Tasse Kaffee.«

»Danke, Schwester Alma«, sagt Priska freundlich und geht hinaus. Noch zwei Zimmer, noch vier Kindern gute Nacht sagen, ein wenig Trost zusprechen. Es ist kein schwerer Fall darunter, gottlob.

Priska weiß, wer sie auf eine Tasse Kaffee ins Casino bestellt hat und freut sich darauf. Längst ist es durchgesickert, dass die Kinderärztin und den Oberarzt von der Chirurgischen mehr verbindet als nur kollegiale Freundschaft.

Aber bisher gibt es wirklich keinen Klatsch darüber, was nicht zuletzt Priskas Beliebtheit zuzuschreiben ist.

Gerade will sie den Lift hinauf ins Casino nehmen, als das Heulen des Notdienstwagens sie stoppt.

Hört sich ja an, als sei keine Zeit zu verlieren, denkt die junge Ärztin und drückt automatisch den Knopf abwärts, der sie zur Unfallstation bringt.

Dort herrscht bereits hektische Betriebsamkeit.

Und dann ist es Priska, als wankte der Boden unter ihren Füßen. Sie muss sich an die Wand lehnen, blickt starr auf eine zweite Trage. Sieht wuscheliges dunkles Haar.

Stefan hat so schöne dunkle Locken, denkt sie. Im nächsten Augenblick ist der schreckliche Albtraum vorbei. Die Verunglückten sind in die Station gebracht, nur einige Männer der Rotekreuzwagen stehen vor dem Eingang und diskutieren erregt.

Auf diese geht Priska nun zu und fragt: »Was ist passiert? Wer sind die Verunglückten?«

Sie fragt, obwohl sie die Antwort schon zu wissen glaubt. Aber kann man das Unfassbare glauben?

Was muss ich tun, hämmert es hinter ihrer Stirn, bis ein Anruf ihr die Entscheidung abnimmt.

»Frau Doktor! Bitte kommen Sie sofort in den Kreißsaal. Man verlangt nach Ihnen. Bitte fassen Sie sich.«

*

Im ältesten Stadtteil von Tübingen gibt es ein Haus, das von fünf jungen Menschen bewohnt wird.

Es ist ein schmales Haus mit einem Erkerzimmer, in dem sich an diesem Nachmittag eine Schar Studenten eingefunden hat. Es wird gefeiert, geredet, diskutiert und heftig gespöttelt über eine der ihren. Aus einem recht erfreulichen Grund übrigens, der auch den Anlass der Fete darstellt.

Einer der Studenten drückt es so aus: »Wir vier bemühen uns um den Ruhm der Ewigkeit, während sich Rosalie darum kümmert, dass wir unterdessen nicht verhungern. Seht euch also, liebe Freunde, diesen herrlichen Scheck noch einmal an, bevor wir ihn morgen zur Bank tragen und in klingende Münze verwandeln.«

»Die wir dann wiederum für Miete, Lebensmittel und sonstige längst fällige Rechnungen ausgeben!«, ruft eine Studentin lachend dazwischen.

»Immerhin sind dreitausend Euro wahnsinnig viel Geld für Rosalies Kunstwerk«, meint ein anderer trocken.

»Und vergessen wir bitte nicht, dass es eine Lebensstellung mit sich bringen könnte. Falls Rosalie ihr Kunststudium satthat und, was fatal wäre, uns dazu«, spottet ein vollbärtiger, schlaksiger Junge, der ungefähr in Rosalies Alter sein mag.

Zu alledem schweigt sie, aber ihre heitere Miene wirkt etwas verkrampft.

Gundel, ihre engste Freundin, mit der sie auch das Zimmer teilt, hält es für an der Zeit, einzugreifen. »Was habt ihr eigentlich dagegen einzuwenden, dass Rosalie für diesen Tapetenhersteller Muster entwirft? Nun hat sie einen Preis gewonnen für die hübscheste Kinderzimmertapete. Ich find’s prima, und ihr solltet euch auch ehrlichen Herzens darüber freuen, anstatt in eine sarkastische Diskussion über Kunst und Kitsch zu verfallen.«

Natürlich wird auch Gundel übertönt. Das Geld ist schon okay, das kann man gut brauchen. Aber gegen den Wert dieser Preisverleihung muss man ganz einfach zu Felde ziehen.

»Es ist wahnsinnig verführerisch, merkst du das denn nicht?«, mahnt der älteste der Gruppe und blickt beschwörend in Rosalies Gesicht. »Nach den Tapeten kommen die bunten Teller an die Reihe, danach eventuell die Sparschweine der Banken und Sparkassen. Das will ja alles bunt und hübsch angemalt sein. Aber dafür gehst du doch nicht zur Hochschule für bildende Künste!«

»Warum eigentlich nicht?«, trotzte Rosalie plötzlich und erntet einen Sturm der Entrüstung.

Durch den Trubel dringt die Stimme des Bärtigen, der an der Tür zum Wohnzimmer auftaucht.

»Telefon für Rosalie! Mann, oh, Mann, seid doch mal ruhig. Unsere Preisgekrönte wird verlangt.«

Rosalie geht in die Diele und hört Priskas Stimme am Telefon eigentümlich leise sagen: »Rosalie, gut, dass du da bist. Ich hole dich in einer halben Stunde ab. Wir fahren zur Mutter.«

Lärm dringt aus dem Wohnzimmer, man ruft nach ihr. Rosalie nimmt den Hörer ans andere Ohr und wendet sich etwas ab. »Das geht jetzt nicht, Priska«, sagt sie schnell und hofft, dass die Schwester nicht so viel von der Musik mitbekommt. »Wir haben Besuch von einigen Kollegen aus der Uni. Ich kann unmöglich.«

»Ich brauche deine Hilfe, Kleines! Lass mich nicht im Stich! Also bis gleich!«

Es macht klick. Fassungslos blickt Rosalie auf den Hörer. Da hat Priska doch einfach aufgelegt!

Sofort fühlt sich das junge Mädchen bevormundet. Wie springt Priska denn mit ihr um? Bestimmt so einfach über sie, als wäre Rosalie immer noch die kleine Schwester. Aber nicht so! Das ist ein für alle Mal vorbei.