Es duftet nach Sommer - Huntley Fitzpatrick - E-Book

Es duftet nach Sommer E-Book

Huntley Fitzpatrick

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Beschreibung

Sommer, Sonne, Meer – und die erste große Liebe

Die 17-jährige Gwen kann es nicht fassen: Ausgerechnet der größte Fehler ihres Lebens, Cassidy Somers, lässt sich dazu herab, den Sommer über auf ihrer Heimatinsel als Gärtner zu jobben. Anders als Gwen, die befürchtet, sich wie ihre Eltern mit miesen Jobs durch Leben schlagen zu müssen, ist er einer der reichen Kids vom Festland. Doch Gwen träumt davon, dem allen zu entfliehen. Nur was würde das für ihr Leben bedeuten? Gwen verbringt einen berauschenden Sommer auf der Suche nach Antworten darauf, was ihr wirklich wichtig ist, an ihrem Zuhause, den Menschen, die sie liebt und schließlich an sich selbst. Und an Cassidy, der sie in einen verwirrenden Gefühlstaumel zwischen magnetischer Anziehungskraft und köstlicher Unsicherheit stürzt.

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HUNTLEY FITZPATRICK

Es duftet

nach Sommer

Aus dem Amerikanischen

von Catrin Frischer

cbj ist der Kinder- und Jugendbuchverlag

in der Verlagsgruppe Random House

1. Auflage 2014

© 2014 der deutschsprachigen Ausgabe cbj-Verlag, München

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

© 2014 Huntley Fitzpatrick

Die amerikanische Originalausgabe erschien 2014

unter dem Titel: »What I Thought Was True«

bei Dial Books, einem Imprint der Penguin Group (USA) LLC

Übersetzung: Catrin Frischer

Umschlagkonzeption: Kathrin Schüler, Berlin

unter Verwendung der Fotos von: Plainpicture/amanaimages;

Shutterstock/Pan Xunbin

MP · Herstellung: UK

Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach

ISBN 978-3-641-10165-7

www.cbj-verlag.de

Für dich, John.

Für über zwanzig Jahre deiner Liebe, Treue und Freundschaft. Für all die Augenblicke, in denen Gwen, Cass oder Nic mich zur Verzweiflung getrieben haben und du leise gesagt hast: »Ich mag sie.«

Für all die Stunden, in denen ich abgelenkt war und du dich um das Alltägliche kümmern musstest. Einkaufen, die Kinder zum Ballett fahren … in Liebesromanen ist von solchen Sachen nie die Rede. Leider.

Für euch, K, A, R, J und D, die sechs Fitzpatricks, die ihr Bücher liebt, den Strand und den Sommer. Was soll ich sagen? Ihr seid das Beste, was mir je passiert ist.

Kapitel eins

Nichts kann mir die Stimmung so vermiesen wie eine Wagenladung Jungs.

Leises Fluchen dringt aus der Imbissbude Ice CreamCastle, Dad hat sie also auch schon auf dem Schirm. Ein Trupp Highschool-Jungs steht ganz oben auf seiner Hitliste unerwünschter Kunden. Es kann ihnen nie schnell genug gehen, bis ihr Essen kommt, dann schlingen sie es runter, sauen alles ein und geben anschließend kein Trinkgeld. Behauptet er jedenfalls.

Zuerst achte ich kaum auf sie. Ich bringe ein Tablett mit schwappendem Root Beer, in Folie gewickelten Burgern und einem fettig glänzenden Haufen frittierter Muscheln an Tisch vier. In ein paar Wochen werde ich meinen Arbeitsrhythmus gefunden haben. All das hier und noch mehr zu stemmen wird keine große Sache mehr sein. Aber die Ferien haben erst vor drei Tagen angefangen. Das Castle ist seit letztem Wochenende wieder geöffnet, die Sonne knallt vom Himmel, die Frühsommerluft duftet salzig – und meine Schicht endet in ein paar Minuten. Mit den Gedanken bin ich schon am Strand. Deshalb kriege ich nicht mit, wer da vorgefahren ist, bis ich Pfiffe höre. Und meinen Namen.

Ich guck mich um. Ein Cabrio steht schief auf dem Parkplatz, nimmt zwei Plätze ein. War ja klar. Spence Channing, der gefahren ist, schüttelt sein Haar zurecht und grinst mich an. Trevor Sharpe und Jimmy Pieretti steigen aus, sie lachen.

Blitzschnell reiße ich mir meine Castle-Haube mit der zackigen goldenen Krone runter und stopfe sie in die Schürzentasche.

»Wie sieht’s denn aus mit ’nem speziellen Angebot für uns, Gwen?«, ruft Spence.

»Zieh ’ne Nummer«, rufe ich zurück. Darauf folgt der zu erwartende Chor von OOOOhs. Ich stelle das Tablett auf Tisch 4 ab und die Limodosen und Servietten aus meiner Schürzentasche dazu, noch ein schnelles, geübtes Lächeln, dann gehe ich zu dem Tisch, an dem mein Bruder auf mich wartet und verträumt Fritten durch den Ketchup zieht.

Aber schon höre ich: »Hey, Cass, guck mal, wer da ist! Und zu allem bereit.«

Und nun klettert der letzte der Jungs aus dem Auto, den Jimmys breites Kreuz bis jetzt verborgen hatte.

Unsere Blicke verhaken sich.

Die Sekunden dehnen sich, bis sie uns straff und transparent wie Angelschnur miteinander verbinden.

Ein Ruck durchfährt mich, ich schnappe die Hand meines Bruders. »Komm, Em, wir gehen nach Hause.«

Emory macht sich los. »Nicht fertig«, sagt er energisch. »Nicht fertig.« Ich kann sehen, wie seine Beinmuskeln hart werden, er zieht seine I-Am-A-Rock-I-Am-An-Island-Nummer ab. Seine Hände wedeln, wehren meine Ungeduld ab.

Das ist mein Stichwort zum Durchatmen und einen Schritt zurück zu treten. Em zur Eile anzutreiben, ihn zu drängen, endet in der Regel mit einer Katastrophe. Also schnappe ich mir seinen Ketchup getränkten Pappteller, binde meine Schürze ab und rufe Dad zu: »Muss nach Hause, kannst du uns das hier zum Mitnehmen einpacken?«

»Nicht fertig«, wiederholt Emory und reißt seine Hand los. »Gwennie, nein.«

»Werde gerade überrannt«, ruft Dad aus der Serviceluke über das Brutzeln des Grills hinweg. »Pack es selber ein.« Er wirft ein paar Stücke Folie durch die Luke und dazu noch ein paar Packungen Ketchup, Emorys Lieblingsessen.

»Weiter essen.« Emory setzt sich wieder an den Picknicktisch.

»Wir gucken uns einen Film an«, sage ich und wickele sein Essen ein. »Und es gibt Eis.«

Dad wirft einen scharfen Blick aus der Luke. Er mag ja manchmal ein bisschen ruppig mit Em umspringen, aber er kann es gar nicht leiden, wenn ich das mache.

»Eis hier.« Mein Bruder zeigt auf das Monumentalgemälde von einer Mega-Eiswaffel, das eine der falschen Zinnen schmückt. Ja, genau, das Castle sieht auch aus wie ein Schloss.

Trotzdem schleife ich ihn zum Auto, ohne mich umzuschauen, nicht mal, als jemand ruft: »Hey, Gwen? Hast du kurz Zeit?«

Ich drehe den Zündschlüssel von Moms ramponierten Bronco und gebe ordentlich Gas. Der Motor heult ohrenbetäubend auf. Allerdings nicht laut genug, um das Lachen und eine andere Stimme zu übertönen. »Die hat für jeden kurz Zeit! Wissen wir doch.«

Dad hat zum Glück den Kopf zurückgezogen, er beugt sich jetzt über den Grill. Vielleicht hat er nichts mitgekriegt.

Ich starte noch mal, nur um festzustellen, dass die Räder durchdrehen. Hab mich im tiefen Sand des Parkplatzes festgefahren. Endlich ein Ruck, der Rückwärtsgang greift, schnell zurückgesetzt und mit quietschenden Reifen rauf auf den glühend heißen Asphalt der Ocean Lane. Bin ich froh, dass die Straße leer ist.

Zwei Meilen weiter fahre ich rechts ran, schlinge die Arme ums Lenkrad, lehne die Stirn dagegen und hole tief Luft. Emory guckt mich von unten forschend an, dann reißt er schicksalsergeben die Folie auf und isst seine schlaffen, Ketchup durchweichten Fritten.

Noch ein Jahr, dann habe ich meinen Schulabschluss. Dann kann ich woanders hingehen. Dann bin ich diese Jungs los – und das ganze vergangene Jahr – lasse das alles ganz weit hinter mir im Rückspiegel.

Ich atme noch mal tief durch.

Wir sind jetzt dicht am Wasser und der Seewind streicht weich und würzig über mich hinweg, angenehm und vertraut. Deswegen kommen alle hierher. Wegen der Luft, wegen der Strände, wegen des Friedens.

Irgendwie hab ich es fertiggebracht, das Auto genau vor das große weiß-grüne Schild zu klemmen, das die offizielle Grenze zwischen Stadt und Insel markiert, dort, wo die Brücke von Stony Bay endet und Seashell Island beginnt. Das Schild steht hier schon, solange ich denken kann, und die Farbe der verschnörkelten Schreibschrift ist abgeblättert, die Verheißungen darunter jedoch sind tief eingraviert.

Der Himmel am Wasser.

Das bestgehütete Geheimnis New Englands.

Das kleine Juwel an der felsigen Küste Connecticuts.

Das alles und noch mehr sagt man über Seashell Island, der Insel, auf der ich mein ganzes Leben verbracht habe.

Und ich will hier nur weg.

Kapitel zwei

»Nur Kryptit«, erzählt Emory mir sehr ernsthaft einen Tag später. Er schüttelt sich die dunklen Haare aus dem Gesicht, die glatt und glänzend sind wie Dads. »Nur Kryptit hält ihn auf.«

»Kryptonit«, sage ich. »Stimmt genau. Jawohl, sonst ist er nicht aufzuhalten.«

»Hier ist nicht viel Kryptit«, versichert er mir. »Alles okay.«

Er malt weiter und drückt seinen roten Filzstift fest auf. Mit dem Comicheft neben seinem Zeichenblock liegt er bäuchlings auf dem Fußboden. Das Sommerlicht fällt schräg durch das Fenster unserer Wohnküche und lässt das Papier leuchten, auf dem der Umhang seines Helden Farbe bekommt. Ich hänge im Dämmerzustand auf dem Sofa, nachdem ich vorhin mit Em zur Sprachtherapie in White Bay war.

»Gut gemacht.« Ich zeige auf seinen Zeichenblock. »Die Sternschnuppen im Hintergrund gefallen mir.«

Emory hebt den Kopf und sieht mich mit gerunzelter Stirn an, ich vermute mal, es sind keine Sterne. Aber er korrigiert mich nicht, sondern zeichnet weiter.

Ein ganzer Tag ist vergangen, seit mir diese Jungs im Castle über den Weg gelaufen sind. Und immer noch will ich die Uhr zurückdrehen. Warum habe ich zugelassen, dass es mich so verunsichert? Ich hätte lachen und ihnen den Mittelfinger zeigen sollen. Nicht gerade stilvoll, aber hier erwartet man ja auch keinen Stil von mir. »Weißt du was, Spence«, hätte ich sagen sollen, »wie wir alle wissen, ist kurz ja immer noch zu lang für dich.«

Aber das hätte ich nicht sagen können. Schließlich war Cassidy Somers dabei. Die anderen Jungs sind mir egal. Aber Cass …

Kryptonit.

Etwa eine Stunde später schwingt unsere klapprige Fliegentür auf und herein kommt Mom. Ihre dunklen lockigen Haare kräuseln sich in der Hitze genau wie meine. Erschöpft folgt ihr Fabio, unser uralter, halb blinder Labradormischling. Der lässt sich sofort mit hängender Zunge zu Boden plumpsen. Mit einem Fuß schiebt Mom schnell den Wassernapf näher an ihn heran, während sie im Kühlschrank nach einer Diät-Cola langt.

»Hast du noch etwas drüber nachgedacht, Schatz?«, fragt sie mich nach einem langen Zug aus der Dose. Nicht Blut, sondern koffeinhaltige Diätlimo muss in ihren Adern fließen.

Ich springe auf, das alte orange-dunkelrot karierte Sofa ächzt gequält. Genau, ich sollte Entscheidungen darüber treffen, was ich diesen Sommer mache, und mich nicht mit den Entscheidungen verrückt machen, die ich gestern getroffen habe – oder im März.

»Vorsicht!« Mom weist mit der wedelnden freien Hand aufs Sofa. »Behandle Myrtle mit Respekt.«

Emory, der jetzt mit viel Druck auf dem schwarzen Stift Supermanns dunkles Haar kritzelt, kommentiert meinen Gesichtsausdruck mit kehligem Kichern.

»Mom. Myrtle kommt aus Bert und Earls Schnäppchenkeller. Myrtle hat drei Beine und nicht eine intakte Sprungfeder. Ich hab das Gefühl, man braucht einen Gabelstapler, wenn man von Myrtle runter will. Respekt? Das meinst du nicht ernst?«

»Alles verdient Respekt«, sagt Mom milde und lässt sich seufzend auf Myrtle fallen. Eine Sekunde später rümpft sie die Nase, fasst unter das Kissen und zieht eines der fiesen, ekligen Sweatshirts meines Cousins Nic heraus, eine Bananenschale – und einen ihrer eigenen zerfledderten Liebesromane. »Myrtle hat in Rekordzeit ein langes, schweres Leben hinter sich gebracht.« Lächelnd schlägt sie mit dem Ekelsweatshirt nach mir. »Und? Was denkst du nun … über die Sache mit Mrs Ellington?«

Mrs Ellington helfen. Eine Sommerjob-Möglichkeit, von der Mom heute Morgen gehört hat. Den anzunehmen würde bedeuten, ich müsste nicht schon wieder bei Dad arbeiten. Das habe ich nämlich, seit ich zwölf bin, treu und brav jedes Jahr getan. Jeden anderen hätte das Gesetz davor beschützt, aber nicht Nic und mich, denn wir gehören zur Familie. Nach fünf Jahren, das ist sicher, wäre mir eine Abwechslung vom Eiskugeln türmen, Muscheln frittieren und gegrillten Käsetoast zusammenklatschen höchst willkommen. Und das ist noch nicht alles … wenn ich abends nicht bei Dad arbeite, kann ich auf Veranstaltungen Vivien beim Catering Service helfen.

»Ist das für den ganzen Sommer?« Ich lasse mich wieder aufs Sofa plumpsen und lehne mich vorsichtig zurück. Wenn man die falsche Stelle trifft, kriegt Myrtle Schlagseite wie die Titanic vor dem endgültigen Abtauchen.

Mom macht die Schnürsenkel der schäbigen Turnschuhe auf, die sie zur Arbeit trägt, kickt einen Schuh weg und streckt ächzend die Zehen. Die Nägel der großen Zehen schmücken fein gemalte Gänseblümchen, zweifellos das Werk von Vivien, die ein Picasso der Pediküre ist. Das ist das Stichwort für Emory, der den Raum verlässt und sich auf die Suche nach ihren Hausschuhen macht. Die Cola hätte er ihr auch gebracht, wenn sie nicht schneller gewesen wäre.

»Bis Ende August«, bestätigt sie nach einem weiteren langen Zug aus der Limodose. »Letzte Woche ist sie von der Leiter gefallen, sie hat einen verstauchten Knöchel und eine Gehirnerschütterung. Ein Pflegejob ist es nicht«, versichert sie mir eilig. »Dafür haben sie jemanden engagiert, der abends kommt. Henry … die Familie … will nur sichergehen, dass sich jemand um sie kümmert – dass sie Bewegung kriegt, isst … und nicht ganz allein an den Strand geht. Sie ist fast neunzig.« Mom schüttelt den Kopf, als könnte sie das nicht glauben.

Ich kann’s auch nicht. Mrs Ellington mit ihrem klaren New England-Akzent, dem geraden Rücken und unerschütterlichen Ansichten ist mir immer zeitlos vorgekommen, wie eine Figur aus einem der alten Bücher, die Grandpa immer von Garagenflohmärkten mitbringt. Ich weiß noch, wie ein Sommergast mit den Worten: »Was fehlt dem denn?«, nach Em fragte und sie ihn anfuhr: »Nicht so viel wie Ihnen.« Als Nic und ich Mom früher zur Arbeit begleiteten, gab Mrs E. uns immer Kekse mit Zuckerguss und selbstgemachte Limonade, und wir durften in der Hängematte auf ihrer Veranda schaukeln, während Mom mit Staubsauger und Wischmopp im Haus herumwerkelte.

Aber … es wäre ein Inseljob. Ein Sommergäste-Job. Und so einen würde ich nicht übernehmen, hatte ich mir selbst versprochen.

Mit Daumen und Zeigefinger reibt Mom sich die Augen, leert ihre Limodose und stellt sie mit einem blechernen Pling ab. Noch mehr Strähnen lösen sich aus ihrem Pferdeschwanz und bleiben in kleinen Spiralen an ihren feuchten, geröteten Wangen kleben.

»Und wie waren noch gleich die Arbeitszeiten?«, frage ich.

»Das ist das Beste. Von neun bis vier. Du machst ihr Frühstück, bereitest das Mittagessen vor, dann hält sie einen Mittagsschlaf, du hast also freie Zeit. Ihr Sohn will, dass Montag jemand anfängt. Er zahlt das Dreifache von dem, was dein Dad dir zahlen kann. Für viel weniger Arbeit. Ein guter Deal, Gwen.«

Diese Trumpfkarte spielt sie vorsichtig aus, das »Du musst das tun« verschwindet geschickt unter dem »Du willst das tun«. Was Nic und ich während des Sommers an Land ziehen können, hilft in den Dürrezeiten auf Seashell, in den langen Monaten, in denen wenig los ist und die meisten Häuser bis zur nächsten Saison geschlossen sind. Dann hat Mom weniger feste Kunden. Dad macht das Castle dicht und hält sich mit Gelegenheitsarbeiten über Wasser – und Ems Rechnungen kommen nach wie vor rein.

»Und warum übernimmt ihre eigene Familie das nicht?«

Mom zuckt mit den Schultern. »Henry sagt, sie werden nicht hier sein. Er macht irgendwas an der Wall Street und ist mächtig beschäftigt. Die Jungs sind jetzt groß, Henry sagt, sie wollen nicht mehr den ganzen Sommer auf einer verschlafenen Insel mit ihrer Großmutter verbringen, so wie früher, als sie noch klein waren.«

Ich verziehe das Gesicht. Ich finde ja auch, dass Seashell echt klein und ruhig ist, aber ich wohne hier. Ich darf das. »Noch nicht mal, um ihrer eigenen Großmutter zu helfen?«

»Wer weiß schon, was in Familien so vorgeht, Schatz. Das ist deren Angelegenheit.«

Geht uns nichts an.

Das kenne ich, in- und auswendig.

Emory kommt mit Moms plüschigen Hausschuhen angehoppelt – einem pelzigen grünen und einem roten, beide für den linken Fuß. Er greift nach Moms Bein, zieht ihr den Schuh aus, den sie noch anhat, und reibt ihr den Spann.

»Danke, Häschen«, sagt Mom, als er sorgfältig einen Hausschuh in Position gebracht hat und sich anschickt, den anderen Fuß ebenso zu versorgen. »Was sagst du dazu, Gwen?« Mom lehnt sich zu mir rüber und stupst mich mit dem Knie an.

»Ich hätte die Nachmittage und Abende frei – jeden Abend?«, frage ich, als ob das irgendwie entscheidend wäre. Als ob ich sonst was mit meiner Clique unternehmen würde und einen mir treu ergebenen festen Freund hätte.

»Jeden Abend«, versichert Mom und fragt freundlicherweise nicht: »Spielt das irgendeine Rolle, Gwen?«

Jeden Abend frei. Garantiert. Wenn ich für Dad arbeite, läuft das normalerweise darauf hinaus, dass ich die Schichten übernehme, die sonst keiner will. Freitags und samstags bis geschlossen wird. Bei so viel freier Zeit könnte ich einen richtigen Sommer erleben, zu den Lagerfeuern am Strand und zum Grillen gehen. Mit Vivie und Nic abhängen, bei Sonnenuntergang im Fluss schwimmen, wenn es dort am schönsten ist. Keine Schule, kein Nachhilfeunterricht zu geben, nicht um halb fünf aufstehen, um die Zeit für das Schwimmteam zu stoppen, und nichts mit diesen Jungs zu tun haben … Denen gestern bei Castle über den Weg zu laufen war … igitt. Draußen bei Mrs E. werde ich die nie sehen müssen, denn weiter weg von allem kann man auf Seashell nicht leben.

Ich kann meine Freiheit praktisch riechen, salzige Brisen, grünes, von der Sonne gewärmtes Seegras, der heiße frische Wind, der über die nassen Felsen bläst, spritzende Wellen, weißer Schaum auf dunklem wogenden Wasser.

»Ich mach’s.«

Ist ein Inseljob. Aber nur für einen Sommer. Für eine Familie. Es ist nicht das, was Mom macht, die mit fünfzehn angefangen hat mit ihrer Mutter Vovó Häuser zu putzen, um Geld fürs College zu verdienen, und die sie so viele Jahre später noch immer putzt – ohne je auf dem College gewesen zu sein. Und es ist auch nicht, was Dad getan hat, der mit achtzehn das Familiengeschäft übernommen hat, weil sein Vater am Grill einen Herzinfarkt bekam.

Es ist nur vorübergehend.

Keine Lebensentscheidung.

»Schatz … hat dein Dad dich schon bezahlt für die Tage, die du gearbeitet hast? Wir sind ein bisschen im Rückstand.« Mom fegt Krümel von der Couch, ohne mir in die Augen zu schauen. »Kein Grund zur Sorge, aber …«

»Er hat gesagt, er gibt es mir im Laufe der Woche«, antworte ich zerstreut. Em ist von Moms Füßen zu meinen übergegangen, die zwar nicht annähernd so weh tun wie ihre, aber verscheuchen will ich ihn auch nicht.

Mom steht auf, öffnet den Kühlschrank. »Lean Cuisine, South Beach Diät – oder ein schönes Fertiggericht von den guten, alten Stouffers? Du darfst aussuchen.«

Lean Cuisine und South Beach sind zum Würgen. Mit der Gabel sticht sie den Plastikdeckel von einer gefrorenen Vorspeise ein, aber ehe sie das Zeug in die Mikrowelle schieben kann, kommt Grandpa Ben mit der üblichen Ladung Schmuggelware über der Schulter hereingeschlendert, ganz so wie der Weihnachtsmann. Wenn das Verschenken von Meeresfrüchten denn ein Weihnachtsmann-Ding wäre. Er wischt eins von Nics Bandanas vom Tresen und lässt die Hummer mit scheppernden Panzern und klappernden Scheren in die Spüle gleiten.

»Um, dois, três, quatro. Der da wiegt doch mindestens fünf Pfund.« Aufgeregt fährt er sich mit den Händen durch die wilden weißen Haare, ein portugiesischer Albert Einstein.

»Papai. Die können wir doch nicht alle essen, unmöglich!« Trotz ihres Protests fängt Mom sofort an, einen von unseren riesigen Hummertöpfen mit Wasser aus dem Hahn zu füllen. »Und ich frage dich wieder: wie lange wird es noch dauern, bis du erwischt wirst? Und wie genau soll uns das helfen, wenn du ins Gefängnis kommst?«

Grandpas Fischereilizenz ist schon vor Jahren ausgelaufen, aber trotzdem fährt er mit den Booten raus, wann immer ihm danach ist. Seine illegalen Hummerkörbe sprenkeln immer noch die Gewässer vor unserer Insel.

Grandpa Ben starrt finster auf Moms Plastikverpackung und schüttelt den Kopf. »Dein Großvater Fernando ist nicht einhundertundzwei Jahre alt geworden mit …«, er dreht die Schachtel um und schaut auf die Zutatenliste, »Kaliumbenzoat.«

»Nein«, sagt Mom und legt die Packung wieder ins Gefrierfach. »Fernando ist einhundertzwei geworden, weil er so viel Vinho Verde getrunken hat, dass ihn das konserviert hat.«

Leise murmelnd verschwindet Grandpa Ben in dem Zimmer, das er sich mit Nic und Em teilt, er taucht in seinem Feierabendoutfit wieder auf: Hemd aus, Unterhemd und abgetragener karierter Bademantel an, Emorys Supermann-Pyjama hat er mitgebracht.

»Da rein, schneller als eine pfeifende Pistolenkugel«, sagt Grandpa zu Em, der heiser kichernd mit ausgestreckten Armen im Raum herumflitzt wie Supermann.

»Geflogen wird erst, wenn du deinen Anzug anhast«, sagt Grandpa. Em kommt schliddernd vor ihm zum Stillstand. Geduldig lässt er sich von Grandpa Ben Hemd und Shorts ausziehen und sich in den Pyjama stecken. Dann kuschelt er sich neben mich auf Myrtle, während Grandpa eine Fred Astaire-DVD einwirft.

Unser Wohnzimmer ist so klein, dass kaum Platz ist für den riesigen Flachbildfernseher, den Grandpa letztes Jahr beim Bingoturnier in der Kirche gewonnen hat. Ich bin mir ziemlich sicher, dass er geschummelt hat. Der hypermoderne Bildschirm wirkt so fehl am Platz an der Wand zwischen dem Kruzifix aus Zedernholz und dem Hochzeitsfoto von meiner Großmutter. Sie wirkt so ungewohnt ernst in Schwarz-Weiß, mit der kleinen Vase darunter, die Grandpa jeden Tag frisch füllt. Das vergisst er nie. Es ist ein großes Bild, so eines, das einen mit Blicken zu verfolgen scheint.

Ich kann ihr nie in die Augen sehen.

Zuckersüße romantische Musik erfüllt den Raum und der etwas krächzige Tenor von Fred Astaire.

»Ginger? Wo?« Emory zeigt auf den Bildschirm. Grandpa Ben hat Ein süßer Fratz eingelegt, mit Audrey Hepburn, nicht Ginger Rogers.

»Kommt gleich«, sagt Grandpa. Das ist seine übliche Antwort, er wartet, bis Emory die Musik und das Tanzen so gut gefallen, dass es ihm egal ist, wer da herumwirbelt.

Em kaut an seiner Lippe, sein Fuß fängt an zu zucken.

Mein achtjähriger Bruder ist kein Autist. Er hat nichts, was irgendwie genetisch erklärt werden könnte. Er ist einfach Emory. Keine Diagnose, kein Kurvenblatt, kein einziger Fingerzeig. Ein paar schwierige Dinge fallen ihm leicht und mit einigen ganz einfachen Sachen hat er große Schwierigkeiten. Ich schlinge den Arm um seine Hüfte, die mageren Rippen, lege das Kinn auf seine Schulter und spüre, wie mich seine fluffigen Haare an der Wange kitzeln, dabei atme ich seinen sonnenwarmen Kleine-Jungs-Duft ein. »Das ist der Film mit dem lustigen Lied, das kennst du doch noch?«

Endlich kommt Em zur Ruhe und liegt gemütlich mit seinem Lieblingsstofftier im Arm da: Hideout, der Einsiedlerkrebs. Den hat Grandpa Ben für ihn auf einem Jahrmarkt gewonnen, als Emory gerade zwei war, und seitdem ist er Emorys Liebling.

Ich schiebe Fabio beiseite, geh raus auf die Treppe, denn ich kann einfach nicht mit ansehen, wie wehmütig und zerbrechlich Audrey Hepburn ist. Mit meinen 1,80 würde mich nie jemand für zerbrechlich halten, so kurzsichtig kann man gar nicht sein.

Blinzelnd lasse ich den Blick über die Insel schweifen, über die Dächer der niedrigen Häuser gegenüber, Hoops gedrungene graue Ranch, Pams schmutzig geschecktes weißes Haus, Vivs blassgrünes Haus mit Fensterläden aus Rotholz, die nicht dazu passen. Das Glitzern der Abendsonne auf dem Wasser kann ich gerade noch sehen. Auf die Ellenbogen gestützt lehne ich mich zurück, schließe die Augen und atme die warme, würzige Luft tief ein.

Es stinkt.

Ich reiße die Augen auf. Die Turnschuhe meines Cousins stehen nur Zentimeter von meiner Nase entfernt. Igitt. Eau de achtzehnjähriger Typ Müff. Mit dem Ellenbogen kicke ich sie von der Veranda aufs Gras runter.

Die Fliegentür wird aufgerissen. Mom lässt sich neben mir nieder, eine Packung Eis in der einen, einen Löffel in der anderen Hand. »Willst du auch was? Ich würde dir sogar einen eigenen Löffel holen.«

»Nee, schon gut.« Ich versuche es mit einem Lächeln. Kauft sie mir bestimmt nicht ab. »Ist das deine Vorspeise, Mom?«

»Eis«, sagt sie. »Entré, Hauptgericht, Nachtisch. Passt immer.«

Sie stochert nach den Stellen mit den Karamellstücken, hält dann inne, um mir die Haare aus der Stirn zu streichen. »Ist da was, worüber wir reden müssen? Du bist so still die letzten Tage.«

Wenn das nicht Ironie ist. Mom verbringt den größten Teil ihrer freien Zeit mit der Lektüre von Liebesromanen, die von Leuten handeln, die sich überdurchschnittlich häufig sämtlicher Kleider entledigen.

Aufgeklärt hat sie mich und den tief erschütterten Nic mittels einer Barbie und eines G.I. Joe. Wir waren entsetzt. Als ich fünfzehn war, hat sie mich zum Frauenarzt mitgenommen, um mir die Pille verschreiben zu lassen. »Ist gut für deine Haut«, hatte sie behauptet, als ich losstotterte, das sei nicht nötig. »Und für deine Zukunft.« Über körperliche Dinge können wir reden – dafür hat sie gesorgt –, aber nur solange alles abstrakt bleibt …

Jetzt möchte ich den Kopf auf ihre weiche, sommersprossige Schulter legen und ihr alles über die Jungs in diesem Auto erzählen. Aber sie soll nicht wissen, dass mich irgendwer so sieht.

Dass ich Anlass dazu gegeben habe.

»Nee, schon gut«, wiederhole ich. Sie löffelt noch mehr Eiskrem, das nimmt sie total in Anspruch. Nach einer Weile schiebt Fabio die Nase durch die Fliegentür, trapst dann zu Mom, legt ihr das Kinn auf den Schenkel und schielt sie flehend an.

»Mach’s nicht«, sage ich, weiß aber, dass sie es doch tun wird. Und da haben wir es auch schon. Mom kratzt Eis aus dem Becher und klopft mit dem Löffel auf die Planken. Fabio gibt seine Nahtod-Darbietung auf und schlabbert alles weg, dann nimmt er wieder seine ergebene Haltung ein und sabbert Mom aufs Bein.

Eine Weile später sagt sie: »Du könntest ja mal runter gehen zu den Ellingtons«, sie wedelt den Löffel Richtung Low Road, »und Mrs Ellington Hallo sagen.«

»Was? Jetzt? So eine Art Vorstellungsgespräch?« Ich gucke runter auf meine ausgefransten abgeschnittenen Jeans und das T-Shirt und wieder zu Mom. Dann laufe ich rein und komme mit meinem vertrauten grün-pinken Mascarafläschchen wieder. Ich schraube es auf und witsche mit der Bürste über die Wimpern.

»Das hast du nicht nötig«, sagt Mom zum millionsten Mal, überlässt mir aber dennoch den Löffel, damit ich nachsehen kann, ob auch nichts verschmiert ist. »Nein. Eigentlich hab ich schon so gut wie zugesagt, dass du den Job übernehmen wirst. Ist ein guter. Aber ich weiß nicht, wie viele Leute noch davon wissen. Und die Bezahlung ist richtig gut. Geh einfach hin und ruf ihr ins Gedächtnis, wer du bist. Sie hat dich immer gern gemocht.«

Und deshalb schlüpfe ich drei Minuten später in meine Flipflops, als Grandpa Ben mit wirrem weißen Schopf aus der Tür geschossen kommt. »Gwen! Nimm das! Sag Mrs E.., die sind von Bennie para a rosa da ilha, für die Rose der Insel. Mando logostas e amor. Ich schicke ihr Hummer und Liebe.«

Ich schaue auf den feuchten Papiersack, der in Grandpas verschossenem Einkaufsnetz liegt, aus dem ein Paar Hummerantennen drohend winken.

»Grandpa. Das ist ein Bewerbungsgespräch … oder so was in der Art. Da kann ich nicht mit Krustentieren auftauchen. Schon gar nicht lebenden.«

Grandpa schnaubt ungeduldig. »Rose liebt Hummer. Hummersalat. Immer hat sie das geliebt. Amor verdadeiro.« Er strahlt mich an.

»Wahre Liebe hin oder her, die hier sind noch lange kein Hummersalat.«

Einem der Hummer fehlt eine Schere, trotzdem schnappt er mit der anderen nach mir.

»Du kochst sie, du kühlst sie, du machst ihr die Spezialsauce, damit sie sie morgen essen kann.« Grandpa Ben drückt mir den Beutel in die Hand. »Rose hat immer die lagostas geliebt.«

Er ist gealtert in den Jahren seit Vovó gestorben ist, und noch mehr, nachdem Dad ausgezogen und er bei uns eingezogen ist. Davor ist er mir immer so unveränderlich vorgekommen wie die Galionsfigur eines Walfangboots, grob geschnitzt, stark, braun wie Eichenholz. Aber heute Abend wirkt sein Gesicht so müde und ich kann dem Blick dieser eifrigen Schokotaleraugen einfach nicht widerstehen. Also wickele ich mir das Netz ums Handgelenk und geh die Treppe runter.

Es ist fast sechs und die Sommersonne steht immer noch hoch am Himmel, hinter den Häusern strahlt das Wasser tief blau. Silbrig glitzernd spiegelt sich das Licht darauf. Es weht nur eine leichte Brise und jetzt, wo ich den Dunstkreis von Nics Schuhen verlassen habe, riecht die Luft nach gemähtem Gras und Seetang, durchdrungen vom milden Duft nach Thymian, der überall auf der Insel wächst.

Das ist so ungefähr alles, was es hier gibt. Wilden Thymian, eine auf die Saison begrenzte Dorfgemeinde, schiefergetäfelte Villen, ein dem Flötenwiesenpfeifer gewidmetes Naturschutzgebiet und uns andere – die wir Rasen mähen, Reparaturen ausführen und Häuser sauber machen. Wir anderen leben in East Woods, dem »schlechten« Teil von Seashell. Ha. Nicht viele Leute würden sagen, dass es so was auf der Insel überhaupt gibt. Wir haben den Wald im Rücken und können nur zum Meer rüber linsen, sie haben den vollen Seeblick – Sand, der sich bis ins Wasser hinein zieht – von ihren nach vorne raus gehenden Fenstern, und hinten liegen die riesigen grünen Rasenflächen. Achtzig Häuser, dreißig davon das ganze Jahr bewohnt, der Rest vom Memorial- bis zum Columbus Day. Im Winter hat man das Gefühl, als würde uns ständigen Bewohnern die Insel gehören, aber jedes Jahr im Frühling müssen wir sie wieder hergeben.

Ich bin die Beach Road schon halb runter, an Hoopers Haus vorbei und an Viviens, und steuere auf die Low Road und Mrs Ellington zu, als ich das tiefe Surren eines Rasenmähers höre. Je weiter ich gehe und je näher ich dem Wasser komme, desto lauter wird es. Das Geräusch schwillt an und es dröhnt, als ich in die Low Road einbiege, wo die größten Häuser mit Seeblick liegen. Der Hausmeisterschuppen von Seashell, das Feldhaus, beherbergt diese riesige alte Mähmaschine mit Klingen, die ein Meter achtzig breite Schneisen schlagen. Als ich am Haus der Coles vorbeigehe, verstummt das Dröhnen mit einem Stottern.

Und ich bleibe stehen.

Kapitel drei

Zuerst kann ich einfach nur starren, so wie das passiert, wenn man vor einem Wunder der Natur steht.

Die Niagarafälle.

Der Grand Canyon.

Okay. Weder die einen noch den anderen habe ich je live gesehen, aber ich kann’s mir vorstellen.

Der Gartenboy dieses Sommers ist vom Rasenmäher abgestiegen. Er steht mit dem Rücken zu mir und schaut zur alten Mrs Partridge hoch, die ihn von ihrer Veranda her anbrüllt und gebieterische Armbewegungen vollführt.

»Warum könnt ihr Leute das denn nie begreifen?«, brüllt die alte Mrs Partridge. Sie ist reich, taub und steht ganz oben auf der Liste von Moms Anwärterinnen für eine Dosis nicht nachweisbaren Gifts. Nicht nur die Leute, die irgendwelche Arbeiten für sie erledigen, sind für sie »ihr Leute«, die meisten anderen Bewohner der Insel zählen ebenfalls dazu.

»Ich arbeite daran«, sagt der Gartenboy, der nach einer ganz kleinen Pause hinzufügt: »Ma’am.«

»Du wirst nicht nur dran arbeiten, du wirst es richtig machen. Hab ich mich klar ausgedrückt, José?«

»Ja.« Wieder diese Pause. »Ma’am.«

Die alte Mrs Partridge schaut auf und presst die Lippen so fest zusammen, dass sie damit eine Münze verbiegen könnte. »Du …« Sie stößt ihren Bambusstock in meine Richtung. »Maria! Komm her und sag diesem Jungen, wie ich meinen Rasen gemäht haben möchte.«

Oh verdammt, nein. Ich gehe ein paar Schritte rückwärts, mein Blick noch immer von dem Gartenboy wie magisch angezogen.

Er hat sich zur Seite gedreht und reibt sich die Stirn, eine Geste, die ich von Mom kenne (die alte Mrs Partridge kann in null Komma nix Migräne auslösen). Er trägt Shorts, kein Hemd … hat breite Schultern, schmale Hüften, einen lockigen, blonden Haarschopf, der in der Sonne glänzt, ganz knackige Oberarme, deren Form bei angewinkelten Ellenbogen so recht zur Geltung kommt. Der untypischste »José« der Welt.

Cassidy Somers.

Oh, ich sollte jetzt lieber immer weiter rückwärts gehen und nicht das tun, was ich tatsächlich tue, nämlich wie angewurzelt stehen bleiben. Aber ich kann nicht anders.

Mal wieder.

Cass reißt das Hemd an sich, das er über den Lenker des Mähers gelegt hat, wischt sich das Gesicht ab und fängt an, unter den Armen rumzuwischen, dann schaut er auf und sieht mich. Seine Augen werden größer, er lässt das Hemd sinken, dann ändert er anscheinend seine Meinung und zieht es sich schnell über den Kopf. Ein wenig argwöhnisch schaut er mir in die Augen.

»Na, mach schon«, blafft Mrs Partridge. »Sag’s ihm. Wie es gemacht wird. Du bist schließlich schon lange genug dabei. Du weißt, wie ich meinen Rasen haben will. Erklär José hier, dass er nicht einfach so planlos kreuz und quer durch die Gegend mähen kann.«

Die scharfe Spitze einer Hummerschere zwickt mich unter dem Arm und ich lasse Grandpa Bens Netz hinter mir auf den Boden gleiten. Das hier ist schon ohne Hummer im Handgepäck schlimm genug.

»Also, José«, sage ich energisch. »Mrs Partridge möchte ihren Rasen gern sehr gleichmäßig gemäht haben. Und zwar horizontal.«

»Horizontal?«, wiederholt er, legt den Kopf ein wenig schräg und ein winziges Lächeln zupft an seinen Mundwinkeln.

Cass. Lass es. Das interessiert jetzt nicht.

»Genau«, sage ich. »José.«

Er lehnt sich an den Mäher, immer noch mit schräg geneigtem Kopf. Die alte Mrs Partridge hat Marco erspäht, den Chef der Jungs, die auf der Insel die Wartungsarbeiten ausführen. Er macht die letzten Runden mit dem Müllwagen und sie lässt vorübergehend von uns ab, um ihn stattdessen zu drangsalieren und über irgendeinen Hurrikan zu meckern, der niemals so weit die Küste hochziehen wird.

»Du bist diesen Sommer der Gartenboy?«, platze ich heraus. »Wärst du nicht besser dran als – keine Ahnung – Caddy im Countryclub?«

Cass legt zwei Finger an die Stirn und salutiert sarkastisch. »Der aktuelle Lakai, zu Ihren Diensten. Garten-Mann ist mir lieber. Doch offenbar habe ich da keine Wahl. Mein Vorname ist auch gegen meinen Willen geändert worden.«

»Für Mrs Partridge seid ihr alle José. Es sei denn, du bist ein Mädchen. Dann bist du Maria.«

Er verschränkt die Arme, lehnt sich ein wenig zurück und runzelt die Stirn. »Wie flexibel sie doch ist.«

Seit diesen Partys im Frühling habe ich kaum ein Wort mit Cass gesprochen. In der Schule bin ich ihm aus dem Weg gegangen, im Unterricht und bei Versammlungen habe ich mich so weit von ihm weg gesetzt wie möglich und Gespräche abgewimmelt. Leichte Übung, wenn er in einer Gruppe ist – der Gruppe –, die durch die Gänge der Stony Bay Highschool stolziert, als würde ihnen alles gehören, oder im Castle gestern. Schwieriger, wenn Cass allein ist.

Jetzt sieht er mich mit zusammengekniffenen Augen an und reibt sich gedankenverloren mit dem Daumen über die Unterlippe. Ich bin nah genug dran, um den Meerwassergeruch wahrzunehmen und einen Hauch Chlor. Plötzlich steht dieser kalte Frühlingstag wieder ganz lebendig vor meinen Augen, klarer als der Tag gestern. Denk nicht dran. Und vergiss seine Lippen.

Er senkt den Kopf, damit er in meine Augen sehen kann. Keine Ahnung, was die preisgeben, also lenke ich den Blick auf seine Beine. Starke Waden, auf denen blonde Härchen sprießen. Die Veränderungen an ihm, seit wir Kinder waren, sind mir viel bewusster als die an mir selbst. Gütiger Gott. Hör auf damit. Ich schaue hinaus in das grenzenlose Blau des Himmels, nehme jedes Geräusch intensiv wahr, das Seufzen des Meeres, das Summen der Bienen in den wilden Pflaumenbüschen, die einem Herzschlag ähnelnden wummernden Geräusche des Rennboots in der Ferne.

Er verlagert das Gewicht von einem Bein aufs andere, räuspert sich. »Ich hatte mich schon gefragt, wann ich dir wohl über den Weg laufen würde«, sagt er, gerade als ich sage: »Warum bist du eigentlich hier?«

Cass ist kein Insulaner. Seine Familie besitzt eine Werft auf dem Festland, Somers Sails, einer der größten Bootsbaubetriebe der Ostküste. Er muss sich nicht mit den Sommergästen rumschlagen. Nicht so wie wir anderen, die echten Josés und Marias.

Er zuckt die Achseln. »Dad hat mir den Job besorgt.« Er bückt sich und bürstet sich Gras von den Beinen. »Das soll einen Mann aus mir machen. Die harte Schule und so weiter.«

»Jawoll, wir armen Leute machen mit unserer Reife wett, was uns an Kohle fehlt.«

Ist ihm peinlich, sieht man, plötzlich scheint ihm eingefallen zu sein, dass wir zwar beide auf die Stony Bay High gehen, ich aber keine Mitgliedschaft im Schwimm- und Tennisclub habe. »Na ja …«, sagt er schließlich. »Ist ja kein Straflager.« Er lässt den Blick übers schimmernde Meer und den smaragdgrünen Streifen Rasen schweifen. »Der Blick ist nicht zu toppen.«

Ich nicke, versuche ihn mir in einem Büro vorzustellen. Viel vertrauter ist er mir am Wasser, zum Sprung bereit, um in den Pool der Schule abzutauchen, oder so wie diesen einen Sommer, wo er sich vom Pier in Abenaki mit einem Salto ins blauschwarze Wasser gestürzt hat. Kurze Zeit später wird mir klar, dass ich immer noch wie ein Idiot nickend vor ihm stehe. Ich höre auf damit, ramme die Hände mit solcher Wucht in die Hosentaschen, dass das Loch in der einen aufreißt und ein Geldstück ins Gras fällt. Ich schiebe den Fuß darüber.

Die alte Mrs Patridge ist fertig damit, Marco zu tyrannisieren, stapft den gepflasterten Gartenweg wieder hoch und richtet einen Hexenfinger auf Cass. »Ist jetzt Pause? Hab ich gesagt, dass jetzt Pause ist? Was machst du da, stehst rum und hältst Maulaffen feil? Du, Maria, bist doch wohl fertig damit, ihm zu erklären, wie man es richtig macht. Nun lass José wieder an die Arbeit gehen.« Sie marschiert ab ins Haus. Ich gehe ein paar Schritte weiter, Cass streckt die Hand aus, als wolle er mich aufhalten, dann lässt er sie sinken.

Wieder Stille.

Geh, befehle ich mir. Dreh dich einfach um und geh weg.

Cass räuspert sich, ballt und löst eine Faust und streckt die Finger. »Öh … Ich glaube, da krabbelt was aus deinem Beutel.«

Ich drehe mich um. Hummer A versucht über den Rasen zu entkommen, er schleift das Netz und Hummer B hinter sich her. Ich setze ihnen nach, in gebückter Haltung, schnappe das Netz und plötzlich rutschen mir die Worte so leicht raus wie eben das Geldstück. »Oh, ich hab da irgendwie so eine Art Bewerbungsgespräch … bei Mrs Ellington – da unten.« Vage zeige ich Richtung Low Road. »Mein Großvater kennt sie, er meint, ich soll ihr Hummersalat machen.« Ich schüttele die Hummer zurück ins Netz. »Und das heißt, dass ich diese Biester hier irgendwie kochen muss. Ich weiß, ich bin eine Schande für sieben Generationen portugiesischer Fischer, aber … was Lebendiges in kochendes Wasser werfen? Also, das ist doch einfach … na, was für ein Abgang …« Ich schaue auf zu Cass, der mich ausdruckslos mustert, abgesehen von einer leicht hochgezogenen Augenbraue, und endlich schaffe ich es, die Klappe zu halten. »Wir sehen uns dann irgendwann mal«, rufe ich über die Schulter hinweg und mache mich eilig davon.

Nonchalant. Und so weltläufig. Aber ehrlich, gibt es überhaupt nonchalante, weltläufige Verabschiedungen, an denen flitzende Krustentiere beteiligt sind? Ganz zu schweigen davon, dass meine Passage auf dem Kreuzer Nonchalance schon vor ein paar Ewigkeiten verfallen ist.

»Tun wir das?«, ruft Cass mir hinterher. Ich beschleunige meinen Schritt, kann aber nicht widerstehen und guck mich schnell noch mal um. Er steht einfach da, die Arme immer noch verschränkt, beobachtet er, wie ich davonhusche, als wäre ich eines dieser Krustenwesen auf dem Meeresboden. Allerdings ohne den nützlichen Panzer.

Kapitel vier

Und weiter geht’s im Sauseschritt die Low Road runter, meine Gedanken sind sogar noch schneller. Der Gartenboy ist überall auf der Insel, den ganzen Sommer lang. Cass wird in meinem Sommer herumgeistern, so wie er schon durch meinen Frühling gespukt ist.

Ich höre ein Geräusch hinter mir, Gummi auf Sand, ein Schlittern. Ich drehe mich um, mein Atem stockt. Aber es ist nur Vivien, die mit ausgestreckten Beinen auf ihrem altmodischen himmelblauen Fahrrad mit dem Weidenkörbchen über die Betonschwelle hüpft. Sie ist wie einem Werbespot für etwas Gesundes entsprungen. Butter. Milch. Frisches Obst. Ihr glänzendes braunes Haar ist zu Zöpfen geflochten, die nicht bescheuert aussehen, ihre Wangen glühen in der Hitze.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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