Mein ist die Strafe - Robert Klotz - E-Book

Mein ist die Strafe E-Book

Robert Klotz

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Beschreibung

Ihr Leben ist vorbei. Er hat sie gefunden. In einem einzigen Moment bricht Lisas Existenz zusammen, befindet sie sich auf der Flucht. Wälder, Landstraßen, Städte: Sicherheit gibt es nirgends, denn Seine Mittel sind unbegrenzt, und Seine Methoden eiskalt und skrupellos. Wer hilft, und wer spielt Ihm in die Hände? Endet Lisas Flucht in der Hölle, der sie sich längst entronnen glaubte? Die Antworten entscheiden über Leben und Tod. Denn Sein ist die Strafe.

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HYBRID VERLAG

Vollständige elektronische Ausgabe

10/2020

 

Mein ist die Strafe

 

© by Robert Klotz

© by Hybrid Verlag

Westring 1

66424 Homburg

 

Umschlaggestaltung: © 2020 by Creativ Work Design

Lektorat: Eva Kunadt, Rudolf Strohmeyer

Korrektorat: Petra Schütze

Buchsatz: Lena Widmann

Autorenfoto: Wolfgang Url

 

 

Coverbild ›Operation Gay Bomb‹

© 2020 by Creativ Work Design

Coverbild ›Wonders Macht‹

© 2018 by Creativ Work Design

 

ISBN 978-3-96741-059-4

 

www.hybridverlag.de

www.hybridverlagshop.de

 

 

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.de abrufbar.

 

 

 

 

 

 

Robert Klotz

 

Mein ist die Strafe

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Thriller

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Nachwort

Danksagung

Der Autor

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Für Melissa. Danke.

 

1

 

Mit langsamen Schritten kam Lisa aus dem Tiefkühlraum und sog ein letztes Mal die kalte Luft ein. Zwei kleine Stoffsäckchen, gefüllt mit Eiswürfeln, hingen von ihrem Gürtel. Ein kleiner Trick, gelernt während des letzten Sommers.

Ihr Blick fiel auf die Uhr, die an der mit Fettspritzern überzogenen Wand hing. 20:56. Noch drei Stunden bis Schichtende, dachte sie bitter und schüttelte müde den Kopf. Sehnsüchtig erinnerte sie sich an die Kälte von gerade eben, während ihr aus der Küche bereits die heiße Luft entgegenschlug.

Vornübergebeugt, mit Haaren, die verschwitzt an seiner Stirn klebten, stand der Koch hinter der Fritteuse. Sein Blick folgte ihr, und das Grinsen in seinem Gesicht wurde mit jeder Sekunde breiter.

»Wenn du noch länger brauchst, dann verbrennt hier alles«, stichelte er, als er ihr dabei zusah, wie sie gemächlich die schwere Metalltür hinter sich schloss und schleppend in seine Richtung kam.

»Wenn der Boss sich nicht bald etwas überlegt, brauchst du keinen Herd mehr, um zu kochen«, gab sie zurück und stellte den Sack voller gefrorener Pommes vor ihm auf die Ablagefläche.

»Ach komm schon. Es könnte schlimmer sein.«

Ihre Blicke wanderten zu dem an der Wand hängenden Thermometer und beide zogen scharf den Atem ein.

Neununddreißig Grad.

Über ihnen ruhten die Blätter des Ventilators unbewegt in der heißen, stickigen Luft, während die alten öligen Herdplatten die Temperatur in dem kleinen Raum in unbarmherzige Höhen trieb.

»Schickt der Chef jemanden, der das Ding endlich repariert?«, fragte Lisa den Koch, während ihr Finger müde auf den Ventilator zeigte.

Seine einzige Antwort blieb ein abfälliges, beinahe verzweifeltes Lachen.

Ihr derzeitiger Chef wusste, dass niemand von ihnen einfach den Arbeitsplatz verlassen würde.

Gab ihnen genau deswegen einen Arbeitsplatz.

Sie zog einen der kleinen Eiswürfelbeutel von ihrem Gürtel und warf ihn dem Koch zu, der das Stoffsäckchen geschickt mit einer Hand aus der Luft fischte und es erst in den Nacken und dann gegen die Stirn presste.

»Danke. Ich schulde dir was«, hörte sie ihn erfreut ausrufen, während sie bereits den zweiten der kleinen Säcke hervorholte und sich selbst ein wenig kühlte.

Vorne, an der Durchreiche, ertönte das Klingeln, das ihnen einen neuen Auftrag ankündigte und sie beide rollten mit den Augen.

»Können sie uns nicht einmal zwei Minuten lang in Ruhe lassen?«, fragte Lisa gereizt, erntete dafür aber nur ein Achselzucken ihres Mitarbeiters.

Weiterhin den Kopf schüttelnd trat sie vor den Sichtschutz und holte den Zettel mit den darauf notierten Nummern und Notizen ab. Wie viele Menschen waren gerade im Gastraum?

Von den sechs alten, schäbigen Tischen waren immerhin vier besetzt. Nicht gerade rosige Aussichten für einen frühen Feierabend, dachte sie geknickt.

Etwas an dem Anblick ließ sie dennoch innehalten.

Der Boden war von ihr vor wenigen Stunden gewischt worden, die dekorativen Plastikpflanzen, Salz- und Pfefferstreuerstanden an ihren angestammten Plätzen. Sogar diese ekelhaften Neonröhren an der Decke waren vor wenigen Tagen ersetzt worden und erstrahlten jetzt in frischer Stärke. Warum nagte dann so ein seltsam bedrückendes Gefühl an ihr?

Nein, nicht mit dem Raum, sondern mit den Menschen hier stimmte etwas nicht. Sie sah genauer hin. Zwei Stammgäste, eine sechsköpfige Familie und ein Mann, der mit dem Rücken zur Küche saß und einen Kugelschreiber in der Hand hielt, während er mit der Kellnerin sprach, befanden sich im Raum.

Die ihr vertrauten Stammkunden tranken das übliche Bier. Die Familie schien auf der Durchreise zu sein; die Eltern sahen müde aus und wirkten glücklich, einen Ort gefunden zu haben, an dem ihre aufgedrehten Kinder niemanden störten. Aber wer war der einzelne Mann?

Die Dunkelheit draußen machte die Glasfront des Speiseraumes zu einem einzigen Spiegel, und Lisa konnte den Unbekannten heimlich mustern. Ihr Blick wanderte von den Füßen, die altbekannte, schwere Lederstiefel trugen, über die Jeans, die stets von der gleichen Marke waren, weiter über die Jacke, welche er seit Jahrzehnten trug und selbst flickte, bis hinauf zu seinem Kopf. Er besaß die gleiche hellbraune Haarfarbe wie Lisa, obwohl sich das Grau einiger Strähnen bereits darin zeigte. Sein nach unten gesenktes Gesicht wies den gleichen sonnengebräunten Hautton auf wie vor Jahren. Und wenn er aufsähe, könnte sie mit Sicherheit in die gleichen Augen blicken, die ihr aus jedem normalen Spiegel entgegen starrten.

Merkmale, die von ihm stammten.

Angst schnürte ihre Brust ein, ließ sie trotz der Hitze zittern und nach Halt greifen, während sie hilflos dabei zusah, wie die Kellnerin Mischa in Richtung Küche zeigte.

Nein, schrie Lisa innerlich, versuchte, ihrer Kollegin irgendwie klarzumachen, dass sie ihn keinesfalls hierhin weisen durfte, aber es war zu spät.

Sein Kopf wandte sich bereits und Lisas Beine gaben nach.

Bitte. Bitte lass das nicht wahr sein, brüllte sie in Gedanken, als ihre Knie hart auf dem Fliesenboden aufschlugen, lass ihn mich nicht sehen!

Sie hörte die Schritte ihrer Kollegin aus dem Speisesaal, während ihr Herz versuchte, aus ihrer Brust zu springen.

Die Kellnerin kam näher und stürmte durch die kleine Tür neben der Durchreiche.

»Lisa? Was ist los?«

»Nein, nein«, murmelte sie nur. Ein Kloß in ihrem Hals hielt sie vom weiteren Sprechen ab.

Wie hatte er sie gefunden? Nein. Es war unmöglich. Er durfte, konnte nicht wirklich hier sein.

Sie spürte, wie die andere Frau ihr unter die Arme griff und sie hochzog.

»Komm! Setz’ dich kurz hin. Es ist verdammt heiß hier drinnen.«

Schwach versuchte sie, die helfenden Hände abzuschütteln, aber die Kellnerin ließ nicht locker. Mischas besorgter Blick lag auf ihr, während sie ihr behutsam dabei half, einen Weg aus dem Blickfeld der Gäste zu finden.

Ihr Körper fühlte sich taub, kraftlos an. Ihre Beine schienen nun nicht mehr ein Teil von ihr selbst zu sein und knickten immer wieder ein. Die Welt wirbelte weiterhin vor ihren Augen und sie verlor jegliche Orientierung.

In ihrem Kopf herrschte vollkommenes Chaos, obwohl sie sich seit Jahren auf diesen einen Moment vorbereitet hatte.

Wie war er ihr auf die Spur gekommen? Trotz ihrer Vorsicht. Jemand musste sie verraten haben.

»Komm schon, hilf’ mir ein wenig«, zischte die Kellnerin in ihr Ohr, zerrte an ihr, während Lisas Beine ihr noch immer nicht gehorchen wollten.

Angst lähmte ihren Körper und ihr Verstand weigerte sich noch immer, das Gesehene zu begreifen.

Dort im Gastraum saß er!

Es konnte eigentlich nur einen einzigen Grund geben, warum er jetzt dort, in genau diesem Gastraum saß …

Sie musste es wissen. Musste herausfinden, ob ihr der Verstand nur einen üblen Streich spielte.

Ohne ihre Helferin zu warnen, stützte sich Lisa plötzlich vom Boden ab und stand abrupt auf, wobei sie die Kellnerin beinahe aus der Balance brachte.

Alles um sie herum ignorierend rannte sie zurück zur Durchreiche.

Im Speiseraum saßen die zwei Stammgäste und die Familie, acht Augenpaare schauten verwirrt in ihre Richtung.

Der Stuhl des Mannes erschien nun leer, unbesetzt.

Auf seinem Tisch lagen nur ein Geldschein und ein kleiner, weißer Zettel.

Aus der Entfernung konnte sie nichts entziffern, aber das bedeutete nichts Gutes. Ganz sicher nicht.

2

 

Lisa saß auf dem kleinen Hocker, mit dem Rücken an die Wand gelehnt, presste ein nasskaltes Stück Stoff gegen ihre überhitzte Stirn und versuchte, sich wieder unter Kontrolle zu bekommen.

Neben ihr stand die ein wenig gereizte Kellnerin mit einem Umschlag in der Hand und fächerte Lisa Luft zu.

»Bleib so«, sagte ihre Kollegin im Befehlston, »Niko kann sich alleine um die Küche kümmern. Der Gast ist verschwunden, also ist seine Bestellung hinfällig.«

Langsam zog Lisa das feuchte Tuch von ihrer Stirn und blickte die Frau an, die weiterhin besorgt auf sie herabsah. Trotz allem zeigte sich ein leichtes Lächeln auf ihrem Gesicht. »Wenn du willst, kann ich gerne den Arzt rufen«, bot Mischa ihr an, aber Lisa schüttelte nur den Kopf.

Das wichtigste, ungeschriebene Gesetz hier: Keine Rettung, keine Polizei.

Jeder Einzelne von ihnen scheute die Behörden.

Manche, wie Niko, der Koch, weil sie keine Aufenthaltsgenehmigung vorweisen konnten, andere, wie Lisa, weil sie weder Pass noch sonst einen Ausweis besaßen.

Sogar Mischa befand sich auf der Flucht vor etwas oder jemandem, auch wenn sie nie darüber sprach.

Sie alle hüteten ihre Geheimnisse und waren froh, ihre Vergangenheit stillschweigend im Dunkeln lassen zu können.

»Der Mann, der dort gesessen war, ist fort«, hörte sie die Kellnerin noch einmal sagen und nickte.

Ja, er hatte bereits gefunden, was er suchte.

Lisa wusste genau, dass er sie in der spiegelnden Fensterfläche gesehen hatte. Mit seinem plötzlichen Verschwinden wollte er nur verhindern, ein größeres Aufsehen zu erregen, aber irgendwo dort draußen würde er auf sie warten. Ihr auflauern.

Und was dann geschähe, wusste sie ebenfalls.

Ein Schauer lief ihr bei diesen Gedanken den Rücken hinab und ließ sie die unausstehliche Hitze vollkommen vergessen.

»Wir werden dich vermissen.« Mischa lächelte wissend, als sie diese Worte sprach und strich der Sitzenden dabei sanft über die Schulter. »Wenn es irgendetwas gibt, was ich für dich tun kann …«

Lisas Verstand raste. Wie oft war sie genau diese Situation in ihrem Kopf durchgegangen? Hatte schlaflose Nächte damit verbracht, es sich auszumalen, aber nun fühlte sie sich vollkommen verunsichert.

Dies stellte das Ende ihres Lebens in diesem Laden dar. Sie musste alle Zelte abbrechen, alles hinter sich lassen.

 

*

 

Was brauchte sie nun am dringendsten?

Geld.

Ihre Kleidung lag noch in ihrer Wohnung, aber wenn er bereits wusste, wo sie arbeitete, dann durfte sie auch nicht mehr in die Wohngemeinschaft zurück.

Sie würde sich eine neue Garderobe zulegen. Später.

»Geld«, flüsterte Lisa schlussendlich und sah, wie die Frau vor ihr sofort die große, schwarze Geldtasche von ihrer Hüfte löste.

»Es ist der Siebzehnte. Du hast vierzehn Tage gearbeitet, also hier.«

Die Kellnerin überreichte ihr ein Bündel Geldscheine.

Mit einem schwachen Lächeln auf den Lippen nahm Lisa es dankbar entgegen.

Ein Scheißlohn, aber im Moment gab es schlimmere Dinge.

Ihr blieb weder Zeit noch Gelegenheit, um nachzuzählen. Also hoffte sie, dass ihre Kollegin es gut mit ihr meinte. Den Rest ihres Gehaltes würde sich der Chef wohl unter den Nagel reißen, aber im Moment musste sie sich auf andere Dinge konzentrieren.

»Danke«, murmelte sie nur, während ihr Verstand bereits ihre Flucht plante.

Wie lange würde sie mit dem Geld dieses Mal auskommen?

Wenn sie wieder auf der Straße schlief, versuchte, so sparsam wie möglich zu sein …

Ein paar Wochen, vielleicht mehr.

Und solche Arbeitsplätze wie diesen hier gab es in jeder Stadt. Zumindest, solange man wusste, wo man sie findet.

Einen Moment lang hielt Lisa inne. Die Menschen hier, ihre Kollegen, würde sie vermissen. Es war das erste Mal gewesen, dass sie sich wie ein eigenständiger Mensch gefühlt hatte.

Lisa versuchte aufzustehen, aber die Hand ihrer Kollegin hielt sie erneut zurück.

»Bleib noch ein wenig«, befahl sie. »Wenn du jetzt hinausläufst und draußen zusammenbrichst, dann bekommen wir alle hier Probleme.«

Ihre Blicke trafen sich und einen Moment lang beschlich sie das Gefühl, dass Mischa sie abschätzend musterte.

Nein, da lag noch etwas anderes in ihrem Ausdruck, etwas Berechnendes. Irgendetwas lief hier falsch. Alarmglocken schrillten in ihrem Kopf. Oder bildete sie es sich nur ein?

»Bleib noch ein paar Minuten sitzen und sobald du wieder sicher stehen kannst, bringe ich dich hinaus. Versprochen.«

Unsicher studierte Lisa jede Muskelbewegung im Gesicht der Anderen.

Da, ein kurzes Zucken. Ihre Kollegin wirkte angespannt, nervös, ließ den Blick abschweifen.

Lag es an der langen Arbeitszeit, der Hitze, oder versuchte die Frau, irgendetwas vor ihr zu verbergen?

»Ich kann schon wieder aufstehen, Mischa«, versprach sie, stemmte sich in die Höhe, aber ihre Kollegin hielt sie weiterhin zurück.

»Du bist vorhin zusammengebrochen. Wenn du jetzt versuchst, abzuhauen, dann glaubt noch jemand, du wärst krank. Nicht auszudenken, was passiert, wenn einer der Gäste die Gesundheitsbehörde alarmiert …«

Mit Nachdruck schob Lisa Mischas Hand zur Seite und erhob sich. Sie fühlte sich in ihrem Verdacht bestätigt, dass etwas an der ganzen Aktion nicht stimmte, denn so etwas interessierte hier sonst niemanden.

Wieder auf Augenhöhe mit ihrer Kollegin sah sie deren Blick nun deutlicher. Sorge lag darin, aber sicher nicht ihretwegen, denn da blitzte noch etwas anderes mit durch: Gier.

»Mischa, geh’ mir aus dem Weg«, flüsterte sie drohend und sah, wie die Kellnerin beschwichtigend die Hände hob.

»Wie du willst. Aber nimm die Hintertür, wir wollen hier keine Szene haben.«

Lisa versuchte, sich ihre Schwäche nicht anmerken zu lassen, steckte hastig das Geldbündel in ihre Seitentasche und stapfte an ihrer Kollegin vorbei in Richtung Küche.

Ihr Blick fiel auf Niko, der gerade ein Getränk aus einem der Zapfhähne ließ, und nun besorgt aufsah.

Wusste er wirklich von nichts? Oder verstellte er sich einfach nur besser als ihre Kollegin?

»Sie muss los«, hörte sie Mischa nur wenige Zentimeter hinter sich drängen. Weiterhin folgte ihr die Kellnerin auf Schritt und Tritt.

Niko zog die Stirn kraus.

»Wohin?«

»Weg von hier«, antwortete Lisa kurz angebunden und schnitt ihrer Verfolgerin damit das Wort ab.

Sie sah, wie er betrübt den Kopf schüttelte, aber dann sogleich ein schwaches Lächeln aufsetzte und ihr den Weg freigab.

»Es war schön, dich kennengelernt zu haben, Lisa«, sagte er, beinahe traurig, und Lisa hielt einen Moment lang inne.

Ihr Blick fiel noch einmal auf das Thermometer an der Wand. Immer noch neununddreißig Grad in der Küche.

Der Mann vor ihr schwitzte ordentlich. Hitze oder Schuld? Vielleicht Nervosität?

Nein. Er wusste von nichts. Oder etwa doch?

In ihren Gedanken verdächtigte sie jeden einzelnen Menschen, den sie sah, analysierte jede noch so kleine Geste.

Sie ließ den Koch stehen, setzte sich wieder in Bewegung und konzentrierte sich ganz auf die Frau, die ihr weiterhin an den Fersen klebte.

Sollte die Kellnerin nicht bereits zurück im Gastraum sein? Sich um die verbliebenen Gäste kümmern?

Beinahe jede Woche flüchtete jemand von hier, und niemand bekam dabei so eine Verabschiedung. Nein, irgendetwas passte hier ganz und gar nicht.

Lisas Hand ruhte auf der Türklinke des Ausgangs, der in den Hinterhof führte, als sie Mischas Finger auf ihrer Schulter spürte.

Ihr Verstand schlug sofort Alarm. Mach’sie nicht auf!, warnte er sie, diese Tür ist nur von innen zu öffnen.

Dahinter würde er auf sie warten.

Lisa sah ihn in Gedanken bereits deutlich vor sich.

Breit grinsend, ohne Humor, ohne Mitgefühl, sein eiskalter Blick auf sie gerichtet.

In dem Moment, in dem die Tür aufging, würde Lisas Kollegin ihr einen Stoß versetzen und danach den Eingang hinter ihr verschließen, ihr jeglichen Ausweg nehmen.

Mischa arbeitete mit ihm zusammen! Welchen Wert besaß ihr Leben? Ein paar hundert Euro? Sicher nicht mehr.

Ohne zu zögern wirbelte Lisa herum und rannte in die andere Richtung.

Mit ihrer Schulter stieß sie die Kellnerin gegen die Kühlschranktür, bevor diese überhaupt Zeit fand zu reagieren.

In ihren Ohren rauschte das Blut, als sie auf den Durchgang zustürmte. Dennoch hörte sie deutlich, wie jemand mit lautem Knall die Hintertür aufriss.

»Sie läuft zum Vordereingang!«, schrie Mischa hinaus in die Nacht und schwere Stiefel nahmen die Verfolgung auf.

3

 

Besorgte Gesichter starrten ihr entgegen, als sie durch die Durchgangstür preschte und dem Tisch, an dem die Familie saß, auswich.

Ihre Blicke folgten ihr, sie mussten die Angst, die in Lisa tobte, doch sehen! Aber keiner der Gäste machte irgendeine Anstalt, ihr zu helfen. Sie war vollkommen auf sich alleine gestellt.

Da, nur wenige Meter vor ihr, lag die gläserne Eingangstür. Einen Moment lang beschlich sie die Furcht, dass sie abgesperrt sein würde. Ein übler Scherz ihres Verstandes, versicherte sich Lisa, denn solange normale Gäste hier waren, würde niemand sie verriegeln.

So gut es ging, ignorierte sie die Blicke der anderen Gäste. Versuchte, hinter sich die schweren Stiefeltritte zu hören, während sie nach der Klinke griff.

Nein, keinerlei Trittgeräusche drangen aus der Küche zu ihr. Er befand sich, im Augenblick zumindest, nicht mit ihr im Restaurant.

Vermutlich umrundete er das Gebäude. Wie viel Vorsprung brachte ihr das? Nicht allzu viel, ein paar Sekunden, höchstens.

In Gedanken fluchend biss sie die Zähne zusammen, als sie die Eingangstür endgültig aufstieß und ihr der warme Luftstoß entgegenwehte. Im Vergleich zur Temperatur in der Küche fühlte es sich wie die reinste Erholung an, aber Lisa schwitzte trotzdem, wenn auch vor Angst.

Hinter ihr schlug die Tür des Vordereinganges zu, während sie sich gehetzt umsah und auf ihre Umgebung lauschte.

Es gab nur sie selbst und die Schritte ihres Verfolgers, die durch die halbleeren Straßen hallten.

Vor sich sah sie den Gehsteig, an dem die kleine Gaststätte zwischen den Gebäuden der Altstadt lag.

Umrundete er das Restaurant von rechts oder links?

Die engen Gassen, die das Gebäude hinter ihr umgaben, erzeugten ein Echo, das ihn von allen Seiten auf sie zukommen ließ.

Lisas Turnschuhe stießen die Fußmatte zur Seite, als sie in die Nacht eintauchte, und den Splitt, der hier überall herumlag, durch die Gegend schoss.

Egal. Sie rannte geradeaus. Irgendwohin, wo Menschen waren. Würde sich in der Menge verstecken, bevor er zu ihr aufschloss.

Nur vereinzelt fuhren Autos die Straße entlang, als Lisa weiterlief und nun hinter sich eindeutig die Schritte ihres Verfolgers über den Asphalt sprinten hörte.

Nicht umdrehen, befahl sie sich in Gedanken, denn sein bloßer Anblick würde sie endgültig in Panik versetzen.

Das wäre ihr Ende.

Er liebte die Jagd, erinnerte sie sich.

Wenn sie sich wie ein aufgescheuchtes Reh benahm, dann würde sie nicht weit kommen.

Lisa erreichte den gegenüberliegenden Gehsteig, bevor der nächste Autoscheinwerfer auf sie fiel, und wandte sich nach rechts.

Die Umgebung vor ihr wirkte menschenleer. Hier gab es kein Versteck für sie.

Weg von den Seitenstraßen! schrie ihr Instinkt, lauf in Richtung Stadtzentrum!

Ohne langsamer zu werden, rannte sie weiter, versuchte, einen Ausweg zu finden. Nur einen einzigen Augenblick lang sah sie zurück, erblickte seinen Schatten, der soeben auf die Straße hinter ihr fiel. Schon ganz nahe.

Lisas Beine flogen über den Gehsteig, während sie hektisch in jede Gasse sah. Wie riskant wäre es, sich dort zu verstecken?

Nein! Viel zu gefährlich, warnte sie ihr Verstand.

Bilder tauchten vor ihrem inneren Auge auf.

Eine Sackgasse. Eine Falle. Endstation.

Lisa schüttelte den Gedanken so schnell, wie er aufgetaucht war, wieder ab und zwang sich zurück in die Gegenwart.

Vor sich sah sie die Ampelanlage der nächsten Kreuzung.

Ein grüner Pfeil, der nach links zeigte.

Wenn ihr Verfolger den Gehsteig hinter ihr erreichte, musste sie verschwunden sein. Die Schritte hallten bereits vom glatten Straßenasphalt wider, als Lisa auf die Ampel zu rannte und beinahe mit einem jungen Pärchen zusammenstieß.

»Hey!«, hörte sie den Mann wütend schreien, »Pass’ gefälligst auf, wo du hinläufst!«

Sie ignorierte ihn, versuchte, auf den Beinen zu bleiben, während sie stolpernd auswich. Da, direkt vor ihr, befand sich die Hauskante. Ihre Chance, aus seinem Blickfeld zu entkommen.

Jetzt nicht langsamer werden! Gas geben!

Lisas Fingerspitzen berührten kurz den Boden, als sie erneut beschleunigte und um dieEcke raste.

Weitere Beleidigungen, die ihr hinterherhallten, trafen auf taube Ohren. Es ließ sie kalt, was die Leute von ihr dachten. Sie musste weg, weg von ihm.

Hinter sich hörte sie seine Schritte, näher als zuvor.

Nur noch wenige Meter, schrie es in ihr.

Sie sprintete an geparkten Autos und angeketteten Fahrrädern vorbei. An Menschen, die sie mit aufgerissenen Augen anstarrten, aber niemand trat ihr in den Weg.

Niemand hinderte sie bei ihrer Flucht, aber ebenso würde ihr niemand helfen.

Lisas Puls raste, während weit hinter ihr erneut ein Schrei ertönte.

Der Mann, der sie zuvor beleidigt hatte, war wohl mit ihrem Verfolger zusammengeprallt und verschaffte ihr so ungewollt ein paar weitere Sekunden.

Vor sich sah Lisa das neonerleuchtete Schild einer Bar.

Limbus, las sie in Gedanken und schüttelte verzweifelt den Kopf. Hoffentlich kein schlechtes Omen.

Sie wog ihre Chancen ab. Hinein, sich dort verstecken? Weiterlaufen? Wie lange noch, bevor ihr die Luft ausginge?

In ihrer linken Seite spürte sie bereits den Anfang eines Stechens. Lange würde sie dieses Tempo nicht mehr durchhalten. Ihr blieb keine andere Wahl, als es zu riskieren.

Außer Atem hastete sie auf den Türsteher zu, der vor dem Eingang auf einem Schemel saß und sie nur desinteressiert anblickte.

Ohne abzuwarten, ob er etwas sagen würde, rannte sie an ihm vorbei und riss die Tür auf. Schwach beleuchtete Stiegen führten hinab ins Kellergewölbe und Lisa nahm immer drei Stufen auf einmal.

In ihren Ohren mischte sich der Lärm des Lokals mit dem Rauschen ihres Blutes, als sie durch eine Schwingtür stieß und sich panisch in dem Raum umsah.

Die Bar war zur Hälfte mit Menschen jeglichen Alters gefüllt, aber nur wenige von ihnen drehten sich nach ihr um, als sie sich vollkommen außer Atem in ihre Mitte drängte.

Ihre Augen durchsuchten das Halbdunkel, suchten eine Nische, die ihr Schutz bieten würde, sahen jedoch nur Stehtische, eine offene Sitzecke und den Tresen.

Dahinter gab es eine Tür, auf der mit Leuchtfarbe das Toiletten-Symbol prangte.

Nein! warnte sie ihr Instinkt.

Von dort aus würde sie nicht mehr entkommen. Diese Bar lag unter der Erde. Sogar, wenn es Fenster gäbe, wären sie zugesperrt oder vergittert.

Wertvolle Zeit verging, während ihr Verstand weiter verzweifelt nach einem Ausweg suchte.

Ein lauter Schrei von oben ließ Lisa zusammenzucken.

Der Türsteher jaulte vor Schmerzen auf. Ihr Verfolger befand sich bereits hier!

Verdammt. Die Zeit lief ihr davon. Sie saß in der Falle.

Erneut suchten ihre Augen den gesamten Raum ab. Nur wenige Schritte von ihr entfernt sah sie eine Gruppe von Menschen an einem der Tische sitzen, die sich angeregt miteinander unterhielten. In dem schwachen Licht ließ sich ihr Alter kaum einschätzen, aber Lisa blieb keine andere Wahl.

So schnell sie konnte, durchquerte sie die Bar und setzte sich prompt zwischen zwei Frauen an den Tisch.

Sie versuchte, die entgeisterten Blicke zu ignorieren.

»Bitte«, zischte Lisa mitten in das Gespräch der Leute hinein.

Hoffte, der Gruppe, in der sie sich nun befand, alleine durch ihren Gesichtsausdruck erklären zu können, in welcher Gefahr sie schwebte.

Hinter sich hörte sie die schweren Stiefel des Mannes die Stufen hinabkommen.

»Bitte«, wiederholte sie noch einmal, doch sie sah in den Gesichtern um sich herum Unsicherheit.

Eine fremde Hand legte sich auf ihre Schulter und die Frau zu ihrer Linken schob ihr ein Glas zu.

Das verdutzte Schweigen hielt nicht lange an, als jemand zu ihrer Rechten die Unterhaltung fortsetzte, als ob es keine Unterbrechung gegeben hätte.

Ruhig weiteratmen, nicht umdrehen, tu so, als ob du hierher gehören würdest. Aber so oft sie auch dieses Mantra innerlich wiederholte, es half nur wenig. Lisas Herzschlag übertönte das Gespräch vollkommen. Wie eine Verrückte zitternd, saß sie da, ließ ihre verkrampften Schultern sinken, um möglichst unscheinbar zu wirken.

Langsam stiegen die Erinnerungen in ihr hoch.

Das Zimmer. Der Brunnen. Papa.

Schmerzhaft krampfte sich ihr Magen zusammen, als ihr Verfolger im Barraum ankam. Sie spürte, wie sein Blick aufmerksam von Mensch zu Mensch wanderte.

Komm’ nicht hierher!, beschwor sie ihn stumm.

Nur dunkel sah sie sein Spiegelbild in einer der Flaschen am Tisch.

Er bewegte sich nicht. Verharrte an Ort und Stelle, während er sich umblickte.

Lisa hielt weiterhin den Atem an, während ihre Augen jene des jugendlich aussehenden Mannes, der ihr gegenüber saß, trafen.

Einen Moment lang glaubte sie zu wissen, dass er sie verraten würde. Ihrem Vater gleich ein Zeichen gäbe. Aber er reckte nur den Hals, sah nach oben in Richtung Decke und lachte laut und schallend auf.

Um sie herum stimmten die einzelnen Mitglieder der Gruppe in das Gelächter ein und Lisas Atem setzte kurz aus. Sie konnte sich den eisigen Blick ihres Vaters vorstellen, mit dem er jetzt in Richtung Sitzecke blickte. Was würde er gerade sehen? Eine Runde Jugendlicher, die sich amüsierte?

Oder seine Tochter, die versuchte, sich vor ihm zu verstecken?

Sogar über die dröhnende Musik hinweg hörte sie, wie sich seine Stiefel erneut in Bewegung setzten.

Ihr Herz blieb einen Moment lang stehen.

Die Schritte entfernten sich. Durchquerten die Bar.

Hielten auf die Tür am anderen Ende des Raumes zu. Dort, wo die Toiletten lagen.

Noch nie zuvor war sie so froh gewesen, sich richtig entschieden zu haben. Nein, das stimmte nicht.

Vor einiger Zeit, damals, in dem Brunnen …

Sofort zwang sie sich dazu, den Gedanken zu unterdrücken. Sie durfte jetzt nicht in alten Erinnerungen schwelgen, musste wachsam bleiben.

Alle Augenpaare der Gruppe folgten nun dem Mann, der nach ihr suchte. Niemand sprach ein Wort, aber die unbekannten Barbesucher hatten ihr das Leben gerettet.

Lisa hörte die Tür zu den Toiletten aufgehen und wagte einen vorsichtigen Blick.

Grelles Licht fiel in den Raum, als der Mann die Toilettentür öffnete und hindurchtrat.

Lisa löste sich aus der Umarmung der Frau neben ihr und versuchte, ja kein verräterisches Geräusch zu erzeugen, während sie aufstand.

»Danke«, murmelte sie eindringlich und bedachte die Gruppe mit einem traurigen Blick. Neben ihr setzte eine der Frauen dazu an, ihr etwas zu sagen, aber Lisa wollte keine weitere Zeit verlieren.

Eine Chance tat sich vor ihr auf. Sie musste sie nutzen, fliehen, bevor er zurückkam.

Ohne weiter zuzuhören, drehte sie sich um und rannte in Richtung der Schwingtür. Im gleichen Tempo wie zuvor nahm sie nun die Stufen aufwärts, hörte ein letztes Mal auf die Geräusche unter sich. Kein Geschrei, ihre Flucht blieb unbemerkt. Lisa sprintete los.

Sie stieß die Eingangstür auf und stolperte sogleich über den Türsteher, der vor der Bar lag und sich vor Schmerzen am Boden rollte. Die Brandwunde an seinem Hals wirkte ebenso vertraut wie der Schaum, der sich vor seinem Mund bildete.

Das, und noch Schlimmeres, stand ihr bevor, wenn er sie in die Finger bekäme. Lisa erschauderte.

Nein. Sie würde nicht wieder zurückkehren. Ihr Leben gehörte nun ihr allein.

Vor sich sah sie das gelbe Schild eines Taxis, das in die Straße vor der Bar einbog und preschte darauf zu.

Ohne einen Moment abzuwarten, riss sie die Beifahrertür auf und brüllte den Mann im Auto an, weiterzufahren, bevor die Räder überhaupt anhielten.

Ihre Panik schien ansteckend zu sein. Gummi quietschte bereits über den Asphalt, ehe sie auch nur die Beifahrertür hinter sich zugezogen hatte. Angsterfüllt spähte Lisa zurück, sah, wie die Tür des Lokals aufschwang, aber das Auto nahm endlich Fahrt auf und schoss die Straße hinab.

Er starrte ihr nach. Winkte. Trug genau jenen Gesichtsausdruck, der sie bis in ihre Albträume verfolgte.

»Wir sehen uns bald wieder«, schien er zu sagen.

4

 

»Bahnhof«, krächzte sie zwischen zwei schweren Atemzügen.

In ihrem Kopf überschlugen sich die Gedanken. Raus aus dieser Stadt, weg von den Menschen hier. Weg von ihm.

Nur, wohin? Gab es überhaupt eine Möglichkeit, ihm endgültig zu entkommen?

Er hatte das Kennzeichen gesehen, wie lange würde es dann dauern, bis er die Spur wieder aufnahm?

Mit etwas Glück ein paar Stunden. Viel Zeit blieb ihr auf jeden Fall nicht. Lisa versuchte, ihre Atmung zu beruhigen, während sie die besorgten Blicke des Taxifahrers ignorierte.

Ihre Gedanken wanderten zurück zu dem Türsteher am Boden.

Die Anzeichen eines Elektroschockers leuchtend auf seinem Hals, dazu der Schaum vor dem Mund. Papas Wut hinterließ ihre Spuren und Lisa wusste nur allzu genau, wer daran Schuld trug.

Nein!, schrie es in ihr. Verwende. Nicht. Dieses. Wort.

Sie hasste es. Es kam von ihm. Blieb sein Ausdruck.

Die beinahe gottgleiche Gestalt, die sie als Kind so geliebt und gefürchtet hatte. Aber das lag lange zurück.

Sie gehörte nicht mehr ihm. Seit zwei Jahren bereits nicht mehr. Zumindest hatte sie sich das bis jetzt eingeredet.

Vor zwei Jahren war sie ihm entkommen. Es schien eine Ewigkeit her zu sein. Ohne Geld, ohne Ausweis, beinahe ohne Bildung. Wenn sie damals nicht so stark gewesen wäre, wäre sie längst verhungert oder erfroren.

Aber Lisa hatte nicht aufgegeben und sich ein eigenes Leben geschaffen. Nur, um nicht mehr zu ihm zurückkehren zu müssen.

Und nun tauchte er wieder auf. Zerstörte ihre neue Existenz.

Was wollte er hier? Sie. Sein Ziel war, sie heimzuholen.

Er hatte die Farm nur selten verlassen, damals zumindest.

Wie oft war sie nachts wach gelegen und hatte sich, um in Ruhe einzuschlafen, eingeredet, dass etwas ihn an den Ort fesselte? Zu oft. Viel, viel zu oft.

Wenn er nun wegen ihr hier auftauchte, dann würde er sie so lange jagen, bis sie aufgab.

Lieber wäre sie tot, als noch einmal zu der Farm zurückzukehren. So grausam es auch klang, dieser letzte Schritt wäre ein Weg, wie ihr Vater sie nie wieder in die Hände bekommen könnte.

Nein. Er war kein guter Mensch und erst recht kein Gott. Aber wieso sagte ihr dann ihr Instinkt, dass er bereits am Bahnhof auf sie wartete? Es beschlich sie das gleiche, beunruhigende Gefühl wie vor der Hintertür des Restaurants, die sie beinahe geöffnet hätte.

Lisa zog ihr Handy hervor und sah auf die Uhr. 21:44.

Hoffentlich wartete bereits ein Zug, um sie aus der Stadt zu bringen.

Das Taxi bog in die Straße vor dem Bahnhofsgebäude ein und sie sah, wie der Fahrer ihr immer öfter Seitenblicke zuwarf.

Vermutlich befürchtete er, dass sie hinausspringen und davonlaufen würde. Um ihn zu beruhigen und ihren zitternden Händen eine Aufgabe zu geben, zog sie die Geldscheine hervor und zählte sie noch einmal nach.

»Verdammt«, zischte sie zwischen ihren Zähnen hindurch und bemerkte wieder den besorgten Blick des Mannes.

Das Bündel Geldscheine, das sie nun in der Hand hielt, erwies sich als bedeutend kleiner als zuerst gedacht.

»Verdammt, Mischa«, entfuhr es ihr. Ihre Kollegin hatte ihr nicht einmal zweihundert Euro überlassen. Der Lohn für einen halben Monat harter Arbeit …

Einhundertneunzig Euro, um genau zu sein.

So sah eben der Preis aus, den man dafür bezahlte, dass man Menschen blind vertraute, tadelte sie sich in Gedanken selbst.

Beim Anblick der Scheine entspannte sich zumindest der Taxifahrer sichtbar, auch wenn Lisa am liebsten losgeschrien hätte. Zehn Euro für das Taxi. Wie viel kostete das Zugticket? Ihr Plan löste sich vor ihren Augen in Luft auf. Egal, wohin sie floh, zumindest etwas Geld brauchte sie, um Essen zu kaufen.

Abrupt hielt das Fahrzeug an und Lisa reichte dem Mann schnell einen Schein, bevor sie, ohne sich noch einmal umzudrehen, ausstieg und sich dem Bahnhofsgebäude zuwandte.

Ihr Instinkt riet ihr, wegzulaufen. Das Gebäude wirkte zu offen, zu gut ausgeleuchtet und besaß eine Glasfront.

---ENDE DER LESEPROBE---