Mein Leben nebenan - Huntley Fitzpatrick - E-Book

Mein Leben nebenan E-Book

Huntley Fitzpatrick

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Beschreibung

Alice Garretts Leben besteht aus To-do-Listen und Verantwortung für ihre jüngeren Geschwister. Nichts passt weniger in ihr Leben als der zu Hause rausgeflogene Loser-Freund ihres Bruders Tim. Ein Schulabbrecher mit jeder Menge Problemen – ausgerechnet er zieht nun über der Garage der Garretts ein. Tims Planlosigkeit geht Alice so was von auf die Nerven – und gleichzeitig fühlt sie sich immer wieder magisch zu ihm hingezogen ... Erzählt in zwei unverwechselbaren, entwaffnend ehrlichen Erzählstimmen ist dies eine Geschichte vom Scheitern, Aufstehen und Alles-Riskieren. Und die Geschichte einer sehr besonderen Liebe.

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Seitenzahl: 612

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Huntley Fitzpatrick

Aus dem Amerikanischen

von Anja Galić

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Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

1. Auflage 2016

© 2016 der deutschsprachigen Ausgabe

cbj Kinder- und Jugendbuchverlag

in der Verlagsgruppe Random House,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

© 2015 Huntley Fitzpatrick

Die amerikanische Originalausgabe erschien 2015 unter dem Titel

»The Boy Most Likely To« bei Dial Books,

einem Imprint der Penguin Young Readers Group

in der Verlagsgruppe Penguin Random House LLC

Übersetzung: Anja Galić

Umschlagkonzeption: Kathrin Schüler, Berlin

unter Verwendung der Fotos von:

Gettyimages/wundervisuals; Shutterstock/watin

MP · Herstellung: CF

Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach

ISBN 978-3-641-11440-4V001

www.cbj-verlag.de

Für meine Mutter, die wusste, wie man liebt.

Und eine Schwäche für Unruhestifter

mit einem Herzen aus Gold hatte.

Für meinen Vater, der starke Frauen

immer geliebt und bewundert hat.

Und für Georgia Funsten und Patricia Young,

die klügsten und stärksten Frauen, die ich kenne.

Erstes Kapitel

Ich bin hier, weil der Nowhere Man mich einbestellt hat.

Er sitzt an seinem Schreibtisch und dreht mir halb den Rücken zu, als ich in sein Arbeitszimmer trete.

»Ähm, Pa?«

Er hält eine Hand hoch und fährt damit fort, etwas auf einen blau linierten Block zu notieren.

Das übliche Spiel.

Ich schaue mich im Raum um: der Kaminsims, der Teppich, die Bücherregale, das Fenster; versuche eine Stelle zu finden, wo ich entspannt den Blick ruhen lassen kann.

Keine Chance.

Ma ist in alles vernarrt, was niedlich ist – Teddys in Latzhosen, Kissen mit Kalendersprüchen und diverser anderer Schrott, den sie online bestellt. Das Zeug ist überall im Haus. Nur hier nicht, in diesem von Jalousien abgedunkelten grauen Raum, der wie die Szenerie eines John-Grisham-Romans wirkt. Die Augusthitze, die draußen herrscht, hat hier drin nichts verloren. Ich starre auf Pas Nacken, rutsche tiefer in das granitharte graue Sofa, reibe mir die Augen, überkreuze die Knöchel.

Auf seinem Schreibtisch stehen drei Fotos von meiner Zwillingsschwester Nan in unterschiedlichen Lebensphasen – mit roten Kringellöckchen, mit lückenhaftem Milchzahngebiss, dann mit Zahnspange. Der Blick immer besorgt. An der Wand hängen zwei weitere Fotos von ihr – mit geglätteten Haaren und teurem weißen Lächeln –, daneben ein gerahmter Zeitungsartikel, der sie nach einer Rede zeigt, die sie diesen Sommer am Vierten Juli bei der Parade von Stony Bay gehalten hat.

Von mir gibt es keine Fotos.

Hat es je welche gegeben? Ich kann mich nicht erinnern. War bei diesen Vater-Sohn-Gesprächen in seinem Arbeitszimmer früher immer zugedröhnt.

Ich räuspere mich.

Knacke mit den Fingerknöcheln.

»Pa? Du wolltest mich sprechen?«

Er fährt zusammen. »Timothy?«

»Jep.«

Er schwenkt mit seinem Schreibtischsessel herum und sieht mich an. Seine Augen sind grau, genau wie die von Nan und mir. Passend zu seinen Haaren. Passend zu seinem Arbeitszimmer.

»Also«, sagt er.

Ich warte. Versuche die Flasche Macallan-Whisky auf dem – wie nennt man dieses Teil noch gleich … Sideboard? – auszublenden. Wenn er um sechs von der Arbeit nach Hause kommt, bringt Ma ihm mit derselben Zuverlässigkeit, mit der diese gruseligen Figürchen beim ersten Glockenschlag aus ihren winzigen Kuckucksuhrtüren herauskommen, exakt zehn Minuten später einen kleinen silbernen Eiskübel, damit Pa sich das erste seiner beiden Gläser Scotch genehmigen kann, die er jeden Abend trinkt.

Heute muss ein besonderer Tag sein. Obwohl es erst drei Uhr ist, steht der Eiskübel schon bereit und sondert genau wie ich kühlen Schweiß ab. Selbst als ich noch ein kleiner Junge war, wusste ich, dass er den zweiten Drink nur zur Hälfte austrinken würde. Während er sich vor dem Abendessen die Hände wusch, konnte ich also den Rest des mit Eiswasser vermischten Scotchs hinunterschlürfen, ohne dass er etwas davon mitbekam. Ich weiß nicht mehr genau, wann ich damit anfing, aber es war definitiv einige Zeit, bevor ich die ersten Schamhaare kriegte.

»Ma sagte, du wolltest etwas mit mir besprechen.«

Er wischt einen unsichtbaren Fussel von seinem Knie, als wäre er mit den Gedanken schon wieder woanders. »Hat sie gesagt, warum?«

Ich räuspere mich noch einmal. »Weil ich heute ausziehe?« Am liebsten wäre ich schon vor zehn Minuten weg gewesen.

Sein Blick kehrt zu mir zurück. »Denkst du, das ist die richtige Entscheidung?«

Typisch Nowhere Man. Es war wohl kaum meine Entscheidung, auszuziehen. Tatsächlich hat er mir die Pistole auf die Brust gesetzt. Die einzige richtige Entscheidung, die ich in letzter Zeit getroffen habe, war die, mit dem Trinken aufzuhören.

Aber Pa steht auf solche Wendemanöver. Es spielt keine Rolle, dass er mich praktisch vor die Tür gesetzt hat, irgendwie schafft er es immer wieder, den Spieß umzudrehen und mir das Gefühl zu geben, der letzte Dreck zu sein.

»Ich habe dir eine Frage gestellt, Tim.«

»Ja, sicher. Es ist eine gute Idee.«

Pa legt die Fingerspitzen aneinander und stützt das Kinn darauf, das wie meines eine kleine Kerbe in der Mitte hat. »Wie lange ist es noch mal her, seit du von der Schule geflogen bist?«

»Ähm. Acht Monate.« Anfang Dezember. Ich hatte noch nicht mal den Koffer nach meiner Rückkehr aus den Thanksgiving-Ferien ausgepackt.

»Wie viele Jobs hattest du seitdem?«

Vielleicht kann er sich nicht mehr genau erinnern. »Drei«, schummle ich.

»Sieben«, korrigiert Pa mich.

Shit.

»Und bei wie vielen bist du gefeuert worden?«

»Ich hab immer noch den Job bei …«

Er dreht sich in seinem Schreibtischsessel zur Seite und schaut stirnrunzelnd auf sein Handy. »Wie viele?«

»Den Job im Wahlkampfbüro der Senatorin habe ich gekündigt, also eigentlich nur fünf.«

Pa schwenkt wieder zurück, lässt das Handy sinken und mustert mich über den Rand seiner Lesebrille. »Ich bin mir durchaus der Tatsache bewusst, dass du diesen Job hingeworfen hast. Du benutzt das Wort nur wie etwas, auf das man stolz sein könnte. Seit Februar hast du fünf von sieben Jobs verloren. Bist insgesamt von drei Schulen geworfen worden … Wusstest du, dass ich in meinem ganzen Leben noch nie einen Job verloren habe? Nie eine einzige schlechte Beurteilung bekommen habe? Keine schlechtere Note als ein B? Genau wie deine Schwester.«

Na klar. Die perfekte Nano. »Meine Noten sind immer gut gewesen«, sage ich. Mein Blick verirrt sich erneut zur Whiskyflasche. Ich muss meine Hände mit irgendwas beschäftigen. Einen Joint drehen wäre jetzt gut.

»Vollkommen richtig.« Pa steht abrupt auf, wirft seine Brille auf den Schreibtisch und fährt sich durch die kurzen Haare, bevor er Eis in sein Glas gibt und sich zweifingerbreit Whisky eingießt.

Ein leicht nach Moschus und Torf duftender Hauch steigt mir in die Nase. Oh Mann, riecht das gut.

»Du bist nicht dumm, Tim. Aber du verhältst dich definitiv so.«

Den ganzen Sommer über hat er kaum ein Wort mit mir geredet und ausgerechnet jetzt will er mir einen Scheißvortrag halten? Ich zwinge mich, den Blick von der karamellfarbenen Flüssigkeit in seinem Glas loszureißen und wieder ihn anzusehen.

»Pa. Dad. Ich weiß, dass ich nicht der Sohn bin, den du dir … gewünscht hast –«

»Willst du einen Drink?«

Er greift nach einem zweiten Glas, schenkt mit einer für ihn untypischen Achtlosigkeit Whisky ein, stellt es auf den Untersetzer mit dem Wappen der Columbia University, der auf dem kleinen Tischchen neben der Couch liegt, und schiebt es mir zu. Dann hebt er sein eigenes Glas an die Lippen, trinkt es fast in einem Zug aus und stellt es anschließend bedächtig auf seinen Untersetzer zurück.

Okay, das ist echt krank.

»Ähm, hör zu.« Meine Kehle ist so trocken, dass meine Stimme seltsam klingt – zuerst heiser, dann viel zu hoch. »Ich habe seit Ende Juni keinen Tropfen mehr angerührt. Das sind jetzt, ähm, neunundfünfzig Tage, nicht dass außer mir irgendjemand mitzählen würde. Ich gebe mein Bestes. Und ich –«

Pa mustert prüfend das Aquarium, das an der Wand steht.

Ich langweile ihn.

»Und ich werde weiter mein Bestes geben und …« Ich verstumme.

Es ist ziemlich lange still. Ich habe keine Ahnung, was er denkt. Ich weiß nur, dass mein bester Freund auf dem Weg hierher ist und dass mein Jetta, der in der Einfahrt steht, mir mehr und mehr wie ein Fluchtwagen vorkommt.

»Vier Monate«, sagt Pa schließlich so tonlos, als würde er die Worte von einem Zettel ablesen. Was gar nicht so abwegig ist, da er den Blick vor sich auf seinen Schreibtisch geheftet hat.

»Ähm … ja?«

»Ich gebe dir vier Monate, um dein Leben in Ordnung zu bringen. Im Dezember wirst du achtzehn. Ein Mann also. Wenn du dich danach nicht auch wie einer verhältst, werde ich dir sämtliche finanziellen Mittel streichen. Ich werde weder deine Krankenkasse noch deine Kfz-Versicherung weiter bezahlen und den Collegefonds deiner Schwester übertragen.«

Nicht dass ich je auf Rosen gebettet gewesen wäre, aber damit würde mir auch noch das letzte bisschen Boden, das er mir zugestanden hatte, unter den Füßen weggezogen, und eine ziemlich harte Arschlandung wäre die Folge.

Bis Dezember ein Mann werden. Als würde so etwas einfach so – zack! – passieren. Als gäbe es ein Verfallsdatum für … keine Ahnung … das, was ich jetzt bin.

»Aber –«, beginne ich.

Er wirft einen Blick auf seine Seiko und drückt einen kleinen Knopf, vielleicht startet er den Countdown. »Heute ist der vierundzwanzigste August. Du hast also bis Weihnachten Zeit.«

»Aber –«

Er hebt eine Hand, schneidet mir ungeduldig das Wort ab. Keine Diskussion.

Ich habe keine Ahnung, was ich sagen soll, aber das spielt keine Rolle, die Unterhaltung ist sowieso beendet.

Wir sind hier fertig.

Ich hieve mich aus der Couch und gehe wie ferngesteuert auf die Tür zu.

Kann gar nicht schnell genug diesen Raum verlassen.

Und das ist ihm wohl nur recht.

Danke, Pa. Für dich auch alles Gute.

Zweites Kapitel

Es ist dir also wirklich ernst damit?«

Ich packe gerade meine letzten Klamotten in einen Karton, als Ma, wie immer ohne anzuklopfen, in mein Zimmer kommt. Verdammt gefährlich, wenn man einen dauergeilen siebzehnjährigen Sohn hat. Sie bleibt in der Tür stehen, mit ihrer rosa Bluse und dem Jeansrock, der mit … Krebsen? … bestickt ist.

»Ich tue nur, was man mir gesagt hat, Ma.« Ich quetsche noch ein Paar Flipflops in den bereits vollgestopften Karton. »Pas Wünsche sind mir Befehl.«

Sie tritt einen Schritt zurück, als hätte ich sie geohrfeigt. Liegt wahrscheinlich an meinem Ton. Ich bin jetzt seit fast zwei Monaten trocken, aber immer noch süchtig danach, mich wie ein Arschloch zu benehmen. Ha.

»Du hattest so viele Privilegien, die ich nie hatte, Timothy …«

Jetzt geht das wieder los.

»… Privatschule, Schwimmunterricht, Tennis-Camp …«

Jep, ich bin ein alkoholsüchtiger Highschool-Abbrecher, aber hey, schaut euch meine fantastische Rückhand an!

Sie schüttelt so heftig einen blauen Blazer aus, dass es ein schnalzendes Geräusch macht. »Und was wirst du jetzt tun? Weiter in diesem Baumarkt arbeiten und zu diesen Meetings gehen?«

Das Wort Baumarkt klingt aus ihrem Mund wie Pornoschuppen und zu diesen Meetings gehen wie diese Sexvideos drehen.

»Es ist ein guter Job. Und ich brauche diese Meetings.«

Ma streicht den Stapel mit meinen zusammengefalteten Klamotten glatt. Auf ihren sommersprossigen Händen treten blaue Adern hervor. »Ich verstehe nicht, wie irgendwelche fremden Leute dir besser helfen können als deine eigene Familie.«

Ich öffne den Mund, um zu sagen: Ich weiß, dass du es nicht verstehst. Deshalb bin ich auf fremde Leute angewiesen. Oder: Onkel Sean hätte diese fremden Leute gut gebrauchen können. Aber darüber spricht man in unserer Familie nicht.

Ich stopfe noch ein Paar wahrscheinlich zu klein gewordene Segelschuhe in den Karton, bevor ich zu ihr rübergehe und sie in den Arm nehme.

Sie tätschelt kurz meinen Rücken und löst sich dann wieder von mir.

»Kopf hoch, Ma. Nan wird definitiv an der Columbia angenommen werden. Nur eines von deinen Kindern ist ein beschissener Versager.«

»Achte auf deine Ausdrucksweise, Tim.«

»Tut mir leid. Ein dämlicher Wichser, der nichts auf die Reihe kriegt.«

»Tim!«

Ja, schon gut. Was soll’s.

Meine Zimmertür fliegt auf – wieder ohne dass vorher angeklopft wird.

»Da ist ein Mädchen für dich am Telefon, Tim. Sie klingt, als hätte sie eine Kehlkopfentzündung«, sagt Nan und runzelt die Stirn, als ihr Blick auf meine gepackten Sachen fällt. »Gott, so wird doch alles total knittrig.«

»Stört mich ni–« Weiter komme ich nicht, denn da hat sie den Karton schon auf meinem Bett ausgeleert.

»Wo ist dein Koffer?« Sie fängt an, meine Sachen in kleine Stapel aufzuteilen. »Der blau karierte mit deinem Monogramm?«

»Keine Ahnung.«

»Ich gehe im Keller nachschauen«, ergreift Ma erleichtert die Gelegenheit, das Zimmer zu verlassen. »Was ist mit diesem Mädchen, Timothy? Soll ich dir das Telefon bringen?«

Ich wüsste nicht, welchem Mädchen ich irgendetwas zu sagen hätte. Außer Alice Garrett. Die mich definitiv nicht anrufen würde.

»Sag ihr, ich bin nicht da.«

Nie wieder.

Nan faltet hektisch Kleidungsstücke zusammen und sortiert meine Hemden nach Farbe und Material. Ich halte ihre Hände fest. »Hey. Lass es. Das ist nicht wichtig.«

Sie schaut auf. Shit, sie weint.

Wir Masons sind nah am Wasser gebaut. Muss irgendeiner dieser irischen Flüche sein. Ich schlinge ihr einen Arm um den Nacken und klopfe ihr auf den Rücken. Sie fängt an zu husten und muss kurz lachen.

»Du kannst mich jederzeit besuchen kommen, Nano. Wann immer du das Gefühl hast … es hier nicht mehr auszuhalten … oder so.«

»Das wird aber nicht dasselbe sein«, sagt Nan und wischt sich mit dem Saum meines Hemds über die Nase.

Sie hat recht. Es wird nicht dasselbe sein. Nie wieder die ganze Nacht alte Steve-McQueen-Filme schauen, weil ich ihn cool finde und Nan ihn sexy. Keine Lakritzstangen und Schokoriegel mehr, die wie durch Zauberhand in meinem Zimmer auftauchen, weil Nan weiß, dass regelmäßige Zuckerzufuhr das einzige sichere Heilmittel gegen Drogenabhängigkeit ist.

»Sieh es von der positiven Seite. Du musst nie mehr meinen lahmen Arsch decken, wenn ich die ganze Nacht weg bin, musst nie mehr irgendwelche Ausreden aus dem Ärmel schütteln, wenn ich mal wieder irgendwo nicht aufgetaucht bin, und du musst dich nie wieder von mir um Kohle anschnorren lassen.«

Sie tupft sich mit meinem Hemd die Augen ab. Ich ziehe es aus und gebe es ihr. »Behalte es, dann hast du etwas, das dich an mich erinnert.«

Sie fängt tatsächlich an, es zusammenzufalten, und starrt anschließend tieftraurig auf das ordentliche kleine Quadrat. »Manchmal kommt es mir so vor, als würde ich jeden vermissen, den ich je gekannt habe. Ich vermisse sogar Daniel. Ich vermisse Samantha.«

»Daniel war ein aufgeblasenes Arschloch und ein mieser Freund. Samantha, deine eigentlich beste Freundin, ist nur zehn Straßen und zehn Minuten – oder eine Handy-Nachricht – weit entfernt.«

Sie hockt sich auf den Boden, zieht ihre knochigen Knie an die Brust und legt ihre Stirn darauf, sodass ihre Haare ihr vom Weinen gerötetes Gesicht verdecken. Nan und ich sind beide rothaarig, aber sie hat die ganzen Sommersprossen abbekommen und ist von Kopf bis Fuß damit übersät, während ich sie nur auf der Nase habe. Sie schaut mit kläglichem, bebendem Gesicht zu mir auf. Ich hasse dieses Gesicht. Damit kriegt sie mich immer klein.

»Du wirst schon klarkommen, Nan.« Ich tippe mir an die Schläfe. »Du bist genauso intelligent wie ich. Und viel weniger verkorkst. Jedenfalls soweit die meisten Leute wissen.«

Nan zuckt zurück. Wir fechten ein stummes Blickduell aus, während die Anspielung zwischen uns in der Luft hängt. Schließlich schaut sie weg und macht sich daran, mit akribischer Sorgfalt ein T-Shirt zusammenzufalten, als gäbe es nichts Wichtigeres auf der Welt.

»Wie auch immer«, murmelt sie und geht nicht weiter darauf ein.

Ich taste über die Tagesdecke auf meinem Bett, finde meine Zigaretten, zünde mir eine an und nehme einen tiefen Zug. Ich weiß, dass es Gift für mich ist, aber Gott, wie schafft es bloß irgendjemand, ohne zu rauchen, den Tag zu überstehen? Ich lege die brennende Kippe im Aschenbecher ab und klopfe meiner Schwester erneut auf den Rücken, sanfter diesmal.

»Komm schon. Mach dich nicht verrückt. Du weißt doch, wie Pa ist. Für ihn zählt nur, dass unterm Strich ein positives Ergebnis rauskommt. Job – Häkchen. Highschool-Abschluss – Häkchen. College – Häkchen. Hauptsache, der Schein wird gewahrt.«

Ich weiß nicht, ob es meiner Schwester hilft, aber während ich rede, kühlt sich der in meinem Magen zuckende Feuerball ab und löst sich auf. Anderen etwas vorspielen. Darin bin ich ziemlich gut.

Ma steckt den Kopf ins Zimmer. »Der junge Garrett ist hier. Du liebe Güte, Tim. Zieh dir was über.« Sie wühlt in einer Kommodenschublade und wirft mir ein Sommercamp-T-Shirt zu, von dem ich dachte, ich hätte es schon vor Jahren aussortiert. Nan springt auf, wischt sich die Tränen weg, zupft an ihrem eigenen Shirt herum und wischt sich die Hände an ihren Shorts ab. Sie hat unzählige nervöse Ticks – Nägel kauen, Haarsträhnen drehen, Kugelschreiberminen rein- und rausdrücken. Ich habe schon immer zu denen gehört, die mit einem gefälschten Ausweis, einem entspannten Gesichtsausdruck und einem Lächeln durchkommen. Meine Schwester schafft es, selbst dann schuldbewusst auszusehen, wenn sie betet. Auf der Treppe werden Schritte laut, kurz darauf klopft es an der Tür – endlich mal jemand, der anklopft! –, und Jase kommt herein und schiebt sich die feuchten Haare aus der Stirn.

»Scheiße, Mann. Wir haben noch nicht mal angefangen, die Sachen in den Wagen zu packen, und du bist schon am Schwitzen?«

»Bin hierhergerannt.« Er stützt die Hände auf den Knien ab und schaut zu meiner Schwester. »Hey, Nan.«

Nan, die ihm den Rücken zuwendet, nickt ihm kurz zu. Als sie sich umdreht, um sorgfältig zu Bällen ineinandergestülpte Socken in meinen Karton fallen zu lassen, betrachtet sie ihn verstohlen. Jase ist die Art von Typ, den Mädchen immer zweimal anschauen.

»Du bist hergerannt? Von dir sind es ungefähr fünf Meilen bis hier! Bist du verrückt?«

»Drei Meilen, und nein, ich bin nicht verrückt.« Jase lehnt sich an die Wand und fängt an, seine Beine zu dehnen. »Bin total außer Form, nachdem ich den ganzen Sommer im Laden rumgehockt habe. Nicht mal die drei Wochen Trainingslager haben was gebracht.«

»Du machst trotzdem einen ziemlich fitten Eindruck«, sagt Nan, das Gesicht hinter ihren Haaren versteckt, dann sieht sie mich an, murmelt: »Wehe du haust ab, ohne dich zu verabschieden, Tim«, und verlässt fluchtartig das Zimmer.

Jase, der offensichtlich nichts von dem kleinen Hormonschub meiner Schwester mitbekommen hat, sieht sich im Raum um. »Bist du fertig?«

»Ähm … glaube schon.« Ich sehe mich ebenfalls um, überlege, ob ich irgendwas vergessen habe, aber das Einzige, was mir noch einfällt, ist mein Muschelaschenbecher. »Jedenfalls, was meine Klamotten angeht. Ich bin eine absolute Niete im Packen.«

»Zahnbürste?«, hakt Jase gutmütig grinsend nach. »Rasierer? Irgendwelche Bücher? Sportausrüstung?«

»Glaub nicht, dass ich meinen Lacross-Schläger noch mal brauche.« Ich klopfe die nächste Zigarette aus dem Päckchen.

»Fahrrad? Skateboard? Schwimmsachen?« Jase schaut zu mir rüber, ein Lächeln, das im Schein meines Feuerzeugs aufblitzt.

Ma kommt so schnell ins Zimmer zurückgestürmt, dass die Tür gegen die Wand knallt. In der einen Hand hat sie einen Regenschirm und einen riesigen gelben Regenmantel, in der anderen ein Bügeleisen. »Das hier willst du bestimmt auch mitnehmen. Soll ich dir vielleicht noch deine Decken einpacken? Was ist eigentlich mit dem netten Jungen passiert, bei dem du einziehen wolltest?«

»Hat nicht geklappt.« Soll heißen: Der nette Junge – mein AA-Kumpel Connell – hatte einen Rückfall und ist wieder auf Alkohol und Crack. Er war so dicht, als er mich anrief und irgendwelche fadenscheinigen Entschuldigungen von sich gab, dass er kaum einen vollständigen Satz herausgebracht hat. Das Apartment über der Garage der Garretts ist also die beste Option, die ich habe.

»Gibt es in diesem … diesem Loch überhaupt eine Heizung?«

»Großer Gott, Ma. Du weißt doch gar nicht, wie es dort aussieht, verdammt noch …«

»Die Heizung funktioniert sogar ziemlich gut«, sagt Jase, ohne auch nur im Mindesten gekränkt zu wirken. »Mein Bruder hat dort gewohnt, und Joel hat es gern komfortabel.«

»Oh, verstehe. Dann werde ich euch beide mal … weitermachen lassen.« Sie fährt sich durch die Haare und entblößt dabei kurz den grauen Ansatz ihrer roten Haare. »Und vergiss nicht, die hübschen Grußkarten einzupacken, die Tante Nancy dir geschickt hat, für den Fall, dass du dich schriftlich bei jemandem bedanken musst.«

»Würde mir im Traum nicht einfallen, Ma. Ähm, sie zu vergessen, meine ich.«

Jase senkt grinsend den Kopf, dann hebt er sich den Karton auf die Schulter.

»Was ist mit den Kissen?«, fragt Ma ihn. »Die kannst du dir doch bestimmt noch unter den anderen Arm klemmen, so ein strammer junger Mann, wie du einer bist, nicht wahr?«

Jesus Christus.

Er hebt gehorsam einen Ellbogen an und sie stopft ihm zwei Kissen unter die Achsel.

Ich schaue mich ein letztes Mal im Zimmer um. An der Pinnwand über meinem Schreibtisch hängt ein Zettel mit einer Liste, über der in roter Schrift DER KERL, DER HÖCHSTWAHRSCHEINLICH … steht – in Anlehnung an die Rubrik in den Schuljahrbüchern, in der Vermutungen darüber angestellt werden, was aus den Schülern des Abschlussjahrgangs einmal werden wird. An einem der wenigen Tage im letzten Herbst, an den ich mich noch deutlich erinnern kann, war ich mit ein paar Leuten aus meiner (Versager-)Clique draußen beim Bootshaus, wo die Schule die Kajaks lagert (und die Kiffer ihr Gras). Irgendwann fingen wir damit an, unsere eigenen Listen zu erstellen, quasi als Gegenentwurf zu den bescheuerten klassischen Jahrbucheinträgen: Der Kerl, der höchstwahrscheinlich mit fünfundzwanzig Millionär sein wird. Das Mädchen, das höchstwahrscheinlich eine eigene Reality-Show haben wird. Der Kerl, der höchstwahrscheinlich einen Profiliga-Vertrag bekommen wird. Keine Ahnung, warum ich den Zettel aufgehoben habe.

Ich nehme ihn von der Wand, falte ihn sorgfältig zusammen und stecke ihn in meine Hosentasche.

Sobald Jase, der im Flur auf mich gewartet hat, die knarrende Eingangstür geöffnet hat und auf dem Weg zum Wagen ist, kommt Nan um die Ecke.

»Tim«, flüstert sie und legt mir eine kühle Hand auf den Arm. »Lös dich nicht einfach in Luft auf.« Als würde ich wie der Nebel, der vom Fluss aufsteigt, verdunsten, wenn ich von zu Hause fortgehe.

Vielleicht werde ich das ja.

Als wir in die Einfahrt der Garretts biegen, bin ich gerade dabei, den Zigarettenanzünder zu drücken, um mir die vierte Kippe in Folge anzustecken, während die dritte noch zwischen meinen Fingern klemmt. Könnte ich sie alle auf einmal rauchen, hätte ich es sofort getan.

»Du solltest dir die Dinger echt abgewöhnen«, sagt Jase. Er schaut dabei aus dem Fenster und erspart mir einen vorwurfsvollen Blick.

Ich will die bis zum Filter runtergerauchte Kippe schon nach draußen schmeißen, kann mich aber im letzten Moment noch zurückhalten.

Keine wirklich gute Idee, sie neben Patsys Bobby Car und Georges hellblaues Minifahrrad mit Stützrädern zu werfen. Außerdem glaubt George, ich hätte damit aufgehört.

»Hab’s versucht«, antworte ich. »Geht nicht. Außerdem habe ich schon das Trinken, die Drogen und den Sex aufgegeben. Nicht, dass ich zu perfekt werde, wenn ich nicht wenigstens noch ein paar Laster hab.«

Jase schnaubt leise und öffnet die Beifahrertür. »Sex? Ich glaub nicht, dass du damit aufhören musst.«

»Mit dem Sex, den ich hatte, leider doch. Ich hab mit jeder rumgemacht, die mich rangelassen hat.«

Jetzt ist Jase derjenige, der ein verlegenes Gesicht zieht. »Bist du echt auch nach Sex süchtig gewesen?«, fragt er, mit einem Bein schon draußen, mit dem anderen noch im Wagen, und stupst mit der Spitze seines Converse einen Stapel alter Zeitungen an, der im Fußraum liegt.

»Nicht im Sinne von, dass ich ohne nicht leben konnte. Vom Alkohol und den Drogen abgesehen, war es einfach … eine weitere Möglichkeit, mich abzulenken. Mich zu betäuben.«

Er nickt, als hätte er es verstanden, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass das nicht der Fall ist. »Ich hab mich auf Partys volllaufen lassen und dann mit Mädchen rumgemacht, die ich gar nicht mochte oder noch nicht mal kannte. So richtig Spaß gemacht hat das eigentlich nie.«

»Vielleicht ändert sich das, wenn du es irgendwann mal nüchtern versuchst und mit jemandem, für den du wirklich was empfindest«, erwidert Jase und steigt jetzt richtig aus.

»Tja.« Ich zünde mir eine letzte Zigarette an. »Das kann noch dauern.«

Drittes Kapitel

Da ist eine Eule in unserem Tiefkühlfach«, stoße ich zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. »Kann mir das vielleicht irgendeiner von euch erklären?«

Meine drei kleineren Brüder schauen mich mit ausdruckslosen Gesichtern an. Meine jüngere Schwester tippt, ohne aufzuschauen, weiter auf ihrem Handy herum.

Ich stelle die Frage noch einmal.

»Harry hat sie da reingemacht«, sagt Duff.

»Duff hat gesagt, dass ich sie da reinmachen soll«, sagt Harry.

George, mein jüngster Bruder, reckt den Hals. »Was für eine Eule? Ist sie tot? Ist sie so weiß wie Hedwig?«

Ich stupse die steinharte Eule an, die in einem Gefrierbeutel steckt. »Sehr tot. Und nein, sie ist nicht weiß. Außerdem hat jemand die letzten Eiswaffeln gegessen und schon wieder die leere Packung dringelassen.«

Sie zucken alle mit den Achseln, als wäre das ein genauso unlösbares Mysterium wie die Eule.

»Okay, versuchen wir es noch mal. Warum ist die Eule im Tiefkühlfach?«

»Harry will sie nach den Ferien am Mitbring-Tag in die Schule mitnehmen«, sagt Duff.

»Sanjay Sapati hat letztes Jahr einen Seehundschädel dabeigehabt. Aber meine Eule ist viel cooler. Die Augäpfel sind zwar schon ein bisschen verwest, aber man kann sie immer noch ganz gut erkennen.« Harry rührt stirnrunzelnd in seinem Haferbrei, den es heute zum Mittagessen gibt. Ich habe versucht, es als was Besonderes zu verkaufen, zum Mittagessen zu frühstücken, aber das hat ihn offensichtlich nicht überzeugt. Harry dreht den Löffel um und schüttelt ihn ein paarmal, aber der Haferbreiklumpen bleibt mit der gleichen Hartnäckigkeit daran kleben, die mein Bruder an den Tag legt, als er mir jetzt vorwurfsvoll den Löffel hinhält.

»Es wird gegessen, was auf den Tisch kommt«, sage ich.

»Aber das ist ekelhaft, Alice.«

»Du hast gehört, was ich gesagt habe«, entgegne ich und muss mich ziemlich zusammenreißen, um nicht die Geduld zu verlieren. Das ist alles nur vorübergehend. Nur bis es Dad ein bisschen besser geht und Mom nicht mehr an drei Orten gleichzeitig sein muss. »Haferbrei ist gesund«, füge ich hinzu, muss meinem siebenjährigen Bruder allerdings recht geben. Der Gang zum Supermarkt ist längst überfällig. Im Kühlschrank sind nur noch Eier, Apfelmus und Ketchup, der Vorratsschrank ist bis auf Joels Proteinpulver leer, und das Einzige, was die Gefriertruhe noch hergibt, ist … eine tote Eule.

»Tut mir leid, Jungs, aber die Eule muss hier raus.« Ich versuche, Moms vernünftigen Tonfall nachzuahmen. »Davon wird die Eiscreme schlecht.«

»Können wir nicht lieber Eis essen statt das Zeug hier?« Harry rammt seinen Löffel in den Haferbrei, wo er so solide stehen bleibt wie ein Grabstein auf einem grauen Hügel.

Ich versuche ihnen den Brei schmackhaft zu machen, indem ich ihnen sage, dass es genau der gleiche ist, den die drei Bären in Goldlöckchen gegessen haben, aber George und Harry kaufen mir die Geschichte nicht so ganz ab. Duff ist mit elf sowieso schon zu alt dafür, und Andy rümpft die Nase und sagt: »Ich esse später was. Bin jetzt sowieso viel zu nervös dazu.«

»Wegen Kyle Comstock nervös zu sein, ist echt bescheuert«, sagt Duff. »Der Typ ist das totale Pupsgesicht.«

»Puuuuups«, ruft Patsy von in ihrem Hochstuhl aus, die mit ihren achtzehn Monaten gern alles nachplappert.

»Du hast doch von nichts eine Ahnung«, sagt Andy und rauscht aus der Küche – garantiert um das weiß der Teufel wievielte Outfit für die Segelcamp-Preisverleihung anzuprobieren. Die erst in sechs Stunden stattfindet.

»Wen interessiert schon, was sie anhat? Ist doch bloß ein dämlicher Segelpreis«, murrt Duff. »Von dem Zeug muss ich spucken, Alice. Das ist wie dieser Haferschleim, den Oliver Twist essen musste.«

»Er wollte sogar einen Nachschlag«, kontere ich.

»Weil er am Verhungern war«, kontert Duff.

»Okay, hört endlich auf, so rumzunörgeln, und esst das verdammte Zeug.«

Georges Augen werden groß. »Mommy sagt das Wort nie. Daddy hat nämlich gesagt, dass man das nicht sagen soll.«

»Tja, Mommy und Daddy sind aber nicht hier, oder?«

George schaut traurig auf seinen Haferbrei hinunter und stochert darin herum, als könnte er Mom und Dad dort finden.

»Tut mir leid, Georgie«, sage ich schuldbewusst. »Hey, was haltet ihr von Rührei, Jungs?«

»Nein!«, rufen alle drei hastig im Chor. Das letzte Rührei, das ich ihnen gemacht habe, scheint ihnen nicht in guter Erinnerung geblieben zu sein. Seit Mom so viel Zeit in Sprechzimmern von Ärzten verbringt – weil sie selbst einen Termin zur Schwangerschaftskontrolle hat oder weil es etwas zu Dads weiterem Therapieverlauf zu besprechen gibt –, haben sie die ganze Bandbreite meiner beschränkten kulinarischen Talente über sich ergehen lassen müssen.

»Ich werfe die Eule weg, wenn du uns Geld gibst, damit wir in der Stadt frühstücken können«, sagt Duff.

»Alice!«, sagt Andy verzweifelt. »Ich hab gleich gewusst, dass es nicht passt.« Sie steht in dem Sommerkleid, das ich ihr geliehen habe, in der Tür und zupft frustriert am Ausschnitt herum. »Wann gehöre ich endlich nicht mehr in den Winzig-kleine-Möpse-Klub? Du bist dort schon mit zwölf ausgetreten.« Ihre Stimme klingt vorwurfsvoll, so als hätte ich mir den letzten verfügbaren größeren Busen in der Familie unter den Nagel gerissen.

»Möpse-Klub?« Duff fängt an zu lachen. »Und wer hat den gegründet? Ich wette, Joel. Und Tim.«

»Du bist echt so was von unreif, dass es mich jünger macht, wenn ich dir bloß zuhöre«, fährt Andy ihn an. »Was soll ich denn jetzt machen, Alice? Ich liebe dieses Kleid. Ich träume schon seit einer Ewigkeit davon, es anzuziehen, aber bis jetzt hast du es mir nie leihen wollen. Ich sterbe, wenn ich es nicht tragen kann.« Sie schaut sich mit wildem Blick in der Küche um. »Soll ich mir vielleicht irgendwas in den Ausschnitt stopfen? Aber was?«

»Brotkrumen?«, prustet Duff. »Haferflocken? Eulenfedern?«

Ich zeige mit dem Haferbreilöffel auf sie. »Niemals ausstopfen, verstanden? Steh zu dem, was du hast.«

»Ich will dieses Kleid anziehen.« Andy schaut mich finster an. »Es ist perfekt. Außer dass es mir oben herum nicht passt. Hast du nicht noch irgendwas anderes? Etwas, in dem ich nicht flach wie ein Brett aussehe?«

»Hast du schon mal Samantha gefragt?« Ich werfe Duff, der gerade dabei ist, sich mehrere Küchenschwämmchen unter sein T-Shirt zu stopfen, einen warnenden Blick zu. Harry, der zwar nicht versteht, worum genau es hier geht – das hoffe ich jedenfalls –, aber einfach Spaß daran hat, Andy zu ärgern, schnappt sich ein paar Windeln von Patsy und macht es Duff nach. Samantha, die Freundin meines Bruders, ist mit sehr viel mehr Geduld gesegnet als ich. Vielleicht weil sie nur eine Schwester hat, mit der sie klarkommen muss, die noch dazu älter ist.

»Sie bringt mit ihrer Mom ihre Schwester ins College und ist wahrscheinlich erst heute Abend wieder da. Alice! Was soll ich denn jetzt machen?«

Allein schon bei der bloßen Erwähnung von Grace Reed – Sams Mutter, die so etwas wie die Erzfeindin unserer Familie ist – spannen sich meine Kiefermuskeln an. Oder liegt es vielleicht an der Eule, die immer noch in unserem Gefrierfach liegt? Gott. Hol mich hier raus.

»Ich sterbe vor Hunger«, stöhnt Harry. »Bis heute Abend bin ich bestimmt verhungert.«

»Es dauert drei Wochen, bis man verhungert«, klärt George ihn auf, dessen schulmeisterliche Aura von einem Kakao-Schnurrbart unterstrichen wird.

»Aaaahhh! Niemand hier interessiert sich für das, was ich durchmache!« Andy stürmt davon.

»Das sind die Hormone«, raunt Duff Harry zu. Seit er diesen Satz einmal von Mom gehört hat, halten meine kleinen Brüder Hormone für eine ansteckende Krankheit.

Mein Handy vibriert auf der zugemüllten Küchentheke. Brad schon wieder. Statt dranzugehen, fange ich an, Küchenschränke aufzureißen. »Okay, Leute. Wir haben nichts mehr im Haus, kapiert? Wir können erst einkaufen gehen, wenn unser wöchentlicher Scheck vom Laden da ist, davon abgesehen hat sowieso niemand Zeit, einkaufen zu gehen. Ihr könnt es euch aussuchen – entweder Haferbrei oder leere Bäuche. Es sei denn, ihr wollt Toast mit Erdnussbutter.«

»Nicht schon wieder.« Duff rutscht vom Stuhl und trottet aus der Küche.

»Igitt.« Harry steht auf und stößt dabei versehentlich sein Glas Orangensaft um, schlurft Duff aber hinterher, ohne die Sauerei aufzuwischen.

Wie hält Mom das nur aus? Ich schließe die Augen, massiere mir erschöpft den Nacken und blende die tückische kleine Stimme aus, die fragt: Warum hält Mom das nur aus?

George versucht tapfer seinen Haferbrei weiter zu essen und pult eine Haferflocke nach der anderen aus der zähen Masse.

»Lass gut sein, G. Du magst Erdnussbutter doch immer noch, oder?«

George seufzt tief, als wäre er mit seinen vier Jahren der Welt schon überdrüssig, stützt seine sommersprossige Wange in die Hand und sieht mich mit einem Blick an, der mich an den von Jase erinnert. »Man kann aus Erdnussbutter Diamanten machen. Hab ich gelesen gehabt.«

»Einfach nur hab ich gelesen«, korrigiere ich ihn seufzend und schütte noch ein paar Rosinen auf das Tischchen von Patsys Hochstuhl.

»Bah«, sagt sie, hebt jede Rosine einzeln auf und wirft sie mit spitzen Fingern auf den Boden.

»Meinst du, wir können aus dieser Erdnussbutter Diamanten machen?«, fragt George hoffnungsvoll, als ich das Glas aufschraube.

»Ich wünschte, wir könnten es, Georgie«, sage ich und schaue genau in dem Moment zu dem leeren Küchenschrank neben dem Fenster rüber, in dem ein dunkelblauer Jetta in die Einfahrt biegt. Ein hochgewachsener Typ steigt aus, dessen kastanienroter Haarschopf in der Sonne wie ein brennendes Streichholz aufleuchtet.

Großartig. Genau das, was unserem hochentzündlichen Familienmix noch gefehlt hat. Tim Mason. Das menschliche Äquivalent zu Sprengstoff.

✴✴✴

Nachdem wir die knarrenden Garagenstufen hochgestiegen sind, holt Jase einen Schlüssel aus der Hosentasche, schließt die Tür auf und knipst das Licht an. Ich schiebe mich an ihm vorbei und lasse den Karton auf den Boden fallen. Die Decke in Joels altem Apartment ist ziemlich niedrig, die Einrichtung besteht aus alten, zu Bücherregalen umfunktionierten Obstkisten, einer hässlichen Couch, einem kleinen Kühlschrank, einer Mikrowelle, einem Sitzsack aus Jeansstoff und einer gigantischen Hantelbank mit tonnenweise Gewichten. Von den mit Bikinischönheiten zugepflasterten Wänden springen einem von allen Seiten Brüste entgegen.

»In dieses totale Klischee von einer Jungsbude hat Joel die ganzen Au-pair-Mädchen abgeschleppt? Da hätte ich ihm aber etwas mehr Stil zugetraut.«

Jase zieht eine Grimasse. »Willkommen im Land der nackten Hintern. Schätze, die Kindermädchen hat es nicht weiter gestört, weil es wahrscheinlich genau dem Bild entspricht, das sie von amerikanischen Jungs haben. Soll ich dir dabei helfen, sie abzureißen?«

»Nicht nötig. Statt Schäfchen zähle ich einfach Möpse, falls ich mal wieder nicht schlafen kann.«

Jase macht einen kleinen Rundgang durchs Apartment, leert mit angewidertem Gesicht einen Abfalleimer und fragt dann: »Meinst du, du kommst klar hier?«

»Auf jeden Fall.« Ich ziehe den Zettel von meiner Pinnwand aus der Hosentasche und hefte ihn an ein Boxenluder in einem freizügig geschnittenen pinken Badeanzug, das die Kühlschranktür ziert.

Jase überfliegt die Liste und schüttelt den Kopf. »Hör zu, Mase … du weißt, du kannst jederzeit zu uns rüberkommen.«

»Keine Sorge, Garrett. Ich war im Internat. Ist nicht so, als ob ich im Dunkeln Angst hätte.«

»Idiot«, sagt er grinsend und zeigt in Richtung Badezimmer. »Die Spülung spinnt manchmal. Wenn es gar nicht mehr geht, gib Bescheid, dann kümmere ich mich darum. Und noch mal – du bist immer bei uns willkommen. Ansonsten kannst du mir auch gern Gesellschaft leisten, wenn ich frühmorgens Zeitungen ausfahre. Ich muss jetzt los, Samantha abholen. Sie ist doch nicht nach Vermont gefahren. Hast du Lust, mitzukommen?«

»Mit den perfekten Highschool-Sweethearts? Nein danke. Ich bleibe lieber hier und versuche, die Spülung endgültig zu schrotten. Wenn ich es geschafft habe, gebe ich dir Bescheid.«

Er zeigt mir grinsend den Finger und geht.

Zeit, meinen Hintern zu einem Meeting zu bewegen. Besser das, als hier allein mit einem Haufen silikonsüchtiger Bikinimodels und meinen trüben Gedanken herumzuhocken.

Viertes Kapitel

Als ich nach dem Meeting – das die Anspannung nur teilweise gelindert hat – über den wuchernden Rasen der Garretts gehe, sehe ich als Erstes Jase’ ältere Schwester Alice, die sich im Vorgarten sonnt.

In einem Bikini.

Sündiges Scharlachrot.

Im Nacken gelöste Träger.

Olivfarbene Haut.

Feuerrot lackierte Zehennägel.

Gibt es irgendetwas auf dieser Erde, das meine Laune mehr heben könnte als der Anblick von Alice Garrett in einem Bikini?

Von Alice Garrett ohne Bikini mal abgesehen. (Was mir noch nie vergönnt war – aber ich habe eine blühende Fantasie.)

Sie sitzt mit geschlossenen Augen auf einem kleinen blau-grün gestreiften Campingstuhl, der Kopf ruht schwer auf ihrer Schulter, und ihre langen Haare, deren Farbe ständig wechselt (zurzeit braun mit blonden Strähnen), wellen sich in der spätsommerlichen Hitze. Weil ich ein skrupelloser Mistkerl bin, lasse ich mich neben sie ins Gras fallen und betrachte sie ungeniert.

Oh, Alice.

Ein paar Sekunden später öffnet sie blinzelnd die Augen, schirmt sie mit der Hand gegen die Sonne ab und sieht mich an.

»Genau jetzt«, sage ich, »wäre der perfekte Zeitpunkt, um unschöne Bikinistreifen zu vermeiden. Falls du dabei meine Hilfe brauchst – ich stehe jederzeit zu Diensten.«

»Genau jetzt«, sagt sie mit dem Lächeln einer Serienmörderin, »wäre der perfekte Zeitpunkt, dämliche Kommentare zu vermeiden.«

»Ach, Alice, eines Tages wird dir klar werden, dass ich von Anfang an der Richtige für dich war, und du wirst dich selbst dafür verfluchen, so viel kostbare Zeit vergeudet zu haben. Aber ich verspreche dir, dass ich dann da sein und dich darüber hinwegtrösten werde.«

»Tim, ich würde dich bei lebendigem Leib verschlingen und dann wieder ausspucken.« Sie beugt sich vor, bindet die Bikiniträger im Nacken und lehnt sich wieder zurück. Gott. Ich kann kaum noch atmen.

Aber ich kann reden. Das kann ich immer.

»Dazu könnten wir später kommen, Alice. Wie wäre es für den Anfang mit ein bisschen sanftem Knabbern?«

Alice schließt die Augen, öffnet sie wieder und wirft mir einen nicht zu deutenden Blick zu.

»Warum hast du keine Angst vor mir?«, fragt sie.

»Oh, du jagst mir sogar eine Heidenangst ein«, versichere ich ihr. »Aber das stört mich nicht im Geringsten.«

Sie setzt zu einer Antwort an, doch genau in dem Moment kommt der Familien-Minivan die Einfahrt hochgerollt. Er sieht noch zerschrammter aus als sonst. Am rechten Kotflügel blättert der Lack ab, über die hintere Schiebetür verläuft eine wie mit einem Schlüssel gezogene Kratzspur, die mit Rostschutzmittel überpinselt wurde. Bei je einem Vorder- und Hinterreifen fehlen die Radkappen. Als Alice aufstehen will, lege ich ihr eine Hand auf die glatte gebräunte Schulter und drücke sie sanft in den Sitz zurück.

»Ich geh schon.«

Sie schaut einen Moment unschlüssig zu mir auf und zuckt dann mit den Achseln. »Danke.«

Mrs Garrett, die so eine Art hellblauen Strandkaftan trägt und ziemlich fertig aussieht, steigt aus dem Wagen.

»Alles okay?«, frage ich, was in Anbetracht des ohrenbetäubenden Kreischens, das mir entgegenschlägt, als ich die hintere Schiebetür aufmache, eher ironisch gemeint ist. Patsy, George und Harry sitzen mit roten Gesichtern schweißgebadet auf der Rückbank. Patsy, deren Mund zu einem riesigen O geformt ist, schreit wie am Spieß, George hat ebenfalls Tränen in den Augen, und Harry sieht aus, als wäre er stinksauer.

»Ich bin kein Baby mehr«, erklärt er mir finster.

»Ist mir klar, Mann«, versichere ich ihm, obwohl er eine Badehose mit kleinen roten Feuerwehrhelmen anhat.

»Sie«, er deutet mit seinem sandigen Zeigefinger anklagend auf seine Mutter, »hat uns gezwungen, vom Strand nach Hause zu fahren.«

»Du weißt genau, dass Patsy ihren Mittagsschlaf machen muss, Harry. Wenn du willst, kannst du ein bisschen im Pool schwimmen, und vielleicht können wir nach Andys Preisverleihung im Castle’s noch ein Eis essen gehen.«

»Im Pool schwimmen ist total lahm«, stöhnt Harry. »Wieso konnten wir nicht wenigstens noch auf den Eiswagen warten, Mommy. Da gibt’s Spiderman Bomb Pops.« Er stapft auf seinen dünnen Beinen wütend die Verandatreppe hoch, die schmalen Schultern nach vorn gebeugt, als laste die Ungerechtigkeit der ganzen Welt auf ihnen.

»Oh-oh«, sage ich, als die Fliegengittertür hinter ihm zuschlägt. »Sieht mir nach schwerer Kindesmisshandlung aus.«

Mrs Garrett lacht. »Ich bin die fieseste Mom, die man sich nur vorstellen kann. Das weiß ich aus zuverlässiger Quelle.« Sie wirft George einen verstohlenen Blick zu, bevor sie sich so dicht zu mir beugt, dass mir der Duft ihrer Kokos-Sonnenmilch in die Nase steigt. Mein erster Gedanke ist, dass sie prüfen will, ob ich eine Alkoholfahne habe – der einzige Grund, warum Erwachsene mir sonst so nahe kommen –, aber stattdessen flüstert sie: »Kein Wort über Asteroiden.«

Nicht gerade das Thema, mit dem ich üblicherweise eine Unterhaltung beginne, sie kann also ganz unbesorgt sein.

Aber George umklammert mit bebenden Schultern eine Ausgabe der Newsweek, Patsy ist immer noch ein schluchzendes Häufchen Elend, und Mrs Garrett schaut zwischen den beiden hin und her, als versuche sie zu entscheiden, um wen sie sich als Erstes kümmern soll.

»Ich übernehme den kleinen Schreihals hier«, sage ich, worauf sie mich dankbar anlächelt und Patsys Kindersitz aus der Halterung löst. Umso besser, ich habe nämlich keine Ahnung von diesen Dingern.

Sobald sie mich sieht, schaut Patsy zu mir hoch, hört einfach so zu schreien auf und streckt mir beide Arme entgegen.

»Ti«, sagt sie und bekommt einen Schluckauf. Hicks. »Ti!«

Ich verstehe zwar nicht, warum, aber dieses Kind ist verrückt nach mir. Als ich mich zu ihr hinunterbeuge und sie auf den Arm nehme, legt sie ihre verschwitzten kleinen Hände auf meine Wangen und tätschelt sie liebevoll, ohne sich an den Stoppeln zu stören.

»Ti! Ti!«, kräht sie und strahlt mich mit ihren spitzen kleinen Milchzähnen wie ein Babyvampir an.

Mrs Garrett hebt George aus dem Wagen und setzt ihn sich auf die Hüfte. Er kuschelt den Kopf an ihren Hals, immer noch die Zeitschrift zwischen den klebrig-feuchten Fingern.

»Du wirst einmal ein guter Vater, Tim«, sagt sie lächelnd. »Irgendwann in ferner Zukunft.«

Als ich das tröstende Gewicht ihrer Hand auf meinem Rücken spüre, bin ich plötzlich so verlegen, dass mir keine bessere Antwort einfällt als: »Na klar. Einem Mädchen einen Braten in die Röhre zu schieben hat auf meiner langen Liste von Straftaten und sonstigen moralischen Vergehen gerade noch gefehlt.«

Kaum habe ich die Worte ausgesprochen, wird mir klar, was für ein Vollidiot ich bin. Mrs Garrett sieht immer noch verdammt jung aus, obwohl ihr ältestes Kind schon zweiundzwanzig ist. Möglicherweise hat sie selbst mal einen Braten in die Röhre geschoben bekommen und musste heiraten.

Außerdem – einen Braten in die Röhren schieben? Nicht unbedingt die Ausdrucksweise, die man Eltern gegenüber anwenden sollte.

»Immer gut, einen Plan zu haben«, erwidert sie unbeeindruckt.

Sie trägt George ins Haus und lässt mich mit Patsy zurück, die ihre tränennasse weiche Wange an meine schmiegt. Alice, die immer noch die Augen geschlossen hat, ist offensichtlich von allem, was um sie herum vor sich geht, ganz weit entfernt und nur noch physisch anwesend.

»Ti.« Patsy lehnt sich nach hinten und drückt mir einen triefenden Kuss auf die Schulter, dann fängt sie an, auf Brusthöhe an meinem Hemd zu zerren, und wirft mir unter feuchten Wimpern einen fragenden Blick zu.

»Sorry, Kleines, was das angeht, kann ich dir leider nicht behilflich sein.«

Ich versuche, nicht zu Alice hinüberzuschauen, die wieder die Träger ihres Oberteils im Nacken gelöst hat. Als sie sich gähnend streckt, rutscht es ein Stück nach unten. Keine Bikinistreifen. Ich schließe einen Moment die Augen.

Patsy greift nach meinem Ohr, als wäre es ein akzeptabler Ersatz für die Brust. Vielleicht ist es das ja. Was weiß ich schon von Babys? Oder Kleinkindern oder was auch immer man mit anderthalb Jahren ist. Vielleicht geht es nur darum, sich an irgendetwas festzuhalten, ganz egal, woran. Wer könnte das besser verstehen als ich.

Fünftes Kapitel

Alice?«

»Dad?«

»Hab dich an deinen Alligators erkannt«, sagt er.

»Crocs, Dad.«

»Sag ich doch. Komm rein.«

Ich schiebe den steifen Krankenhausvorhang zur Seite. Obwohl mittlerweile schon fast ein Monat seit dem Autounfall vergangen ist, fällt es mir immer noch schwer, das »Alles wird gut«-Krankenschwesterngesicht aufzusetzen, von dem ich dachte, ich würde es bei meinem eigenen Vater nie brauchen.

Aber er sieht sehr viel besser aus. Weniger Schläuche, mehr Farbe im Gesicht, die Schwellungen abgeklungen. Aber Dad in einem Krankenhausbett zu sehen, sorgt nach wie vor dafür, dass mein Magen sich zusammenzieht und mir das Atmen schwerfällt. Bevor das alles passiert ist, habe ich ihn so gut wie nie untätig gesehen, er ist ständig in Bewegung gewesen. Das Einzige, was sich jetzt bewegt, ist eine Hand, die über Moms Haare streichelt. Sie liegt fest an ihn geschmiegt in dem schmalen Bett und schläft.

»Schsch …«, sagt Dad. »Sie ist fix und fertig.«

Natürlich ist sie das. Einen Arm hat sie unter seinen Nacken geschoben, den anderen um seine Taille geschlungen.

»Du bestimmt auch, hm?« Seine Stimme klingt immer noch leicht schleppend, aber sanft. Es ist dieselbe beruhigende Stimme, die mich in meiner Kindheit über Albträume, ungerechte Lehrer und Sophie McCade hinweggetröstet hat, die in der Achten das Gerücht verbreitete, ich hätte mir in den Sommerferien die Brüste vergrößern lassen.

»Das Gleiche könnte ich dich fragen, Dad.«

Er schnaubt leise. »Ich liege den ganzen Tag nur auf der faulen Haut.«

»Du hast eine Beckenfraktur. Von dem durch die Embolie hervorgerufenen Lungenschaden ganz zu schweigen. Es ist nicht unbedingt so, als würdest du hier faulenzen und dich mit Schokotrüffeln vollstopfen.«

Er wirft mir einen Blick zu, streicht vorsichtig Moms Haare zur Seite, damit er mich besser sehen kann. »Hab ich schon mal was von gehört, aber nie gegessen.«

»Ich auch nicht. Aber sie sollen ziemlich gut sein. Besonders die aus Belgien. Wenn ich es schaffe, welche aufzutreiben, probierst du sie dann?«

»Nur wenn du das auch machst. Wir könnten wetten, wer mehr schafft. Ist bestimmt einfacher, als in einer Stunde fünfzig hart gekochte Eier zu essen, so wie Paul Newman in …«

»Oh Gott. Sag jetzt nicht Der Unbeugsame. Was ist bloß an diesem Streifen dran, dass jedes männliche Wesen, das ich kenne, total besessen davon ist?«

»Wie der Titel schon sagt, hofft eben jeder von uns, dass er es allen Widrigkeiten zum Trotz schafft, Alice. Wir wollen alle gern glauben, dass wir ein gutes Blatt auf der Hand haben.« Er zieht sein Kissen etwas höher.

»Hab schon verstanden.« Ich greife nach der abgenutzten Schachtel mit den Spielkarten, die sich den Nachttisch mit einem wilden Sammelsurium verschiedenster Gegenstände teilt – eine rosafarbene Wasserkaraffe aus Plastik, eine Nierenschale fürs Zähneputzen, leere kleine Tablettenbecher, eine Rolle medizinisches Pflaster zum Festkleben der Infusionsschläuche, selbst gebastelte windschiefe Stifthalter und Kaffeebecher aus Ton, ein Stapel Science-Fiction-Romane, ein Foto von ihm und Mom aus der Highschool – sie mit wilden langen Locken, er mit Lederjacke.

»Ich weiß nicht, ob ich es übers Herz bringe, deine Glückssträhne zu unterbrechen«, sagt er mit diesem Grinsen, bei dem sich zuerst die Lachfältchen um seine Augen vertiefen, bevor es sich schließlich auf seinem ganzen Gesicht ausbreitet. »Wobei – gegen jemanden zu gewinnen, der unter dem Einfluss von Schmerzmitteln steht, ist nicht sonderlich schwer.«

»Ich habe sechs von sieben Spielen gewonnen, Dad. Liegt das jetzt wirklich nur an deinen Tabletten oder vielleicht doch an meiner außergewöhnlichen Begabung?«, gebe ich lächelnd zurück.

»Tja, ich nehme keine mehr, das wird sich also noch zeigen.« Er verlagert das Gewicht etwas zur Seite und wird schneeweiß im Gesicht. Sein Blick heftet sich an die Decke, seine Lippen bewegen sich, zählen stumm den Schmerz weg, während sich sein Brustkorb hastig hebt und senkt.

»Einatmen, eins, zwei, ausatmen«, murmle ich. Wehen-Atmung. Jeder in unserer Familie ist damit vertraut.

»Das sollte ich mittlerweile weiß Gott perfekt beherrschen.« Dads Stimme klingt gepresst.

»Tust du aber nicht«, sagt Mom, die mittlerweile aufgewacht ist. Ich versuche zu lächeln, was mir nicht so recht gelingen will, also konzentriere ich mich darauf, die Karten zu mischen. »Soll ich die Schwester rufen?«, frage ich, nachdem ich sie ein drittes Mal gemischt habe.

Er bedeutet mir, ihm die Karten zu geben, und fängt an, sie wie ein alter Kartentrickkünstler mit einer Hand zu mischen.

»Nur wenn sie mir Schokotrüffel bringt«, sagt er und wird dann plötzlich ernst. »Die werfen mich hier sowieso bald raus. Nicht genügend Betten, ich bin schon viel zu lange hier, bin längst wieder völlig hergestellt. Keine Ahnung, was die neueste Erklärung ist.«

»Und dann …?«

»Nach Hause«, sagt er seufzend. »Oder in eine Reha-Einrichtung. Sie haben die Entscheidung uns überlassen.« Er blickt auf Mom hinunter, lächelt, dasselbe Lächeln wie auf dem Highschool-Foto, und schiebt das Etikett, das hinten aus ihrem Kleid herausschaut, in den Kragen zurück. Sie kuschelt sich noch ein bisschen enger an ihn.

»Die Kosten für die Reha sind in dem Pakt, den wir mit dem Teufel abgeschlossen haben, mit inbegriffen«, sage ich. Unser Teufel ist vielleicht eine große blonde, konservative Senatorin, aber Pakt bleibt Pakt.

»Das ist nicht unbedingt die richtige Sichtweise, Alice.« Er schüttelt den Kopf und zuckt dann zusammen.

Ganz egal, wie oft er beteuert, dass er über den Berg ist, er hat immer noch Schmerzen. Von seiner Sommerbräune ist kaum noch etwas übrig, seine Gesichtszüge sind schärfer geworden, seine Schultern ständig hochgezogen. Er sieht mindestens vier Jahre älter aus als vor vier Wochen, und das ist ganz allein die Schuld dieser Frau. Es spielt keine Rolle, wie oft sie Samantha mit Salaten und Aufläufen aus dem Feinkostladen zu uns rüberschickt, ich kann es nicht vergessen.

»Grace Reed ist für das alles verantwortlich, Dad. Sie hat unser Leben ruiniert. Sie –«

»Schau mich an«, sagt er. Also sehe ich ihn an und versuche nicht vor dem Anblick seines an einer Stelle kahl rasierten Schädels zurückzuzucken, wo ein Loch gebohrt wurde, um den durch die Kopfverletzung verursachten Druck zu mildern. Duff, Harry und George nennen es nur Dads schrägen Haarschnitt.

»Wir haben vielleicht etwas zu kämpfen, okay. Aber davon, dass unser Leben ruiniert ist, kann keine Rede sein. Die Krankenhausrechnungen, schön und gut. Aber jetzt auch noch die Reha? Das wären Almosen.«

»Kein Almosen, Dad. Gerechtigkeit.«

»Du weißt so gut wie ich, dass es an der Zeit ist, weiterzumachen, Alice. Die Zähne zusammenzubeißen und nach Hause zurückzukehren. Wo ich gebraucht werde.«

Ich will, dass er nach Hause zurückkommt. Ich will, dass alles wieder so wird, wie es war. Dass er im Wohnzimmer auf dem Sofa liegt, wenn ich spätabends von einem Date oder was auch immer nach Hause komme, und History Channel oder National-Geographic-Dokus schaut, an der Schulter ein eingeschlafenes Baby – zuerst Duff, dann Harry, dann George, dann Patsy –, die Fernbedienung in einer Hand, fast weggedöst, aber noch wach genug, um sich ein Stück aufzurichten und zu sagen: »Wusstest du, dass Lindberghs Flugzeug, mit dem er nach Paris geflogen ist, nur mit Stoff verkleidet war? Unglaublich, wozu Menschen in der Lage sind.« Aber in meiner Ausbildung zur Krankenschwester habe ich mittlerweile schon genug gelernt, um das medizinische Fachchinesisch auf seinem Krankenblatt zu verstehen. Egal wie unglaublich es ist, wozu Menschen in der Lage sind, ein Körper hat seine Grenzen.

»Es wäre noch zu früh, und das weißt du auch«, sage ich.

Ein Muskel in Dads Kiefer zuckt.

Wie stark sind seine Schmerzen wirklich? Er hätte die Tabletten nicht absetzen sollen.

Ich reibe mir über den Nacken und setze ein Pokerface auf.

Allein die Dinge, die Mom und ich heute unter uns aufgeteilt haben. Ich habe mich ums Frühstück gekümmert, während sie mit Morgenübelkeit gekämpft und telefonisch den obligatorischen Arzttermin zum Schulbeginn für alle vereinbart hat. Dann habe ich Duff zum Augenarzt gefahren und sie hat Andy zum Kieferorthopäden begleitet und war danach mit den Kleinen am Strand. Anschließend sind wir alle zur Segelclub-Preisverleihung gegangen, wo Mom Andy auf der Toilette trösten musste, weil Jade Whelan irgendetwas Blödes zu ihr gesagt hatte. Um sie aufzumuntern, ist sie mit ihr ein Eis essen gegangen, und ich bin mit den Kids auf eine Runde Hotdogs ins Castle’s gefahren. Danach hat Mom mit der ganzen Truppe Jase vom Training abgeholt, alle zu Hause abgesetzt, ist zu Dad ins Krankenhaus und – hier eingeschlafen. Ich bin zu Hause geblieben, bis alle außer Andy im Bett waren, dann habe ich mich ebenfalls auf den Weg hierhergemacht und noch einen kurzen Stopp bei Starbucks eingelegt, um mir einen großen Kaffee zu holen. Und ich bin nur Moms Stunt-Double. Ich bin nicht Dad.

»Sobald du wieder zu Hause wärst, würdest du ständig George und Patsy auf dem Arm herumtragen. Du würdest Harry und Duff zum Fußball fahren. Andy von Schulpartys abholen. Jase im Laden unter die Arme greifen. Du hättest keine ruhige Minute, Dad. Das schaffst du noch nicht. Du würdest einen Rückfall erleiden und das würde alles nur noch schlimmer machen. Für uns alle.«

Er reibt sich seufzend die Stirn. »Eigentlich sollte ich derjenige sein, der seine sauer verdiente Lebenserfahrung an dich weitergibt.«

Mom rührt sich im Schlaf, zieht ihren Arm unter ihm hervor und legt ihn auf ihren Bauch.

Stimmt. Das neue Baby. Das vergesse ich immer mal wieder.

Dad legt seine gesunde Hand auf ihre. Er vergisst es nie.

✴✴✴

Ich verschränke die Arme auf dem Fenstersims und lege das Kinn darauf. Die Nacht ist beinahe wolkenlos und vom Zirpen der … keine Ahnung … Grillen? … Heuschrecken? … erfüllt, die im Rasen der Garretts hocken, der dringend mal wieder gemäht werden müsste. Wenn man sich anstrengt, kann man sogar den Fluss hören.

Als meine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt haben, sehe ich sie.

Alice lehnt an der Motorhaube des VW-Käfers und schaut in den Himmel. Nicht zu mir. Vollmond, ein paar Wolken, Sterne. Sie hebt sich als dunkle Silhouette von dem hellen Wagen ab, kurvig, einen Fuß auf der Stoßstange, das Mondlicht bringt ein Knie zum Schimmern.

Jesus.

Ein Knie.

Oh, Alice.

Sechstes Kapitel

Am nächsten Morgen springe ich so schnell aus dem Bett, dass es sich anfühlt, als würde mein Gehirn gegen die Innenseite meines Schädels schwappen. Wo bin ich? Das vertraute Gefühl – das Brennen, die Benommenheit – bringt meine Schläfen zum Pochen.

Ich habe mich gestern Abend volllaufen lassen.

Habe ich?

Warum sollte ich sonst so verdammt orientierungslos sein?

Mein Blick fällt auf die zwölf halb nackten Kalendergirls in absurden Posen, die mich von den Wänden herab anstarren, und da weiß ich wieder, wo ich bin. Ich reibe mir über die schweißnasse Stirn, falle auf die höllisch harte Couch zurück, auf der ich mich zu lange mit der Xbox vergnügt habe, bevor ich irgendwann eingeschlafen bin, und lausche der Leere.

Mir ist nie klar gewesen, wie unglaublich leise es ist, wenn man ganz allein in einem Gebäude ist.

Schließlich stehe ich wieder auf und fange an wie im Wahn, ein Poster nach dem anderen abzureißen, bis die Wände nackt sind und mein Atem stoßweise geht.

Laufen – ist das nicht das, was Jase macht, wenn er den Kopf freikriegen will? Ich krame in meinem Karton nach einer Jogginghose, finde aber nur eine spießige graue Stoffhose. Wer hat die denn eingepackt? Meine Turnschuhe sind ebenfalls verschollen. Am Ende begnüge ich mich mit ausgeblichenen Badeshorts und mache mich auf den Weg zum Strand. Irgendwo habe ich mal gelesen, dass die Navy Seals so ihre Trainingsläufe absolvieren, und zwar barfuß. Auf Sand zu laufen ist tausendmal anstrengender und bringt eine unglaubliche Kondition.

Ich will bis zum Pier joggen. Das müsste ungefähr eine Meile sein. Eine gute Strecke für den Anfang, oder?

Theoretisch schon – wenn eine Meile nicht so verflucht lang wäre. Ich scheine dem Pier keinen Zentimeter näher zu kommen, als wäre er eine verdammte Fata Morgana. Keuchend ringe ich nach Luft und würde am liebsten im Sand zusammenbrechen.

Ich bin siebzehn Jahre alt, Himmelherrgott noch mal. In der Blüte meines Lebens. Auf der Höhe meiner physischen Leistungsfähigkeit. Das goldene Zeitalter, auf das ich eines Tages zurückblicken werde, wenn ich selbst Kinder habe und sie mit meinen Geschichten langweile. Aber ich laufe nicht so schnell wie der Wind. Ich laufe noch nicht mal so schnell wie eine lasche Brise. Patsy könnte schneller laufen, ohne anschließend eine Sauerstoffmaske zu brauchen. Ich sinke auf die Knie und lasse mich zur Seite fallen, dann rolle ich mich auf den Rücken, schirme die Augen vor der frühen Morgensonne ab und ziehe so gierig Luft in die Lungen, als wäre sie nikotingefiltert.

Sollte das Rauchen drangeben.

»Brauchst du eine Mund-zu-Mund-Beatmung?«, fragt eine weibliche Stimme.

Shit, mir war nicht klar, dass außer mir noch jemand am Strand ist, am allerwenigsten … Alice. Wie lange hat sie mich schon beobachtet? Ich nehme die Hand von den Augen.

Ah, ein anderer Bikini. Danke, Jesus. Wenn ich vor Scham sterben werde, dann wenigstens glücklich. Der, den sie heute anhat, ist so eine Art Bond-Girl-Modell – dunkelgrün mit einem lindgrünen Reißverschluss am Oberteil und einem schmalen Gürtel am Höschen, der ihre kurvigen Hüften betont. Meine Finger fangen wie von selbst an zu zucken. Ich stecke die Hände in die Taschen meiner Shorts und balle sie zu Fäusten. »Unbedingt«, keuche ich. »Eine Mund-zu-Mund-Beatmung wäre jetzt genau das, was ich brauche.«

ENDE DER LESEPROBE