Sünder - Robert Klotz - E-Book

Sünder E-Book

Robert Klotz

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Beschreibung

Auf der ganzen Welt werden Geistliche Opfer von brutalen Anschlägen. Um sich ein Bild von den Umständen zu machen, wird Markus, Assistent eines hohen Kardinals, nach Deutschland geschickt und findet sich schnell selbst in der Schusslinie wieder. Zusammen mit anderen Überlebenden beginnt für ihn ein Spießrutenlauf, bei dem nur eine Regel existiert: Was auch immer du tust, bleib im Licht!

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Ähnliche


Robert Klotz

Sünder

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

Kapitel 55

Kapitel 56

Kapitel 57

Kapitel 58

Kapitel 59

Kapitel 60

Kapitel 61

Kapitel 62

Kapitel 63

Kapitel 64

Kapitel 65

Kapitel 66

Kapitel 67

Kapitel 68

Kapitel 69

Kapitel 70

Kapitel 71

Kapitel 72

Kapitel 73

Kapitel 74

Kapitel 75

Kapitel 76

Kapitel 77

Kapitel 78

Kapitel 79

Impressum neobooks

Kapitel 1

„Genau so. So ist’s brav.“

Die alte, seit Jahren gebrechlich wirkende Stimme hatte einen Tonfall der Belustigung angenommen. Vergnügt schaute der alte Mann hinunter auf das weiße Fleisch und die sich nun langsam abzeichnenden, roten Linien.

Der Gürtel, den der Mann in seiner Hand hielt, war schon seit Jahren sein treuer Begleiter. Stets dabei, wenn er der Jugend wieder einmal Respekt und Manieren beibringen musste. Heute, an diesem Frühlingsabend, war wieder so eine Gelegenheit zutage getreten.

Johann, einem der jüngsten Messdiener, mussten mal wieder die Grenzen aufgezeigt werden. Er hatte es gewagt, ihm zu widersprechen, und das war eine der schwersten Sünden, die man in diesem Alter begehen konnte.

Das Kind hatte aufgehört zu weinen und schluchzte nur noch leise vor sich hin, während die Striemen immer definierter wurden.

Zufrieden mit seinem Werk ließ sich der alte Mann zurück in seinen großen Ledersessel fallen und nahm eine der Zigaretten aus seinem persönlich gravierten Etui. Auch Johann begann sich wieder zu bewegen und machte Anstalten, vom Tisch zu rutschen, was ihm aber einen weiteren Hieb, diesmal mit der Gürtelschnalle, einbrachte.

„Du bewegst dich erst, wenn ich es dir erlaube!“, herrschte ihn er ihn an und der Junge erstarrte.

Er zog gemütlich an seiner Zigarette, in Erinnerungen schwelgend, aber immer noch wachsam, gespannt auf den nächsten Ungehorsam lauernd.

Johann sollte froh sein, ihn erst mit 84 Jahren kennengelernt zu haben. Wenn ihm dieser Bengel vor nur zehn Jahren unter die Finger gekommen wäre …

Es war nicht nötig, jetzt an solche Dinge zu denken. Er hatte seit Jahren schon keine körperliche Lust mehr verspürt, aber dieser Anblick verschaffte ihm immer noch eine gewisse Befriedigung.

Nach der heutigen Sitzung, und da war er sich sicher, würde er keine Probleme mehr mit dem Kind haben. Seine Mutter, eine dieser liberalen „Kindesverzieher“, wie er sie nannte, würde auch nicht mehr ungefragt bei ihm auftauchen.

„Und wenn doch?“, fragte die kleine Stimme in seinem Kopf.

Wenn doch … das war ein Problem für eine andere Zeit. Gott würde ihn schützen, da war er sich sicher.

Das Kind begann sich wieder zu bewegen und der alte Mann wusste, was jetzt kommen würde. Das ruckartige, beinahe krampfhafte Auf und Ab der Körper hatte er schon immer erkennen können.

Heutzutage waren die Kinder viel zu weich. Nach der geringsten Bestrafung verloren sie bereits jegliche Kontrolle und Johann war drauf und dran ihn zu bestätigen.

Die alte Haut spannte sich um die Mundwinkel und eine Reihe alter, gelber Zähne kam hervor.

Es dauerte nur wenige Sekunden, bevor die Flüssigkeit sich über den großen, alten Tisch ausbreitete und die Kinderbeine hinunter auf den Boden tropfte.

„Schau, was du angerichtet hast! Du Schwein!“

Der alte Mann war erstaunlich schnell auf seinen Beinen, packte das Kind im Genick und zog ihn vom Tisch hinunter und ließ ihn plump zu Boden fallen.

Ja, wenn er nur 10 Jahre jünger wäre, wüsste er genau, was als Nächstes folgen würde.

Das Kind lag ihm nun eingerollt zu Füßen, genau wie all die Anderen vor ihm auch.

„Jetzt ziehst du dich gefälligst an und machst meinen verdammten Tisch sauber, bevor ich dich nochmals bestrafen muss!“

Langsam und zitternd erhob sich der Junge und holte seine Kleidung aus der Ecke. Papiertücher hatte der Priester bereitgestellt, zwar nicht wissend, aber doch hoffend, dass der Abend so enden würde.

Ein Klopfen ertönte an der Türe zur Sakristei und leises Lachen erklang im Raum.

Der alte Mann starrte Johann an, der sich mittlerweile daran gemacht hatte, die Pfütze auf dem Schreibtisch zu entfernen. Das Gelächter kam definitiv nicht von diesem Kind, da war sich der Pfarrer sicher. Tränen liefen dem Jungen immer noch das Gesicht herunter, und er schien erpicht darauf, kein weiteres Geräusch von sich zu geben.

Ungestüm ging der alte Mann zur Türe hinüber und öffnete sie. Der Gang vor ihm war dunkel, keine Menschenseele war weit und breit auszumachen.

Irgendjemand wollte ihm anscheinend einen Streich spielen. Mit drei Schritten war er wieder bei dem Jungen, der gerade seinen eigenen Urin wegwischte, und packte ihn beim Ohr.

„Wer hat hier gerade geklopft?“, schrie er ihn an.

Das Kind schrie vor Schmerz und Schock auf und versuchte zu antworten, aber der alte Mann wollte nichts davon hören.

„Wenn das einer deiner kleinen Freunde ist, dann gnade dir Gott!“, schrie er und ließ dem Jungen mit einem letzten Ruck wieder zu Boden fallen. Johann starrte ihn nur weiter ungläubig an.

Mit einem Satz war der Pfarrer wieder bei der Türe und legte eine Hand auf die Türschnalle. Das nächste Mal, wenn jemand hier versuchte, besonders witzig zu sein, würde er ihn dabei erwischen.

Nach einer knappen Minute des Wartens und Lauschens klopfte wieder jemand an die Türe. Er riss sie mit seiner ganzen Kraft auf und streckte seine Hand nach dem Schuldigen aus, spürte aber nur einen kühlen Luftzug unter seinen Fingern.

„Peter? “, fragte der alte Mann, bevor er nach hinten gestoßen wurde und sich erst wieder bei dem großen Tisch erfangen konnte.

Seine Chance erkennend sprintete der Junge los. Vorbei am Pfarrer und durch die offene Türe in die Dunkelheit des Kirchenschiffs.

„Warte!“, schrie ihm der alte Mann nach und machte sich daran, ihm zu folgen. In seiner Panik warf der Bub einen letzten Blick zurück, aber als der Mann aus dem Licht des Büros trat, verwandelten sich seine Rufe in Schreie.

Johann hörte nicht auf zu rennen, bis er sicher daheim angekommen war.

Kapitel 2

„37 Fälle sind uns alleine aus Deutschland gemeldet worden.“

Der junge Mann stand in der Mitte eines geräumigen Büros und blickte starr auf seine Füße hinab, um nicht Blickkontakt mit seinem Vorgesetzten halten zu müssen.

„Gibt es auch eine Liste von den Opfern?“, fragte ihn der ältere, ein wenig rundliche Herr, der gerade hinter seinem Schreibtisch saß und seinen Kopf schüttelte.

„Ja. Habe ich Ihnen bereits per E-Mail geschickt“, erwiderte der Jüngere.

Der Mitte 60-Jährige schaltete seinen Computer ein und murmelte etwas vor sich hin.

„Ich habe mir auch bereits die Arbeit gemacht, die Todeszeitpunkte in einer Tabelle zusammenzufassen.“

Der ältere Herr schaute wieder von seinem Bildschirm auf.

„Nette Idee, jetzt lass mich aber die Liste einmal in Ruhe durchgehen. Komm in einer Stunde wieder vorbei, vielleicht fällt mir etwas ein. Und, Markus, kein Wort davon verlässt dieses Büro, verstanden?“

Der junge Mann nickte nur und verschwand dann durch die Türe. „Als ob nicht schon jeder von den Vorfällen gehört hätte “, dachte er sich im Stillen.

Die katholische Kirche wurde angegriffen. 37 Fälle in Deutschland, knapp 120 in ganz Europa in den letzten Nächten. Zuerst war man noch von einer Gruppe an Terroristen ausgegangen, was aber mit jedem neuen Angriff unwahrscheinlicher schien.

Markus, der vor drei Jahren hierhergekommen war, war einer der zahlreichen unbedeutenden Personen, die im Vatikan außerhalb des Rampenlichts arbeiteten. Als persönlicher Assistent wurde man nur selten von den wichtigen Personen der Kurie wahrgenommen. Eigentlich nur dann, wenn wieder ein Sündenbock für etwas gebraucht wurde.

Und in den letzten Wochen war einiges schiefgelaufen.

Der erste Vorfall hatte sich in Südamerika ereignet.

Ein Pfarrer war tot in seinem Haus aufgefunden worden. Jemand oder Etwas hatte ihn aus seinem Bett gezerrt und geradezu in Stücke gerissen. Die Polizei hatte natürlich sofort mit einer Großfahndung begonnen, bis heute konnte aber noch kein Schuldiger gefunden werden.

Als dann die nächsten Vorfälle stattfanden, kam prompt der Befehl von ganz oben:

Verschwiegenheit um jeden Preis. Keine Konversationen mit Außenstehenden, worin auch die Polizei des jeweiligen Landes eingeschlossen war, durften über die Vorkommnisse stattfinden. Als Strafe drohte die Exkommunikation.

Markus schritt die alten Steinstiegen hinunter und überlegte gerade, was er mit seiner freien Stunde anfangen sollte, als zwei Gestalten an ihm vorbeihuschten.

Er erkannte sie als zwei der höherrangigen Mitglieder des Verwaltungsapparats. Normalerweise würde man sie nie in der Nähe der Bürogebäude finden, aber die Situation schien den ganzen Staat in eine Art Panik versetzt zu haben. Er überlegte sich kurz, ob er ihnen folgen sollte, entschied sich dann aber zum Wohle seiner Karriere dagegen.

Stattdessen machte er sich auf den Weg zu den Unterkünften für Assistenten.

Die kargen Wände sollten wohl zum Beten und der inneren Reflexion anregen, aber irgendwie hatte er schon vor Jahren die Lust daran verloren.

Wenn Gott ihn wirklich hören konnte, dann würde er ihm auch so zuhören.

Er streckte sich auf seinem Bett aus, stellte seinen Wecker auf 30 Minuten und döste weg.

Der Traum war lebendiger als sonst. Er sah einen alten Mann vor sich am Boden knien und ihn anflehen. Die Worte, die er von sich gab, ergaben keinerlei Sinn für ihn.

Es zählte in diesem Moment nur der blanke Hass, den er verspürte. Neben ihm standen noch weitere Figuren, die keinerlei Emotion zeigten, aber Feuer loderte in ihren Augen. Sie alle streckten ihre Finger nach dem alten Mann aus, als ob sie versuchen würden, die Luft zwischen ihnen zu zerreißen.

Die Luft um Markus begann zu vibrieren.

„Schuldig!“, stimmte eine der Stimmen den Tenor an.

„Schänder!“, folgte die Nächste.

„Mörder!“, das Wort schien den Bann zu brechen und die Figuren stürzten sich auf den Wehrlosen.

Das schrille Läuten des Weckers riss ihn aus dem Schlaf und er musste sich zusammenreißen, um sich nicht direkt auf den Boden zu übergeben.

Ohne weitere Zeit zu verschwenden lief er, so schnell, wie er nur konnte, zu seinem Waschbecken und hielt seinen Kopf unter den aufgedrehten Wasserhahn. Er konnte Blut in seinem Mund schmecken und mit seiner Zunge eine aufgebissene Stelle an der Innenseite seiner Wange spüren.

Überhaupt erschreckte ihn der Anblick, der sich ihm im Spiegel bot. Er wirkte bleich, verängstigt und mindestens 10 Jahre älter als noch vor einer Stunde. Seine blaugrauen Augen waren mit roten Äderchen verziert und seine Lippen schienen dünn und bläulich, wie von einer Totenmaske.

Zumindest hatten seine Haare nichts von ihrer roten Farbe verloren, dachte er. Als er auf die Uhr blickte, traf ihn der nächste Schock, er hatte nur noch 15 Minuten, um wieder im Büro seines Vorgesetzten zu sein.

Ein paar Spritzer Wasser und einen wohl ausgesuchten Fluch später rannte er los.

Kapitel 3

„So, Markus. Du gesellst dich wohl auch wieder zu uns?“

Der Mann mit den graumelierten Haaren hinter dem Schreibtisch würdigte ihn nicht einmal eines Blickes. Ein kleiner Berg von Akten lag auf dem hölzernen Tisch bereit, verpackt in unauffällig beigen Umschlägen, versehen mit schwarzen, aufgedruckten, Nummern.

„Ja … Ähm … tut mir leid, Herr Kardinal.“

„Schau, dass das nicht mehr vorkommt.

Nun, zu der Liste die du mir geschickt hast. 24 der 37 Opfer sind Leute die … Sagen wir es einmal so: Probleme mit jüngeren Gläubigen hatten …“ Er blickte von seinem Bildschirm auf und starrte seinen Assistenten durchdringend an.

Markus verstand den Ausdruck im Gesicht des älteren Mannes sofort. Das Wort „Pädophil“ oder „Kinderschänder“ durfte hier in diesen Gemäuern nicht ausgesprochen werden.

„Wie schaut es mit den anderen 13 Opfern aus?“, fragt der Assistent.

„Unauffällig. Bei uns in den Archiven wurde zumindest kein Vermerk hinterlegt.

Deswegen wirst du eine kleine Reise nach Deutschland machen. Fang beim Ersten auf der Liste an und schau nach, ob du etwas über weitere etwaige Probleme rausfinden kannst.“

Der Assistent nickte. Nach seinem letzten Albtraum war ihm jede Ausrede recht, den Vatikan für eine Zeit zu verlassen.

„Und noch etwas, Markus. Das Stillschweigen muss weiterhin eingehalten werden. Wir wollen nicht, dass sich Außenstehende in unsere Angelegenheiten einmischen.“

Erneut nickte er und sprach: „Wann soll ich losfahren?“

„So schnell wie möglich. Und vergiss nicht, die Akten mitzunehmen. So gibt man jemandem übrigens ein Dokument, auf Papier!“

Markus packte sich den Stapel unter den Arm und verließ das Büro schnellstmöglich um seine Habseligkeiten zusammenzupacken. Bevor es aber losging, hatte er noch jemanden einen kleinen Besuch abzustatten.

David war am Anfang so etwas wie ein kleiner Bruder für ihn gewesen. Die zwei hatten sich kurz nach Markus’ Ankunft im Vatikan kennengelernt und direkt eine tiefe Freundschaft geschlossen. Zwar war Markus ein knappes Jahr älter als sein Freund, er war aber ein paar Monate später hier angestellt worden. Die Beiden befanden sich in einer ähnlichen Position, angestellt als Assistenten der Kurie, nur hatten die verschiedenen Abteilungen kein gutes Wort für einander übrig.

Die hierarchischen Machtkämpfe, die sich hinter den Kulissen abspielten, konnten Neuankömmlingen schnell zu viel werden. Da jeder versuchte, mehr zu wissen als die Konkurrenz, war eine Freundschaft zwischen Leuten in Abteilungen den Leitern oftmals ein Dorn im Auge.

Er blickte auf die Uhr auf seinem Handy. Mittagspause.

David sollte aktuell in seinem Zimmer anzutreffen sein.

Die meisten Menschen hier nahmen ihre Mahlzeiten in der Kantine zu sich, nicht so aber sein Freund. Er war einer jener Menschen, denen Einsamkeit nichts auszumachen schien und fühlte sich in größeren Menschenmengen furchtbar unwohl.

Als Markus an die Türe zu seinem Zimmer klopfte und eintrat, bot sich ihm ein seltsamer Anblick. Der junge Assistent saß im Schneidersitz auf seinem Bett und hatte seine Hände an die Ohren gepresst. Sein Gesicht wirkte verzerrt und Schweißtropfen standen ihm auf der Stirn.

Erst nach ein paar Sekunden wendete er ihm den Kopf zu und setzte ein müdes Lächeln auf, als er den besorgten Gesichtsausdruck seines Freundes sah.

„Schau nicht so besorgt, Markus. Ich hatte nur heute einen etwas seltsamen Traum und wollte mich an ein Detail daraus erinnern. Mir ist schon den ganzen Morgen so, als ob ich irgendetwas wieder vergessen hätte.“

Der rothaarige Assistent setzte sich neben ihn aufs Bett und reichte ihm ein Kuvert.

„Da, damit sind meine Schulden beglichen“, sagte er.

David nahm das Kuvert an sich und legte es ungeöffnet auf sein Nachtkästchen.

„Du willst es gar nicht ansehen?“, fragte Markus.

„Nein. Du weißt ja, ich vertraue dir. Und lügen wäre eine Sünde!“, dabei zwinkerte er.

Markus‘ Gedanken kreisten um seinen eigenen Traum.

Wenn er genau darüber nachdachte, konnte auch er sich kaum mehr an die Details erinnern. Irgendetwas hatte ihm aber eine Heidenangst eingejagt. Um sich auf anderes zu besinnen wechselte er das Thema:

„Wie läuft es in deiner Abteilung?“

„Gut, gut“, antwortete David, „Monsignore Fermi hat zumindest noch nicht rausgefunden, wem ich die Liste mit den 37 Namen geschickt habe. Hast du was über die Leute rausfinden können?“

Markus schaute ihn an und lächelte als er antwortete:

„Ja, laut Kardinal Schleck sind zumindest 24 davon Kinderficker.“

Sein Freund zuckte bei dem letzten Wort zusammen. Man merkte ihm hin und wieder an, dass er in einem sehr katholischen Haushalt aufgewachsen war.

Der Ältere der zwei fuhr fort: „Kirby schickt mich übrigens nach Deutschland, um genaueres über die anderen 13 herauszufinden. Das heißt, ich werde dich wohl jetzt ein paar Wochen alleine lassen müssen.“

Kirby war der Spitzname, den Markus seinem Vorgesetzten gegeben hatte. Sein offizieller Name lautete Kardinal Stefan Schleck, wobei nur wenige Menschen ihn so hinter seinem Rücken nannten.

Der Mann war klein und rund, weshalb man ihn nur selten hinter seinem Schreibtisch hervorkommen sah, und wenn er zornig wurde bekam seine Haut eine schweinchenrosa Färbung.

„Pass auf dich auf, gib mir Bescheid, wenn du was rausfindest und bring mir ein Souvenir mit“, entgegnete David lächelnd.

„Wird gemacht!“, versprach Markus, „Ich muss nur noch ein paar Akten kopieren, und dann mach ich mich auf den Weg.“

Er küsste seinen Freund auf die Lippen und verließ das Zimmer.

Kapitel 4

Sebastian Brahm, seines Zeichens Pfarrer einer kleinen Gemeinde im Süden Deutschlands, hatten die Nachrichten über die Mordfälle noch nicht erreicht.

Er war erst seit einem halben Jahr wieder in hier tätig, zurückgekommen aus dem Exil in Südamerika.

Seinen letzten verbliebenen Freund, der er noch am Vorabend getroffen hatte, ließ sich nicht mehr erreichen.

Als Sebastian deswegen um 8 Uhr morgens an der Kirche, in der sein Freund arbeitete, vorbeifuhr, konnte er bereits die Blaulichter der Polizeiautos aufblitzen sehen.

Die Menschenmenge ließ nichts Positives vermuten, aber er hatte hier keine Wahl. Was auch immer passiert sein mochte, er musste hinein.

Nachdem er das Auto am Parkplatz abgestellt hatte und sich auf dem Weg zum Eingang machte, versperrte ihm ein Polizist den weg.

„Kein Zutritt für Unbefugte“, lautete die Anweisung des Ordnungswächters. Mit nun rasendem Puls packte er den Uniformierten am Arm und herrschte ihn an:

„Ich bin Pfarrer in der Nachbargemeinde. Dies ist die Kirche meines langjährigen Freundes. Lass mich sofort durch, bevor ich anfange laut zu werden, und die Leute sehen, wie Männer Gottes von euch behandelt werden!“

Zu seiner großen Erleichterung trat der Polizist peinlich berührt zur Seite.

In kleineren, abgelegenen Dörfern hatten die Leute zumindest noch Respekt vor seinem Stand.

Sebastian schob sich an dem Uniformierten vorbei und trat in den Vorraum der großen Kirche, der makellos sauber war.

Franz war noch ein Mensch der alten Garde. Seine Kirche hatte er stets absolut makellos gehalten, auch wenn das hieß, dass er selbst bis spät in die Nacht damit beschäftigt war, die Heiligenstatuen abzuwischen.

Aus dem Inneren des Kirchenschiffs drang gedrücktes Murmeln an sein Ohr, fünf, in verschiedene Uniformen gekleidete Leute standen dort und flüsterten hektisch miteinander. Was auch immer sie zu tratschen hatten interessierte den Pfarrer dennoch wenig.

Ihn zog es in den hinteren Teil der Kirche, dorthin, wo die Sakristei lag.

Wichtiger war aber die ein wenig zu groß geratene Abstellkammer, die Franz zu seinem Büro umfunktioniert hatte. Was er suchte, befand sich sicherlich noch dort.

Mit besorgter Miene eilte er weiter, durchquerte die Türe zum kleinen Gang hinter dem Hauptsaal und stürmte kurz darauf in das Büro.

Zu seiner Verwunderung war der Raum unangetastet. Die zwei Kaffeetassen standen noch an der gleichen Stelle auf dem Schreibtisch, auf denen sie am Abend zuvor gestanden waren. Was auch immer die Polizisten in der Kirche machten, hier drinnen hatten sie noch nicht herumgestöbert.

Sebastian durchquerte den Raum, und fing an die einzelnen Schubladen zu durchsuchen. Es dauerte nur kurze Zeit, bis er fündig wurde.

Das Päckchen Polaroidfotos wanderte schnell in seine Tasche und er war wieder auf seinem Weg nach draußen. Im Gang wieder angekommen sah er aus seinem Augenwinkel einen Blitz aufleuchten.

Ertappt drehte er sich in die Richtung, bemerkte aber zu seiner Erleichterung, dass eine Fotografin auf etwas an der Wand fokussiert war. Neugierig geworden machte er einen Schritt auf die Frau zu,

Den roten Fleck erkannte er sofort als das, was es war: Blut.

Es sah so aus, als ob jemand mit dem Kopf gegen die Wand gerannt war. Vorsichtig, um sie nicht zu stören, näherte Sebastian sich ihrem Rücken und die private Toilette des Pfarrers kam zum ersten Mal in sein Blickfeld.

Die bunte Milchglasscheibe war zersprungen, der Bolzen um die Tür zuzuschließen hing nur noch lose am Holz und in der Mitte der sonst so sauberen Kacheln lag Franz. Mit drei schnellen Schritten, und noch bevor irgendjemand bemerkt hatte, dass er da war, war er bei seinem Freund.

Dieser Anblick konnte aus einem Horrorfilm stammen. Franz blickte leblos mit nur noch einem Auge an die Decke, Blut und ausgerissene Haarbüschel klebten in Flecken an den Wänden. Automatisch streckte Sebastian seine Hand nach dem Leichnam aus, um ihm die Augenlieder zu schließen, während er ein kurzes Gebet murmelte, aber jemand packte ihn von hinten am Kragen und riss ihn zurück.

„Sind sie vollkommen wahnsinnig?“, herrschte ihn eine fremde Stimme an. Die Fotografin hatte ihn nun doch bemerkt, „Das ist ein Tatort, lassen sie die Leiche gefälligst in Ruhe!“

Geschockt und nun auf seinem Hintern sitzend starrte der Pfarrer hinauf in ihr Gesicht.

„Ich … er braucht das letzte Sakrament … er war mein Freund …“

Tränen standen in seinen Augen und er zitterte am ganzen Körper. Er fühlte sich Hilflos, wie er nun so am Boden dasaß.

Weitere Personen waren durch das Geschrei der Fotografin herangeeilt und 4 Arme packten den Pfarrer und zogen ihn hoch.

„ Lassen sie zuerst uns unsere Arbeit machen, dann schauen wir, was sie für ihren Freund tun können“, sprach ihm eine beruhigende, junge Stimme ins Ohr.

Die zwei Polizisten zogen ihn durch den Gang in Richtung des Kirchenschiffs während der Mann nur geschockt durch die Gegend starrte.

Als sie den Spiegel vor dem Eingang zur Haupthalle passierten, der Franz immer eine letzte Möglichkeit gegeben hatte, seine Kleidung auf den richtigen Sitz zu überprüfen, sah Sebastian vier Personen darin.

Ihn selbst, die zwei Polizisten und einen groß gewachsener Jugendlichen, der ihn durch den Spiegel angrinste, während er hinter der Prozession hermarschierte.

Die Polizisten setzten den alten Pfarrer in eine der hinteren Kirchenbänke und versuchten ihm gut zuzureden, aber ihre Worte erreichten ihn nicht.

„Was haben wir getan, um so etwas zu verdienen?“, fragte der Alte ohne seinen Blick zu heben.

„Wir waren vielleicht nicht die besten Menschen, aber alles was wir gemacht haben, war für Gott. Man muss ihnen den rechten Weg weisen. Sie wollten es doch, oder? Oder?“, seine Stimme hob sich und einer der Uniformierten legte ihm die Hand auf die Schulter um ihn zu beruhigen.

Pfarrer Brahm riss seinen Blick vom Boden und starrte den Polizisten an, als ob er ihn gerade geschlagen hätte.

Der Polizist drehte sich zu seinem Kollegen und sagte ihm: „Geh und hol ihm einen Becher mit Wasser, er ist vollkommen im Schock.“

Als die zwei unter sich waren kniete er sich vor den alten Mann, der augenscheinlich nichts mehr von seinem vorherigen Elan übrig hatte, hin und redete ihm weiter gut zu. Was der Pfarrer aber jetzt hörte, war eine andere Stimme. Körperlos und verzerrt, aber so nahe bei seinem Ohr, dass ihm der Schweiß ausbrach.

„Was du getan hast, weißt du genau, Pfarrer Sebastian Brahm“, sprach sie in einem ruhigen Tonfall, „Unsere Würde können wir nicht mehr zurückbekommen, aber jetzt sind wir frei. Schnell, schnell, lauf los und sag es allen deinen Freunden. Du hast nicht mehr viel Zeit, nur noch bis heute Abend, dann kommen wir zu dir!“

Schreiend schoss der alte Mann auf die Beine und der Polizist hatte Mühe, ihn festzuhalten.

„Ich muss hier raus!“, schrie der Pfarrer hysterisch.

„Können Sie gleich, aber zuerst trinken Sie mal was“, bekam er als Antwort des Polizisten, der bei ihm geblieben war.

Der zweite Polizist trat wieder zu ihnen und reichte dem Geistlichen einen Becher Wasser, den er mit großer Anstrengung entgegennahm und in einem Zug austrank.

„… Gibt es jemanden, den wir für Sie rufen können?“, fragte einer der Uniformierten.

„Schänder!“, flüsterte die gleiche Stimme wie zuvor.

„Ja, meine Haushälterin“, hörte er seine eigene, jetzt brüchige Stimme.

Mit zitternden Händen fischte er sein Handy aus der Hosentasche und berührte dabei den Stapel an Fotos, den er eingesteckt hatte.

„Mörder!“, zischte die Stimme.

Er schaffte es erst beim dritten Versuch, sein Telefon zu entsperren, reichte es einem der Polizisten und sagte: „Maria … das ist ihr Name.“

Der uniformierte Mann wandte sich ab und telefonierte.

„Schuldig! Mörder! Schänder!“, brüllten jetzt weitere Stimmen während der andere Polizist versuchte, mit ihm Smalltalk zu betreiben.

„Ich muss raus“, sagte Sebastian noch einmal kurz und der Polizist half ihm auf und stützte ihn auf dem Weg aus dem Kirchenschiff.

Die Eingangshalle war nun mit schlammigen Fußabdrücken übersäht und der alte Mann ertappte sich dabei, wie er daran dachte, dass Franz das gar nicht gutheißen würde.

„Lauf nur. Du weißt, wir werden dich finden. Heute Abend.“

Die Stimmen wurden leiser, je näher sie der Hauptpforte kamen, die in Sonnenlicht getaucht war.

Draußen half der Polizist dem Pfarrer auf einer der Steinbänke Platz zunehmen und Sebastian Brahm konnte zum ersten Mal wieder frei durchatmen. Sein Helfer versuchte wieder mit ihm ein Gespräch zu beginnen aber der Mann hob nur die Hand und sprach:

„Bitte, geben sie mir 5 Minuten Zeit, damit ich mich ausruhen kann. Danach kann ich gerne ihre Fragen beantworten.“

Hier, im Sonnenlicht des Morgens sitzend, spürte er förmlich, wie seine Kräfte wieder zu ihm zurückkehrten.

Auch wenn ihn die Erinnerung an die Leiche seines Freundes nie ganz verließ.

Der zweite Polizist stieß wieder zu ihnen und überreichte Sebastian das Handy mit den Worten: „Fünf Minuten, länger sollte sie nicht brauchen. Sie scheinen sich wieder ein wenig gefangen zu haben, wir brauchen noch ihren Namen und ihre Adresse. Wir werden später auf sie zurückkommen.“

Der Pfarrer seufzte, gab aber Antwort.

Nur ein paar Minuten später kam ein roter Peugeot mit hohem Tempo die Straße herunter und blieb mit quietschenden Bremsen auf dem Parkplatz stehen. Eine junge Frau mit blonden Haaren schoss förmlich aus dem Wagen und war mit drei langen Schritten zwischen den Polizisten und dem Geistlichen.

„Herr Pfarrer! Um Himmels willen! Was ist hier los? Ist etwas passiert?“, schrie sie beinahe.

Pfarrer Brahm, nun wieder lebendig wirkend erhob sich langsam und hob beschwichtigend seine Hand.

„Alles ist in Ordnung, Kind. Ich erzähl es dir später, wenn wir unter uns sind. Hilf mir bitte ins Auto.“

Die junge Frau musterte die beiden Polizisten abfällig, die noch immer verdutzt vor der Steinbank standen, drehte sich aber schließlich um und half dem Mann auf den Beifahrersitz.

Während der Fahrt zurück ins Nachbardorf erzählte er ihr in groben Details was passiert war, während er immer wieder Blicke in den Rückspiegel warf, um sicher zu gehen, dass sie sich nur zu zweit in dem Auto befanden.

Kapitel 5

Markus saß in einem sonst leeren Abteil in einem Zug der DB und war gerade dabei, seine Unterlagen nochmals zu sortieren. Er hatte einen Stapel Dokumente mitgenommen, darunter die Profile der Geistlichen, die umgebracht worden waren. Die Fälle waren weit verteilt und so schnell nacheinander passiert, dass es kein einzelner Täter sein konnte. Sogar eine größere Gruppierung würde Probleme haben, so viele Morde in so kurzer Zeit zu vollbringen, ohne Spuren zu hinterlassen.

Alleine beim Gedanken daran, zu jedem einzelnen dieser Fälle Nachforschungen anzustellen, fühlte er eine unglaubliche Müdigkeit in sich aufsteigen. Im besten Fall, dachte er, sollte er das Ganze innerhalb eines Monats zu Kirbys Zufriedenheit erledigt haben.

Als sein Handy in seiner Hosentasche anfing zu läuten, rechnete er schon damit, dass David ihn anrufen würde, aber die Nummer auf dem Display war ihm gänzlich unbekannt.

„Hallo?“, fragte er vorsichtig.

„Markus!“, drang die aufgeregte Stimme seines Vorgesetzten in sein Ohr, „Sehr gut, dass ich dich so erreiche. Es gibt einen neuen Fall, ein Priester ist in seiner Kirche ermordet worden und sie haben die Leiche erst vor kurzem gefunden. Ich schicke dir die genauen Daten in einer E-Mail. Fahr hin und schau, ob du was darüber rausfinden kannst!“

Ohne auf eine Antwort zu warten beendete er das Gespräch und überließ seinem Assistenten wieder sich selbst.

Wie in der E-Mail beschrieben, lag die Kirche ungefähr 100 Kilometer weiter als sein ursprüngliches Ziel, er konnte aber in seinem Zug sitzenbleiben.

Das Opfer war ein gewisser Franz Steiner. Die Priesterweihe hatte er vor 25 Jahren abgelegt, war seitdem immer in der gleichen Kirche beschäftigt und war sonst nie positiv oder negativ aufgefallen. Das aktuellste Bild zeigte einen Mann mit graumeliertem Haar, mit einem strengen aber doch irgendwie freundlichen Gesicht.

Zu Markus’ Glück kam der Zugbegleiter gerade in dem Moment an seinem Abteil vorbei und er konnte seine Fahrkarte erweitern, bevor er sich wieder seinen Notizen widmete.

Er ertappte sich vermehrt dabei, immer wieder den gleichen Satz zu lesen ohne etwas davon mitzubekommen und beschloss, etwas anderes zu tun. Nachdem er seinen Wecker auf die neue Ankunftszeit gestellt hatte, ließ er sich tief in die Polstergarnitur sinken und fing an, einzudösen.

Als er seine Augen öffnete, sah er, dass er sich in einem dunklen Raum befand. David saß ihm in seinem so gewohnten Schneidersitz mit gesenktem Kopf gegenüber. Fasziniert schaute er ihm zu und nach kurzer Zeit begann sein Freund vor und zurück zu wippen.

„David?“, fragte Markus zögerlich.

„Markus?“, die Stimme seines Freundes klang überrascht, aber seltsam hohl.

„Ja?“

„Wo bin ich?“

„Das weiß ich nicht.“

„Komm zu mir.“

„Ich … kann nicht.“

„Bitte. Der Umschlag. Er ist zu schwer.“

Markus versuchte aufzustehen, aber er fühlte sich wie an den Boden gefesselt.

Der Kopf seines Freundes rollte von Seite zu Seite, nur erklang jetzt ein tiefes Brummen aus seiner Kehle.

Einer der Schatten hinter ihm schien Gestalt anzunehmen und ruckartig wurde Davids Kopf an den Haaren in die Höhe gerissen. Seine Augen, sah Markus, waren geschlossen und er verzog keine Miene.

Der Schatten hinter seinem Freund nahm immer mehr Kontur an, bis er sich selbst erkennen konnte. Sein Ebenbild hielt den Kopf noch immer am Haarschopf hoch und grinste ihn dabei auffordernd an.

„Hallo Markus!“, krächzte er fröhlich, wobei er seinen Hals seltsam verrenkte.

Der Anblick widerte den rothaarigen Assistenten so an, dass es ihm die Sprache verschlug.

„Hallo! Markus!“, krächzte das Ebenbild wieder.

„Hallo“, erwiderte Markus schlicht.

„Es ist schön, dich endlich persönlich kennenzulernen. Unser Freund hier hat mir schon so viel von dir erzählt“, dabei schüttelte er Davids Kopf wie eine Marionette.

Die Aussprache der Wörter schien einfach falsch zu sein. Die Wortpausen waren zu lang, die Betonung lag auf den falschen Silben und die Aussprache wirkte unnatürlich.

„Wer bist du?“

„Das geht dich nichts an, mein lieber Markus. Ich würde ja sagen, du wirst mich noch kennenlernen, aber ich glaube eher, dass meine Freunde zuerst bei dir sein werden.

Viel Spaß dabei!“

Bei den letzten Worten entstand ein gurgelndes Lachen um die beiden herum.

„Was willst du von ihm?“, hakte der richtige Markus nach, „Er ist unschuldig!“

„Ihr seid alle schuldig!“, schrie die Kopie und schüttelte dabei den Kopf des Schwarzhaarigen so sehr, dass Markus Angst bekam, er würde ihm die Haare ausreißen. Die wütenden Schreie um sie herum stiegen zu einem Donnern an, ehe sie abrupt stoppten.

„Aber, du hast recht. Er ist weniger schuldig als andere. Was ich von ihm will? Nichts weiter. Und sei nicht eifersüchtig, ich bin ihm schon näher als du es jemals sein könntest.“

Mit einer schnellen Bewegung ließ er den Haarschopf los und der regungslose Körper seines Freundes schlug rücklings auf dem Boden auf.

Markus erwachte schreiend, diesmal lange bevor sein Wecker läutete.

Kapitel 6

Um knapp nach zehn Uhr erreichte er endlich seinen Endbahnhof und verließ schweigend und betrübt den Zug. Natürlich hatte er mit dem Gedanken gespielt, David sofort anzurufen, hatte sich aber dann dazu entschieden zumindest bis zur Mittagspause zu warten.

Wenn das Ganze nur ein weiterer seiner paranoiden Albträume war, wollte er nicht seinen Freund auch noch damit in Schwierigkeiten bringen.

Markus schnappte sich ein Taxi und wies die Fahrerin an, direkt zur Kirche des Dorfes zu fahren, die Konversationsversuche der jungen Frau ließ er dabei jedoch eiskalt abblitzen.

Der Traum ließ ihn immer noch nicht los und er war sich klar, dass das auch eine Zeit lang so bleiben würde. Etwas in ihm drängte ihn immer noch dazu, das Handy in die Hand zu nehmen, um Davids Stimme nochmals zu hören, aber er kämpfte weiter dagegen an.

Wenn er jetzt anrief und nur die Mobilbox erreichte, würde er sofort kehrt machen und zurückfahren, der Auftrag wäre ihm dann vollkommen egal.

Noch während er sich weiter in Gedanken selbst als Feigling titulierte, weil er es anscheinend nicht einmal ein paar Stunden lang aushielt, ohne die Stimme seines Freundes zu hören hielt das Taxi vor der Kirche. Ein paar fremde Autos standen noch auf dem Parkplatz, sonst schien aber noch alles beim Alten zu sein.

Er zahlte die Fahrtkosten und überquerte die letzten Meter langsam schlendernd, um die spät morgendliche Sonne so lange wie möglich zu genießen.

Erst einmal in seinem Leben hatte er eine echte Leiche gesehen, und das war bei einer Beerdigung, die mit einem offenen Sarg stattgefunden hatte. Was auch immer ihn dort drinnen erwartete, es würde mit Sicherheit keinen so klinischen Anblick abgeben.

Gelbes Absperrband war über die Pforte gespannt worden und ein gelangweilt aussehender Polizist schob Wache. Markus marschierte schnurstracks auf ihn zu.

„Morgen!“, grüßte er möglichst fröhlich und der Polizist machte einen Schritt auf ihn zu.

„Journalisten haben hier keinen Zutritt“, erwiderte sein Gegenüber nur knapp.

„Das trifft sich ausgezeichnet, guter Mann, ich bin nämlich in offizieller Mission vom Vatikan hier. Wie sie sicher wissen ist der Zutritt laut dem Konkordat von 1933“, weiter kam er nicht, da ihm der Uniformierte ins Wort fiel:

„Ja, ja. Ist schon in Ordnung. Sie sind jetzt der zweite Pfaffe der hier ungefragt rein will. Den letzten musste man fast heraustragen, so schlimm hat es ihm zugesetzt. Gehen Sie schon rein, aber erwarten sie nicht, dass ich dabei helfe, Sie zu beruhigen!“

Markus spielte mit dem Gedanken, ihn bezüglich des Ausdrucks „Pfaffe“ zu korrigieren, entschloss sich dann aber dagegen. Stattdessen verstaute er das Schriftstück mit offiziellem Stempel wieder in seiner alten Aktentasche und ging hastig an dem sichtlich gereizten Polizisten vorbei in die Kirche. Die Nachricht über einen anderen Geistlichen, der hier herum geschnuppert hatte interessierte ihn sehr. Eigentlich sollte er der erste sein, der außerhalb der Polizei von diesem Unglück erfuhr.

Im Eingangsbereich gab es zahllose, schmutzige Fußabdrücke aber keine Menschenseele war mehr im großen Saal ersichtlich. Das einzige Anzeichen, dass er nicht alleine hier drinnen war, waren gedrückte Stimmen, die aus dem hinteren Teil der Kirche zu kommen schienen.

Der weite Raum ließ die leisen Stimmen irgendwie gespenstisch wirken und das schwache Licht trug den Rest zu dieser unheimlichen Atmosphäre bei. Markus strich über das alte Holz der Kirchenbänke und bekreuzigte sich, als er sich dem Altar näherte bevor er sich der kleinen Türe im hinteren Teil des Kirchenschiffs näherte. Einen Moment lang blieb er stehen und lauschte am vergleichsweise neuen Holz, bevor er höflich anklopfte und eintrat.

Drei Augenpaare waren sofort auf ihn gerichtet, zwei Männer und eine Frau standen in dem Gang und starrten ihn an. Alle drei waren in weiß gekleidet und waren vorher in eine hitzige Diskussion verwickelt gewesen. Die Frau im speziellen schien ihn äußerst kritisch zu begutachten.

Der rothaarige Neuankömmling setzte sein gewinnendstes Lächeln auf und sagte:

„Ich bin in offizieller Funktion vom Vatikan hierher geschickt worden. Wenn sie meine Papiere sehen wollen, kann ich sie ihnen gerne zeigen.“

Die zwei Männer drehten sich um und beschäftigten sich wieder mit einem roten Fleck an der Wand, während die Frau auf ihn zukam. Sie baute sich mit überkreuzten Armen zu ihren vollen 1.65 Metern vor ihm auf und sagte, mit einem leicht nördlichen Akzent:

„Einer von Ihren Männern war heute Früh schon hier und hätte uns fast den Tatort zerstört.“

„Das tut mir aufrichtig Leid, wenn sie mir seinen Namen nennen, werde ich persönlich dafür Sorge tragen, dass er angemessen diszipliniert wird. Mein Name ist übrigens Markus, wer sind Sie?“

„Die arme Sau, die seit viertel vor acht Uhr hier ist um alle Spuren zu sichern.“

„Können Sie mir irgendetwas erzählen?“

„Nein.“

„Schauen Sie, ich wäre nicht hier, wenn die Angelegenheit nicht so dringlich wäre“, versuchte er es auf die beschwichtigende Art.

„Wenn Sie vom Vatikan hierher beordert wurden, wie kann es dann sein, dass sie nach nicht einmal drei Stunden schon in der Kirche stehen?“, kam die Frage, die Markus gerade wirklich nicht hören wollte.

Er musste einen kurzen Moment überlegen, entschied sich dann aber doch für die Wahrheit:

„In Deutschland alleine war dies der 38. solche Fall, der in den letzten Tagen vorgekommen ist.“

Zum ersten Mal zeigte die junge Frau eine Reaktion. Ihre Augen weiteten sich bevor sie sich einen Schritt zurückzog.

„Ist das ihr Ernst? Warum gibt’s dann noch keinen offiziellen Aufschrei in den Nachrichten?“

„Die Kirche hat Mittel und Wege, solche Nachrichten von den Zeitungen fernzuhalten … Lassen sie mich raten: der Priester wurde brutal zu Tode geprügelt und irgendwelche Teile von ihm fehlen.“

„Ja, damit liegen Sie schon richtig. Ich bin zwar nicht für die Obduktion zuständig, konnte den Leichnam aber ansehen. Wer auch immer das war, muss einen riesen Hass auf euch Geistliche haben. Ein Auge hat gefehlt, die Zunge hat man ihm herausgerissen und es schaut so aus, als ob der alte Mann wie eine Puppe durch die Gegend geschleudert wurde.“

„Habe Sie irgendwelche Fotos, die Sie mir schicken könnten?“, fragte er nach, aber diesmal schüttelte sie, zu seiner Erleichterung, den Kopf.

„Das würde nun wirklich zu weit gehen.“

„Ist schon in Ordnung. Glauben Sie mir, ich bin nicht gerade darauf erpicht, sowas zu sehen. Jetzt habe ich nur noch eine kurze Frage bezüglich des Priesters, der vor mir schon hier war: Was genau hat sich da zugetragen? Hat er Ihnen seinen Namen gegeben?“

„Nein. Der alte Kauz ist wie aus heiterem Himmel hier aufgetaucht und hat versucht der Leiche die Augenlieder zu schließen, als ich ihn sah. Zwei Polizisten haben ihn dann hinausgetragen, mehr weiß ich leider auch nicht. Den Namen habe ich nie erfahren, nur, dass er ein Freund des Verstorbenen war.

Wenn sie mich fragen, sitzt er wahrscheinlich bereits in einer Anstalt, aber sie können gerne den verantwortlichen Polizisten fragen, sein Name ist Mike … ähm … Michael Dorn.“

Markus notierte sich den Namen sorgfältig auf einem frischen Blockzettel und wollte sich umdrehen, um zu gehen, als die Frau ihn zurückhielt.

„Ich habe Ihnen bereits viel mehr gesagt als ich es eigentlich tun sollte, also will ich ihr Ehrenwort, dass sie sich um das Kümmern werden, was ich Ihnen als Nächstes zeige:

Der Mann den Sie suchen hat ein Foto von einer alten Polaroid Kamera verloren, als er zurücktaumelte. Ich hab es eingesteckt ohne genauer hinzuschauen und wollte es eigentlich der Polizei weitergeben, aber ich hoffe, dass es bei Ihnen besser aufgehoben ist“, dabei steckte sie ihre Hand in ihre Tasche und hob ein Bild hoch.

Zwei Männer standen vor einer Pritsche und grinsten in die Kamera. Der linke hatte eine grüne, große Flasche in der Hand, die zweifelsfrei als Whiskey zu identifizieren war. Der Andere rauchte eine Zigarette und schien die beste Zeit seines Lebens zu haben. Im ersten Moment konnte Markus nichts Verwerfliches daran erkennen, Alkohol und Zigaretten waren in der katholischen Kirche keine Sünde. Dann aber fiel sein Blick auf den Teil des Fotos, der zwischen den beiden grinsenden Männern lag. Auf der Pritsche lag ein Kind, ein Mädchen, vom Aussehen her nicht älter als 8 oder 9 Jahre alt. Sie war vollkommen nackt und starrte ins Leere.

Markus zog seine Hand zurück und sprach in einem leisen Tonfall:

„Ich bin zur Verschwiegenheit in solchen Fällen verpflichtet, also müsste ich es an meinen Vorgesetzten weitergeben, wenn ich es bekomme. Stecken Sie es wieder ein und geben Sie das Foto einem Polizisten.“

Mit geballten Fäusten drehte er sich um und ging aus der Kirche hinaus.

„Vielleicht“, dachte er sich, „gab es wirklich Menschen, die diese Art von Tod verdienten.“

Was auch immer der Fall war, sein nächster Weg würde ihn direkt zur Polizeistation im Dorf führen. Hoffentlich konnte ihm dieser Michael Dorn mehr erzählen.

Kapitel 7

David erwachte in seinem Bett liegend. Er starrte einen Moment lang zur Decke hoch, euphorisch, dass alles nur ein Traum gewesen war. Das Einzige was ihm im Moment wichtig erschien, war mit Markus zu sprechen, ihm zu sagen wie wichtig er für ihn war und dass er sich keine Sorgen um ihn machen musste.

In seinem Traum hatte er ihn gesehen, er war ihm direkt gegenüber gesessen und doch so weit entfernt. Irgendetwas hatte er aber wieder vergessen. Sein Plan vielleicht ein Tagebuch anzufangen, nur um seine Träume aufzuschreiben, schien jetzt besser als je zuvor.

Noch während er so auf seinem Bett lag, wühlte er in der Tasche seiner Jeans herum, konnte sein Handy aber nicht finden.

„Komisch“, dachte er sich, „Vielleicht ist es mir rausgefallen als ich …“

Er war mit Monsignore Fermi gerade in einer Besprechung gewesen, als ihm schwindlig geworden war. Das war das letzte, an was er sich noch genau erinnern konnte. Danach war alles schwarz, bis auf den Traum.

Monsignore Fermi. Er hatte ihn wahrscheinlich auf sein Zimmer bringen lassen. David musste unbedingt zu ihm, um sein Handy abholen. Er musste Markus etwas sagen.

Das war, was er vergessen hatte, die Nachricht.

Er versuchte sich zu erinnern, aber die Worte wollten und wollten nicht mehr zu ihm zurückkommen. Erneut verfluchte er sein Gedächtnis und schloss die Augen wieder.

Normalerweise half es ihm, sich die Person vorzustellen, und wie sie ausgesehen hatte, als sie mit ihm sprach. Diesmal sah er aber nur Markus, wie vor Angst gelähmt vor ihm saß und alles was er hörte, waren hunderte von Stimmen, die ihm unzusammenhängende Worte ins Ohr flüsterten.

Eine dieser Stimmen hatte ihn gewarnt.

Er musste sich einfach auf den Weg machen, ein wenig durch die Gänge spazieren würde ihm sicher weiterhelfen.

Als er die Augen wieder öffnete, brauchte er ein paar Sekunden, bevor er wieder sehen konnte.

„Seltsam“, dachte er sich nur und setzte sich auf.

Sein Zimmer war, bis auf das Bett und den Schreibtisch, leer. Kein Laptop, keine Bücher, nicht einmal sein Teppich war noch vorhanden. Statt eines großen Fensters mit einem Ausblick auf alte Häuser sah David nur eine graue Wand.

Die Glühbirne in diesem Raum hing ungeschützt an einem Kabel und baumelte so, trostlos, von der Decke.

Ein Knall ertönte und die schwere Holztür, die sein Zimmer von der Außenwelt trennte, flog wie von Geisterhand auf.

Ein vielleicht 16-jähriger Junge mit braunen Haaren und einem südländischen Teint trat in den Raum und blickte zu David hinüber.

„Gute Morgen, David“, grüßte er emotionslos und die Türe fiel unberührt hinter ihm ins Schloss.

„Wer sind Sie und was wollen Sie hier?“, fragte der junge Assistent nervös.

„Ich bin der, den du hergeholt hast. Du hast so lieb gebettelt. Jetzt bin ich hier und du wirst mir dabei helfen, dir zu helfen.“

David schaute verdutzt zu dem Jungen hoch, der sich auf ihn zubewegte und fühlte sich zusammenschrumpfen.

„Weißt du, du bist nicht der Erste, der hinausgerufen hat, ohne darüber nachzudenken, wer dich hören könnte. Aber zum Dank zeige ich dir jetzt meine Heimat“, sprach er, packte David am Hals und starrte tief in seine Augen.

Der schwarzhaarige Assistent fing an zu schreien.

Kapitel 8

Je mehr er über das Erlebte nachdachte, desto klarer wurde Sebastian Brahm, dass ihm die Zeit davonlief. Er war sich sicher, dass es nicht nur Halluzinationen gewesen waren.

Die Ausgeburt der Hölle würde ihr Wort halten und heute Nacht das Gleiche mit ihm anstellen, was sie Franz angetan hatten.

Der Blick auf seine Armbanduhr zeigte 09:45, also blieben ihm noch gute 10 Stunden Zeit, eine Lösung zu finden. Normalerweise würde er jedem, der mit so einem Problem zu ihm kam, anweisen, in einer Kirche die Nacht im Gebet zu verbringen, aber er hatte selbst gesehen, dass Kirchen ihm keinen Schutz bieten würden.

Maria, die ihm selbst mit einem Kaffee am kleinen Küchentisch gegenüber saß, musterte ihn weiterhin besorgt.

„Also du glaubst wirklich, dass irgendwelche Geister hinter dir her sind?“, fragte sie erneut.

„Ja“, war seine Antwort, wieder.

Sie hatten das ganze Szenario bereits drei Mal durchgekaut und langsam ging ihm die Geduld aus.

„Kannst du nicht den Bischof anrufen?“, fragte die blonde Frau.

„Hab ich schon versucht, er wird mich in den nächsten Tagen zurückrufen“, entgegnete er ihr.

In Wahrheit würde er keine Rückmeldung bekommen. Der Bischof wusste mehr über die Situation, als er selbst und da er nicht erfreut gewesen war, einen pädophilen Pfarrer in seinem Umfeld zu haben, würde er auch keinen Finger für ihn krumm machen.

Er zermarterte sich weiter das Hirn, während er nach einem Ausweg aus dieser Situation suchte.

„Kannst du nicht jemanden direkt im Vatikan erreichen?“

Maria schien das Ganze nicht sonderlich ernst zu nehmen.

„Als kleiner Pfarrer? Ich hätte eine größere Chance, von Gott persönlich eine Antwort zu bekommen“, gab er entnervt zurück.

Jedes Mal, wenn er die Augen schloss, sah er wieder den Jugendlichen vor sich, der ihm mit einem widerlichen Grinsen folgte.

Pfarrer Brahm stand auf und verließ das Zimmer. Er konnte den Anblick von Maria, wie sie so halb verträumt dasaß, nicht mehr ertragen.

Schnurstracks marschierte er die Stiegen des kleinen Hauses hinauf und ließ sich in den großen, bequemen Sessel in seinem Büro fallen. Von da aus ließ er seinen Blick über sein Bücherregal streifen. Die Sammlung an theologischen Werken schien ihm nutzlos, gleich wie die Krimis, die er als Abendlektüre gerne las, aber sie brachten ihn auf eine Idee.

Drei der Bücher hatten das Wort „Geist“ im Titel, und wer kannte sich mit Geistern aus?

Sebastian brauchte ein Medium. Es klang wie eine der halbgaren Schnapsideen, die hin und wieder von Maria kamen, aber zumindest war es eine Idee.

Er klappte den Laptop, der ihm zu Weihnachten geschenkt worden war, auf und ließ die Maschine hochfahren.

Das Erste, was er in die Suchmaschine eingab war „Medium“ und zu seiner Überraschung kamen lauter Suchbegriffe über die Größeneinheiten und der Rest waren Artikel über Datenträger.

Frustriert löschte er die Eingabe und versuchte es mit „Medium“, „Geist“ und den Namen der nächstgrößeren Stadt.

Diesmal erschienen sinnvollere Ergebnisse, unter anderem auch eine Liste von Damen und Herren, die von sich behaupteten, mit Geistern in Verbindung treten zu können.

Die Bilder auf den Webseiten ließen seine aufkeimende Hoffnung aber wieder sinken. Jeder Einzelne von ihnen könnte problemlos im Wörterbuch unter dem Begriff „Scharlatan“ abgebildet sein.

Aber wenn Geister real waren, musste es doch zumindest irgendwo Leute geben, die sich mit ihnen auskannten. Pfarrer Brahm zog sein Handy aus der Tasche, spürte, dass er immer noch das Bündel an Fotos darin verstaut hatte, und wählte die erste Nummer.

Kapitel 9

Papst Gregor XVII, dessen bürgerlicher Name Georg Pkat war, saß seit mittlerweile über 24 Stunden wie angewachsen an seinem Schreibtisch.

Auch wenn einige seiner Berater versucht hatten, ihn vor der Wahrheit zu schützen, schlechte Nachrichten schienen dennoch immer einen Weg zu ihm zu finden.

Ein Stapel alter Manuskripte und persönlicher Tagebücher längst toter Päpste lag vor ihm auf seinem Schreibtisch und er durchstöberte sie alle, um zumindest einen Anhaltspunkt auf die aktuelle Situation zu finden.

Soweit er wusste, befand sich die Kirche in ernster Bedrängnis. Überall auf der Welt wurden Priester attackiert und umgebracht und seine Untergebenen schienen keinen Plan zu haben, was sie dagegen unternehmen konnten.

Er selbst hatte auch keinen genauen Plan, aber in solchen Situationen war es das Beste, die Gedankengänge seiner Vorgänger eingehend zu studieren. Er war gerade bei den Aufzeichnungen des Papstes Innozenz XII, als ihm eine bestimmte Passage ins Auge sprang.

Die Tagebücher berichteten von Menschen in Italien, die in Häusern und Kirchen zu Tode geprügelt aufgefunden worden waren. Die Leichen waren schlimm zugerichtet und die Kirche stritt sich darum, ob der Täter ein Mensch oder Tier war.

Der Pontifex notierte sich die Jahreszahl auf einen Zettel und wollte schon nach seinem Diener klingeln, als ihm auffiel, wie sehr ihn sein Rücken und Nacken schmerzte.

In seinem Alter war das beileibe nicht ungewöhnlich, aber er nahm sich trotzdem vor, selbst aufzustehen und nachschauen zu gehen.

Die Muskeln, die ihm 87 Jahre lang den Dienst nicht versagt hatten, würden ihm auch jetzt beistehen, dessen war er sich sicher. Er öffnete die Türe zu seinen privaten Gemächern und spürte einen ungewöhnlich kühlen Windzug durch die Gänge des Apostolischen Palastes ziehen. Georg Pkat glaubte kurz, Stimmen vernehmen zu können, die ihn aus der Dunkelheit anschrien, schob aber auch diese Geräusche auf ein wohl unachtsam offengelassenes Fenster.

Als der Kammerdiener nach einigen Stunden nach dem Papst sehen wollte und seine Leiche am Kopf der Stiege fand, brach endgültig Panik in den oberen Rängen des Vatikans aus.

Kapitel 10

Die Polizeistation des Dorfes sah genauso aus, wie Markus sie sich vorgestellt hatte. Ein Gebäude, das vor 15 Jahren vielleicht als „Neu“ bezeichnet worden wäre, mit einigem Graffiti auf den Wänden und dreckigen Scheiben an den Fenstern.

Er stieg aus dem Taxi und schaute auf die Uhr seines Smartphones. 11:37 Uhr, mit etwas Glück war der Polizist noch nicht in der Mittagspause.

Gemächlich schlenderte er in Richtung der Vordertüre und legte sich nochmals seine Geschichte zurecht. Er war im Auftrag des Vatikans hier, um Nachforschungen über den Priester anzustellen. Das Schreiben in seiner Aktentasche sagte nichts über den Grund aus, warum er losgeschickt wurde, nur, von wem.

Der Eingang, durch den er schritt, schien eine gründliche Reinigung dringend zu benötigen, vor allem die Glasscheiben waren zu einem Grad verdreckt, dass es ihm grauste. Die Flecken im Inneren des Gebäudes waren zahlreich und ein leichter Uringestank wehte dem Besucher entgegen.

Zumindest war der Empfang mit zwei Leuten besetzt, eine Dame, die bereits graue Haare hatte und ein sommersprossiger Junge, den man auf den ersten Blick auf ungefähr 15 Jahre schätzen würde. Die Rezeptionistin trug ein kleines, silbernes Kruzifix um den Hals, also setze Markus sein strahlendstes Lächeln auf und wandte sich an die Dame:

„Guten Tag. Ich bin auf der Suche nach einem Polizisten namens Michael Dorn. Können sie mir da weiterhelfen?“

„Ich glaube nicht, dass der Herr mit jemandem von der Presse etwas zu bereden hat“, gab sie kalt zurück.

Anscheinend hatte auch die Polizei eine Nachrichtensperre für den Fall ausgerufen. Das traf sich ausgezeichnet.

„Sie verstehen mich falsch. Ich bin kein Journalist, ich bin vom Vatikan hierher geschickt worden und der Herr Dorn hatte Umgang mit der Person, die ich suche.“

Die Frau zog die Augenbrauen hoch und bevor sie etwas sagen konnte, hielt ihr Markus das Schriftstück hin.

„Ich … ich muss das überprüfen“, stammelte sie nur noch, bevor sie zum Telefonapparat griff.

Befriedigt, dass sie so auf den Zettel reagiert hatte, setzte sich Markus auf einen der unbequemen Plastiksessel, die an der Wand standen und wartete.

Das Telefonat dauerte nur wenige Minuten, und er konnte sich regelrecht ausmalen, was Kirby der armen Dame gerade vorbetete. Sie nickte noch ein paar Mal und beendete das Gespräch mit „Ja … Ja … Ihnen auch, euer Hochwürden.“

Beim Gedanken an das freudestrahlende Gesicht von Kirby hätte er fast angefangen laut loszulachen. Immer, wenn jemand seinem Chef auch nur das kleinste bisschen Ehrfurcht entgegenbrachte, plusterte er sich richtig auf.

Als der Hörer endlich wieder auf der Gabel lag, wandte sie sich sofort an ihn.

„Es tut mir furchtbar leid, eurer Gnaden. Der Kollege wird sofort geholt“, damit stieß sie dem Jungen ihren Ellbogen in die Rippen und er verschwand durch eine Hintertüre.

„Bitte, machen sie sich keine Umstände. Und, „Euer Gnaden“, müssen sie auch nicht sagen. Ich bin nur Assistent, sie können mich einfach Markus nennen.“

Die Frau lief rot an und bedankte sich hastig, bevor sie sich ein wenig zu eifrig in etwas, das vor ihr auf dem Tresen lag, vertiefte.

„An diese Art von Respekt konnte man sich fast gewöhnen“, dachte sich Markus.

Nach weiteren fünf Minuten des Wartens kam der junge Bursche endlich wieder durch die Tür und in seinem Schlepptau befand sich ein Polizist. Der Mann hatte augenscheinlich nicht einen seiner besten Tage hinter sich.

Er baute sich vor dem Besucher auf und schien ihn von oben bis unten zu mustern.

„Was kann ich für Sie tun?“, fragte er. Der Ton in seiner Stimme war hart, aber nicht herablassend.

„Ich hätte ein paar Fragen für Sie wegen des Pfarrers, den Sie heute gesehen haben. Können wir irgendwohin gehen, wo wir ungestört sind?“

Michael nickte und ging ohne sich umzudrehen in Richtung der Türe, durch die er gekommen war. Der Assistent folgte ihm nach und die Beiden marschierten quer durch das Gebäude, bis sie in einem leerstehenden Büro ankamen.

Zuerst setzte sich der Polizist, bevor er mit einer Handbewegung seinem Gegenüber einen Platz zuwies und sich dann zurücklehnte.

„Ich habe gehört, dass Sie den Priester heute aus der Kirche transportieren mussten“, eröffnete Markus die Unterredung.

„Ja. Der Alte war ziemlich mitgenommen. Das Ganze schien ihm sehr nahezugehen, wenn Sie mich fragen.“

„Hat er Ihnen seinen Namen gegeben?“

„Sebastian Brahm. Seit wann schickt der Vatikan Leute los, nur um einen verstörten Priester wieder einzufangen?“

„Wie Sie sich wahrscheinlich denken können, geht es hierbei um mehr, als nur den einen Priester.“

„Die Leiche?“

Markus legte, statt direkt eine Antwort zu geben, nur den Zeigefinger auf seine Lippen.

„So. Sie dürfen also auch nicht darüber sprechen?“, fragte der Polizist.

Er nickte.

„Wir haben das gleiche Problem. Und, wenn keiner von uns darüber reden darf, würde ich sagen, unsere Unterhaltung ist beendet.“

Er machte eine Bewegung, als ob er aufstehen wollte, setzte sich nach einer Geste Markus‘ wieder hin.

„Also“, begann der Polizist in einem munteren Ton, „Sie sagen mir zuerst, was Sie wissen, dann kann ich Ihnen mitteilen, was wir bei dem Toten herausgefunden haben.“

Markus zog einen Stapel mit leeren Papieren aus seiner Aktentasche und tat so, als ob etwas darauf geschrieben stand.

„Wir wissen, dass auf der ganzen Welt Leute, Priester, attackiert und umgebracht werden und das in einer Geschwindigkeit die unvorstellbar ist. Die meisten wurden in ihren Häusern aufgefunden, manche in den Kirchen. Die Morde passieren immer in der Nacht und es scheint sich langsam ein Muster abzuzeichnen.“

Der Polizist nickte und schaute ihn weiter auffordernd an, als er sagte: „Und welches Muster wäre das?“