Mein Leben mit Parkinson - Martin Klawitter - E-Book

Mein Leben mit Parkinson E-Book

Martin Klawitter

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Beschreibung

Braucht es noch ein weiteres Buch über Parkinson? Die Antwort ist ein eindeutiges Ja, denn Martin Klawitters Gang durch seine Erkrankung weist vielen von Parkinson Betroffenen und ihren Angehörigen neue Wege auf. Lebendig beobachtend und reflektiert beschreibt er seine individuelle Auseinandersetzung mit der Erkrankung vom Moment der Diagnose an. Klawitters Weg des Annehmens, Übens und Verstehen-Wollens geht weit über einen rein privaten Ansatz hinaus - und wird vielen Betroffenen und Angehörigen dabei helfen, das zu überwinden, was ihnen als unvermeidliche Sackgasse erscheint.

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Martin Klawitter

Mein Leben mit Parkinson

Wider die Fesselung des Ich

Über das Buch

Braucht es noch ein weiteres Buch über Parkinson? Die Antwort ist ein eindeutiges Ja, denn Martin Klawitters Gang durch seine Erkrankung weist vielen von Parkinson Betroffenen und ihren Angehörigen neue Wege auf. Lebendig beobachtend und reflektiert beschreibt er seine individuelle Auseinandersetzung mit der Erkrankung vom Moment der Diagnose an.

Klawitters Weg des Annehmens, Übens und Verstehen-Wollens geht weit über einen rein privaten Ansatz hinaus - und wird vielen Betroffenen und Angehörigen dabei helfen, das zu überwinden, was ihnen als unvermeidliche Sackgasse erscheint.

Ein bewegender Erfahrungsbericht voller Positivität und Vertrauen.

Martin Klawitter wurde 1961 in Essen geboren und besuchte in Bochum die »Waldorfschule Ruhrgebiet«, wo schon früh der Wunsch entstand, selbst Waldorflehrer zu werden. Er studierte Germanistik und Geschichte in München und schloss nach der Referendarzeit die Ausbildung zum Waldorflehrer in Stuttgart an. Als Gastdozent für das Fach Deutsch in der Oberstufe ließ er hier den Kontakt zur Lehrerausbildung nicht abbrechen. Martin Klawitter unterrichtete bis 2016 an der Waldorfschule Gutenhalde, bis seine Parkinsonerkrankung es nicht länger zuließ. Er lebt in Filderstadt bei Stuttgart.

Martin Klawitter

Mein Leben mit Parkinson

Wider die Fesselung des Ich

Urachhaus

Inhalt

Vorwort

Die Mutter als Vorbild im Umgang mit Parkinson. Erste Fragen

»Boah, riecht dat!«

Zwischenruf aus der Bedrängnis: Über die Angst

Hänseln gilt nicht, da hat Gretel etwas dagegen – oder:Die Farben der Nacht

Die Diagnose – Ausbruch der Krankheit

Felsenfest

Sonnenaufgang

Briefe an Siegrid I: Lebenskrise und Wirklichkeit des Wortes

In der Parkinson-Spezialklinik

Briefe an Siegrid II: Paul Celan »SPRICH AUCH DU«

Picasso bringt es auf den Punkt

Der Königsweg zum Turm – Fragen an das Bild

»Ich bin nicht allein, ich darf jetzt selbständig sein.« – Einsam-Sein als Voraussetzung

Der übende Mensch

Musik. Orpheus. Heilung.

Parkinson und die Anforderungen an das soziale Umfeld

Briefe an Siegrid III: Von der Ichkraft

Holly, oh Holy – Der Spatz in der Hand

Weckruf der Botschafter

Die Filderklinik – Ort des Heilens

Ausklang

Verwendete und weiterführende Literatur

»Ich habe viele Jahre damit verbracht, zu lernen, wie man das Leben repariert, nur um schließlich entdecken zu müssen, dass das Leben gar nicht kaputtgegangen ist. In jedermann und in allen Dingen ist der verborgene Same einer größeren Ganzheit vorhanden. Wir dienen dem Leben am besten, wenn wir diesen Samen gießen und uns mit ihm anfreunden, wenn wir hinhören, bevor wir handeln.«

Rahel Naomi Remen, Ärztin1

1 Remen, Rahel Naomi, Aus Liebe zum Leben. Krugzell 52013, S. 251.

Für Gabriele

Vorwort

Bedarf es wirklich noch eines Buches über Parkinson? An Erfahrungsberichten betroffener Patienten mangelt es ja nicht. So hat etwa der Theologe Jürgen Mette ein lesenswertes Buch unter dem originellen Titel Alles außer Mikado veröffentlicht. Einblicke in das Patientenschicksal geben auch der Briefwechsel An meinen Parki von Maria-Luise Winkler Vonmetz oder die Erzählungen des ehemaligen SWR-Moderators Matthias Holtmann, die er unter dem Titel Porsche, Pop und Parkinson veröffentlicht hat und darüber hinaus mit vielen Lesungen zum Thema seiner Krankheit aus eigener Erfahrung informiert.

Parkinson hat auch mein Leben verändert. Im ersten Schritt habe ich mein Deputat als Lehrer reduziert, doch sehr bald schon musste ich mich im vollen Umfang aus der Schule und meiner beruflichen Tätigkeit als Oberstufenlehrer zurückziehen. Das war ein schmerzhafter Schritt, und ich vermisse die Arbeit mit den Jugendlichen heute noch, ebenso wie das wertvolle Kollegium. Aber ich kann es nicht mehr leisten.

Parkinson heißt: Alle Tätigkeiten brauchen mehr Zeit, da die Bewegungsabläufe beeinträchtigt sind. Der freie Gang des sonst so bewegungsfreudigen Sanguinikers ist zeitweise in eine Kleinschrittigkeit gepresst – oder in den bewegungsunfähigen Zustand des »Einfrierens« geworfen. Dann stehe ich erstarrt und verwurzelt auf der Stelle, ohne die Möglichkeit fortzukommen. Nur Geduld und Ruhe helfen mir dann, um die langsame Auflösung der Situation nicht zu behindern. Das kann auch nachts passieren, wenn ich mich in ein anderes Zimmer bewegen möchte, weil ich im Bett nicht mehr liegen kann. Dann stehe ich plötzlich wie verwurzelt im dunklen Gang und komme weder vor noch zurück. Langsam überkommt mich wieder der Schlaf, ich wanke, merke, dass ich zu fallen drohe, werde schlagartig wieder wach – aber noch immer, ohne mich fortbewegen zu können. Das Pendel schlägt erneut in die andere Richtung aus, mich verlässt die Kraft, bei Bewusstsein zu bleiben – und damit in der Aufrechten, ich drohe zu kippen …

All das sind Momente der kleinen Einweihung, wenn ich den Körper nicht wie gewohnt als Instrument zur Verfügung habe. Da werde ich sprachlos. Vor Schreck, oder die Angst schleicht sich an und will groß werden. Sprachlos vor Verlust und Trauer. Ich habe viel an Selbstverständlichkeit verloren, auch im Umgang mit meiner Familie. Das Leben will hier von uns die Wandlung sehen. Und diese Verwandlung muss und möchte ich auch gestalten.

Dazu stellen sich auch für mich wie für die meisten Parkinsonpatienten Veränderungen im Seelischen ein. Stressanfälligkeit, Überforderung, Sicherheitsbedürfnis oder das Umgehen mit der Angst, die ein treuer Begleiter geworden ist und mich stets als heldenhaften Prinzen sehen möchte. So droht sich der Lebenskreis zu verengen, wenn man nicht bewusst dagegen angeht und sich auf verschiedenen Ebenen weitet, öffnet und verlebendigt. Lasse ich diese Weitung, Öffnung, Verlebendigung aber zu, können sich unerwartete Entwicklungen ergeben:

Parkinson gibt die Möglichkeit einer Fragestellung an die innere Vertiefung. Existenziell.

Ich kann im Außen nur bestehen, wenn ich bewusst ein Innen gestaltet habe. Darauf möchte ich die Aufmerksamkeit mit dieser kleinen Schrift richten. Hier beginnt meine Suche. Ich ahne einen inneren Reichtum, den ich erwecken möchte. Gibt es da einen Weg?

Für diesen Schritt auf das Innen zu möchte ich Mut machen und Parkinson als individuelle Chance verstanden wissen. So hat meine eigene Schwäche zum Beispiel den Blick für den Mitmenschen verändert. In gewisser Weise bin ich heute auch meinen Schülern näher denn je. Hier liegen die Möglichkeiten für einen neuen Weg. Um Spuren meiner Suche im Grenzgebiet oder schon im Neuland wahrzunehmen, möchte ich Sie als Lesende herzlich einladen, Ihnen Einblicke gewähren. Es ist in diesen Lebenssituationen immer ein individuelles Gehen, aber auf die zu entwickelnde Kraft und die neuen Fähigkeiten kommt es an. All dies sind Spuren auf dem Weg ins Offene.

Möge die kleine Schrift Sie anregen, Fragen an das eigene Leben zu stellen, aus denen Handlungsimpulse erwachsen.

Martin Klawitter

Juli 2022

Die Mutter als Vorbild im Umgang mit Parkinson. Erste Fragen

» Wie, bitte, geht Überleben?«

»Instinktiv, aus der gegebenen Situation heraus. In der Not entsteht Lebenskraft, innere Ruhe, Distanz zur zivilisierten Welt.«

»Überlebenskunst hat also nichts mit Weisheit zu tun?«

» Viel mehr mit Übersicht und Selbstvergessenheit zu tun. (…) Es lohnt sich, sein Leben in Frage gestellt zu sehen: ein Zustand, den wir im Rückblick als Wiedergeburt erleben. «

Der Polarforscher Frank Wild in dem gleichnamigen Roman von Reinhold Messner.2

Nach einer langen Autofahrt erreichen wir hinter Hamburg Richtung Norden fahrend eine Landschaft ohne Hügel. Weite Flächen umgeben uns, begrenzt vom Horizont, immer wieder Kühe in Schwarzweiß auf den grünen Wiesen. Und dann kommt endlich der Deich mit den Schafen – und damit unsere Gewissheit: Dahinter ist nur noch das Meer. Die Fähre bringt uns schnell auf die Insel Amrum – und spätestens hier quillt das Kinderherz über. Denn in den Amrumer Sommertagen lebt etwas Besonderes. Unvergessen die Weite des Kniepstrandes – wüstenähnlich – kilometerweite Offenheit von Sand, Meer und ein blauer Himmel über uns. Möwengeschrei. Das will und werde ich später mit den eigenen Kindern auch erleben. Unvergessen aber auch Mutters eigenartiger Gang auf dem Sand. Unbeweglich in den Knien läuft sie wie ein Storch im Fischsalat neben mir.

Heute – Jahrzehnte später – habe ich die Gewissheit: Das war ein erster verdeckter Hinweis auf die später diagnostizierte Krankheit: Morbus Parkinson. Als die Krankheit bei meiner Mutter Elisabeth ausbricht, ist sie nach dem Tod des Vaters alleinstehend und bereits im 66. Lebensjahr. Nach den goldenen Jahren, in denen die Medikamente ihre ganze Wirkung entfalten konnten, schreitet Mutters Krankheit in ihrer Symptomatik rasch fort. Ihr Lebensradius wird enger, ihr Körper in die der Krankheit eigenen Haltung gezwungen, begleitet von einem erheblichen Tremor. Alltägliche Verrichtungen werden mühsam und brauchen mehr Zeit, das Leben fordert ihre ganze Kraft.

Mutter lebt auch in und mit ihrer Literatur, vor allem in den Märchen, die sie auswendig vorträgt bei Gelegenheiten im Kindergarten oder des Altersheims, in dem sie lebt. Natürlich führt sie einen Literatur- und einen Sternenkreis, arbeitet bei der Heimführung als Vertreterin der Mitbewohner mit und begleitet Menschen auf ihrem Weg des Sterbens. Schwellenarbeit. Und bei alldem gibt sie ihrem Tun eine erlebbare Würde, die ihren Ursprung in der ihr eigenen, inneren Haltung hat: »Ich lasse mich nicht gehen!«

Sie sieht auch äußerlich nicht vernachlässigt aus, sondern auffallend gepflegt. Als wolle sie gegen den körperlichen Zerfall, gegen die Versteinerung ein Zeichen setzen. Diese innere Kraft hat mich stets sehr beeindruckt. Ja, Mutter war mir gerade in ihrer Not, die sie zu gestalten wusste, ein einprägsames Vorbild! Vieles habe ich mir von ihr abschauen können.

Selbst im Todesmoment wird ihre Kraft noch spürbar. Ihr Wunsch, noch einmal vom Krankenhaus in das Zimmer im Altenwohnheim gehen zu dürfen, wird ihr gewährt. Mutter wartet offensichtlich, bis ich von meiner Klassenfahrt zurückkomme, und mit Stefan, meinem älteren Bruder, den schrittweisen Prozess in den Tod begleiten kann. Mutter zeigt uns das Sterben und den Tod. Am Nachmittag, bevor der Sterbeprozess einsetzt, noch einmal ans Feld fahren und das späte Sonnenlicht sehen, so ihr Wunsch. An der Hecke reifen schon die Brombeeren, Mutters Mund öffnet sich willig, um die tiefblaue Frucht ein letztes Mal zu genießen. Irdische Kost.

Aus einer Begegnung mit Mutter in ihrem letzten Lebensabschnitt:

Noch einmal

den weißen Schmetterling im warmen Sonnenlicht

aufsteigen sehen

Noch einmal

der Zartling vom vorgewölbten Duft der pochenden

Herzblume

gefangen

Denn nur er hat den Fühler der

die Blumenworte ertastet

den Text aufschließt

in seinen Sinn tritt

Lass uns nur noch einmal die Zeilen lesen –

Aber dein Kopf nickt dem Tod zu

Sekundenschlaf jäher Riss

eingefallen um nach hinten zu hören

Wer sucht dich auf?

Wer bereitet dich vor?

Lies Mutter

sprich die Märchen

denn jetzt geht es um alles –

(2009)

Später sitzen wir am Sterbebett, wir Brüder sprechen Gedichte, die ihr nah waren, Rilke, Domin und Celan, lesen Märchen oder aus der Bibel vor, umspülen sie mit dem ihr Wesentlichen, das sie bis zuletzt lebendig bewegen konnte. Der Tod setzt eine Stunde vor Mitternacht ein, und hinter ihr liegt ein beschwerlicher Weg, ein Kreuzweg, den sie – von Lasten beschwert – Schritt für Schritt zu gehen hatte. Ein Angehen gegen das Wasser in der Lunge, bis nach Stunden der Todesarbeit im Sterbeschacht sich der Atem verlangsamt, die Pausen größer werden und dann nur der letzte Atemzug mit der eintretenden Stille hörbar wird und lange nachklingt. Nie war die Welt so still wie im Moment des letzten Atemzuges. Stefan und ich halten lange inne, und wenn auch noch dieselben Kerzen brennen wie vor einer Stunde, ist die Welt ohne Mutter, ohne ihre tapfere Haltung und ihre Willenskraft, eine andere.

Spontan ordnen sich in mir folgende Worte:

TOD DER MUTTER

Das Hinzittern in die Gewissheit seiner Endgültigkeit

Du meinst zu wissen

Und doch fliegt dein Atem

Vogelgleich

Im Käfig der Gefangenschaft

Es gibt kein Entrinnen

Die letzten Körner der Sanduhr

Fallen

Lautlos, endgültig, jetzt

Zahnlos

Schnappt der Kiefer nach Luft

Im Schweiß der

Über die Knochen gespannten Haut

Noch einmal das

Kreuz tragen

Rasender Schritt der Angst

In die Schwärze der Gruft

Noch einmal alles, jetzt

Im Stein

Doch die Unausweichbarkeit der Stunde

Zwingt dich, Mutter, ins

Pianissimo

Nie war die Welt tiefer still

_ _ _

Welchen Ton sieht dein gebrochenes Auge?

Der Brunnen ist umgestülpt, ins

Weite gerissen

Jähes Licht –

Das Instrument schweigt

Der Vogel fliegt

Jubelnacht!

(2014)

Der Körper, der ihr in den letzten Jahren zum Gefängnis geworden ist, gibt Ruhe. Elisabeth, die Geformte, die Rituale liebte und sich darin in Sicherheit wiegte, ist einen langen, beschwerlichen Weg mit der Parkinsonkrankheit gegangen.

Für zwei Prozent der hier gemeinten Patienten wird die Krankheit von den Eltern auf ein eigenes Kind vererbt. Ob ich dazugehöre, ist unerheblich, ich habe das innere Feuer der Wandlung, das der strenge Meister der Krankheit einfordert, weiterzutragen, kann aber auf ein Vorbild zurückgreifen, eine nie aufgebende Mutter, der auch das Jammern fern war und die mit ihrem Weltinteresse immer lebendig blieb. So hat sie am Ende im Hinblick auf ihr Dasein und ihre Vorbildfunktion vieles reich ausgeschüttet, was sie in den Monaten, die ich als Kleinkind allein in Holland verbringen musste, mir nicht geben konnte. Durch einen mehrmonatigen Aufenthalt im niederländischen Egmond aan Zee sollte ich in den frühesten Jahren meines Lebens von bedrohlicher Krankheit genesen. Mein Gesundheitszustand war damals kritisch, doch jetzt konnte ich in einem salzhaltigen Klima, das ich fortwährend inhalierte, wesentliche Schritte ins Leben hineintun. Diese langanhaltende Trennung von den Eltern war für mich in der Folge traumatisch, angstauslösend, und Parkinson weiß auf dieser Klaviatur der Symptome meisterhaft zu spielen.

Dass meine Mutter bis ins hohe Alter durch ihre innere Stärke, die sich im Ringen mit der Krankheit entfaltete, ein Vorbild sein konnte, war für mich beglückend. Denn wir brauchen diese Vorbilder, das sichtbar gewordene Ringen anderer betroffener Menschen, um die eigene Situation zu bewältigen. Davon hatte ich bereits viel gesehen, als die Krankheit bei mir diagnostiziert wurde und ich in den Raum der Beschwernisse und Aufgaben eintrat. So war ich vorbereitet.

Und doch ist es etwas völlig Neues, eine nicht gekannte Erlebnisdimension, wenn die Situation der Krankheit und die Schmerzen für mich selbst als Betroffener Wirklichkeit werden. War ich wirklich vorbereitet? Ja, gewisse Situationen habe ich wiedererkannt, glaubte sie bei Mutter schon gesehen zu haben, waren mir nicht gänzlich fremd. Und doch bleibt immer noch Raum, überwältigt zu werden, manche Situationen waren so stark emotional geladen, dass sie mich ergriffen, gefesselt und in eine ängstliche Ruhelosigkeit gestoßen haben. Vor allem der elektrische Gewitterlärm und Schmerz in den Beinen.

Welche Botschaft hat der Schmerz für mich? Kann ich ihm etwas ablauschen? In diesen Momenten ist Parkinson der starke, strenge Lehrmeister. Ich bin aufgefordert, die Situation zu bestehen und zu gestalten. Ich bin in meinem Willen gefordert. Willentlich muss ich durchstoßen, mein Bewusstsein in die Welt führen und nicht im Schmerz steckenbleiben. Es gilt auf den Schmerz zu hören und den Ansatz für eine Gestaltung anzunehmen.3

Man macht sich als Parkinsonpatient auf den Weg, der immer wieder plötzliche Umschwünge bereithält, von der guten Befindlichkeit in den Schmerzraum. Überfordert! Dann bedarf es der inneren Bewegung und der Gestaltung, sodass man sich auch ohne fertiges Patentrezept darauf einlassen kann, sich den Aufgaben zu stellen. Aber in der Wunde beginnt die Gestaltung der Situation. Sie deutet eine Richtung an: Nach innen führt der Weg. Hier ist Sammlung, Rückbezug möglich. Doch der Herzraum will erst erobert werden. Wie komme ich nach innen, wie komme ich ins Innenerlebnis, in meinen Herzraum? Er umfasst den Ort der inneren Stille, er wird der Raum, in dem die Begegnung mit mir selbst und der Welt stattfinden kann.

Hier spricht aber auch das Gewissen – eine urteilende Instanz, die über dem Verflochten-Sein der Taten mit dem Willen und der Selbstbezogenheit der eigenen Bedürfnisse und Triebe steht. Dieser Herz-Raum trägt dann zu Recht den Namen unseres zentralen Organes.

Ich denke, eine grundlegend bedeutende Voraussetzung für den Impuls, sich überhaupt auf die Suche begeben zu können, ist der eigene Wille: Ich muss diesen Innenraum bilden wollen. Es ist meine Entscheidung, ein Akt der Selbstbestimmung. Nur an dieses Wollen kann sich im weiteren Schritt ein regelmäßiges Üben und Tun anbinden.

Und diese Regelmäßigkeit ist not-wendig. Ein- bis zweimal am Tag ziehe ich mich in mein Zimmer zurück und gebe mich dem Üben hin. Vielleicht steht ein ausgewähltes Bild als Kunstpostkarte neben mir auf dem Tisch, um mir zu helfen, den so äußerlich gestalteten Raum auch innen zu schaffen.

Mit geschlossenen Augen suche ich den Ankerpunkt in mir auf, um Ruhe und Konzentration herzustellen. Kein leichter Vorgang, erfahre ich doch häufig erst jetzt das Maß an Unruhe in mir. Gehörtes, Gesehenes oder eigene Gedanken – gekoppelt an Empfindungen – werden laut und drängen sich in den Vordergrund. Hier gilt es, Stillstand zu schaffen und die Assoziation an ihren Platz zu stellen, um den Ruheraum zu bilden. Denn er ist das Fundament.

Sie können selbst die Probe machen, ob Sie Herr in Ihrem Hause sind. Gelingt es Ihnen, Ihr Bewusstsein so zu fokussieren? Wenn es mir gelungen ist, diesen Innenraum in mir entstehen zu lassen, besteht der nächste Schritt darin, einen Inhalt in diese innere Aufmerksamkeit zu stellen – einen Gegenstand (etwa ein Samenkorn), Lebewesen (von der Raupe zum Schmetterling) oder einen Begriff (Wahrheit, Treue, Mut). Auch der Beginn eines Gedichts kann sich dafür eignen.

Wenn Sie beispielsweise den Begriff »Mut« als Inhalt wählen, können Sie diesen Begriff gedanklich bewegen, aber jetzt sind Sie es, der »Mut« denkt. Führen Sie das Wort in verschiedene Zusammenhänge, die Sie als Mut-behaftet erlebt haben, und verdichten Sie so die Qualität des Mutes. Welche Farbe verbinden Sie mit Mut? Folgende weitere Fragen mögen so allmählich zum Schatz der möglichen Zugänge werden:

Welche Bewegung steigt in meinem Innern auf?

Wo berührt mich das Wort in meinem Körper?

Welche Stimmung stellt sich ein?

Welches Wort oder welche Gedanken ergeben sich für mich aus dem bisher Erarbeiteten?

Als mögliche Technik sei Ihnen ans Herz gelegt: Formulieren Sie die Fragen in der gegebenen Reihenfolge, und zwar dergestalt, dass sie das innere Bild für jede Frage neu aufbauen, befragen dürfen. Für viele Menschen ist es hilfreich, sich das Ergebnis auf einem Blatt zu notieren, damit es nicht wegrutscht.

Das regelmäßige Üben in diesem Sinne lässt die innere Kraft, dies zu tun, wachsen. Es wird den Übenden zunehmend leichter fallen, in sich eine Ruhe herzustellen und an dem Begriff oder vorgestellten Gegenstand zu arbeiten.

Ich habe die Erfahrung gemacht, dass mir durch das regelmäßige Üben und Tun immer wieder aufs Neue Möglichkeiten und Kräfte zukommen.

Kraft haben auch die Menschen um mich herum gebraucht und aus sich selbst heraus entfaltet, um das Alltägliche zu meistern. Sie selbst und ihre Taten leuchten als Vorbilder wie Sterne am dunklen Firmament. Da ist die einbeinige Frau im Rollstuhl in den Räumen eines großen Möbelhauses, die sich scheinbar mühelos aus eigener Kraft im Rollstuhl fortbewegt und dazu noch einen großen, gefüllten Einkaufswagen vor sich herschiebt – und all das mit einem Bein als Steuer- und Kraftzentrum. Dieses Kunststück wagt sie und strahlt dabei eine zufriedene Leichtigkeit aus. Ich schaue nochmals hin. Es grenzt an Akrobatik.

Das Bild dieser Frau ist tief in mir verankert und gibt mir Kraft. Ein weiteres solches Bild besteht in mir in Form einer ehemaligen Schülerin. Katharina ist gehbehindert und von jeher mit ihrer Krankheit konfrontiert: körperliche Schmerzen, Operationen und die seelische Not des Verzichts auf Normalität, wie sie die Geschwister oder Klassenkameraden leben. Beharrlich klopft sie an meine Tür, will mich sprechen und sehen. Zuletzt in der 9. Klasse von mir unterrichtet, finde ich jetzt, Mitte der 11. Klasse, eine seelisch gereifte, souverän auftretende 17-Jährige, die ihrem Alter deutlich enteilt ist, geprägt von der Unerbittlichkeit ihrer Krankheit, mutig mit mir ins Gespräch kommt und über ihr Leid und über Wege der Handhabung des Alltäglichen zu Hause spricht. Ich werde das Gefühl nicht los, dass sie im Umgang mit Krankheit aus dem Ich heraus gleiche Erfahrungen wie ich selbst gemacht hat und mir schon in gewisser Weise voraus ist.

Immer wieder sind oder kommen Menschen in meinen Gesichtskreis, die mir unser aller Verbundenheit mit dem Du in der Menschengemeinschaft zeigen möchten. Es gibt eine unter- (oder sollte ich besser sagen: eine über-) bewusste Verbundenheit der Menschen, die sinnstiftend ist.

Ich habe die Erfahrung gemacht, wie hilfreich es ist, bei der abendlichen Tagesrückschau einmal die Fragen stellen:

Wem bin ich wann begegnet?

Was war der Kern der Begegnung?

Das sind Fragen, die nach innen führen, weil sie nicht zuletzt auch eine Erkenntnismöglichkeit für die kommenden Tage eröffnen. Wir haben es hier mit einer Form der bewussten Tagesgestaltung zu tun: Durch eine Frage, die nach innen führt, gelangen wir schrittweise zum Wesentlichen hin.

Wie kann ich mir dieses Verbunden-Sein ahnend bewusst machen? Gegen Ende eines Tages blicke ich auf den gewesenen Tag zurück. Dieser Rückblick schafft Bewusstsein, denn ich erlebe das Tagesgeschehen nicht nur zum Zeitpunkt des Geschehens, sondern ich führe es mir aus der Erinnerung noch einmal vor Augen und kann so bewusst erleben: Was war heute für mich wesentlich, worüber habe ich mich gefreut? Ich kann ebenso den Tag rückwärts durchgehen, von den letzten Ereignissen vor dem Schlafengehen bis zu den ersten nach dem Aufstehen. Auch hier gilt: Übung fördert das Können, und was vielen Menschen wie selbstverständlich auf Anhieb gelingt, kann für andere mit langer Übung verbunden sein. Entscheidend ist bei dieser Übung, dass ich es tue und in Treue der Sache gegenüber daran festhalte.

Was hat all das mit Parkinson zu tun, mögen Sie sich fragen. Aus diesen kurzen Ausführungen wird vielleicht schon nachvollziehbar, wie hilfreich die innere Schulung gegenüber den Angstgesten des Parkinsons oder gegenüber dem schnell auftretenden Gefühl der Überforderung sein kann.

2 Messner, Reinhold, Wild oder Der letzte Trip auf Erden. Frankfurt a.M., 2017, S.60.

3 Markus Treichler hat zu diesem Thema ein wesentliches Buch veröffentlicht: Die Botschaft des Schmerzes, Frankfurt a.M. 2017.

»Boah, riecht dat!«