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Tagsüber arbeitet sie am glücklichsten Ort der Welt, in einem Vergnügungspark in Los Angeles. Die Kinder stehen Schlange, um sie in der Rolle der Eiskönigin zu sehen. Nachts rast Maeve in einem rosa Mustang den Sunset Strip entlang, treibt sich in Spelunken herum und imitiert ihre menschenfeindlichen literarischen Helden. Doch als Gideon Green, der Bruder ihrer besten Freundin, sich mit ihr anfreundet, weckt er etwas Gefährliches in ihr. Alte Wunden brechen wieder auf und für Maeve Fly wird frisches Blut zum roten Teppich … Maeves Geschichte handelt von einer zutiefst gestörten, von Literatur und Halloween besessenen jungen Frau, die lernen muss, ihre dunkle Natur zu akzeptieren. Ein moderner Thriller à la American Psycho, auf einer Stufe mit der dunklen Psychologie, die man in einem Roman von Gillian Flynn erwarten würde. Stephen Graham Jones: »Blutig und brutal und schön und schmerzhaft und erschreckend und ein reines Vergnügen.«
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Seitenzahl: 407
Veröffentlichungsjahr: 2025
Aus dem Amerikanischen von Jochen Schwarzer
Impressum
Die amerikanische Originalausgabe Maeve Fly
erschien 2023 im Verlag Tor Nightfire.
Copyright © 2023 by Friday Harbor LLC
Copyright © dieser Ausgabe 2025 by
Festa Verlag GmbH
Justus-von-Liebig-Straße 10
04451 Borsdorf
Kontaktadresse nach EU-Produktsicherheitsverordnung:
Titelbild: Roderick Lange / roppix on 99designs
Alle Rechte vorbehalten
eISBN 978-3-98676-216-2
www.Festa-Verlag.de
Für Kyle,
der Tag für Tag freudig mit mir
in den Abgrund blickt
Ich bin ein kranker Mensch … Ich bin ein böser Mensch.
– Fjodor Dostojewski,
Aufzeichnungen aus dem Kellerloch
Die Ausschweifung, die ich kenne, beschmutzt nicht nur meinen Körper und meine Gedanken, sondern alles, was ich mir dabei vorstellen kann, und vor allem das gestirnte Universum …
– Georges Bataille,
Die Geschichte des Auges
KEIN AUSGANG.
– Bret Easton Ellis,
American Psycho
1
Jeder Mann hegt eine ganz bestimmte Fantasie, und die geht so:
Er wird eine allseits beliebte supersüße Frau heiraten. Er wird ein ehrenwertes Leben führen und alles erreichen, was ihm sein Vater als erstrebenswert beigebracht hat. Und wenn er dann schließlich auf dem Höhepunkt seiner Errungenschaften als Sohn und inzwischen selbst auch Vater angekommen ist, wenn er den Gipfel der Rechtschaffenheit und unbezweifelbaren Manneskraft erklommen hat, dann, und wirklich erst dann, sollen ihm Frau und Kind und Hund genommen werden – auf gewaltsame, unverzeihliche Weise.
Womit seine Freiheit letztlich wiederhergestellt wäre.
Und weil er immer so ein guter Mensch gewesen ist und stets das Richtige getan hat und ihm erst dann all das entrissen wurde, darf sich dieser tugendhafte Mann nun mit dem vollsten Verständnis der Allgemeinheit der Gewalt, dem Zorn, dem Nihilismus und der Ausschweifung hingeben. Worin im Grunde die ganze Zeit sein wahres Ziel bestand: in dem herrlichen Rausch der gesellschaftlich sanktionierten Vergeltung zu schwelgen. Wie viele Ehemänner haben schon an Kinokassen angestanden, um genau diese Fantasie ausgelebt zu sehen, die sie im Grunde ihres Herzens aufs Innigste begehren?
Männer sind so einfallslose, stumpfsinnige Geschöpfe.
In Wahrheit ist es aber so – und das wissen nur die wenigsten:
Man braucht keine moralisch wertvolle Vorgeschichte, um zu tun, was man will. Man muss nicht erst Opfer sein, um zum Monster zu werden. Es müssen einem keine geliebten Menschen entrissen worden sein, damit man saufen und um sich schlagen und sich dem Erhabenen widmen kann. Das Leben ist kurz und sinnlos und schreit geradezu danach, von hinten gepackt und bis zur Besinnungslosigkeit durchgefickt zu werden.
Das hier ist meine Geschichte, und du – ja, du – hast da gar nichts zu melden. Ebenso wenig wie bei dem immer tieferen Herabbaumeln deiner Geschlechtsteile oder der Erwärmung dieses feisten Strafplaneten, der durch die spermagesprenkelte Schwärze schwebt.
Mein Name ist Maeve Fly.
Ich arbeite am fröhlichsten Ort der Welt.
2
Kate und ich knien einander gegenüber in dem Zimmer im Schloss der Eiskönigin, wie wir es jeden Tag tun. Wir tragen Prinzessinnenkleider, unsere Arbeitskluft. Ich sehe gerade mit an, wie erst ein Blutstropfen und dann noch ein zweiter aus Kates Nasenloch rinnt und dem kleinen Jungen, der auf ihrem Schoß sitzt, auf den Kopf fällt.
Kate ist schön und verkatert – ein leicht stumpfes, dennoch kostbares Juwel in einem dunklen, pseudonordischen Interieur. Und das meine ich wörtlich. Die Wände hier haben sie so gestrichen, dass es wie in einem klischeemäßigen skandinavischen Schloss aussieht – bloß dass dieses Schloss keinerlei Ähnlichkeit mit den wenigen Schlössern hat, die es in Skandinavien tatsächlich gibt. Kate ist 26, ein Jahr jünger als ich. Der kleine Junge auf ihrem Schoß trägt ein Shirt mit irgendeinem Comic-Sportler drauf und hat trockene Zuckerwatte an der Wange kleben. Diesem trostlosen Anblick kann ihr Blut nur guttun. Die Mutter hat es anscheinend nicht bemerkt. Es ist ein Dienstag im September, und die Eltern frösteln unter ihrer südkalifornischen Schweißschicht, die von der klimatisierten Luft auf unangenehme Art gekühlt wird.
»Wow, was hast du denn für ein wunderhübsches Kleid an! Das steht dir ja noch viel besser als mir!«, sagt Kate zu dem kleinen Mädchen, das neben mir hockt. Die beiden Kinder sind Geschwister, und ich kann nicht anders, als sie als Konkurrenten anzusehen. Der eine wird dem anderen eines Tages übel mitspielen, wird ihm einen geliebten Menschen abspenstig machen. Der kleine Junge, der mit der Zuckerwatte und dem Blut, ist zwar höchstens vier Jahre alt, aber in seinem Köpfchen geht es bestimmt schon richtig rund.
Und mit einem Mal scheint er die flüchtige, zufällige Situation, in der er sich gerade befindet, mit großer Klarheit zu durchschauen. Er sitzt mit dem Gesicht ganz nahe vor den prallen jungen Brüsten einer Frau, zu der für ihn keine verwandtschaftlichen Bande bestehen. Sein Mund steht offen, und seine Augen sind starr auf eine von Kates Brustwarzen gerichtet. Laut Vorschrift sollen wir unterm Kostüm stets BH tragen, doch das vergisst Kate gern. Mich stört es nicht. Und den kleinen Jungen offenkundig auch nicht.
Das kleine Mädchen neben mir dreht sich nun ein wenig in ihrem Prinzessinnenkleid hin und her. Kates Figur ist die jüngere Schwester meiner Figur. Kate lächelt gütig zu ihr hinab. Noch hat niemand bemerkt, dass sie Nasenbluten hat. Der kleine Junge streckt ganz langsam eine Hand in die Richtung seines Objekts der Begierde aus, wie um sich von dessen Echtheit zu überzeugen. Dann hält er inne. Er sieht mich an: Darf ich das? Oder werde ich dafür bestraft? Was alle Männer wissen wollen. Ich lächle und zwinkere ihm zu. Bestraft werden wir sowieso alle irgendwann, also warum nicht?
Ich liebe es, meine Prinzessin zu spielen. Die meisten kleinen Mädchen, die zu uns kommen, scheinen eher mit Kates Figur zu sympathisieren, denn sie ist die unerschütterlich Tugendhafte der beiden Schwestern, die Protagonistin, die nicht nur die Ortschaft rettet, sondern sich auch noch in einen großen, gut aussehenden Skandinavier verliebt, um mit ihm weitere große, gut aussehende Skandinavier in die Welt zu setzen. Meine Prinzessin, die Schwester mit den zerstörerischen Kräften, die keinen Gemahl hat, wird nur von den angeknacksten kleinen Mädchen gemocht. Sie füllt zugleich die Rolle der Prinzessin und der Schurkin aus. Wir werden später noch darauf zurückkommen, aber jedenfalls ist meine Prinzessin sehr bedeutsam, verkörpert sie doch eine seltene, archetypische Trotzhaltung in einer ansonsten vollkommen vorhersehbaren Welt. Sie ist absolut herrlich. Der einzige Nachteil an unserem Job ist das Lied des Schneemanns, Kates tollpatschigem Reisegefährten, das den ganzen Tag über immer mal wieder ertönt und eine fast zwei Minuten andauernde wahrhaft unerträgliche näselnde Tortur darstellt. Die Kinder können gar nicht genug davon bekommen.
Dieser kleine Junge hier kriegt jedoch für das Geld seiner Eltern wirklich was geboten und beachtet das Lied überhaupt nicht. Seine Aufmerksamkeit ist wieder auf die Brust gerichtet, und aus seinem Blick spricht eine neue Entschlossenheit. Aus Kates Nase fällt ein weiterer roter Tropfen in sein Haar hinab, und mit einem Mal bin ich von tiefer, unerschütterlicher Liebe erfüllt. Liebe zu Kate, zu diesem Job, zu all dem hier.
Kate und ich legen unsere Arme um das kleine Mädchen und beugen uns für das Foto der Eltern zueinander hinüber. Draußen stehen die Leute Schlange, und wir können die anderen Kinder nicht warten lassen. Wir sind in diesem Park sehr beliebt. Ja, tatsächlich sind wir die populärste Attraktion hier.
Und während wir uns zueinander hinüberbeugen, sieht der Junge mich an, und genau wie er spüre ich, dass nun der Moment gekommen ist. Dies wird einer der Höhepunkte seiner Kindheit sein, der tapfere junge Ritter auf seiner ersten Gralssuche. Und ich habe die Ehre, dabei Zeugin zu sein. Ich nicke ihm ermunternd zu. Er versteht den Wink und macht sich bereit, seinen Schicksalsweg zu beschreiten.
Er greift nach oben.
»Sagt CHEESE!«, ruft die Mutter.
Der Junge umfasst Kates Brust mit der ganzen Hand und drückt zu.
Der Blitz erstrahlt. Die Mutter schreit auf. Kate lacht. Der Vater versucht, entsetzt dreinzuschauen, doch sein kaum verhohlenes Grinsen und seine Haltung verraten ihn: Er ist stolz auf seinen Sohn. Und er wünscht, es wäre seine eigene Hand, die da auf der Brust der falschen Prinzessin liegt. Endlich gibt er sich, wie er dort vor uns steht, der Fantasie hin, die er sich bisher nicht gestattet hat. Diese weiche Straffheit, verglichen mit den nur mehr mütterlichen Brüsten seiner Frau, die verbotene Herrlichkeit eines von ihm noch unberührten, noch nicht eroberten Busens. Wie die Väter ihre Söhne beneiden. Wie sie von diesem Neid lebenslang nicht mehr loskommen.
Ich sehe ihn mit erhobener Augenbraue an, und er zuckt nur ungerührt mit den Achseln. Er weiß instinktiv, dass ich ihn durchschaut habe. Das wissen diese Typen immer.
Nachmittags haben wir eine halbe Stunde Pause. Wir gehen in den Pausenraum. Dort futtern Cinderella und Schneewittchen fett-, zucker- und milchfreien Joghurt. Sie glotzen uns böse an. Bei den Prinzessinnen herrscht eine klare Hierarchie, und Kates und meine Rollen, die zu den neuesten Prinzessinnen zählen, sind die beliebtesten. Die Kinder haben die älteren Prinzessinnen im Grunde fast schon vergessen. Außerdem ist es erwähnenswert, dass wir alle – Kate, Cinderella, Schneewittchen, die anderen und ich – in der Hierarchie unter den Prinzessinnen rangieren, die im Hauptpark tätig sind. Wir arbeiten in dem neueren Park nebenan, in dem es mehr Fahrgeschäfte für Erwachsene gibt und die Attraktionen für Kinder – wie beispielsweise Begegnungen mit Prinzessinnen – eine absolute Nebenrolle spielen. Unser Park hat auch stets weniger Besucher als der benachbarte Hauptpark, das Original. Er öffnet später und schließt früher. Cinderella oder Schneewittchen in unserem Park zu sein, bedeutet also, dass man das B-Team des B-Teams ist, und darüber sind die beiden ziemlich verbittert. Ginge mir an ihrer Stelle genauso.
Kate und ich beachten sie aber gar nicht und gehen gleich in den Umkleideraum hinter dem Pausenraum weiter. Sofort nehmen wir unsere Perücken ab. Mein Haar ist zwar von dem Weißblond meiner Figur nicht allzu weit entfernt, aber dennoch wird verlangt, dass wir diese Perücken tragen. Kates Haar ist im Gegensatz zu dem ihrer rotbraunen Perücke so blutrot, wie es das ohne Färbemittel nur sein kann. Es ist ein faszinierender Anblick, und manchmal ertappe ich mich dabei, es zu lange anzustarren. Kupferdraht, Lava, Menstruationsblut. Sie zieht auf einem Pappteller aus dem Pausenraum ein paar Lines für uns, die wir uns dann durch Tamponhülsen reinpfeifen. Ein wenig reibe ich mir auch ins Zahnfleisch. Dann hocken wir in unseren Kostümen auf Handtüchern auf dem Boden, mit den Rücken an den Spinden, und mampfen die Gummibärchen, die ich an diesem Morgen dem 7-Eleven-Typen abgeflirtet habe. Kates Haar schimmert im Licht der Neonröhren. Ihre Haut ist so durchscheinend, dass ich die Blutgefäße darunter erkennen kann.
Die Tür zum Pausenraum geht auf, und Liz kommt herein.
Liz ist alles, was an einem Menschen abscheulich sein kann, und infolgedessen meine Erzfeindin. Sie ist zugleich widerlich und auf seltsame Weise faszinierend. Liz liebt Regeln, liebt es, sie zu befolgen und hochzuhalten, sie lutscht die kleinen metaphorischen Schwänze dieser Regeln mit der Hingabe und Ausdauer einer Heiligen oder einer Frau, die dafür bezahlt wird. Außerdem ist sie unsere Vorgesetzte. Oder so was in der Richtung.
Ich sehe zu, wie ihr Gesicht rot anläuft, als sie uns erblickt. Das ist eine der beiden Betriebsarten, die Liz draufhat. Beide sind unerträglich, aber diese finde ich zumindest einigermaßen amüsant. Kate schnieft noch eine halbe Line, und Liz verschränkt die Hände unter ihren fantastischen Brüsten, dem Quell ihrer ganzen Verzweiflung. Richtige Möpse. Pullikuppeln. Früher war sie auch mal Prinzessin, so wie wir, doch dann wachte sie eines Morgens auf und musste feststellen, dass ihre Brust über Nacht unerklärlicherweise so extrem gewachsen war, dass sie nicht mehr in ihr Arbeitskostüm passte. Also, sie passte schon noch hinein, sah darin aber eher wie eine Pornodarstellerin aus, woraufhin ihr die Geschäftsleitung mitteilte, dass ihre Zeit als Prinzessin vorüber sei. Das ist die größte Kränkung und Enttäuschung ihres Lebens, und emotional wird sie sich davon nie wieder erholen. Liz sieht nun irrsinnigerweise echt scharf aus, und aus ihrem Kleid herauszuwachsen, nur um zum Inbegriff dessen zu werden, was jede Frau in dieser Stadt gern wäre, ja, wofür jede Frau in dieser Stadt viel Geld hinblättern würde, ist für Liz hingegen der Untergang alles Guten auf der Welt.
Kate macht das wahnsinnig. Kate, die, obwohl sie sehr schön ist, für Liz’ Körper glatt einen Mord begehen würde. Hinzu kommen bei Liz noch eine reaktionäre, sich selbst geißelnde Donut-Sucht, die sie allerdings nirgends auch nur ein Pfund zunehmen lässt, und ein allgemeiner, abstoßender Eindruck von verlängerter Adoleszenz – womit sie dann bei Kate endgültig untendurch war. Mir hingegen ist das alles schnuppe. Für mich geht es dabei nur um sie. Ununterbrochen entweder in Kontrollgelüsten oder in einer ewigen Sehnsucht nach etwas schwelgend, das nie wiederkehren wird – und dann ist sie auch noch die ihrer selbst am wenigsten bewusste Person, die mir in dieser Stadt je untergekommen ist. Diese Wehmut, die schwermütigen Seufzer und die gierigen Blicke, mit denen sie uns in unseren Kleidern bedenkt – eine so inbrünstige Sehnsucht, dass mir schlecht davon wird. Liz ist in jeder Hinsicht und vor allem das Schlimmste und Banalste, das zu sein ein Mensch nur anstreben kann: ein Opfer.
Inzwischen spielt Liz eine Fellfigur, manchmal ein Streifenhörnchen, manchmal eine Mäusedame, doch als sie ihre Prinzessinnenrolle verlor, hat sie ein solches Theater gemacht, dass die Geschäftsleitung ihr – in dem Bemühen, ihren übersteigerten Mitwirkungsdrang zu stillen und sich den Rechtsstreit zu ersparen, von dem man annahm, dass er kommen würde (obwohl Liz niemals etwas tun würde, das dem Ruf der Firma schaden könnte) – den halb offiziellen Titel der Prinzessinnenaufsicht verlieh. Das ist keine richtige Stelle und ging auch mit keiner Gehaltserhöhung einher – was ich weiß, weil ich mir, um das herauszufinden, mit Kate Zugang zu ihrem Spind verschafft und mir ihre Gehaltsschecks angesehen habe – und auch mit keinerlei sonstigen ersichtlichen Vorteilen, abgesehen davon, dass sie nun glaubt, eine gewisse, und sei es auch noch so geringe Macht über uns zu besitzen.
»Schon wieder? Schon wieder? Jetzt sorge ich dafür, dass ihr rausfliegt! Ihr beiden seid so was von erledigt!«, faucht Liz in fieberhaftem Flüsterton.
»Entspann dich, Liz. Hier, bedien dich«, sagt Kate.
»Wenn du glaubst, dass du damit durchkommst …«
»Entschuldige, wie war das? Womit komme ich nicht durch?«, erwidert Kate. »Ich meine mich da an etwas zu erinnern, womit du nicht durchkommen würdest, Liz – falls ich, na, du weißt schon …«, sie inspiziert ihre Fingernägel, »der Geschäftsleitung was davon erzählen würde. Denen vielleicht auch … was zeigen würde.«
Liz wird schlagartig blass.
Liz liebt den Park. Liz liebt den Park mehr als jeden anderen Ort auf der Welt. Sie träumt davon, sich unter Mäuseohren im Pärchenlook mit einem ebenso dem Park verfallenen Mann zu verloben, in Cinderellas Schloss zu heiraten und sich in einer zauberhaften Hochzeitsnacht in der heiß begehrten Schloss-Suite in dem Park an der Ostküste – für die sie allerdings nie im Leben eine Reservierung kriegen wird – ihrer Unschuld zu entledigen. Ihr gesamtes Zimmer in ihrer WG mit den weißen Teppichböden ist vollgestopft mit Park-Krimskrams, und zum Frühstück isst sie tagtäglich mausförmige Donuts. Sie schaut sich immer wieder die Zeichentrickfilme an, vor allem die alten. Sie hat noch nie masturbiert, denn sie spart sich für einen Ben, Jake oder Paul auf, der garantiert auch noch unberührt sein wird. Nein, eher keinen Jake. Jakes sind manchmal ziemliche Wichser. Keine Ahnung. Ich spinne hier nur so vor mich hin. Ich will noch eine Line ziehen, bevor wir wieder an die Arbeit müssen.
Liz sagt ganz ernsthaft zu mir: »Ich verstehe nicht, warum du dich mit ihr abgibst. Das hast du doch gar nicht nötig.« Sie hat Kate von Anfang an als fiese Ziege eingestuft und mich als Kates willenlose Handlangerin, und es gab für sie offenbar nie einen Anlass, die Dinge anders zu sehen.
»Gehen wir heute Abend ins Bab’s oder was?«, fragt Kate mich, Liz überhaupt nicht beachtend. Die hat jetzt wieder diesen übertrieben verletzten, sprachlosen Gesichtsausdruck aufgesetzt, und ich frage mich unwillkürlich, ob sie ihren Busch wohl schon jemals gestutzt hat oder ob das Ding da in ihrem Baumwoll-Prinzessinnenschlüpfer einfach so vor sich hin wuchert.
»Ja, vielleicht«, antworte ich. Mit Bab’s ist das Babylon gemeint, ein Stripclub im klassischen Hollywood-Stil, der sich im Untergeschoss des Gangplank befindet, eines Stripclubs in der Aufmachung eines Piratenschiffs. Der Laden ist bei Besuchern aus New York sehr beliebt, und Kate und ich gehen gern dorthin, weil diese Besucher dort fast immer Ausschau nach kalifornischen Sweethearts halten, die sie abfüllen können, in der Hoffnung, ihren Jetlag, ihren täglichen Frust und überhaupt alles Negative, das sich in ihnen aufgestaut hat, bei ihnen loswerden zu können. Sie wollen es zwischen ihren Beinen herauspumpen, hinein in etwas Williges oder auch nur halbwegs Williges. Das ist normalerweise sowieso eine Frage der Perspektive. Und sie reisen immer gleich am nächsten Tag wieder ab.
»Ich würde gern mein Buch zu Ende lesen«, erwidere ich. »Aber vielleicht hinterher.«
Liz starrt wehmütig Kates Kleid an, lässt mit einem tiefen Seufzer die Schultern hängen und richtet den Blick dann wieder über uns hinaus in die abgrundtiefe Leere in ihrem Leben.
»Nein, ey, du hast es versprochen, weißt du nicht mehr? Mein Bruder?« Kate beugt sich so nahe zu mir herüber, dass ihr Haar meinen Arm streift und ich ihren Schweiß riechen kann und das widerlich süßliche Kaufhausparfüm, das sie angeblich seit der Pubertät trägt. Ich erhasche einen Blick auf das Loch in ihrer Zunge, in dem ihr Piercing steckte, bevor sie es für diesen Job rausgenommen hat. Diese Zunge spricht fünf Sprachen, eine mehr als meine. Deshalb haben wir wahrscheinlich diese Stelle gekriegt. Über- und zugleich unterqualifizierte Millennials wie uns gibt’s ja wie Sand am Meer, aber auf irgendeine Weise sind wir beide ausgerechnet hier gelandet.
Ich krame in meinem Gedächtnis, und es fällt mir wieder ein: Ihr Bruder ist gerade in die Stadt gezogen. Das hatte ich ganz vergessen. Ich bin mit meinen Gedanken in letzter Zeit oft … woanders.
3
Von dem riesigen Touristenlokal im Stil eines Wildwest-Bordells am Sunset Strip ist es nur ein kurzer Fußweg den Hang hinauf zu einem weinbewachsenen mediterranen Anwesen mit allerlei Blumen, die ihre Kelche nur des Nachts öffnen. Beiderseits der mächtigen, importierten Holztür ragen ausgewachsene Kakteen einer südafrikanischen Art empor, die man hier in der Stadt vor vielen schönen Häusern sieht. Stecklinge davon werden im Netz für um die 20 Dollar gehandelt. Ihr milchiger Saft führt bei Einnahme oder Augenkontakt bei Tier und Mensch zu schweren Hautausschlägen, Erblinden oder sogar zum Tod. Fast niemand weiß das. Ich schon.
Zu Hause angelangt, streiche ich im Vorbeigehen mit den Fingern über einen der Kakteen.
Es heißt ja immer: Niemand stammt aus Los Angeles. Das trifft natürlich nicht auf alle, ja, nicht mal auf die meisten der Weißen zu, die damit im Grunde gemeint sind, und auch nicht auf die meisten Angehörigen der Minderheiten, die das bunte, lebendige Gewebe dieser Stadt ausmachen. Auf mich aber trifft es zu. Woher ich stamme, spielt keine Rolle, denn das hier ist der Ort, an den ich gehöre, und das Thema Vorgeschichte ist generell völlig überbewertet. Es dient nur dazu, unser Bedürfnis zu befriedigen, zu verstehen, warum jemand so geworden ist, wie er ist, um ihn dann in eine Schublade zu stecken und zu pathologisieren, statt ihm einfach mal mit Akzeptanz zu begegnen. Da ich aber gerade in Geberlaune bin, folgt hier meine Vorgeschichte in groben Zügen:
Von meinen Eltern habe ich mich vor einigen Jahren im Streit losgesagt. Ihr Vergehen bestand zwar lediglich darin, mich als vollkommen gegensätzliches und für sie absolut unverständliches Wesen auf die Welt gebracht zu haben. Doch jeder, der eine solche familiäre Ausgrenzung am eigenen Leib erlebt hat – nicht nur den hormongetriebenen Tumult der Teenagerjahre, sondern auch den vollständigen Mangel an Verständnis und den Verrat, der in der völligen Unfähigkeit besteht, jemanden als das zu sehen, was er ist –, wird verstehen, dass dies alles andere als ein leichtes Vergehen ist.
Der einzige Mensch, den es außer Kate in meiner Welt noch gibt, ist die Frau, die mich damals bei sich aufgenommen hat: meine Großmutter Tallulah, die in den Glanzzeiten Hollywoods als Schauspielerin tätig war. Sie ist nicht so berühmt, dass die Leute, wenn sie meinen Namen hören, sofort wissen, mit wem ich verwandt bin, aber doch berühmt genug, dass sie, wenn sie ihr Gesicht sehen oder früher ihr Gesicht sahen, oft innehalten oder innehielten und stirnrunzelnd darüber nachgrübeln, warum sie ihnen so vertraut vorkommt. Doch ihr berühmtes Halloween-Foto ziert immer noch unzählige Wände, und Drucke davon werden für wahrscheinlich weniger als 20 Dollar an allen möglichen Straßenecken und auch im Internet angeboten. Früher sagte man, sie sei das engelhafteste aller Starlets gewesen, ihr Gesicht ewig jugendlich und unschuldig, ihr von Natur aus fast weißblondes Haar eine Rarität in dieser Stadt. Und dann ihre Augen. Eisblau, sogar heute noch. Genau wie meine. Ja, tatsächlich sehen wir uns so ähnlich, dass man uns fast verwechseln könnte. Aber die Leute haben nun mal ein kurzes Gedächtnis. Und sie interessieren sich nur selten für etwas anderes als sich selbst.
Und das bin ich nun also: ihre Doppelgängerin, ihr Geist, der ungesehen auf dem Strip herumspukt.
Hinter der Haustür gelange ich in den Eingangsbereich, der in ein großes Wohnzimmer übergeht. Mein Schlafzimmer befindet sich auf der einen Seite des Hauses und das Schlafzimmer meiner Großmutter auf der anderen. Dazwischen gibt es eine Reihe offener Räume: Esszimmer, Küche, Bar. Balkone umschließen das Ober- und das Untergeschoss, und von dort schaut man auf den Strip hinab und in die Hügel hinauf. Unten gibt es ein Heimkino und ein Gästezimmer, das aber, solange ich hier wohne, nie genutzt wurde. Darunter befindet sich der Weinkeller. In Los Angeles haben nur reiche Leute einen Keller. Keller wirken hier irgendwie unpassend, und in einer Stadt, in der sich der Boden immer mal wieder bewegt, zu viel Zeit unter der Erde zu verbringen, ist gewissermaßen eine glamouröse Versuchung des Schicksals. Wir haben weder einen Garten noch einen Pool. Nur diese drei Etagen, die sich ebenso dauerhaft wie prekär an den Hang schmiegen. So beständig und vergänglich wie wir alle.
Ich betrete das Zimmer meiner Großmutter. Hilda, ihre Pflegerin, ist erst vor Kurzem gegangen, und der Geruch ihres Desinfektionsmittels liegt noch in der Luft. Ich habe Hilda nie gemocht, schon seit ihrem ersten Tag nicht, als sie mich beiseiteschob und aus dem Zimmer scheuchte, als würde ich jemals etwas anderes tun, als zu helfen, als würde ich nicht alles für diese Frau geben, die ich so liebe. Aber Hilda hat meine Großmutter am Leben erhalten, und das macht in meinen Augen ihre mit Ungeduld gepaarte europäische Effizienz und ihre vulgäre Anspruchshaltung unserem Haus gegenüber mehr als wett.
Nun aber bin ich mit meiner Großmutter ganz allein. Nur wir beide. Ich bleibe im Türrahmen stehen. Ich nähere mich ihr nicht und rede auch nicht. Das Zimmer ist, wie der Rest des Hauses, von einem Innendesigner geschmackvoll im Stil eines Old-Hollywood-Bungalows eingerichtet – obwohl das Haus viel größer ist als jeder Bungalow. Die Samtvorhänge sind beiseitegezogen, und das spätnachmittägliche Sonnenlicht ergießt sich über ihren ganzen Leib.
Meine Großmutter weiß nicht, dass ich hier bin. Sie liegt im Sterben, stirbt nun schon seit Monaten langsam und würdelos vor sich hin. Eine Leberzirrhose hat zu einer hepatischen Enzephalopathie geführt, die wiederum ein Leberkoma ausgelöst hat. Der versagende Körper stellt alles Mögliche an, um uns daran zu erinnern, dass wir weiter nichts sind als eine Abfolge von Impulsen, ein biologischer Zwangsapparat, der nach der erfolgten Fortpflanzung im Grunde kaum noch von Nutzen ist. Ein leichtes Zittern durchfährt meine Großmutter, während ich sie betrachte, und ihre Lippen beben, als will sie sprechen. Doch sie ist nicht bei Bewusstsein. Das wäre in dieser Lage zu viel verlangt.
Ich erinnere mich an diese Lippen, auf unverkennbare Weise rot geschminkt, wie sie den Rand eines Glases berühren, in dem sich bernsteinfarben ihr Old-Fashioned dreht. Als ich an meinem ersten Abend in der Stadt damals, vor all den Jahren, mit ihr in einer Nische im Jones saß. Rot karierte Tischdecken, Backsteinwände, schummriges Licht von Wandleuchten und kleinen Lampen. Sie bestellte zwei Teller Spaghetti für uns. Keiner von uns rührte sie an. Ich nahm einen Schluck aus meinem Glas, das mit dem gleichen Getränk wie ihres gefüllt war, und stellte es wieder ab, und meine Hand zitterte ein wenig.
Sie lehnte sich zurück, klackte mit ihren langen roten Fingernägeln auf der Tischplatte und musterte mich. Sie trug eine elfenbeinfarbene Chanel-Bluse, die unerhört tief aufgeknöpft war, und darunter einen schwarzen Spitzen-BH von La Perla. Eine Bulgari-Diamantenschlange wand sich um ihren Hals. Ihr Alter hat sie mir nie verraten. Ich hätte es im Handumdrehen im Internet herausfinden können, doch wenn sie mir etwas nicht mitteilen will, gebe ich mich gern damit zufrieden, es nicht zu wissen.
»Also. Meine Enkeltochter.« Sie sagte das langsam, die Silben auskostend, die Konsonanten übertrieben hart in ihrem hochfahrend wirkenden Mid-Atlantic-Akzent. Wir waren uns an diesem Tag zum allerersten Mal begegnet. Mein Vater und sie waren in nichts jemals einer Meinung gewesen. Das hatte fast ausschließlich damit zu tun, dass sie kein nennenswertes Interesse gezeigt hatte, ihn großzuziehen, und ihn fast seine gesamte Kindheit der Obhut eines Kindermädchens überlassen hatte. Sein Vater war zweifellos ein Filmstar gewesen, doch dessen Identität war meinem Vater lebenslang ein Rätsel geblieben. Ich weiß inzwischen natürlich, wer es war. Aber ich werde es ihm nicht verraten.
»Du bist sehr schön«, meinte meine Großmutter zu mir.
»Ich sehe genauso aus wie du«, erwiderte ich.
Ihr Mundwinkel zuckte nach oben, und ihre Nägel verstummten auf der Tischplatte. Sie betrachtete mich.
»Was siehst du, wenn du dich hier umschaust?«
Aus den Lautsprechern sang Billie Holiday. Kellner kümmerten sich in aller Ruhe um die einzelnen Tische. In den kleinen Lichtkreisen des schummrigen Raums beugten sich Gesichter im Gespräch zueinander hinüber und senkten sich dann kurz, um einen Bissen zu essen oder einen Schluck zu trinken. Jemand lachte. Der Barkeeper benutzte den Shaker und schenkte dann ein.
»Ich sehe …«
»Versuch nicht, mir zu gefallen«, wies sie mich an. »Schau dich einfach nur um. Was siehst du wirklich?«
Ich wandte den Blick von ihr ab und ließ ihn noch einmal durch den Raum schweifen. Ich sah Menschen. Menschen, die mit aller Kraft versuchten, Sinn zu erschaffen, einen mit Sinn erfüllten Raum. Eine Erfahrung. Etwas, das erstrebenswert war. Ich sah wandelnde Leichname, in kostbare Kleidung gehüllt, die aber nicht so edel aussehen sollte. Teuer, aber leger. Ich gebe mir keine Mühe, sagten sie, das hier ist ganz mühelos. Doch dieses Bemühen, dieses Streben, es vergiftete die Luft, verlieh ihr ein ganz bestimmtes Aroma. Das war überall. Es war berauschend. Menschen verstellen sich immer und überall. Hier aber, in Hollywood, geht das viel weiter. Es geht so weit, dass es fast authentisch wirkt. Ich wollte das alles aufsaugen, bis es mich ganz erfüllen würde. Ich sah wieder zu meiner Großmutter hinüber und wusste, dass meine Wangen gerötet waren.
Und dann saßen wir beide da, und ich sah wie gebannt in ihre Augen, die meinen Augen so ähnlich waren, diese Frau ein Abbild dessen, wozu ich heranwachsen würde, was einmal aus mir werden würde. Und die quälende Einsamkeit, die ich bis dahin mein ganzes Leben lang empfunden hatte, die schlichte Tatsache, dass ich ganz und gar anders bin, begann sich in Luft aufzulösen. Wir waren zwei Wölfe inmitten einer Herde von Schafen.
Da lächelte sie, als hätte sie meine Gedanken gelesen. Ein breites, wissendes Raubtiergrinsen mit erhobener Augenbraue. Und dann hielt sie über den Tellern mit dem nicht angerührten Essen ihr Glas in die Höhe. »Wir werden uns bestens verstehen«, verkündete sie.
Die Bar verblasst vor meinem geistigen Auge, und ich sehe wieder zu einer reglosen Frau hinüber, die in einem Ausmaß gesunken ist, wie ich mir das nie hätte vorstellen können. Mit durchsichtigen Schläuchen und Kabeln an Apparate angeschlossen, die immer mal wieder aufleuchten und nichts anderes zu tun scheinen, als Platz wegzunehmen und ein ansonsten sehr schönes Zimmer zu verschandeln. All das ein sterbender Traum. Ihr Leiden, das in den allermeisten Fällen durch Alkoholismus verursacht wird, sei in ihrem Fall, so sagte man mir, wahrscheinlich durch eine seltene genetische Störung ausgelöst worden. Das ist erblich, sagte man mir. Sie sollten vorsichtig sein, sagte man mir. Bei meinen anfänglichen verzweifelten Recherchen wandte ich mich sogar (das war vielleicht mein dunkelster Moment) an die nur so in Geld schwimmenden und auf dümmliche Art realitätsfremden New-Age-Ecken des Internets – die ihr westliches Zentrum hier in Venice und ihr östliches in Joshua Tree haben – und erfuhr dort, dass Erkrankungen der Leber mit einem Übermaß an Wut zusammenhängen.
Der Vertraute meiner Großmutter, der altersschwache Kater Lester, streicht nun an meinem Fußknöchel vorbei ins Zimmer und springt auf ihr Bett. Er senkt den Kopf und schmiegt sein Gesicht an ihres, um ihr eine Reaktion zu entlocken. Doch natürlich kommt da nichts. Ich ertrage es nicht mehr in diesem Zimmer. Leise schließe ich die Tür hinter mir und gehe ins Wohnzimmer. Die raumhohen Fenster bieten hier auf der einen Seite einen Ausblick auf den Strip und auf der anderen auf die Hügel. Requisiten aus ihren Filmen hängen an den Wänden und ruhen in Regalen. Ein Diadem, ein altes Telefon, eine Vase mit künstlichen Winterblumen. Ich schenke mir ein Glas Wasser ein, ziehe mir dann das Shirt über den Kopf und lasse es zu Boden fallen. Im Gegensatz zu meiner Großmutter lege ich keinen Wert darauf, mich groß in Schale zu werfen. Ich trage schlichte Kleidung, und an mein Gesicht und meinen Hals lasse ich kaum mehr als das Make-up, das ich bei der Arbeit auflegen muss. Mir ist es so lieber. Ich trinke einen Schluck aus dem Glas, und wieder zittert mir die Hand.
Das ist es, was zählt: Meine Großmutter liegt im Sterben, und Kate wird bald alles erreichen, was sie sich wünscht – und noch viel mehr, und ich werde nicht mit ihr in ihre schöne neue Welt des Fernsehstar-Daseins und des Hollywood-Glanzes eintreten. Aber ich habe das recherchiert: Falls meine Großmutter nicht wieder aufwacht, dauert es im Schnitt zwei Jahre, bis jemand in ihrem Alter und ihrer gegenwärtigen Verfassung an dieser Krankheit stirbt. Darauf, dass sie wieder aufwacht, soll ich mir laut den Ärzten keine Hoffnungen machen. Meinen persönlichen Beobachtungen nach braucht eine junge Schauspielerin in dieser Stadt im Schnitt fünf Jahre beständiger Mühen, bis sie in Hollywood auch nur einen Fuß in die Tür bekommt – falls das denn überhaupt jemals geschieht. Kate ist vor drei Jahren hierhergezogen, und daher hat sie noch etwa zwei Jahre vor sich, bis da irgendwas passiert. Ich kann also feststellen, dass mir mit den beiden Menschen, die mir wichtig sind, noch etwa zwei Jahre bleiben. Wenn ich ehrlich bin, ist das keine sonderlich verlässliche Feststellung, aber es reicht, damit ich nicht den Verstand verliere. Meine Großmutter spricht zwar nicht mehr mit mir, aber sie ist immerhin da, und das ist es letztlich, worauf es ankommt. Sie ist mein Ein und Alles.
Ich habe den Strip, und ich habe den Park, und noch zwei Jahre lang habe ich auch Kate und meine Großmutter. Ich weiß alles über diesen Ort, kenne jede Ritze und jede Facette, ich bin seine Vermesserin und Bewahrerin, seine Herrin und seine Kennerin. Die nächsten zwei Jahre noch ist mein Leben perfekt. Und anschließend werde ich allein weiterleben. Der Timer meiner gegenwärtigen Existenz tickt mit jedem Tag lauter der großen Unvermeidlichkeit entgegen.
Noch muss ich mich dem nicht stellen, und in der Zwischenzeit hält die tägliche Routine noch viel Vergnügen bereit.
4
In meinem Zimmer schalte ich Billie Holiday an. In meiner Welt gibt es nur zwei Arten von Musik: Billie Holiday und Halloween-Songs. Nichts anderes berührt mich auf die richtige Weise, erzeugt jenes Kribbeln, das sich vom Ohr in die Brust und das Rückgrat hinab erstreckt. In langjähriger Arbeit habe ich den, wie ich finde, definitiven Kanon von Halloween-Songs zusammengestellt, und er ist wunderschön.
Ich schalte meinen kleinen Fernseher ein, so eine antiquierte Flimmerkiste, die noch richtig Platz wegnimmt und nur VHS-Kassetten abspielt. Ich liebe diesen alten Apparat. Ich weiß, er wird nicht ewig halten, und eines Tages wird seine veraltete Technik nach vielen Jahren treuer Dienste wie letztlich alles dem Zahn der Zeit zum Opfer fallen. Alles Gute und Schöne wird irgendwann dahingerafft.
Ich schiebe einen Schwulenporno mit leichten Bondage-Elementen ein, eine alte Lieblingskassette von mir. Auf meinem Desktop gehe ich zu YouTube und rufe ein Video auf, in dem ein grauer Wolf ein Kaninchen jagt. Wie den Porno sehe ich auch dieses Video nicht zum ersten Mal und weiß, wie es ausgeht. Das macht den Ablauf aber nicht weniger sehenswert. Im wahren Leben gibt es keine Spoiler. Doch wenn man aufmerksam und pragmatisch ist, lässt sich bei so ziemlich allem leicht vorhersagen, wie es ausgehen wird. Auf der fundamentalen Ebene ist das menschliche Leben im Grunde stets vom Tod durchdrungen. Das zu wissen, schmälert aber den Ablauf nicht. Viele verschlungene Wege führen letztlich zum unvermeidlichen Ende, und das Zusehen dabei bietet unglaublich viel Schönheit und Schmerz.
Ich ziehe meine Jeans aus und lege mich aufs Bett, und in diesem Moment schiebt Rick Conrad seinen kleinsten Buttplug rein, und der Wolf geht hinter einem grauen Baumstamm in Deckung. Er hat Witterung aufgenommen, aber die Beute noch nicht erspäht. Billie schmachtet aus den Boxen. Mit der freien Hand entsperre ich mein Telefon. Ich sehe nach der Uhrzeit. Perfekt. Am aktivsten in den sozialen Netzwerken ist sie immer nachmittags, wenn ihre Kinder wieder zu Hause sind und sie sich eigentlich um sie kümmern müsste.
Sie, das ist Susan Parker, und wenn es mir gelingt, das hier reibungslos durchzuziehen, dann wird ihr bisheriges Leben sehr bald zu Ende sein.
Ich öffne meine App, mit einem meiner vielen Fake-Accounts. Trixie Krueger, 32 Jahre alt, wohnhaft in Orange County, Pro-American and Proud! Heutzutage kommt man wirklich mit jedem Namen durch. Wenn man an all diese Kinder denkt, die Paxton oder Austynn heißen oder Braydyn oder Braydee. So werden eines Tages Eltern und Großeltern heißen. Diese Namen werden in Geschichtsbüchern stehen.
Seit Monaten unterhält sich Trixie Krueger mit Susan Parker, fanatischem NRA-Mitglied und Mutter von fünf Kindern. Trixie hat nach und nach ihr Vertrauen gewonnen und ist zu ihrer Freundin geworden. Susan Parkers Kinder ähneln auf unheimliche Weise fleischig unförmigen Teigklumpen, und was ihre Namen angeht, wird man wirklich nicht enttäuscht. Sie heißen Kayleigh, Karleigh, Chasen, Brantleigh und – mein Favorit – Boone. Ich habe mir ihre Namen eingeprägt, habe in ihrer nun noch finsteren Zukunft geschwelgt. Susan und ihr Mann fahren das gleiche Hummer-H2-Modell, bloß dass ihr Hummer pink ist. Sie haben Geld, ihre Familie ist mit Erdöl reich geworden. Die gesamte Garderobe von Susans Gatten besteht aus legeren Camouflage-Klamotten, und er trinkt täglich HuMUGous-Limonade von Kum & Go aus diesen riesigen Humpen. Die Geschmacksrichtung habe ich nicht rausfinden können, aber ich nehme stark an, es ist Mountain Dew. Susan hingegen trinkt weder Koffein- noch Alkoholhaltiges, hat noch nie geraucht oder irgendwelche Drogen genommen und hält ihren Körper pflichtbewusst rein – für ihren Ehemann und für Jesus. Es war vielleicht vor allem ihr Verzicht auf jegliches Laster, was mich dazu brachte, in ihr die ideale Zielperson zu sehen. Dass sie Rassistin ist, stört mich gar nicht allzu sehr. In moralischer Hinsicht enttäuschende Menschen gibt es schließlich überall. Es ist eher diese Scheinheiligkeit, die mich fertigmacht. Nichts auf der Welt ist so herrlich befriedigend, wie einen frömmelnden Menschen untergehen zu sehen.
Nach monatelanger Vorarbeit glaube ich, dass es heute so weit sein wird. Ich bin schon ganz feucht vor Vorfreude.
Ich öffne unseren Chat.
Das Gespräch beginnt wie jedes Mal. Small Talk über ihre Kinder und das lange sonnige Wochenende, das wir beide gerade hinter uns haben. Ich mache ihr Komplimente zu ihrem neusten Insta-Post, einem Foto von Susan und zwei befreundeten Müttern, die in beigen Outfits und ledernen Reitstiefeln posieren, mit der Bildunterschrift PUMPKIN SPICE LATTE MIT MEINEN MÄDELS, DER HERBST DER CHRISTLICHEN MÄDELS HAT OFFIZIELL BEGONNEN. Ich erkundige mich nach den neusten Elternabenddramen. Ich erwähne einen bewaffneten Raubüberfall irgendwo hier in der Stadt – aber ich weiß ja, wo sie wohnt, kenne ihre Hausnummer und die Farbe ihres Briefkastens. Das reicht schon, um sie so richtig in Fahrt zu bringen. Mehr als ein kleiner Stups ist da gar nicht nötig.
SUSAN: Ja, bei all diesen Leuten, die hier in die Nachbarschaft ziehen, mach ich mir schon Sorgen um die Sicherheit meiner Kinder. Es ist wirklich beunruhigend, was man da so alles hört, und die Polizei ist auch besorgt! Der Bruder von meinem Nachbarn und der Mann meiner Schwägerin sind auch bei der Polizei, Gott segne sie, und die meinen beide, wir müssen wirklich aufpassen.
TRIXIE: Das ist einfach nicht richtig so. Ich weiß, wir haben schon oft darüber gesprochen, aber die zahlen ja überhaupt keine Steuern. Die halten einfach nur die Hand auf, und dann sorgen sie auch noch dafür, dass unsere Kinder in ihrer gottgegebenen Heimat nicht mehr in Sicherheit leben können!
SUSAN: Amen. Du sagst es. Erinnerst du dich noch an den Raubüberfall, von dem ich dir erzählt habe? Das war nur sechs Häuser von hier entfernt, und dann hat denen auch noch jemand ihre amerikanische Flagge geklaut! Und er ist Prediger bei uns in der Kirche!!!
TRIXIE: Also ehrlich, ich weiß, es ist nicht christlich von mir, so was zu auszusprechen, aber manchmal wünsche ich mir, wir könnten die alle zusammentreiben und verbrennen.
Mit pochendem Herzen schicke ich die Nachricht ab und warte dann auf ihre Antwort. Ich sehe, dass sie tippt. Auf dem Fernsehbildschirm gehen Rick und Conrad zu dem mittelgroßen Buttplug über. Das Auge des Wolfs nimmt eine Bewegung wahr. Billie singt. All of me, why not take all of me? Ich fahre mit der Hand in meinen Slip.
SUSAN: Also, ehrlich gesagt, genau das haben sie verdient. Ich habe jeden Tag Angst um meine süßen Kleinen. Jeden Abend, wenn ich schlafen gehe, liege ich noch lange wach und denke, wie das wäre, wenn jemand ihnen was antun würde, während Joel und ich gerade nicht da sind. Kein Mensch kann nachempfinden, was das für ein Gefühl ist. Das ist nicht richtig so, und ich hab nie gedacht, dass das mal die Welt sein wird, die sie von uns erben werden. Die sie von uns erben sollen. Mir wird ganz schlecht, wenn ich nur daran denke.
Nun pocht mein Herz wieder, und ich atme schneller. Ich schnappe mir einen Vibrator, damit ich mit beiden Händen tippen kann.
TRIXIE: Ich weiß, wir sind uns noch nie persönlich begegnet, aber trotzdem habe ich das Gefühl, dich richtig gut zu kennen. Und es ist einfach sehr schön zu wissen, dass es in diesem Land noch gute, gottesfürchtige Frauen gibt. Ich will dich schon seit einiger Zeit was fragen, aber ich musste erst wissen, was für eine Frau du wirklich bist. Ich musste wissen, ob ich dir vertrauen kann.
Ich drücke auf »Senden«.
Sie tippt. Ich warte. Mein Herz schlägt wie wild. Conrad stöhnt. Ich bin klitschnass.
SUSAN: Du kannst mir vertrauen.
Ich tippe.
TRIXIE: Also, nur mal angenommen, mal rein hypothetisch: Wenn ich dir sagen würde, dass ich Mitglied einer Organisation bin … eine Organisation von der Art, die es auch früher schon gab und die es immer noch gibt, wenn auch unter dem Mantel der Verschwiegenheit … Wenn es diese Organisation immer noch geben würde und wenn ich da Mitglied wäre, dann könnte ich dir vielleicht mitteilen, dass wir auch in deiner Stadt eine Ortsgruppe haben. Vielleicht könnte ich dir außerdem erzählen, dass diese Organisation etwas gegen dein kleines Problem tun KÖNNTE. Wir machen so was die ganze Zeit – wir kümmern uns um unsere eigenen Leute. Wir wissen, wie wichtig es ist, zusammenzuhalten und für das Land einzustehen, das uns versprochen wurde. Also … Wenn diese hypothetische Situation real wäre, könntest du dir dann vorstellen, dass dich das eventuell interessiert?
Ich schicke es ab. Ich bin schweißgebadet. Blut pocht in meiner Klit, in meinem Schädel. Ich schicke noch eine Nachricht hinterher.
TRIXIE: Wenn nicht, können wir gern so tun, als ob ich das nie erwähnt hätte. Es ist ja wie gesagt nur eine hypothetische Frage.
TRIXIE: ;)
Sie tippt. Sie hält inne. Sie tippt weiter. Der Wolf erspäht das Kaninchen. Rick hat einen Mordsständer. Susan Parker tippt. Ich warte. Der Vibrator brummt zwischen meinen Beinen.
Endlich kommt ihre Antwort.
SUSAN: Ich bin interessiert.
Ich atme aus. Ich mache Screenshots von unserem Chat. Von dem gesamten Chat. 186 Nachrichten von Trixie Krueger und 72 von Susan Parker, 37 Jahre alt, aus Louisville, Kentucky, wohnhaft 251 Sherman Drive. Ich mache auch Screenshots von ihren LinkedIn-Posts, bei denen es die ganz Zeit um ihre ehrenamtliche Kirchenarbeit und irgendwelche Haiti-Missionen geht. Ich mache Screenshots von ihrem Instagram, ihrem Facebook und ihrem Porträtfoto auf der Website ihres Lehrer-Eltern-Ausschusses. Auf der Mattscheibe sagt Conrad: »Ja, Daddy!«
Ich wechsle zu Reddit und poste das alles.
Meinen Server lasse ich über eine ukrainische IP-Adresse laufen, damit Trixie Krueger, so fiktiv sie auch ist, nicht gefunden werden kann. Ich mache so was nicht zum ersten Mal und weiß, wie ich meine Spuren verwischen kann. Susan Parker hingegen …
Auf Reddit erscheinen die ersten Upvotes und Kommentare. Jetzt ist sie erledigt. Ihr Leben ist unwiderruflich ruiniert, und sie wird jeden und alles verlieren, was sie liebt. Und ich habe das getan. Ich habe ihr das angetan.
Der Wolf beißt zu. Rick rammt Conrad seinen Schwanz rein. Billie singt.
Ich schiebe den Vibrator beiseite.
Ich komme heftig unter meiner Hand.
5
Etwa eine Stunde später stehe ich vor den Bougainvilleen am Mausoleum von Tower Records, immer noch ganz erfüllt von dem Nachglanz des allerherrlichsten Niedergangs eines Menschen, des Untergangs einer Frau, die sich für auserwählt und unantastbar hielt.
Die Bougainvilleen sind das perfekte Sinnbild dieser Stadt. Exquisit, exotisch, erotisch. Ihre markanten Violett- und Rosatöne wirken vor dem Staubgrün der Palmen und dem Schiefergrau des Himmels geradezu sündhaft. Wie die Stadt selbst gehören auch die Bougainvilleen eigentlich nicht hierher. Sie sind zu üppig, zu lebendig, waren nie für ein Dasein in dieser Wüste am Ende der Welt bestimmt. Und doch sind sie hier. Und hinter ihren leuchtenden Farben und ihrem berauschenden Duft verbergen sich Dornen, länger als Reißzähne und schärfer als Küchenmesser, die nur darauf warten, uns alle aufzuschlitzen.
Der Sunset Strip war ursprünglich nichts weiter als eine unbefestigte Straße, die Hollywood mit Beverly Hills verband. Damals war das hier Niemandsland, ein leerer Wüstenstreifen, den man nur durchquerte, wenn es unbedingt sein musste. Irgendwann entstanden dann hier ein paar Lokale und Tankstellen für die Reisenden. Anschließend kamen die Visionäre, die das Potenzial der Gegend erkannten. Francis Montgomery. Arnold Weitzman und William Douglas Lee, die Architekten des Chateau Marmont.
Im Laufe der Jahre hat der Strip ein Leben der Extreme geführt. Himmelhoch jauchzend, zu Tode betrübt. Blütezeiten, gefolgt von Phasen des Niedergangs. Das letzte Hoch waren natürlich die großen Jahre der Rockmusik. Die Unruhen von ’66. Mötley Crüe, Jim Morrison, Tom Petty, Blondie, Jane’s Addiction. Das Roxy und das Whisky a Go-Go. Der Viper Room.
Seit den späten 90ern hat es eher etwas von einer Geisterstadt. Die einstige glamouröse Anarchie ist nicht mehr zu spüren. Da ist der Buchladen mit dem anderen Buchladen dahinter. Da ist das glücklose Hotel mit den fitten jungen Pagen. Da ist das Hochhaus, in dem früher das Spago war und das seither größtenteils leer steht, und da sind das Coffee Bean und die Bullwinkle-Statue. Läden, in denen frau sich die Pussy waxen und die Wimpern verlängern lassen kann. Die Rockclubs von anno dazumal und die vielen, vielen Reklametafeln. Im Grunde aber ist es vor allem eine ruhige Gegend. Es ist das bekannteste Geheimnis überhaupt – und zugleich das am schlechtesten gehütete. Und das alles gehört mir.
Ich atme die frühabendliche Luft tief ein, den Duft der Bougainvillea-Blüten, das schräg einfallende Licht, die langen Schatten, die späte Wärme, und schwelge in dem herrlichen Gefühl, das einem ein gewisses Maß an Seinsgewissheit verleiht, die darin besteht, zu wissen, wo man zu Hause ist, und sich vor niemandem zu fürchten.
Dann sticht mir etwas ins Auge.
Ein Fremdkörper, ein kleines Wesen, das sich zwischen den Zweigen versteckt. Ich blinzle, denke, ich hätte mir das vielleicht nur eingebildet. Aber nein, da ist etwas.
Ich gehe näher ran und sehe mir das mit zusammengekniffenen Augen an. Da es in dieser Stadt von weggeworfenen Nadeln und anderem verstreuten Müll nur so wimmelt, ist es im Allgemeinen keine gute Idee, seine Hand irgendwo hineinzustecken, ohne eine klare Vorstellung davon zu haben, wonach man da eigentlich greift. Dieses Ding dort vor mir ist jedoch kein Müll. Es wurde bewusst, ja sogar absichtlich dort zurückgelassen. Und ich weiß genau, dass es, als ich das letzte Mal hier vorbeikam, noch nicht da war.
Unbehagen befällt mich wie eine plötzlich ausbrechende Krankheit.
Es ist ein Puppenkopf, dieses neue Ding, jedoch ohne Haare, und an einem Auge fehlen die Wimpern, und dieser Kopf ist sorgfältig und liebevoll an dem Plastikkörper eines Spielzeug-Alligators befestigt, mit einer dunkelroten Substanz, von der ich instinktiv weiß, dass es Blut ist. Ich greife hinein und ziehe es vorsichtig aus seinem dornigen Nest. Dann halte ich dieses kleine Findelkind vorsichtig in beiden Händen, als wäre es aus Glas oder etwas noch Kostbarerem und Zerbrechlicherem. Ein einzelnes Menschenhaar ist um seinen Hals geschlungen und im Nacken zusammengeknotet. Auf seinem Bauch steht in demselben Rotton geschrieben: »Um die Tugend zu erkennen.«
Ich stutze, und es läuft mir kalt über den Rücken. Die Luft regt sich kaum. Bald werden die Santa-Ana-Winde kommen und die ganze Stadt durchrütteln. Noch aber ist es erdrückend still, die Luft geradezu abgestanden. Ich nehme mein Telefon und gebe die Worte in eine Suchmaschine ein. Ich weiß genau, dass ich das irgendwo schon mal gelesen habe. Und siehe da, es ist ein Zitat des Marquis de Sade. Ich drehe es in meinem Kopf hin und her, lasse es durch die Klüfte und Stromschnellen der Gedanken und Hoffnungen und Sehnsüchte gleiten. Ich drehe dieses Geschöpf in die eine, dann in die andere Richtung, und das verbliebene Augenlid der Puppe öffnet und schließt sich bei dieser Bewegung. Sie ist so schön. Sie ist so viel besser als das, was ich gerade in meinem Schlafzimmer vollbracht habe. Sie ist vollkommen. Dieses Wesen wirkt, als wäre es meinem Fleisch und meinem Geist entsprungen.
Sie ist etwas radikal Neues.
Ich bin beunruhigt. Zutiefst beunruhigt. Denn mit plötzlicher Klarheit weiß ich, dass dieses Findelkind auf etwas Finsteres und zutiefst Erschütterndes hindeutet. Es ist nur eine Puppe, es ist nur ein Ding. Aber ich kenne den Strip wie meine sprichwörtliche Westentasche. Jedes Lokal, jeden Baum, all seine Geheimnisse. Und dieses kleine Wesen hat sich direkt unter meiner Nase hier eingeschlichen. Jemand hat das hier angefertigt. Und obwohl dieser Jemand vielleicht anders ist als ich, ist er doch nicht zu unterschätzen.
Das gefällt mir nicht. Es gefällt mir ganz und gar nicht.
Es dauert einige Zeit, bis ich mich dazu durchringe, das Ding wieder zurückzulegen, mich abzuwenden und wegzugehen. Wo ich es berührt habe, scheint meine Haut zu kribbeln wie von einem giftigen Stich.
Meine ersten Schritte sind vielleicht ein wenig wackelig.
Die Worte des Marquis de Sade gehen mir durch den Sinn.
»Um die Tugend zu erkennen, müssen wir uns zunächst mit dem Laster vertraut machen.«
Die Nacht breitet sich vor mir aus wie ein riesiger klaffender Schlund.
6
»Mach mir ’n Slippery Nipple!«
Die Architektur von Los Angeles wirkt chaotisch, und der Sunset Strip ist ein gutes Beispiel dafür. In den 1920er-Jahren kam der Trend auf, mit dem Äußeren eines Gebäudes cartoonartig nachzuahmen, was in seinem Inneren angeboten wird. Eine Imbissbude in Gestalt eines riesigen Hamburgers. Ein Stiefel, ein Blumentopf, ein Klavier. Beispiele dieser sogenannten programmatischen Architektur finden sich überall in der Stadt. Nicht ohne Grund kommt man sich in Los Angeles oft wie im Kino oder in einem Freizeitpark vor. Das ist Absicht. Die Leute kommen hierher, um die schöne Kunstfertigkeit dessen zu bewundern und den extremen Kitsch, die beide das Leben ein wenig erträglicher machen. Wir alle jagen dem Traum von der Schönheit hinterher, obwohl wir im Grunde unseres Herzens wissen, dass diese Schönheit nur eine Fassade abgibt für die Fäulnis im Dunkeln dahinter.
Das Gangplank bildet da keine Ausnahme. Am östlichen Ende des Strip, zwischen Velvet Taco (einem Dessousladen) und Pink Taco (einem mexikanischen Restaurant), ragt ein großes Piratenschiff empor. Der Eingang befindet sich vorn im Bug, unter der extrem sexualisierten Galionsfigur, die an einer goldenen Halskette den Namen Starf*ck trägt und zweifellos erst nachträglich an dem 1959 errichteten Gebäude angebracht wurde. Ursprünglich war das Ganze ein familienfreundliches Themenrestaurant, doch nachdem Pedro es in den 90ern aufgekauft hatte, ließ er es zu dem herrlichen doppelgeschossigen Stripclub umbauen, der es heute noch ist.
