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Eine Lesereise in die Zeit der Slawen Dieser mitreißende Roman führt Leserinnen und Leser etwa tausend Jahre in der Geschichte unserer Heimat im Osten Deutschlands zurück. In der Geschichte geht es um einen geldgierigen Fürsten in seiner hölzernen Burg, um seefahrende Fernhändler aus Nord und Süd, Silberschätze und Sklavenhandel, aber auch friedliche Siedler und letztendlich um eine Frage, die die Menschen schon immer beschäftigte: Mein oder Dein? Wie in allen Zeiten existierte aber auch das Gute, wie ein Fels in der Brandung. Viele Höhen und Tiefen mussten auch vor tausend Jahren von den Menschen durchlebt und durchlitten werden, zwar unter anderen Umständen als heute, aber genau so menschlich. Die Autorin Maren Ohlsen aus Baruth erzählt aus einer Zeit mit nur wenig historischen Nachrichten, dafür aber umso mehr Zeugnissen der Archäologie. Sie hat ihre Phantasie mit den Erkenntnissen der Wissenschaft verbunden – beide inspirieren sich gegenseitig. Illustrationen der Archäologin Ottilie Blum machen (die) Geschichte lebendig.
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Seitenzahl: 237
Veröffentlichungsjahr: 2014
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Die Geschichte kurz erklärt…
Der Schimmel
Auf der Burg
Die Flucht
Die Waldmenschen
Ein neuer Anfang
Wunderbare heile Welt
Die große Enttäuschung
Unerwartete Wende
Das Wiedersehen
Die Heimkehr
Die kleinen Helden
Das Fest
Wiederaufbau
Die Archäologie der Slawenzeit kurz erklärt…
Literatur
Bildnachweis
Während der Völkerwanderung im 4. und 5. Jahrhundert nach Christi Geburt hatten die meisten Germanen die Gebiete südlich der Ostsee nach und nach verlassen. Das Land lag im stillen Nebel von Zeit und Raum, nur wenige Menschen waren zurückgeblieben. Die Sonne ging auf, der Tag verfloss, es kam die Nacht und alles war ohne Sinn. Nur, dass die Tier- und Pflanzenwelt wuchs, sich nährte, starb und verging, ohne wahrgenommen zu werden.
Vor etwa eintausendfünfhundert Jahren waren das heutige Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, der Südosten von Schleswig-Holstein und die angrenzenden Gebiete kaum bevölkert. Germanische Bauern, Fischer und Jäger, die in dieser Region Jahrhunderte lang gelebt hatten, waren mit den wandernden Völkern weggezogen – Eis, Schnee, Seuchen und diverse Krankheiten, Unwetter und andere unwirtliche Bedingungen mögen der Grund gewesen sein, in angenehmere Landstriche des Südens und Westens zu ziehen.
Im späten 7. Jahrhundert nach Christi Geburt drangen die Slawen aus dem Osten bis in diese Gebiete vor. Im heutigen Polen konnte sich ein zusammenhängender Verband entwickeln und es entstand ein mächtiges Fürstentum, im 11. Jahrhundert ein Königreich. Womit sich das Sprichwort „Einigkeit macht stark“ wieder bewahrheitet. In den heutigen östlichen deutschen Gebieten entstand kein zusammenhängendes slawisches Reich. Es bildeten sich lediglich zahlreiche kleine Herrschaften, die sich untereinander meist nicht wohl gesonnen waren.
Die Menschen lebten anfangs in Dörfern. Später errichteten sie mehr oder minder mächtige Burgen, die oft in unzugänglichen Sumpfgebieten lagen, um Feinden den Zugang zu erschweren, wie beispielsweise auch in Baruth am Urstromtal.
Die Keimzelle für die Baruther Burg war eine slawische Siedlung, wie archäologische Funde beweisen.
Die Feindschaft unter den einzelnen Stämmen ließ die Slawen zwischen Elbe und Oder nicht so mächtig werden wie ihre östlichen Nachbarn. Trotz dieser Umstände konnten sich die Slawen fast vierhundert Jahre lang in diesem Landstrich behaupten. Dann unterlagen sie den Christen: den Sachsen und Ottonen. Auch das christliche Fürstentum der ebenfalls slawischen Polen hatte es auf seine „heidnischen“ slawischen Nachbarn abgesehen. Die Feinde drangen von allen Seiten in das unabhängige Land ein, doch die Slawen schlugen sich hierzulande zunächst wacker.
Im 10. Jahrhundert kam es immer wieder zu schweren Kämpfen, denen sie dann doch unterlagen. Die aus dem Westen und Süden kommenden Eindringlinge, unter anderem die Kaiser Otto I., Heinrich I. oder der Erzbischof von Magdeburg, hielten die Slawen zwischen Elbe und Oder für Heiden und unfähige Bewirtschafter ihres Landes.
Sie setzten sich zum Ziel, die Bevölkerung zu missionieren und das viele Brachland, dass sie vorfanden, zu besiedeln. Sie wollten christliche Siedler in das Gebiet holen, die es urbar machen, die Kirchen bauen, Städte und Orte gründen und den Landesherren Steuern in ihre Kassen zahlen sollten.
Ein solches Denken hatte es bei den Slawen bisher nicht gegeben. Sie hatten wohl ihre Gebiete abgesteckt und die Bevölkerung hatte ihren Stammesfürsten für seinen Schutz unterstützen müssen, sei es mit Arbeit oder auch Lebensmitteln, doch ein Steuersystem war ihnen fremd.
In weiten Teilen Mitteleuropas, sowohl westlich und südlich der Elbe als auch östlich der Oder, im polnischen Königreich, war die Christianisierung weit vorangeschritten.
Die Slawen zwischen Elbe und Oder hingegen beteten viele Götter an. Sie besaßen Götzenbilder in unterschiedlichen Ausführungen, viele trugen einen kleinen „Taschengott“ bei sich. Das war für die Christen Gotteslästerung, wie andere Gebräuche auch, es wurde nicht länger geduldet.
Slawisches Bronzefigürchen aus Brandenburg an der Havel, vermutlich eine Gottheit darstellend. Höhe 5,5cm
Die Slawen unterlagen schließlich im Kampf gegen die Eindringlinge und mussten ihrem Glauben abschwören. Die zum Christentum bekehrten Menschen gingen in der sich neu ansiedelnden Bevölkerung aus den Westgebieten auf.
Als die Slawen in das fast menschenleere Land einwanderten, lebten sie zunächst in Blockhäusern. Die Wände wurden mit Lehm abgedichtet. So erreichte man eine gute Dichte als Schutz vor Regen, Schnee, Eis und Wind. Sie gründeten kleine Dörfer. Erst etwa hundert Jahre später begannen sie, Burgen zu bauen. Die Menschen hatten ihre Haustiere mitgebracht, wobei ihre Pferde für sie von größter Bedeutung waren. Aber auch Rinder, Schweine, Ziegen, Schafe, Geflügel, Katzen und Hunde liefen über ihre Höfe. Mit der Einigkeit der slawischen Gruppen war es allerdings nicht weit her. Auch als die einzelnen Stämme sesshaft geworden waren und ihre Gebiete abgesteckt hatte, kamen die Menschen nicht zur Ruhe. Neid, Habsucht und Machtgier beherrschten das Denken der Stammesführer. Die einzelnen Sippen bekriegten sich und schreckten vor nichts zurück. Um sich vor den oft unvorhersehbaren Überfällen schützen zu können, begannen einige Fürsten, Burgen zu bauen. Als ihre Nachbarn die gewaltigen Befestigungen aus den Sümpfen steigen sahen, wollten sie ebenfalls ihre Festung haben: Es begann der erste Bauboom südlich der Ostsee. Diese Burgen aus Erde und Holz waren oft gar nicht weit voneinander entfernt. Manchmal lag der Feind buchstäblich vor der Haustür.
In der Geschichte der Menschen war es oft so, dass, wenn zwei sich streiten, der Dritte den Vorteil davon hat. Sie schwächen sich selbst und werden leichte Beute für die lachenden Dritten. Die lachenden Dritten waren in diesem Fall die christlichen Herrscher westlich der Elbe und östlich der Oder. Unter dem Deckmantel der Missionierung drangen sie im zehnten und elften Jahrhundert in das slawische Gebiet ein. Sie wollten den „Heiden“ auch den christlichen Glauben bringen, aber in erster Linie ging es um Land und Macht, um Geld und Untertanen.
Als die Slawen nach Mitteleuropa vordrangen, waren die Menschen hier in ihrer Entwicklung längst so weit fortgeschritten, dass sie untereinander regen und erfolgreichen Handel trieben. Seefahrende Völker beherrschten die Meere, und auf einem für damalige Verhältnisse gut ausgebauten Handelswegenetz reisten Händler von Westen bis Osten. In der zu dieser Zeit bekannten Welt wurden Waren ausgetauscht und Geld verdient. Die Slawen jedoch hatten wenig, womit sie handeln konnten. Tierfelle und -pelze, Honig, Wachs und wenige Dinge des täglichen Lebens aus Ton und Holz fielen nicht so sehr ins Gewicht.
Slawisches Keramikgefäß, das zum Kochen verwendet werden konnte. Höhe 16cm
Um aber auch zu Reichtum zu kommen, handelten sie mit Menschen. Sie raubten Leute aus den verfeindeten Stämmen ihrer Umgebung und verkauften sie. Auch in den eigenen Reihen war man nicht unbedingt vor der Sklaverei sicher. Sie lieferten Menschen an durchreisende Händler oder an die Seeleute, die an der Ostsee lagen oder auf den Flüssen ins Binnenland vordrangen.
Das Leben der Menschen war schwer und gefährlich. Halt fand man nur innerhalb der Familie und wenn man Glück hatte, im Stamm. Ein soziales Netz wie heute gab es nicht. Alte und Kranke wurden von den Jungen versorgt. Wo diese Verbindung nicht vorhanden war, blieben die hilflosen Menschen auf sich gestellt. Das Leben war ein harter Kampf und von diesem erzählt folgende Geschichte.
So könnte es einmal gewesen sein…
Längst waren die Dörfer viel zu unsicher geworden.
Die einzelnen Stämme hatten große und kleine Burgen in das Land hinein gebaut, die bei Gefahr auch den Dorfbewohnern als Schutz dienten. Meistens lagen die Festungen und die vor ihnen angelegten Dörfer in unwegsamen Sumpfgebieten.
Die Menschen suchten sich diese schwer zugänglichen Orte zum Bau ihren Siedlungen aus, in der Hoffnung, dadurch vor Feinden relativ sicher zu sein. Doch es gab auch Dörfer, die von der nächsten schützenden Burg weit entfernt lagen. Sie waren den Überfällen der Feinde schutzlos ausgeliefert.
In einem dieser Dörfer lebte Samela mit ihrer Mutter.
Ihr Vater hatte das Blockhaus gebaut, in dem sie wohnten. Die Mutter, Drasma, hatte es behaglich gemacht. Es war ein rechteckiger Holzbau mit einem Schilfdach. Die Wände waren sorgfältig mit Lehm verschmiert, damit der kalte Wind im Winter nicht durch die Ritzen pfeifen konnte. An der linken Wand des Wohnraumes befand sich der Herd. Er war aus Feldsteinen zusammengesetzt und diente zum Heizen und Kochen.
Ein Topf mit Hirsebrei, damals das Grundnahrungsmittel, stand immer darauf. Darüber hinaus waren genügend abwechslungsreiche Lebensmittel vorhanden: Die Ziegen sorgten für frische Milch. Es gab Eier, Obst und Gemüse. Die Männer brachten Wild und Fisch mit nach Hause und die Frauen sammelten Wurzeln, Pilze und Beeren. Auch Holz und Reisig trugen die Frauen und Kinder aus Wald und Flur zusammen.
Das Land war dünn besiedelt und von den damaligen Bauern nur zu einem geringen Teil urbar gemacht worden. Die Menschen lebten in sumpfigen Niederungen, getrennt durch tiefe Laub- und Kiefernwälder.
Samelas Vater war der Kurier eines einflussreichen Fürsten gewesen. Jener hatte seinen treuen und zuverlässigen Boten immer großzügig entlohnt und so hatte er gut für seine kleine Familie sorgen können.
Vor einigen Jahren aber wurde die große Burg des Fürsten angegriffen und belagert. Samela und ihre Mutter hatten schon in diesem abgelegenen Dorf am großen See gewohnt und den Überfall nicht miterlebt.
Mehr als zweihundert gut bewaffnete Männer waren damals wie aus dem Nichts aufgetaucht und hatten die Festung mit in Pech getauchten brennenden Pfeilen beschossen. Die Burgbewohner hatten von ihren hölzernen Wehrgängen zurück geschossen.
Auch die Männer des Dorfes vor der Burg waren zur Hilfe geeilt, aber sie hatten keine Chance.
Die brutalen Eindringlinge hatten alles niedergebrannt. Sie hatten viele Menschen getötet und noch mehr gefangen genommen und verschleppt. Nur wenigen Leuten war es gelungen, in die dunklen Wälder zu flüchten.
Einer dieser Überlebenden war in das Dorf am großen See gekommen und hatte Samela und ihrer Mutter von dem Angriff berichtet. Er brachte ihnen Dolmater, den treuen Schimmel des Vaters.
Kurz vor seinem letzten Atemzug hatte dieser gehaucht, sein Kamerad solle das Pferd nach seinem Tod zu seiner Familie bringen. Diesen letzten Willen des tapferen Kameraden war der Mann unter großen Gefahren nachgekommen. Nachdem er Frau und Tochter von dem Tod ihres Mannes und Vaters unterrichtet hatte, war er in den Wald geflohen, niemand hatte ihn je wieder gesehen.
Seit der Zeit herrschte Fürst Gorr auf der Burg. Er hatte die Festung mit der Hilfe der Gefangenen, die er gemacht hatte, schnell wieder in Stand gesetzt.
Die früheren Herren von Burg und Land waren versklavt worden. Alle Männer, Frauen und Kinder, die Fürst Gorr nicht gebrauchen konnte, hatte er an die Seefahrer verkauft, die über den großen Fluss vom Meer herunter kamen, um hier im Binnenland Handel zu treiben.
Sie brachten Salz mit, denn davon hatte man hier viel zu wenig, und eiserne Schwerter, die ebenfalls begehrt waren, auch nette Kleinigkeiten für die Frauen wie Bernsteinperlen oder Spinnwirtel aus rosa Stein. Das wollten die Seemänner bezahlt haben. Münzen waren zwar bekannt, der Geldhandel war aber bei den Slawen noch nicht üblich. Gezahlt wurde mit Hacksilber – zerhacktem Silber aus Schmuck und Münzen – oder mit Sklaven. Fürst Gorr selbst war ein grausamer Gesell und hatte es ständig mit dunklen Gestalten zu tun. Wenn er mit seinen brutalen Kriegern auf Beutezug durchs Land ritt, verkroch sich alles, was nur irgend fliehen konnte, denn es gehörte zu den schrecklichsten Alpträumen der Menschen im ganzen Land, den rauen Männern in die Hände zu fallen.
Es gab niemanden, der die Landbevölkerung vor den Heimsuchungen dieser Schreckensherrschaft bewahren konnte. Fürst Gorr kam, raubte, plünderte, mordete und entführte die Leute gnadenlos, um an neues Menschenmaterial heran zu kommen. Er hatte die Macht im Lande, ihm waren alle anderen auf Gedeih und Verderb ausgeliefert.
Es war natürlich unsinnig, seinen eigenen Stamm, von dem er lebte und der für ihn arbeitete, zu schwächen; deshalb überfielen er und seine Männer ihre Nachbarn, um sich die menschliche Handelsware zu holen. Die Sklavenhändler aus dem Norden zahlten besonders gut für junge Männer und Frauen. Die Beute wurde aneinander gebunden oder gekettet zur Anlegestelle der Seeleute geführt. Die brachten die Sklaven über den großen Fluss hinab ans Meer und hinaus in alle Welt.
An einem herrlichen Sommertag war es wieder soweit: Fürst Gorr hatte schon am Mittag zusammen mit seinen Reitern begonnen, mehr zu trinken als er vertrug. Most und Met vernebelten, wie so oft, ihre Sinne und das machte sie noch gefährlicher, als sie ohnehin schon waren.
„Nichts ist schlimmer, als diese verdammte Langeweile!”, lallte Gorr mit tiefer Stimme. „Kommt, Leute, wir müssen etwas erleben, bevor der Abend das Land in Dunkelheit hüllt!“
Es dauerte nicht lange, da hörte man die Hufe eines Dutzend Pferde über die hölzerne Brücke zur Burg hinaus traben. Die Reiter trieben ihre Tiere den langen Bohlenweg durch den Sumpf entlang, bevor sie den Weg am Waldrand erreichten. „Kommt, wir wollen hinunter zum Dorf am großen See. Dort sind wir schon lange nicht mehr gewesen. Mal sehen, was es dort Schönes für uns gibt!”, rief Gorr seinen Kumpanen zu. Laut johlend und schreiend folgte die Horde ihrem wilden Anführer.
Die Männer des Dorfes waren auf die Jagd gegangen.
Einige der Frauen arbeiteten auf den kleinen Feldern rund um ihre Häuser oder befanden sich vor ihren Hütten, um Hirse zu stampfen, Flachs zu weben oder Felle abzuschaben.
Samela stand in der Mitte des Dorfplatzes und striegelte ihr Pferd. Eine idyllische Ruhe umgab die kleine Siedlung. Es war so still, dass man die Vögel im nahen Wald singen hören konnte. Plötzlich hob sie horchend den Kopf, legte ihre Hand an die Stirn und hielt Ausschau. Angestrengt starrte sie in den Wald hinein.
„Seid still!”, rief sie halblaut. „Ich glaube, ich höre etwas!“
Alle hielten in ihrer Tätigkeit inne und hoben die Köpfe.
„Ja, du hast recht!”, antwortete Skora, „Da kommen Reiter!“ Die Frauen starrten sich erschrocken an, ließen alles fallen, was sie in den Händen gehalten hatten und rannten auf ihre Häuser zu. Semina ergriff noch schnell den fetten Hahn, der auf der Türschwelle gesessen und sich gesonnt hatte. Fast wie auf ein Kommando schlugen die Türen zu.
Drasma hatte von allem nichts mitbekommen. Sie lockerte die Erde auf dem Feld. Das erzeugte ein Geräusch, wegen dem sie die herannahenden Pferde nicht hören konnte. Samela zerrte erschrocken an Dolmaters Halfter. Das Pferd spürte die herannahende Gefahr und stieg ohne sich aber von der Stelle zu rühren.
„Komm, Dolmater, wir müssen uns verstecken, wer weiß, wer da durch den Wald geritten kommt?“
Es war nicht so einfach, ein ausgewachsenes Pferd so schnell zu verstecken, Mädchen und Tier waren zu weit vom Pferdestall entfernt. Es war zu spät. Die Luft zwischen den hohen Stämmen füllte sich plötzlich mit einer dicken Staubwolke. Schreiende Männerstimmen und das Schnauben von Pferden waren zu vernehmen.
Es stank nach Schweiß und Erde.
Die Frauen taten gut daran, sich in ihren Blockhäusern zu verbergen. Sicherlich wäre es ein leichtes für die Männer gewesen, die Türen einzurennen, aber sie wurden durch Samela und Dolmater abgelenkt. Alles andere war für sie im Augenblick nicht von Interesse. Angsterfüllt starrten die Frauen durch die Ritzen im Holz der Türen und verfolgten das Geschehen auf dem Dorfplatz. Die mit Speeren und Messern bewaffneten Reiter hatten das Mädchen und ihr Pferd eingekreist. Der trockene Staub war so dicht, dass nur schwer zu erkennen war, was sich auf dem Dorfplatz für ein Drama abspielte.
Eiserne Lanzenspitze. Länge 80cm
Die wilde Horde gebärdete sich wie toll. Alle ritten schreiend und lachend um ihre Opfer herum. Dolmater, der kampferfahrene Schimmel, stieg und schlug mit den Vorderhufen nach den Angreifern. Samela stand mit vor Entsetzen weit aufgerissenen Augen, die Arme schützend vors Gesicht geschlagen, inmitten der wilden Reiter und war deren Angriffen hilflos ausgesetzt. Die Männer bezwangen den Hengst, fassten sein Halfter und zogen das Pferd hinter sich her in den Wald. Fürst Gorr ergriff das hilflose Mädchen in vollem Ritt und warf es sich vorne über sein Pferd.
So plötzlich wie die rauen Gesellen aufgetaucht waren, so schnell waren sie auch wieder verschwunden. Was blieb, war eine große Staubwolke auf dem Dorfplatz und auf dem Weg in den Wald hinein, die sich lange Zeit nicht setzen wollte. Das übermütige Lachen und Schreien der Reiter und das Traben der Pferde wurde zunehmend von den Bäumen und der Entfernung verschluckt.
„Sie sind weg!”, schrie Skora „Sie sind weg! Sie haben Samela und ihr Pferd mitgenommen.“
Die Frauen strömten zusammen und redeten alle durcheinander. Dann meinte Semina: „Wenn das Mädchen und Dolmater nicht hier auf dem Platz gewesen wären, wer weiß, was die Teufel uns angetan hätten. Samela hat uns ganz sicher vor einem Überfall bewahrt. Möglicherweise hat sie uns sogar das Leben gerettet.“
„Das wird ganz sicher so sein. Aber ich möchte nicht wissen, was die schrecklichen Männer nun mit ihr anstellen!”, klagte Gneva.
„Wir müssen zu ihrer Mutter und erzählen, was passiert ist!”, rief Skora.
„Sie hat schon ihren Mann verloren und nun auch noch ihre Tochter!”, jammerte Gneva.
„Immer noch besser so, als wenn wir alle zu Schaden gekommen wären!”, meinte Semina herzlos. „Wir haben alle Familie, Kinder. Samela nicht!“
„Unsere Männer müssen auf die Burg und das Kind befreien!”, rief Skora aufgeregt.
„Du bist wohl nicht gescheit, die kommen doch nicht gegen Gorrs Horde an. Das ist ganz und gar unmöglich. Die Burg ist sehr gut befestigt, da sind Krieger, gute Waffen und Pferde. Wie sollen unsere Männer da Samela befreien?”, gab Semina zu bedenken.
„Da sind schon viele auf die Burg gegangen, aber niemand ist wiedergekommen!”, warf Gneva bekümmert ein.
„Fürst Gorr ist zu mächtig, da hat ein einfacher Mensch keine Chance!“
Als Samelas Mutter vom Feld nach Hause kam und die Frauen ihr die schlimme Nachricht von der Entführung ihrer Tochter und dem Pferd mitteilte, sank sie in den Staub und weinte bittere Tränen der Ohnmacht und Verzweiflung. Nun kam ihr das Leben sinnlos vor.
Als Fürst Gorr mit seinen Männern und seiner Beute auf der Burg einritt, rief er: „Bringt das Pferd in den Stall. Die Kleine gehört mir. Später könnt ihr euch mit dem Mädchen vergnügen. Aber lasst sie heil, ich will noch einen guten Preis für sie heraus schlagen. Die Seefahrer kommen bald und brauchen neue Sklaven.“
Er sprang vom Pferd und zog Samela wie einen Sack Hirse ebenfalls herunter. Er lud sie sich auf die Schultern und ging mit großen Schritten auf das Haupthaus zu. Als er das Haus betrat, war er überrascht: Drei fremde Männer saßen am Tisch, tranken Met schienen auf ihn zu warten.
Der Fürst ließ das Mädchen in das Stroh sinken und ging erfreut auf die Gäste zu.
„Ibrahim, das ist mir eine große Freude, dich hier zu sehen. Ich habe dich nicht so bald erwartet. Ich hoffe, du konntest im Osten gute Geschäfte tätigen?“
„Fürst Gorr!”, rief der fremdländische Handelsreisende und stand von der Bank auf. Er trug einen roten prächtig bestickten Umhang und ein kostbares Gewand aus Seide.
Die anderen zwei Männer trugen purpurrote Hosen, schillernde Wämser und blaue Turbane. Auch sie sprangen von ihren Plätzen auf, um den Hausherren gebührend zu begrüßen.
Es waren Herren, wie Samela sie in ihrem Leben noch nie gesehen hatte. Sie hatten Haut wie aus Bronze, nur etwas dunkler aber ebenso glänzend. Dann diese Kleidung?
Dass es so schöne Menschen gab, hätte sie nie für möglich gehalten.
„Es ist gut, dass wir euch antreffen, Fürst Gorr!“ Der Mann mit dem roten langen Umhang zeigte Freude, aber auch Erleichterung. Er verneigte sich tief, während er dem Hausherrn die Hand zum Gruß reichte.
„Ich habe eine Bitte. Eure Burg ist doch fest und sicher.“ Er räusperte sich verlegen.
„Das will ich wohl meinen!”, rief Gorr mit Stolz in der Stimme.
„Ich nehme daher an, Eure Schätze sind hier sicher und Ihr wisst sie wohl zu verwahren.“
„Was geht denn Euch das an?”, rief der Fürst mit lauter Stimme. Das Lob schmeichelte ihm aber auch und man sah ihm sein verschmitztes Lächeln an. Der fremde Kaufmann bemerkte das Lächeln ebenfalls und wurde selbstsicherer.
„Könnte ich einige Zeit ein paar Kisten bei Euch lassen? Es sind nicht wirklich wertvolle Dinge, aber einfach zu schwer, um sie jetzt mitzunehmen. Es soll euer Schaden nicht sein!”, bot er an. „Du hast Kisten, die zu schwer sind?”, fragte Gorr mit gierigen Augen und breitem Grinsen.
„Ja“, der Fremde kratzte sich verlegen am Kinn, „ich komme sie bald abholen“ – „Ach?”, lachte der Fürst. „Und mit der Ware kannst du im Augenblick nicht über die Straßen nach Spanien weiter ziehen, was?“
Der Kaufmann nickte verlegen.
„Ja, ja, ihr Juden macht immer so viele Geschäfte. Das muss man schon gut organisieren”, rief der Hausherr. „Nehmt Platz, ich muss nur schnell für Ordnung sorgen, dann können wir verhandeln.“
Fürst Gorr trat hinaus auf den Burghof und rief nach Ratimysl. „Komm und hole das Mädchen. Ich habe im Augenblick keine Zeit für sie. Sperr sie in das Verlies hinter der Küche. Aber lasst die Finger von ihr, hast du mich verstanden?“
„Ja, Herr, selbstverständlich!“
Ratimysl führte Samela aus dem Haupthaus und der Fürst blieb mit den Fremden allein zurück.
Auf dem Burghof standen Pferde mit Reit- und Packsätteln. Ein Knecht war gerade im Begriff, die Tiere weg zuführen und zu versorgen. Das Burgtor stand offen und man konnte in das weite Tal des Sumpfes hinein blicken.
Der Krieger Fürst Gorrs fasste Samela hart an ihren linken Arm und schleppte sie über den staubigen Burghof. Es kamen ihnen Menschen entgegen, die sie traurig ansahen.
Als sie zum Küchenhaus kamen, öffnete der Grobian ein hölzernes Gitter und warf das Mädchen unsanft in ein Verlies.
„Der Fürst wird schon noch auf dich zurück kommen, warte nur ab!”, warnte er. „Immer wenn diese Fremden auftauchen, hat er für nichts anderes Zeit. Aber die gehen wieder, das wirst du noch sehen!”, sagte er fast wie zu sich selbst.
Er schloss das Gitter und band es mit einem Seil zu.
Samela war während der ganzen Zeit seit ihrer Entführung nicht einen Augenblick zur Besinnung gekommen. Nun lag sie hier im Stroh und hatte endlich Zeit, sich über ihre Lage klar zu werden. Sie befand sich in einer schrecklichen Situation. Das, was diese Männer mit ihr vorhatten, wollte sie auf keinen Fall mit sich geschehen lassen. Sie musste fliehen. Und wenn sie auf der Flucht umkam, war das besser, als den ihr zugedachten Weg zu gehen. Wenn die Männer auf der Burg ihrer überdrüssig sein würden, schickte man sie in die Sklaverei, davor gab es dann kein Entrinnen mehr. Nein, so wollte sie nicht enden. Nur eine sofortige Flucht konnte sie retten. Wenn die Leute sie erst einmal beim Wickel hatten, dann war es für sie zu spät.
Samela besah sich das hölzerne Tor. Grimmig und böse lächelte sie in sich hinein. Für wie dumm hielt man sie? Was war das für ein Gefängnis, das aus Holz bestand und dass mit einem Seil zugebunden worden war? Ihr habt selber Schuld, dachte sie, wenn ihr mich so unterschätzt.
Als sie die Nachricht vom Tod ihres Vaters bekamen, als sein Kamerad ihr Dolmater brachte, damals hatte sie mit ihrer Mutter gesprochen. Sie wollte ab sofort Männerkleidung tragen, wollte ihre Mutter beschützen und wollte das Pferd reiten wie ein Mann. Ihre Mutter hatte entsetzt die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen und das Ansinnen ihrer Tochter als unglaublich und verwerflich angesehen.
„Kind, was denkst du dir? Was sollen die Leute aus dem Dorf dazu sagen? Das kommt überhaupt nicht in Frage! Wer soll denn unter solchen Umständen später einmal dein Mann werden wollen. Nein, das geht nicht, du musst auf deinen guten Ruf achten. Davon hängt deine Zukunft ab!“
Mit ihrer Mutter war nicht zu reden gewesen. Und nun? Nun saß sie mitten drin, in der Zukunft, gefangen genommen, weil sie ein Mädchen war. Wie eine Maus in der Falle.
Wenn sie nur nicht auf ihre Mutter gehört hätte, dann wäre ihr dieses Schicksal wohl erspart geblieben. Was wurde nun aus ihrem guten Ruf? Wer würde einmal ihr Mann? Ein Unfreier in der Sklaverei?
Dieses Unglück hatte ihre Mutter zwar nicht voraussehen können, aber sie lebten in gefährlichen Zeiten. Man musste sich wehren, oder man ging unter.
Eisenmesser, ursprünglich mit Holz- oder Knochengriff. Länge 18cm
Mit der Männerkleidung hatte sie sich zwar nicht durchsetzen können, aber sie trug seither ein Messer unter ihrem Rock. Das holte sie nun hervor. Wenn die Dämmerung einsetzte, würde sie das Seil durchschneiden und sich davonschleichen. Sie würde die Burg verlassen, und das mit ihrem Pferd, oder sie wollte sterben. Diese rauen Gesellen würden ihr weder ein Haar krümmen noch sie in die Sklaverei verkaufen, das stand für sie fest.
Als die Dämmerung Burg und Land überzogen hatte, lag das Küchenhaus im stillen Frieden. Die Frauen hatten alle Vorbereitungen für das abendliche Essen im Haupthaus getroffen und die Mahlzeiten dorthin getragen. Das Feuer auf der großen Herdstelle war erloschen. Das Mädchen rechnete nicht mehr damit, dass irgendjemand zu dieser Zeit hier her zurückkommen würde. Sie zog ihr Messer hervor.
Damit, dass ein Bauernmädchen bewaffnet sein könnte, rechneten die brutalen Männer nicht. Die würden sich noch wundern, dachte Samela wütend. Schnell begann sie, den dicken Strick, den der Krieger um das Gitter geschlungen hatte, zu durchtrennen. Das Messer war nicht besonders scharf, es war alt und von schlechter Qualität und das Seil war dick und starr. Das hatte sich das Mädchen einfacher vorgestellt. Aber sie gab nicht auf. Mit all ihrer Kraft und Beharrlichkeit setzte sie ihre Tätigkeit fort. Die Flachsfasern stoben durch den kleinen Kerker und es roch staubig und streng.
Die Dämmerung ging langsam in Dunkelheit über. Das Mädchen konnte kaum noch etwas sehen. Sie hätte eher beginnen sollen, diese Hürde zu beseitigen. Aber wer weiß in einer so lebensgefährlichen Situation schon, wann der richtige Zeitpunkt zum Handeln ist.
Ein Seilende plumpste hart nach unten und fiel auf Samelas Fuß. Geschafft. Nun musste sie nur noch das Gitter frei legen. Schnell hatte sie das Seil entfernt und konnte das Holzgitter wegschieben. Sie kroch aus dem dunklen Loch heraus und stieß gegen einen Topf, der polternd umfiel. Erschrocken wich sie zurück in den Kerker und tat, als wäre alles unverändert. Angstvoll lauschte sie in die Dunkelheit. Niemand schien den Krach gehört zu haben. Oder man hielt das Geschepper für bedeutungslos.
Samela nahm all ihren Mut zusammen und schob erneut das Gitter auf. Diesmal gelang ihr der Ausbruch. Ihre Augen waren mittlerweile an die Dunkelheit gewöhnt, so dass sie ohne Schwierigkeiten durch den Innenraum der Hütte gelangen konnte. Auf dem Herd schwelte noch die Glut vom Kochen. Sie gab Wärme und auch ein kleines behagliches Licht ab.
Das Mädchen fand die Tür, warf den Riegel zurück und drückte sie auf. Sie steckte vorsichtig den Kopf durch einen Spalt und sah hinaus.
Fürst Gorr besaß eine große Burg.
Der Innenhof war sehr geräumig und am Burgwall entlang standen viele Blockhäuser. Fast in allen Hütten brannte ein Feuer, denn Licht fiel durch die offenen Türen und durch kleine Ritze. Es waren so viele Fackeln auf dem Burgplatz angezündet worden, dass die Häuser und Wege im flackernden Licht gut erkennbar war.
Oben auf dem hölzernen Wehrgang standen Wachen. Auch sie hatten Fackeln und Samela erkannte ihre langen Speere.
Sie schlich vorsichtig von einem Versteck zum nächsten und suchte die Pferdeställe. Ohne Dolmater würde sie nicht gehen. Als sie lautlos wie eine Katze von einem im Schatten liegenden Schlupfwinkel zum nächsten huschte, fiel ihr Blick auf das stattliche Haupthaus. Viele Stimmen drangen in die Nacht hinaus. Dort drinnen schmauste und trank man. Lautes Lachen war zu hören. Vor der Tür standen zwei Wachen. Sie sahen sehr müde aus. Vielleicht hatten die Männer zu viel Met getrunken.
Das große Burgtor stand offen.
Die Flügel waren in das Innere der Festung hinein geöffnet und Samela konnte hinter der Wand aus tiefschwarzer Dunkelheit die Freiheit erahnen. Nun musste sie schnell handeln, wenn die Tore erst geschlossen waren, kam sie nicht mehr heraus. Wo ist nur der Pferdestall? dachte sie. Vorsichtig, aber flink wie ein Wiesel huschte sie um die spärlich erleuchteten Hütten herum. Alles sah so friedlich aus, aber das täuschte.
Aus dem Haupthaus drangen lautes Gelächter, Geschrei und derbe Worte. Die Männer tranken den gegorenen Honigtrunk, waren betrunken und wurden immer haltloser.
Dem Mädchen lief ein Schauer des Grauens über den Rücken. Die Mahlzeit war beendet, der Hausherr saß mit seinen Männern und seinen Gästen, den Kaufleuten aus dem fernen Spanien, am Tisch und fragte die weit gereisten Leute über ihre Reisen aus. Ihm gegenüber hockte sein Sohn Dragomir auf der Bank. Er wirkte sehr still und beteiligte sich nicht an dem wilden Gelage seines Vaters und dessen Männer.
„Dragomir“, richtete Fürst Gorr das Wort an seinen Sohn, „ich sehe deinem Blick an, dass es dir hier bei uns am Tisch nicht gefällt. Wenn du mir endlich aus den Augen gehen würdest, tätest du mir einen großen Gefallen!“