Mein letzter Arbeitstag -  - E-Book

Mein letzter Arbeitstag E-Book

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Beschreibung

Mit dem Mauerfall am 9. November 1989, spätestens dann mit dem Beitritt der DDR zur Bundesrepublik am 3. Oktober 1990, änderte sich für die meisten DDR-Bürger ihr ganzes Leben. Zuvorderst trafen die Wendefolgen ihren Arbeitsbereich: Reihenweise machten DDR-Betriebe dicht, die Verwaltungen wurden umgekrempelt und oftmals mit Westdeutschen besetzt; die Wissenschaftseinrichtungen bildeten keine Ausnahme. Abwicklung, Evaluierung und Entlassung waren die Schlagworte der nächsten Jahre. Weggehen und Versuch beruflich neu Fuß zu fassen, bestimmten lange Zeit das Leben der Ostdeutschen. Für nicht wenige war der erzwungene Neuanfang eine Chance, für viele allerdings brachte er auch bittere Erfahrungen mit sich. Mein letzter Arbeitstag schildert nüchtern und ohne Larmoyanz höchst unterschiedliche ostdeutsche Schicksale, die doch exemplarisch fürs Ganze stehen - im Guten wie im Schlechten. Unverzichtbar für alle, die sich über die 'Wende' und ihre Folgen informieren wollen.

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Tel.: 01805 / 30 99 99(0,14 € / Min., Mobil max. 0,42 € / Min.)www.buchredaktion.de

Über die Herausgeberin

KATRIN ROHNSTOCK, geboren 1960 in Jena, ist Geschäftsführerin des Unternehmens Rohnstock Biografien, das sich auf das Schreiben von Autobiografien, Familien- und Firmengeschichten spezialisiert hat. Die Germanistin ist Autorin und Herausgeberin zahlreicher Publikationen, zudem gibt sie ihre Erfahrung in Seminaren weiter.

Mein letzter Arbeitstag

Abgewickelt nach 89/90. Ostdeutsche Lebensläufe

Herausgegeben von Katrin Rohnstock

Für den Inhalt der in diesem Buch wiedergegebenen Texte zeichnen die namentlich genannten Erzähler verantwortlich.

www.rohnstock-biografien.de

eISBN 978-3-86789-825-6

1. Auflage

Alexanderstraße 1

10178 Berlin

Tel. 01805/30 99 99

FAX 01805/35 35 42

(0,14 €/Min., Mobil max. 0,42 €/Min.)

© 2014 by BEBUG mbH / edition berolina, BerlinUmschlaggestaltung: Susanne Weiß, BEBUG

www.buchredaktion.de

Inhalt

Persönliche Geschichten vom Untergang der DDR

Ein Vorwort von Katrin Rohnstock

»Am 24. Dezember 1992 hatte meine gesamte Familie ihre Kündigungen im Briefkasten«

Bernd Schmelzer (Jg. 1960), Kumpel im Kaliwerk »Thomas Müntzer« Bischofferode

»Am Ende hab ich nur geheult«

Vater Gerhard Schmelzer (Jg. 1937), Leiter des Kulturhauses in Bischofferode

»Früher dachte ich: Gott sei Dank, du lebst bei Erich in der DDR«

Erika Krüger (Jg. 1952), Lehrling, Facharbeiter, Schichtmeister, Ausbilder, Meister, Leiter des Textilzirkels im VEB Möbelkombinat »Wilhelm Pieck« Anklam

»Alle warfen wir unsere SED-Ausweise auf den Haufen«

Horst Bänsch (Jg. 1941), Protokollchef beim Außenhandelsbetrieb WMW Berlin, nach der Wende Betreiber eines EDEKA-Marktes und Aufsichtsratsmitglied

»Während die Staatsmänner oben dinierten, riefen die Menschen unten nach Freiheit«

Heiko Schultz (Jg. 1971), Kellner im Palast der Republik in Berlin, heute Inhaber einer Wohnungsverwaltungsfirma

»Einen Hammer feilt man im Westen nicht anders als im Osten«

Monika Neumann (Jg. 1941), Lehrmeister im VEB Ölheizgerätewerk Sirokko Neubrandenburg

»Die Interessen der Werktätigen spielen keine Rolle mehr«

Konrad Hannemann (Jg. 1933), Mitarbeiter im Wissenschaftlichen Institut für Landwirtschaft in Frankfurt (Oder)

»Keine von uns hatte je über Arbeitslosigkeit nachgedacht«

Anett Lotze (Jg. 1964), Kindergärtnerin in Berlin und Lübz

»Wir kämpften für unsere Gewerkschaft!«

Rainer Schramm (Jg. 1951), Meister, Jugendbrigadier und BGLer im VEB Elektrokohle Lichtenberg in Berlin

»Die Kieler waren effektiver, aber es wurde an allem gespart«

Dieter Kahmann (Jg. 1957), Maschinenbauer und Schlosser in der Reparaturabteilung der Neptunwerft in Rostock

»Um die Problemfälle kümmert sich nun keiner mehr«

Werner Schönke (Jg. 1934), in der DDR Direktor des Amts für Arbeit in Wismar, in der BRD Mitarbeiter des Arbeitsamts in Schwerin

»Auf dem Bau gibt es keine Probleme – es gibt nur Aufgaben«

Klaus Hirsch (Jg. 1944), Bauleiter bei Ibaupro im Bau- und Montagekombinat Erfurt, nach der Wende Inhaber eines Ingenieurbüros

Geschichten aus dem Gaskombinat Schwarze Pumpe

»Ich habe die ganze Wende nicht verstanden …«

Emil Schimkus (Jg. 1939, Maschinenbauingenieur) erzählt, dass er am Zusammenbruch der DDR fast verzweifelt wäre

»Du wirst nicht mehr gebraucht«

Manfred Klein (Jg. 1931, Stahlbauschlosser und Ausbilder) erzählt, dass sein letzter Arbeitstag einer zweiten Vertreibung gleichkam

»Was machen wir, wenn wir rausfliegen?«

Heinz Miska (Jg. 1938, Gerüstbauer und Leiter Produktionskoordinierung) erzählt, wie er sich im Telefonbuch einen neuen Arbeitgeber suchte

»Mein Herz hing am Kombinat«

Helmut Gregor (Jg. 1936, Kulturarbeit und Leiter eines Meisterbereichs) erzählt, dass mit dem Kombinat nicht nur ein Betrieb unterging

»›Jagt eure Direktoren zum Teufel‹, schrie der Chef der IG-Metall«

Wolfgang Neef (Jg. 1939), Produktionsdirektor bei Sachsenring Zwickau, danach Geschäftsführer einer Metallfirma in Oberfranken

»Plötzlich musste ich die Familie ernähren«

Marion Pink (Jg. 1956), Straßenbahnfahrerin bei den Ostberliner Verkehrsbetrieben, heute bei der BVG

»Wer im Sozialismus einen Betrieb leitete, kann das auch im Kapitalismus«

Dr. Peter Wickhusen (Jg. 1939), Betriebsdirektor des VEB Pharma Neubrandenburg, nach der Wende Bauleiter eines Pharmabetriebes in Ecuador

»Das Ende war absehbar«

Prof. Dr. Richard Schimko (Jg. 1945), stellv. Betriebsleiter im Werk für Fernsehelektronik, nach der Wende Vorstandsmitglied im Bundesverband der Deutschen Industrie

»Letzte Schritte mit neuen Schuhen«

Claudia Rößger (Jg. 1964), Technische Modelleurin in der Entwicklungsabteilung des VEB Schuhfabrik »Paul Schäfer« Erfurt, heute Autorin

»Auf einmal durfte ich nur mit Ausnahmegenehmigung aufs Fernsehgelände«

Sabine Arnau (Jg. 1942), Programmdirektorin im Fernsehen der DDR in Berlin-Adlershof

»Wir klammerten uns an jeden Strohhalm«

Bernd Havenstein (Jg. 1952), Philosoph, Wiss. Mitarbeiter im Amt für Industrielle Formgestaltung; Wolfgang Reißenweber (Jg. 1940) Gruppenleiter im VEB Kombinat Spielwaren Sonneberg, nach der Wende Betriebsrat; Heike Thomas (Jg. 1945) Sekretärin des Generaldirektors beim VEB Kombinat Spielwaren Sonneberg

»So langsam ging das Licht aus«

Herbert Roloff (Jg. 1936), Generaldirektor im Außenhandelsbetrieb Industrieanlagenbau-Import Berlin

»Pleite waren wir nicht!«

Dr. Walter Siegert (Jg. 1929), Staatssekretär im Ministerium der Finanzen der DDR

»Die umfassende Patientenbetreuung wurde vom Plan gestrichen«

Dr. Peter Hertzer (Jg. 1942), Leiter der Poliklinik »Dr. Karl Kollwitz« Prenzlauer Berg in Berlin

»Ich staune heute noch, wie ich lauthals für den Erhalt der Akademie brüllte«

Prof. Dr. Jörg Roesler (Jg. 1940), Bereichsleiter am Institut für Wissenschaftsgeschichte der Akademie der Wissenschaften der DDR in Berlin

»Der Genossenschaftsgedanke muss überleben«

Klaus Lemmnitz (Jg. 1946), Produktionsplaner im Transformatorenwerk Oberschöneweide und im Kombinat Automatisierungsanlagenbau Berlin, heute Ehrenvorsitzender der Genossenschaft Gewerbehof in der Alten Königsstadt in Berlin

Erinnerungen an die Zukunft

Ein Nachwort von Prof. Dr. Wolfgang Engler

Danksagung der Herausgeberin

Glossar

Abbildungsnachweis

Persönliche Geschichten vom Untergang der DDR

Ein Vorwort von Katrin Rohnstock

Mit der Wende 1989 brach über viele Ostdeutsche der letzte Arbeitstag herein. Es handelte sich nicht um einen Tag, auf den sie lange Zeit gewartet hatten, der einen gewollten Abschluss ihres Berufslebens bezeichnete, mit dem sie ein arbeitsreiches Leben friedlich, im Einklang mit sich selbst und ihrer Umwelt beendete. Vielmehr war es ein letzter Arbeitstag, der den Menschen aufgezwungen wurde – plötzlich, unvorhersehbar, schicksalhaft.

Niemand war darauf vorbereitet. Wer in der DDR aufgewachsen war, der war mit einer Grundgewissheit ausgestattet: Er würde niemals seine Arbeit verlieren; er würde immer neue Arbeit finden. Das war ehedem vielleicht der größte Luxus: die Sicherheit, eine Arbeit zu haben, von der man leben kann. Sicherheit als Signum von Freiheit. Diese Gewissheit löste sich mit der deutsch-deutschen Vereinigung in ein Nichts auf.

Über zwei Millionen Menschen verließen ihre Heimat und gingen in die Fremde. In den Westen, die Schweiz, nach Amerika. Vor allem junge Leute ließen hinter sich, was in Scherben lag. Ganze Regionen vergreisten. Die Geburtenrate sank auf ein Drittel der Vorwendezeit.

Welche Strapazen der industrielle Zusammenbruch auch psychisch und physisch für die Ostdeutschen bedeutete, zeigt zudem eine statistische Zahl: Laut Gesundheitsbericht des Destatis nahmen die Herzinfarkte von 1990 bis 1992 um circa 20 Prozent zu.

Inzwischen sind 25 Jahre vergangen – ebenso viele Orte mit ihren Geschichten stecken in diesem Buch. Nun wird zurückgeschaut – vorsichtig, langsam, bedacht. Es entblättert sich, was bei vielen Ostdeutschen lange Zeit verschlossen, verkapselt gärte. Einige Erzähler erinnern sich nur zögerlich ob der Scham, die der Verlust des Arbeitsplatzes erzeugt hat. Eine Neuverortung tat damals not. Einige erinnern sich an kein fixes Datum, sondern an einen ganzen Lebensabschnitt, der durch Verluste und Abschied bestimmt war. Für die Generation der Kriegskinder aktualisierten sich die schrecklichen Erlebnisse des Heimatverlustes nach 1945. Manche hingegen erinnern sich an neue Möglichkeiten und daran, wie sie sich aufrappelten – trotz der zahlreichen Brüche, die ihnen das Genick zu brechen drohten.

Die Idee zu dieser Anthologie bekam ich durch unseren Generaldirektoren-Salon: Hier erzählen Generaldirektoren der DDR-Kombinate Monat für Monat von ihrer persönlichen und der Entwicklung ihrer Kombinate, gleichermaßen von deren meist unrühmlichem Ende. Diese eindrücklichen Geschichten im Kopf, reifte in mir der Wunsch, ebenfalls zu erfahren, wie es Arbeitern und Sekretärinnen, Ausbilderinnen und Ingenieuren, Produktionsleitern, Kulturschaffenden und Gewerkschaftern ergangen war. Während wir für dieses Buch recherchierten, staunten wir, wie viel Interessantes und Neues wir erfuhren. Wir waren wie im Rausch. Wir hatten immer neue Ideen, wen wir noch zum Erzählen gewinnen müssten. Deshalb ist das Buch auch viel umfangreicher geworden als ursprünglich geplant.

Zwischen November 2013 und März 2014 veranstalteten wir Erzählsalons zum Thema »Mein letzter Arbeitstag«, zu denen wir Menschen aus allen Teilen der DDR einluden, die bereit waren, anderen aus ihrem Leben zu erzählen. Sie kamen aus Bischofferode, Wismar, Neubrandenburg und Zwickau in unseren Büro-Salon in Berlin-Prenzlauer Berg. In einige Städte fuhr ich selbst, weil die Protagonisten zu alt oder zu krank waren, um zu reisen.

So kam ich eines Abends nach einer vernebelten Fahrt durch die Lausitz völlig verspätet in einem Hotelrestaurant in Hoyerswerda an, um von zwei Arbeitern des Gaskombinats Schwarze Pumpe die Berichte über ihren letzten Arbeitstag zu hören. Als ich in das Zimmer des Traditionsvereins trat, war ich höchst erstaunt: Nicht zwei, sondern sieben Menschen waren gekommen! Kurzerhand führte ich statt eines Einzelgesprächs einen Erzählsalon durch. Ich erklärte die Regeln: Keiner wird unterbrochen und die Geschichten bleiben unkommentiert, denn jeder hat seine eigene Erfahrung und Wahrnehmung. Hört man einander zu, wartet Erklärungen, Pointen, Rückgriffe und Deutungen des Erzählers ab, entstehen wunderbare Erzählrunden. Auf diese Weise erfährt man mehr voneinander als durch eine stetig nach Ergebnissen suchende Diskussion. Ebenso war es in der Lausitz: Eine Geschichte ergänzte die andere, eine Erzählung baute auf der anderen auf. Es entstand ein beeindruckendes Geschichten-Geflecht, das sich in den vier Texten zum Kombinat Schwarze Pumpe wiederfindet. Geschuldet dem reinen Zufall, der eine Herausgeberin erwischen kann, wenn sie ein Thema erkundet.

Wessen Geschichte in diese Anthologie Eingang fand, oblag dem Zufall. Die Auswahl ist nicht repräsentativ. Es kommen Menschen aus verschiedenen Branchen, Bereichen, Hierarchieebenen und Regionen zu Wort. Die ausgewählten Geschichten können freilich kein vollständiges Bild des letzten Arbeitstages zur Wendezeit zeichnen. Sicher fehlen Aspekte typischer Erfahrungen, die es bei diesem weltweit einmaligen Zusammenbruch von Wirtschafts- und Industriestrukturen gab. Über die Hälfte der zu DDR-Zeiten arbeitenden Menschen – das waren etwa vier Millionen – durchlebten einen, zwei, gar drei letzte Arbeitstage. Sie alle könnten etwas erzählen. Und sie haben Bedeutendes zu erzählen! Erzählen tut gut. Auch wenn zunächst ein Kloß im Hals die Stimme stocken lässt, kann es dazu beitragen, die Last zu minimieren, wenn nicht gar ganz aufzulösen. Unter mein-letzter-arbeitstag.rohnstock-biografien.de richten wir einen Raum ein, der weitere Geschichten zu diesem Thema fassen und sammeln will.

Viele der Industriebranchen, von denen in der vorliegenden Anthologie die Rede ist, wurden zerschlagen: die Textil, Möbel-, Schuh- und Puppenindustrie. Sie konnten zu DDR-Zeiten existieren und erfolgreich sein, weil die DDR innerhalb des Rates für Gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW) einem autonomen Wirtschaftsraum angehörte, der relativ unabhängig vom Weltmarkt agierte. Noch leben Menschen, die in Betrieben arbeiteten, die es heute nicht mehr gibt. Sie erzählen ein Stück deutsch-deutsche Geschichte. Auch die Polikliniken, den Palast der Republik, die Akademie der Wissenschaften, das Fernsehen der DDR, das Amt für Formgestaltung gibt es nicht mehr – wir sollten sie nicht dem Vergessen anheimgeben.

KATRIN ROHNSTOCK

Berlin, im Juli 2014

BERND SCHMELZER, geboren 1960 in Neustadt, arbeitete von 1976 bis 1993 auf dem Schacht im Kaliwerk »Thomas Müntzer« Bischofferode. Er lernte Maschinist für Aufbereitungs- und Förderanlagen und wurde von den Männern seiner Schicht zum Brigadier gewählt.

»Am 24. Dezember 1992 hatte meine gesamte Familie ihre Kündigungen im Briefkasten«

Der große Kalischacht war für uns Bischofferöder Kinder von Anfang an immer da gewesen: Hier waren bereits unsere Großväter eingefahren, hier schufteten unsere Väter, und auch wir würden eines Tages im Schacht unsere Arbeit finden.

Wir wohnten unten im Dorf, den großen Förderturm konnte man durch das Fenster sehen. Die meisten unserer Väter liefen oder tuckerten jeden Morgen mit ihren Mopeds übern Bettel rauf zum Schacht. Auf halbem Weg wurden wir im Betriebskindergarten abgegeben. Sonnabendnachmittags um zwei Uhr ging die Luftschutzsirene, da wussten wir: Es ist Feierabend! Mit zwei, drei Jahren liefen wir Schachtkinder unseren Vätern entgegen.

Schon bald lernten auch wir ihren Betrieb kennen. Alljährlich organisierte das Kulturhaus des Ortes für alle Schachtkinder eine Weihnachtsfeier. In der großen Werksküche bekamen wir von den Küchenfrauen warmes Essen und einen bunten Teller mit Süßigkeiten in die Hand gedrückt. Später gab es Würstchen. Ich erinnere mich noch gut an Irmchen Golisch, eine große, dicke Küchenfrau mit breitem Gesicht und Kittelschürze. Sie war nach dem Krieg als Vertriebene ins Eichsfeld gekommen. Ich sah Irmchen immer lächeln, und sie liebte es, uns Kindern was Gutes in den Rachen zu schieben.

Als ich zur Schule kam, zogen wir vom Dorf in die Schachtsiedlung, wo die Eltern eine Dienstwohnung bekommen hatten. Extra für die Familien der Kalikumpel hatten sie im Ort viele Neubauwohnungen gebaut. In der Schule wurde jeder Klasse eine Patenbrigade zugeteilt, natürlich aus dem Schacht. Wir kriegten die BMSR-Techniker, die Facharbeiter für Betriebsmess-, Steuerungs- und Regelungstechnik. Sie luden uns regelmäßig in den Betrieb ein, so lernten wir ein wenig ihre Arbeit kennen. Das fand ich allemal interessanter als den Schulstoff. Stand in der Schule eine Pionierfeier an, statteten uns Vertreter der Patenbrigade einen Gegenbesuch ab.

Der Schacht besorgte auch die FDGB-Urlaubsplätze. Die meisten Ferienobjekte des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes hatten die Kumpel in Eigenregie hochgezogen und ausgebaut, unter anderem in Thomsdorf bei Neubrandenburg oder in Prerow an der Ostsee. Ich war als Kind oft mit meinen Eltern im FDGB-Urlaub. Die 14 Tage kosteten gerade mal 100 oder 200 Mark pro Familie.

Manchmal fuhr ich mit den Kindern der Arbeitskollegen meiner Eltern ins Ferienlager, beispielsweise zum Campingplatz »Birnbaumteich« bei Strausberg im Harz. Wir wohnten in kleinen Baracken »Made in GDR«. Die Erzieher unternahmen jeden Tag ausgedehnte Wanderungen mit uns, organisierten Wettbewerbe und Spiele oder wir gingen einfach nur baden. Die Bewegung an der frischen Luft machte ordentlich Durst und Hunger. Aus großen Plastetassen tranken wir Tee, dazu verschlangen wir Fettbrote. Der Schacht stellte extra Leute von der Küche für das Kinderferienlager ab, Berufsschullehrer oder Studenten arbeiteten als Erzieher. Ich fuhr sehr gern ins Ferienlager. Wir Kinder kannten uns, bildeten eine wunderbare Gemeinschaft – und waren mal von zu Hause weg.

Gruppenfoto vor Fabrikschlot: Bernd Schmelzer (2. Reihe, 1.v.l.) und seine Mitschüler besuchen in den Sechzigerjahren ihre Patenbrigade im Werk »Thomas Müntzer«.

Der Schacht war eine eigene kleine Welt, in der für alles und jeden gesorgt wurde. Für die Kumpel gab es im Werk eine Sauna, eine eigene Freiwillige Feuerwehr und ein Bergmannsorchester. Außerdem hatten wir einen Schuster, der für alle die Schuhe reparierte. Die Lederschürze umgeschnallt, saß er in seiner Bude unten im Keller. Brachten wir Kinder ihm ein Paar, drückte er uns ein Zettelchen in die Hand: »Das holst du Freitag wieder ab.« Natürlich ließen unsere Eltern bei ihm nicht immer nur ihre Arbeitsschuhe reparieren. Dann und wann mischten sich auch Ausgehschuhe, Winterstiefel und Sandalen dazwischen. Aber das war überhaupt kein Problem – der Mann hatte oft freie Kapazitäten. Wer im Schachthaus wohnte, hatte ausgesorgt.

Über die Patenbrigade, den FDGB-Urlaub und die Ferienlager wuchsen wir Kinder allmählich rein in den Schacht. Obendrein warb der Betrieb um uns: Das Kaliwerk wollte unbedingt, dass wir, die wir im Eichsfeld aufgewachsen waren, auch hier blieben. Einige von uns arbeiteten am selben Arbeitsplatz wie ihre Väter. Ging der Vati dann in Rente, machte der Bengel an seiner Stelle weiter. Uns jungen Kerlen war bewusst: Bleiben wir bei »Thomas Müntzer«, haben wir eine gute Zeit vor uns! Von der Wiege bis zur Bahre – der Schacht war für uns da.

Zu alledem profitierten wir von den in der DDR gängigen Sonderversorgungssystemen. In unserem Fall hieß das: Jahresendprämie, Bergmannstreuegeld und der berühmte Grubenschnaps. Für Lehrlinge gab es Schokolade. »Bergarbeitertrinkbranntwein« nannte sich der Schnaps offiziell. Der Liter kostete nur wenig mehr als eine Mark. Für die Grubenleute gab es zwei Liter pro Monat, die Arbeiter über Tage konnten jeweils einen Liter beziehen. Die Leute tranken viel mehr Schnaps als heute. Sie ballerten ihn weg, als gäbe es kein Morgen.

Standen im Kulturhaus ein Brigadevergnügen oder das Bergmannsfest auf dem Programm, schaffte so mancher Festbesucher anschließend den Weg nach Hause nicht mehr. Er verlor den Halt unter den Füßen, blieb liegen und schlief am Hang im Gras seinen Rausch aus. Längst nicht nur Männern passierte das, auch Frauen oder Ehepaare hielten es auf diese Art. Heutzutage würde in einem solchen Fall sofort jemand Feuerwehr und Notarzt rufen: »Hilflose Person gefunden!« Du wirst ins Krankenhaus geschleppt und kriegst anschließend per Post eine dicke Rechnung. Früher regelte sich das von selbst, kosten- und problemlos. Wurde es gegen Morgen nass und kalt, trollten sich die Leute und gingen heim – oder direkt zur Arbeit.

Viele schlichen sich besoffen an der Wache vorbei oder kletterten kurzerhand übern Zaun ins Werk. Da legten sie sich in die Kaue, den Umkleide- und Aufenthaltsraum überm Schacht, und schliefen ihren Rausch aus. Kamen viertel nach fünf die ersten Frühschicht-Busse an, weckten die Leute ihre Kumpels und schleppten sie mit.

Auch ich schlug mal quasi mit Alkoholvergiftung im Betrieb auf. Als mich eine Kollegin zusammengesunken im Sessel vor den Schachtbildschirmen und -plänen fand, fragte sie nur: »Wie siehst du denn aus?« Ich brauchte ihr nichts zu erklären, sie wusste sofort, was Phase war. Als sie mich wieder nach Hause schicken wollte, winkte ich ab: »Ich bin doch hier der einzige Wart aufm ›Raumschiff‹!« Ohne Worte brachte sie mir einen Kaffee und ein paar Brote. So lief das bei uns, wir hielten zusammen.

Wie viele meiner Kumpels hatte auch ich eine Lehre im Schacht begonnen. Eigentlich wollte ich ins Kraftwerk gehen, doch dafür waren meine Zensuren zu schlecht. Mein Lehrberuf nannte sich hochtrabend »Maschinist für Aufbereitungs- und Förderanlagen«. Das erste Lehrjahr absolvierte ich im Kaliwerk Roßleben, wo ich im Internat wohnte. Im zweiten Lehrjahr kehrte ich zurück in unseren Schacht nach Bischofferode, wo sie uns in der Produktion einsetzten. Da sie gerade nicht genug Postenmänner hatten, musste ich schon bald in allen vier Schichten ran. Also ging ich zur Fabrikleitung rauf und sagte: »Was ich hier mache, empfinde ich nicht als Lehre. Ich arbeite wie ein Arbeiter. Wie sieht es mit der entsprechenden Bezahlung aus?« Prompt ließen sie mich ein halbes Jahr eher auslernen, aufgrund guter Leistungen, wie es offiziell hieß. So bekam ich mit 17 Jahren volles Gehalt. Die Arbeit war genau meine Kragenweite. Es machte mir Spaß, mich mit den Älteren zu messen.

Nach einem guten Jahr in der Produktion rief die NVA. Ich verpflichtete mich für drei Jahre und wurde auf die Technische Unteroffiziersschule Prora geschickt, oben an der Ostsee. Als ich nach dem Ende meines Wehrdienstes 1982 in den Schacht zurückkam, empfingen sie mich dort mit offenen Armen. Ich kam in die »Karl-Liebknecht-Brigade«, wurde Kassenwart. Als es bei der großen Versammlung um die Neuwahl des Brigadiers ging, fiel der Wunschkandidat des Parteisekretärs bei den Kollegen vollends durch. Was nun? Schließlich sahen die Leute mich an, und einer sagte: »Bernd, mach du das doch!«

Ich zuckte erst mal mit den Schultern: »Na ja, … also, ich würde es ja machen, … wenn ihr das so wollt?«

»Ja, klar!«, riefen die Kollegen – und auf einmal hatte ich den Hut auf. Offenbar hatte ich mir bei den Kumpels eine solide Vertrauensbasis aufgebaut, anderenfalls hätten sie wohl kaum diesen Vorschlag gemacht. Normalerweise wurden da-zu nur Leute ernannt, die nach Karriere in der FDJ mit 18, 19 Jahren in die Partei eingetreten waren. So was war für mich jedoch nie in Frage gekommen. Ich widerstand allen Werbeversuchen, ging nicht in die Kampfgruppe, erst recht nicht in die Partei.

Zwei Jahre vor der Wende schickten sie mich auf die Meisterschule, weil sie für den Schichtbetrieb dringend einige Industriemeister brauchten. Fortan drückte ich abends nach der Arbeit und jeden Sonnabend die Schulbank. Wir waren zwanzig Mann in der Klasse und spulten in der Berufsschule unser Lernprogramm ab. Das beinhaltete auch Fächer wie »Historischer und Dialektischer Materialismus« oder »Politische Ökonomie« – wie dieser ganze Marxismus-Leninismus-Kram so hieß. Zur Wende flogen diese Fächer sofort aus dem Lehrplan. Stattdessen kamen Mathe, Physik und Materialkunde dazu.

Ausgezeichnet als »energiewirtschaftlich vorbildlich arbeitender Betrieb« lieferte das Werk in Bischofferode 1988 ein Viertel der gesamten Kaliproduktion der DDR.

Als ich den Meisterlehrgang 1990 abschließen wollte, waren im Land längst die westdeutschen Strukturen und Vorgaben installiert. »Einen Industriemeister gibt es nicht mehr«, hieß es nun, »ab jetzt gibt es nur noch ›Meister Metall‹.« Das bedeutete also: Alle, die zuvor keinen Metallberuf erlernt und mindestens drei Jahre in ihm gearbeitet hatten, wurden von der Industrie- und Handelskammer Erfurt nicht zur Meisterprüfung zugelassen. Somit konnte ich meine drei Jahre Schule in den Wind schießen. Wäre ich brav gewesen und beizeiten in Kampfgruppe und Partei eingetreten, hätten sie mich mit Sicherheit bereits viele Jahre früher zum Lehrgang geschickt. Zur Wende hätte ich dann meinen Meisterbrief längst in der Tasche gehabt.

Der Mauerfall kam wie das Wunder von Lourdes über uns. Im November 1989 gab es etliche Versammlungen im Großen Saal des Kulturhauses, auf denen sich Kollegen outeten, dass sie Inoffizielle Mitarbeiter (IM) der Stasi gewesen seien. Damit wollten sie das Ruder wohl noch herumreißen.

Auch ich hatte Erfahrungen mit dem Ministerium für Staatssicherheit (MfS) gemacht: Fünf Jahre war es her, da war ich von unserem Personalleiter in die Verwaltung bestellt worden. Er saß oben in der »Finkenburg«, einer alten, umgebauten Baracke. In seinem Büro empfing er mich mit den Worten: »Bernd, ich will ja eigentlich nichts von dir, aber die zwei Kollegen hier vom MfS …« Auch er war IM, wie sich später herausstellte. Die beiden Herren stellten sich neben mir auf und verschleppten mich an einen unbekannten Ort. »Sie haben politische Witze erzählt, gegen Repräsentanten der Staats- und Parteiführung gehetzt und obendrein die Bündnisbeziehungen zu unseren sozialistischen Bruderländern verunglimpft«, lautete der Vorwurf der Anklage. Ich wurde verhört. Weil ich nichts zugab, nicht kooperierte, wurde ich zusammengeschlagen und bedroht – das volle Programm. Ich hatte etwas verbrochen, was früher unter Gotteslästerung oder Majestätsbeleidigung firmiert hatte und sich nun »staatsfeindliche Propaganda« nannte. Hatte man, wie ich, zudem in irgendeiner Weise vom Krieg gesprochen, kam noch »Verherrlichung des Militarismus« hinzu. Heute lache ich darüber, aber damals war mir durchaus bange. Wusste ich doch ganz klar: Die vom MfS haben die Macht, dich verschwinden zu lassen – und niemand kann dir helfen!

Nun also die Wende. Ich erinnere mich noch genau an jenen Tag, an dem die Betriebsparteiorganisation beschloss: Wir lösen uns auf! Im Großen Saal des Kulturhauses konnte man ein Geräusch vernehmen – als ob Tropfen aufs Blätterdach fallen. Wie ein warmer Sommerregen hörte es sich an, als im Saal massenhaft die Parteiabzeichen zu Boden rieselten. Gespenstisch!

»Ab jetzt herrschen hier Marktwirtschaft und Demokratie!«, hieß die neue Parole. »Jedes Jahr bauen wir ein paar Hundert Arbeitsplätze ab.« Eine Abteilung nach der anderen wurde ausgegliedert, der Betrieb und die Betriebsambulanz regelrecht auseinandergerupft. »Thomas Müntzer« wurde skelettiert. Kulturhaus und Tischlerei, Schmiede und Transportabteilung, Werksküche und Näherei sowie der Friseur wurden geschlossen. Von den 1800 Beschäftigten des Schachts blieben zum Schluss nur 600 übrig.

Das Einzige, in das hinein die neue Konzernleitung noch investierte, war der Kernbetrieb, der das Salz produzierte. Plötzlich gab es im Schacht maschinelle Schieber. Die Automatisierung machte vieles leichter – und sparte Personal. Die gleiche Arbeit, die zuvor zehn Kumpel verrichtet hatten, fuhren wir jetzt zu fünft in einer Schicht.

Im März 2014 veröffentlichte die Thüringer Allgemeine den geheimen Fusionsvertrag zwischen ostdeutscher und westdeutscher Kali-Industrie und beleuchtet Inhalte und Folgen.

Das Ziel des bis heute streng geheimen Fusionsvertrags der ostdeutschen Kali-Industrie mit der westdeutschen war eindeutig und diffamierend. Erst im März 2014 wurde er dank des starken Drucks in der Thüringer Allgemeinen veröffentlicht: Im Osten würden alle Kaliwerke platt gemacht, damit es im Westen weiterginge. Als hätten wir einen Krieg verloren! Zuerst schlossen sie die alten Gruben in Sollstedt, Merkers, Bleicherode, Roßleben, Menteroda und Sondershausen. Dann war unser Schacht an der Reihe. Dass wir das modernste wie rentabelste Kaliwerk auf dem Boden der DDR gewesen waren und unsere Grube noch für vierzig Jahre gutes Salz hatte, spielte keine Rolle. Der Betrieb wurde runtergefahren. Ende 1992 schlossen sie auch die Betriebsambulanz, in der meine Frau arbeitete. Am 24. Dezember fand sie im Briefkasten das Entlassungsschreiben.

Wir gingen sofort zu meinen Eltern, um die Lage zu besprechen. Sie wohnten oben auf dem Berg in einer alten Schachtvilla. Unter Aufnahme eines beträchtlichen Kredits hatten sie das Haus kürzlich gekauft. Auch mein Vater und meine Mutter hatten ihre Entlassungsschreiben am 24. Dezember aus dem Briefkasten geholt. Wie jedes Jahr zu Weihnachten waren meine Schwester und ihr Mann aus Dresden zu Besuch. Die gesamte Familie versammelte sich um den langen Esstisch. Ich war der Einzige, dem sie nicht gekündigt hatten. Mit langen Gesichtern saßen wir da, verbittert über das System, welches über uns hereingebrochen war. Zwar hatten wir in der Schule von klein auf gelernt, dass es dem Kapitalismus allein um Gewinn ging, doch hatten wir unserem Staatsbürgerkundelehrer nicht geglaubt. Der war frisch vom Studium gekommen, hatte den Kapitalismus nie kennengelernt und wollte uns erzählen, wie er funktionierte? Das war ja gerade so, als wolle mir ein Nichtschwimmer erklären, wie man sich im Ozean über Wasser hält. Nun aber begriffen wir, was an seinen Geschichten dran war. An diesem Heiligabend lernten wir, wie der Kapitalismus funktionierte.

Meine Eltern fielen glücklicherweise in die Vorruhestandsregelung ab 55 Jahren. Nebenbei verdienten sie sich ein paar Mark dazu, um den Kredit für ihr Haus abzustottern. Meiner Frau besorgte ich ein halbes Jahr nach ihrer Entlassung im Nachbarkreis eine Stelle als Pflegerin im Altersheim. Die nahmen sie mit Kusshand, schließlich war sie eine staatlich geprüfte, examinierte Krankenschwester, konnte Spritzen geben, was die einfachen Pflegedienstmitarbeiter nicht durften.

Ich arbeitete weiter im Schacht. Die Produktion lief nur noch schleppend und mit Unterbrechungen. Immer öfter mussten wir die Weiterverarbeitungsfabrik komplett herunterfahren, ein Kraftakt, der mehrere Stunden Spülpause forderte. »Der Betrieb ist unrentabel«, hieß es dann von offizieller Seite, oder: »Wir kriegen das Salz nicht mehr verkauft.«

Die Kumpels bildeten Komitees und berieten Abend für Abend: Wie soll es weitergehen? Die Werksschließung war zum Jahresende 1993 anberaumt. Die Politiker gaben ihre üblichen Versprechen: »Keine Bange, liebe Kumpels, für jeden von euch wird gesorgt. Euer Lebensstandard bleibt erhalten, niemandem wird es schlechter gehen! Ist der Schacht erst mal weg, erschaffen wir 700 neue Arbeitsplätze! Für 70 Millionen D-Mark setzen wir hier oben ein riesiges Gewerbegebiet hin. Ihr werdet sehen, am Ende habt ihr hier breite, beleuchtete Fußwege.« Die Wege blieben menschenleer.

Uns war inzwischen klar, dass Politiker Emporkömmlinge, Lügner und Volksverräter waren, die in Sachen Arbeitsplätze nichts Zählbares in der Tasche hatten. Als Marionetten des Großkapitals wollen sie lediglich den sozialen Frieden bewahren. Unsere Kollegen aus den anderen Gruben saßen längst auf der Straße. Deren Schicksal vor Augen, beschlossen die Bischofferöder Kumpel im Sommer 1993: »Es kann nicht sein, dass ein gesunder Betrieb wie unserer plattgemacht wird! Wir gehen aufs Ganze und kämpfen um unsere Arbeitsplätze!«

Unter dem Motto »Bischofferode ist überall!« besetzten sie den Betrieb und stellten in der bereits stillgelegten Werksküche Pritschen auf. Zwanzig Kumpel aus der Grube gingen in den Hungerstreik. Täglich besuchten wir unsere Kollegen, stärkten ihnen den Rücken und tauschten Neuigkeiten aus. Die ehemalige Küche mutierte zur Nachrichtenbörse.

Nach 14 Tagen kollabierte der erste Kumpel und musste vom Notarzt weggeschleppt werden. Sein Bett darf nicht freibleiben, sagte ich mir, diese Front dürfen wir nicht aufgeben! Ich wollte mich solidarisieren und gab zu Hause Bescheid: »Ich mache mit beim Hungerstreik!« Ich setzte mich aufs Motorrad und fuhr rauf zum Schacht, stellte die Maschine in den Motorradschuppen und lag – zack! – im Trainingsanzug auf der Liege. Auf der Pritsche neben mir hatten sie unter einem Schild mit der Aufschrift »Danke, Herr Kohl!« ein Skelett mit Bergarbeiterhelm drapiert. Diese Installation sollte zeigen, dass wir bis zum Letzten gehen würden.

Unser Hungerstreik erregte weit über Thüringens Grenzen hinaus Aufmerksamkeit. Presse, Rundfunk und Fernsehen waren vor Ort und berichteten. Aus dem ganzen Land erreichten uns Solidaritätsbekundungen und Geldspenden. Künstler, Sportler und Politiker besuchten uns. Die Puhdys kamen, ebenso die Speerwerferin und Olympiasiegerin Ruth Fuchs und der Schriftsteller Stefan Heym. »Haltet durch! Macht weiter!«, gaben sie uns mit auf den Weg. Jede Woche organisierten die Kumpel eine Protestdemonstration. Die mächtige Welle der Solidarität zeigte uns: Wir stehen nicht allein mit unserem Arbeitskampf, Bischofferode ist tatsächlich überall!

Schließlich sah sich die Politik zu konkreten Zugeständnissen gezwungen. Nun hieß es: Wir alle bleiben für weitere vier Jahre Betriebsangehörige des Kaliwerks und erhalten Ersatzarbeitsplätze über eine Auffanggesellschaft. Mit diesen Zusagen gelang es ihnen nach sechs Wochen, unseren Hungerstreik abzuwürgen. Die meisten von uns waren am Ende ihrer Kräfte. Nach zwei Wochen Hungern fühlte ich mich wie ein Geist. Ich hatte mich zusätzlich noch erkältet. Der Arzt riet mir dringend, den Streik abzubrechen und mich behandeln zu lassen. So mancher fiel ins Koma und kam erst im Krankenhaus wieder zu sich. Einige behielten dauerhaft gesundheitliche Schäden.

Noch immer hatten wir die zugesicherten Ersatzarbeitsplätze nicht bekommen. Diese entpuppten sich schließlich als pure Beschäftigungstherapie: ABM im Wald und im Schwimmbad, Geländer bauen und Hecken schneiden im Gewerbegebiet – langweilige Verrichtungen, die unserem Selbstwertgefühl absolut abträglich waren.

Am Jahresende 1993 kauften sie uns gleich noch mal den Schneid ab: »Ihr müsst jetzt einen Aufhebungsvertrag unterzeichnen! Wer sich weigert, dem kündigen wir ohne Abfindung.« Jeder von uns erhielt 5 000 oder 7 000 D-Mark, bei den Grubenleuten mögen jeweils 10 000 bis 12 000 zusammengekommen sein. Für unsere Kollegen aus dem Mansfelder Kupferkombinat, das gleich zur Wende zugemacht worden war, hatten noch westdeutsche Maßstäbe gegolten: Sie waren mit 80 000 D-Mark Abfindung nach Hause gegangen und konnten sich davon neue Häuser bauen. Wir dagegen wurden abgespeist.

Somit endete die von uns erzwungene Verlängerung unserer Betriebszugehörigkeit und wir fielen schließlich in die Arbeitslosenhilfe. Ich bezog zum Schluss etwa neunzig Mark im Monat, da das Einkommen meiner Frau mit angerechnet wurde. Rechnungen konnte ich nicht mehr selbst bezahlen. Meine Arbeit bestand darin, auf den verschiedenen Ämtern umherzustreunen.

In der ehemaligen »Finkenburg« saßen jetzt sogenannte Bildungsträger, die auf Teufel komm raus Umschulungen vermittelten, einzig zu dem Geschäftszweck, Provisionen einzustreichen. Tischler wurden zu Bäckern, Bäcker zu Fleischern und Fleischer zu Elektrikern umgeschult – und nirgendwo kam ein Arbeitsplatz raus.

Als sie mich dort hinauf bestellten, empfing mich ein Besatzer mit den Worten: »Tja, Herr Schmelzer, nun haben Sie aber lange genug auf dem Kanapee gelegen. Jetzt müssen Sie mal wieder was tun!« Ich war kurz davor, diesen Laffen an die Wand zu drücken. Was verhöhnte der mich? Es war nicht meine Idee gewesen, mit der Arbeit aufzuhören.

Nun sollten wir also umschulen. Wir wurden in Busse gesetzt und ab ging’s. Die Straßenbau-Firma Kirchner nahm vierzig, fünfzig Mann mit nach Bad Hersfeld. Sie zeigten uns ihren Stammbetrieb und fragten: »Wollt ihr umschulen zum Baumaschinenführer?« Das war gar nicht so abwegig! Der Weg vom Großgerätefahrer auf dem Schacht zum Straßenbauer mit großen Geräten war kurz. Und Grubenkumpels können arbeiten! Das allerdings nutzte unser »Lehrbetrieb« reichlich aus. So hieß es, als wir Hausanschlüsse zu graben hatten: »Schickt den Mini-Bagger wieder weg, die Bischofferöder sind doch da. Die schippen. Das ist billiger!«

Drei Jahre lang arbeiteten wir bei Kirchner. Ich erlernte dort einen kompletten Zweitberuf: Baumaschinenführer mit Abschluss von der IHK in Kassel. Und was war das Ende vom Lied? Die Firma machte ihre Niederlassungen in Sondershausen und Erfurt dicht. Damit waren alle Schachtleute wieder arbeitslos. Heuern und feuern.

Meine Heimat war seit der Schließung des Schachts das Outback der Region: die Autobahn weit weg, keine große Stadt in der Nähe. Viele Freunde waren in den Westen gezogen, einige dem Alkohol verfallen, andere hatten ihrem Leben eigenhändig ein Ende gesetzt. So mancher Bergmann baumelte in den Jahren nach 1989 irgendwo herum. Man nannte unseren Ort schon scherzhaft »Hängehausen«.

Mir wurde klar: Will ich raus aus diesem Schlamassel, muss ich es machen wie der Baron von Münchhausen: Am eigenen Zopf zog der sich aus dem Sumpf. Wenn mir auf dieser Welt irgendjemand helfen konnte, dann nur ich selbst! Also hörte ich mich um. Ein paar meiner ehemaligen Freunde hatten im Westen als CNC-Dreher eine Arbeit gefunden. Diese englische Abkürzung steht für Computergestützte Numerische Steuerung. Da gesamte Arbeitsprozesse inzwischen komplett über Computerprogramme liefen, stand der Dreher nicht mehr an der Maschine und kurbelte. Das war nun Standard. Ich entdeckte dazu in unserer Gegend ein Schulungsangebot und ging sofort aufs Arbeitsamt, um mich dafür zu bewerben. Die junge Frau hinterm Schreibtisch schaute skeptisch: »Ob das etwas für Sie ist? Da müssen Sie viel rechnen. Mit Ihren Schulnoten …«

»Ich interessiere mich aber dafür!«, blieb ich hart. »Ich denke, das ist was für die Zukunft.«

Schließlich schrieb die Frau meinen Namen auf und ich durfte mich ein Dreivierteljahr im Bildungs-Zentrum Deuna auf die Schulbank setzen. Wir waren zwanzig Mann in der Klasse, mit einer Handvoll von ihnen tat ich mich zusammen. Jeden Morgen kauften wir eine Cola und eine Flasche Rum. Zum Frühstück genehmigten wir uns die erste Tasse des Gemischs, zum Mittag eine zweite. Auf die Art hatten wir immer gute Laune. Die Anforderungen des Lehrgangs erfüllte ich mit links, war sogar – entgegen der Befürchtung der Arbeitsamtsfrau – unterfordert. Das Thema interessierte mich und der Lernstoff fiel mir zu. Männer, die auf dem Schacht als Dreher gearbeitet hatten, kamen mit dem Computer nicht klar. Ich schrieb ihnen die Programme, erklärte die Technologiesätze, aber oft verstanden sie nicht, worum es ging. Von den Jungen sagten manche: »Das kotzt mich an! Ich hab keinen Bock auf den Scheiß.« Ehe ich mich von denen runterziehen ließ, trank ich einen Schluck von unserem speziellen Gute-Laune-Tee. »Wenn der Geist was leisten soll, braucht der Körper Alkohol!«, lautete mein Motto. Einige Male wollten sie mich rausschmeißen, doch am Ende stand in jedem Fach eine Eins auf meinem Zeugnis. Ich war Lehrgangsbester! Einen Arbeitsplatz hatte ich damit längst noch nicht.

Ich ging Klinken putzen. »Sie sind viel zu gut für uns!«, bekam ich nicht selten zu hören. Nach einem Jahr fand ich durch Zufall im Nachbarort einen Betrieb, der kurzfristig einen CNC-Dreher brauchte, und erhielt eine befristete Stelle. Sie wurde mehrfach verlängert, bis ich schließlich eine Festanstellung bekam. Mittlerweile arbeite ich seit 14 Jahren dort, doch das Zusammengehörigkeitsgefühl ist nicht annähernd so intensiv wie auf dem Schacht. Hier kämpft jeder für sich. Mein Selbstwertgefühl beziehe ich nicht aus diesem Betrieb. Das ist nur ein Job. Was mich glücklich macht, ist die Anerkennung im Freundeskreis. Noch heute besuche ich gelegentlich alte Schacht-Kollegen oder wir unternehmen etwas gemeinsam. Der Alkohol dient dabei nur noch wohldosiert als Genussmittel. Ich bin froh, dass ich mich nie habe entscheiden müssen: Heimat oder Arbeit!

(Aufgeschrieben von Frank Nussbücker)

Vater GERHARD SCHMELZER, Jahrgang 1937, arbeitete bis 1992 auf dem Schacht Bischofferode unter Tage. Von 1968 bis 1990 leitete er das gewerkschaftliche Kulturhaus des Kaliwerks.

»Am Ende hab ich nur geheult«

Über meinen letzten Arbeitstag möchte ich kein einziges Wort verlieren. Ich war enttäuscht, nicht mehr gebraucht zu werden. Meine Frau arbeitete beim Schacht zuletzt als Telefonistin. Ich hatte in der Grube angefangen und leitete später viele Jahre das Kulturhaus. Weihnachten 1992 verloren wir beide unsere Arbeit. Ein paar Wochen zuvor hatten wir einen Kredit aufgenommen und unser Wohnhaus gekauft. Wir waren davon überzeugt gewesen, dass der Schacht weiterläuft. Finanziell gesehen hatten wir jedoch Glück im Unglück: Um mit 55 Jahren in den Vorruhestand zu gehen, fehlten uns beiden lediglich ein paar Monate. Meine Frau arbeitete noch ein bisschen bei der Volkssolidarität. Ich bekam das Angebot, weiter im Kulturhaus tätig zu sein – als Kellner.

Der Verlust meiner Arbeit traf mich hart, nicht wegen des Geldes. Ich hatte meinen Beruf geliebt!

Alles hatte während meiner NVA-Zeit begonnen. Als der FDJ-Sekretär unserer Kompanie ins Zivilleben entlassen worden war, bekam ich den Befehl: »Genosse Schmelzer, diese Funktion übernehmen Sie! Jetzt machen wir hier mal ein bisschen Kultur!«

Nachdem ich bei der Armee entlassen worden war und wieder unter Tage auf dem Schacht arbeitete, bat mich die FDJ-Kreisleitung, im Kreis Worbis für sie tätig zu werden. Dort hatten sie bereits sehnsüchtig auf Kader gehofft, die bei der NVA bereits eine gewisse Vor-Schulung erfahren hatten. Ich arbeitete mich bis zum Industriesekretär hoch. Dann kam das Jahr 1961. Ich war nicht einverstanden mit dem Bau der Mauer, war aber ein Hardliner für »unsere Sache«. 1963 sagte ich mir: Es wird Zeit für dich, mal wieder in die Produktion zu gehen, um nicht den Kontakt zu den Kumpeln zu verlieren.

1965 brauchten sie auf dem Schacht einen neuen Kulturhausleiter. Die bisherige Amtsinhaberin hatte sich leider nur auf anderen Gebieten hervorgetan und schien für den Posten schlichtweg ungeeignet. Bei ihrer Suche nach einem Kultursekretär kamen die Genossen schließlich auf mich. Sie dachten wohl: Wenn der Genosse Schmelzer die Jugendarbeit hinbekommen hat, dann kriegt der auch das mit der Kultur hin. Kurzum, ich erhielt den Parteiauftrag: »Versuche es mal!«

Dabei blieb es, 24 Jahre lang. Ich wurde Chef unseres Kulturhauses in Bischofferode und legte mich ins Zeug. Wir standen unter der Leitung der Gewerkschaft, unser Etat kam vom Kaliwerk. Das hieß, ich arbeitete eng mit der Betriebs-, Gewerkschafts- und Parteileitung zusammen: Der Werksdirektor gab das Geld, die BGL machte Vorgaben, die Partei segnete ab.

Anfangs bekam ich 620 Mark im Monat, deutlich weniger, als ich zuvor in der Grube verdient hatte. Am Ende waren es 900 Mark. Auch das Budget unseres Kulturhauses stieg kontinuierlich. Am Ende betrug er etwa eine Million Mark. Einschließlich Reinigungskräften und den Leitern der Volkskunstzirkel waren wir 13 Angestellte. Der Auftrag unserer Arbeit lautete lapidar: Den Werktätigen und Angestellten Kultur anzubieten und die Volkskunst zu fördern. Genau das tat ich!

Als ich das Haus nach meinem Amtsantritt 1965 zum ersten Mal besichtigte und dabei das Café mit 82 Plätzen betrat, wusste ich: Hieraus kannst du was richtig Tolles machen! Ich ließ den Raum umgestalten: supermoderne Einrichtung, lauschige Polster – so eröffnete ich schließlich unsere Veranstaltungsreihe »Nachtbar«. Über die Konzert- und Gastspieldirektion organisierte ich einmal im Monat ein Nachtprogramm. Eberhard Cohrs war ein paar Mal hier, Stefanie Hertel sowie ihr Vater, das aus dem Film »Solo Sunny« bekannte Günther Fischer-Sextett und viele andere Künstler. Nebenbei lief der Barbetrieb von 21 Uhr bis gegen drei Uhr morgens, natürlich nur am Samstag. Ob Musik, Modenschauen, Zauberei oder Kabarett – die Nachtprogramme waren immer ausverkauft, die Karten sehr begehrt, besonders bei Ehepaaren, die unsere Veranstaltungen zum Ausgehen nutzten. Wir boten den Leuten mal was anderes und dafür waren sie dankbar.

Die Gastronomie unseres Hauses lag in den Händen der HO. Von denen verlangte ich, dass sie zu unseren Abendveranstaltungen vernünftige Gerichte auf den Tisch brachten. Kein Standard-Kotelett oder Würstchen mit Brot, sondern Fisch und Filetstücke samt Vorsuppe und Dessert. Zur gehobenen Kultur einer Nachtbar gehören auch gehobene Speisen und Getränke, so mein Credo.

Zwei Drittel unseres Publikums waren Stammgäste. Viele arbeiteten in der Verwaltung, aber auch so mancher Kalikumpel gehörte dazu. Manchmal sprach mich auch ein LPG-Vorsitzender an: »Wir haben Weihnachten was vor. Kannst du uns hinten in der Ecke den Zehnertisch organisieren?«

Ich tat mein Bestes. Bei besagtem Zehnertisch war es gut, wenn ich wusste, wer daran sitzt. Hier brauchte ich Fingerspitzengefühl. Es galt, Sympathien und alte Feindschaften, sprich: soziale Beziehungen abzuwägen und dabei möglichst nicht ins Fettnäpfchen zu treten.

Eines Tages war unsere Kegelbahn defekt. Das brachte ich bei der Werkleitung zur Sprache. Kurz darauf baute uns eine Spezialfirma auf hohem Niveau eine neue Bahn, die ich fortan zu verwalten hatte. Sie wurde ein Highlight – und war ständig ausgebucht. Wir hatten in unserem Kreisgebiet nur wenige Kegelbahnen, doch der Bedarf war riesig! Nicht nur die Brigaden aus dem Schacht wollten kegeln, sondern auch das Volkspolizei-Kreisamt, die Grenzkompanien und die LPGs. Auf diese Weise versorgten wir das gesamte Territorium mit sportlicher Abwechslung.

Ich versuchte immer, breitflächig zu arbeiten, indem ich nicht nur das Werk, sondern die ganze Gegend mit einbezog. In Holungen gab es zum Beispiel einen Männerchor, dem ich einen Probenraum und finanzielle Unterstützung anbot. Außerdem band ich sie bei kulturellen Höhepunkten mit ein. Neben dem Holunger Chor fanden auch andere Truppen in unserem Kulturhaus eine Heimat. Wir hatten ein Ensemble der heiteren Muse, Fotozirkel, Bergmanns-Blasorchester, mehrere Jugendbands und drei Mädchen-Tanzgruppen für verschiedene Altersgruppen. Ging bei den Älteren das Geschäkere mit den Jungs los, wusste ich: Die sind bald weg, und die mittlere Gruppe rückt nach. Dieser Wechsel funktionierte über viele Jahre.

Das Kulturhaus befand sich in der Nähe der innerdeutschen Grenze. Etliche Dörfer lagen im Sperrgebiet. Die SED-Kreisleitung und die Betriebsgewerkschaftsleitung (BGL) legten Wert darauf, dass die Grenzsoldaten in ihren Kasernen auch ein wenig kulturelle Unterhaltung bekamen: »Gerhard, nimm doch mal Auftritte deiner Tanzgruppe bei der Grenzkompanie in deinen Kulturplan auf.«

»Kein Problem!«, sagte ich. »Wer wird Auftrag- und wer Kostenträger? Wir brauchen einen Bus, außerdem bekommen alle Beteiligten einen kleinen Obolus, da kommt schnell ein ordentliches Sümmchen zusammen!«

»Genosse Schmelzer, du kriegst Bescheid!« Keine zwei Stunden später rief mich der Werkdirektor an: »Gerhard, was brauchst du für Mittel, wenn du in diesem Jahr fünf Einsätze bei den Grenzkompanien und in den Grenzdörfern machst?« Und schon ging es los! Die Soldaten und Offiziere nahmen uns dankbar und herzlich auf. Es gefiel uns bei ihnen und wir gingen regelmäßig auf Tournee. In den Grenzdörfern mündeten unsere Auftritte meist in einem Tanzabend. Das war eine willkommene Abwechslung auch für die Bewohner des Sperrgebiets.

Das Ganze hatte natürlich auch seine Tücken. In Zwinge zum Beispiel befand sich der Saal nur 300 Meter von der Grenze entfernt. Da musste ich besonders aufpassen, dass keiner meiner Leute abhanden kam und dabei unvorhergesehen in Schwierigkeiten geriet. Unsere Tanzgruppen wurden schnell bekannt. Wir waren gefragt und kamen ohne Probleme ins Grenzgebiet, wann immer ich den Antrag stellte. Gut 15 Jahre lang betreuten wir das gesamte Territorium in Sachen »Entertainment«.

Die Bewohner unseres Kreises und die Kalikumpel liebten die großen Feste wie Karneval, Weinfest, Frauentags-, Kampfgruppen- und Silvesterball. Zu den Veranstaltungen setzte ich Busse ein, so dass die Kumpels einen trinken konnten und unsere 300 Werksfrauen sicher heim kamen. An all das musste ich denken, wenn ich das Haus voll kriegen wollte. Beim Weihnachtstanz galt es, auch die Belange der Katholischen Kirche zu berücksichtigen. Ich gab der Veranstaltung den Namen: »Tanz unter dem Lichterbaum« und es funktionierte. Die Veranstaltung war jedes Jahr ausgebucht.

Zog eine Veranstaltung anfangs mal nicht so richtig, wandte ich mich an die Kulturobleute der Brigaden. Sie waren quasi meine Mittelsmänner. Wir verstanden uns bestens. »Du kommst doch von Silkerode«, nahm ich den Kollegen beiseite. »Kannst du nicht mal sehen, dass ihr vielleicht mit ein paar Ehepaaren kommt? Ich lasse euch vom Dorf abholen und zurückbringen.« Das klappte. Die Leute kamen gern zu uns.

Ein wichtiger Bestandteil unserer Arbeit war die Organisation und Durchführung der jährlichen Brigadebälle. Die Brigaden aus dem Schacht hatten die Möglichkeit, im sozialistischen Wettbewerb durch Sonderschichten oder andere Initiativen Prämien zu kassieren. Die wurden zum Jahresende »auf den Kopp gekloppt«, nicht selten beim Brigadeball.

Die Leute riefen vorher bei uns an und fragten nach unserem Angebot. »Was wollt ihr denn?«, entgegnete ich. Natürlich ging es auf dem Brigadeball nicht nur um das Kulturprogramm, sondern auch darum, dass die Frauen ihre neuen Kleider ausführen konnten. Uns oblag es nun, der Veranstaltung einen besonderen Touch zu geben. Hierfür musste ich möglichst preiswert eine gute Kapelle besorgen. Schließlich hatte ich mit meinem Budget, von dem ich auch Lohn- und Reparaturkosten beglich, bis zum Jahresende auszukommen.

Sollten die Fernseh-Starköche von heute denken, sie hätten die Koch-Show erfunden, irren sie sich gewaltig. So etwas gab es bereits vor Jahren auf unseren Brigadevergnügen. Zu dem von mir ins Leben gerufenen »Wettkochen« stellte ich einfach zwei Kochplatten auf die Bühne und alles, was sonst noch zum jeweiligen Gericht gehörte – und los ging’s. Besonders beliebt war das Pufferbacken. Zuerst mussten die Mannschaften im Akkord Kartoffeln reiben. Das sorgte für Stimmung im Saal! Noch lustiger wurde es, wenn sich die einzelnen Koch-Mannschaften auf der Bühne gegenseitig Anweisungen gaben. Bald wollte jede Brigade das Pufferbacken im Festprogramm haben.

Ich teilte mir mein Budget ordentlich ein. Machte ich Gewinn, verwendete ich diesen anderswo mit möglichst großem Nutzen für alle. Je nachdem, wie es gerade mit unseren Finanzen aussah und wie sich eine Brigade im Kulturhaus einbrachte, konnte ich mich auch um einen finanziellen Zuschuss bemühen. Hier lautete die grundlegende Frage: Ist das eine aktive Truppe, sind die kulturinteressiert oder kommen die nur ein Mal im Jahr zum Brigadevergnügen und zum Saufen?

Im Kulturhaus fanden neben den Unterhaltungsveranstaltungen auch die monatlichen Brigade- und Parteiversammlungen, Jugendforen und alljährlich die Messe der Meister von Morgen (MMM) statt. Hier stellten Kinder und Jugendliche selbstgefertigte Exponate aus.

Ein kultureller Höhepunkt war der »Ökulei«, sprich: der Ökonomisch-kulturelle Leistungsvergleich. Hierfür erarbeiteten die Brigaden ein eigenes Bühnenprogramm. Da konnten sich Abteilungen hervortun, die in ihren Reihen einen guten Gesangs- beziehungsweise Instrumentalsolisten oder ein anderes Talent wussten. Manche stellten einen ganzen Chor auf die Bühne. Beliebt waren auch die Sketche aus dem Arbeitsleben der Kalikumpel. Mit Helm und Arbeitsklamotten standen die Leute auf der Bühne und brachten mit kabarettistischen Mitteln so manchen Missstand zur Sprache.

Ich arbeitete eng mit den AGLern, den Vorsitzenden der Abteilungsleitungen der Gewerkschaft zusammen. »Ich möchte dieses Jahr wieder eine Brigadetagebuch-Ausstellung machen«, sprach ich sie an. »Seht mal zu, dass eure Truppe was bringt, das Aussagekraft über das Brigadeleben hat.« Konnte eine Brigade kein Tagebuch vorlegen, wurde sie schon mal mit einem oder zwei Minuspunkten im sozialistischen Wettbewerb bestraft. Die besten Brigade-Tagebücher wurden natürlich prämiert.

Die jungen Leute liebten die Tanzveranstaltungen. Jeden Monat nahm ich zweimal Jugendtanz ins Programm. Die Kapellen und Bands holte ich aus der ganzen DDR zusammen, die bekanntesten waren Karat, Renft, Synchron und die Puhdys. Letztere konnte ich mir allerdings nur ein Mal erlauben. Als sie für 15 000 Ostmark im Westen gespielt hatten, ging das nicht mehr. Da hätte ich 100 Mark Eintritt nehmen müssen. Die Bands aus Halle, Leipzig und Berlin kamen meist am Nachmittag bei uns an. Dann rief mich die Wache an: »Gerhard, deine Kapelle ist da!« Ich kümmerte mich um die Leute. Die Musiker wollten verpflegt und für die Nacht untergebracht werden. Im Kulturhaus gab es ein paar leerstehende Zimmer und ich fragte bei der Werkleitung, ob wir diese ausbauen könnten: »Ich habe Maler und alle an der Hand, um die Zimmer herzurichten. Aber wir brauchen ein bisschen Geld!« Und zack! bekamen wir 13 Übernachtungsplätze. Die konnten die Leute auch nach Brigade- oder Familienfeiern bei uns mieten.