Mein Sommer voller Flips und Flops - Michaela Thewes - E-Book

Mein Sommer voller Flips und Flops E-Book

Michaela Thewes

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Beschreibung

Ein romantisch-witziger Roman über die Wirren des allerersten Verliebtsein - mit Happy-End-Garantie!

Kennst du dieses Megakribbeln, wenn man zum ersten Mal so richtig verliebt ist? Der absolute Wahnsinn - genau wie Luke! Wenn ich ihn nur ansehe, bekomme ich schon totales Herzflattern. Bloß doof, dass ich für ihn überhaupt nicht existiere. Aber dann bietet mir ausgerechnet Queen Chiara an, mich mit ihm zu verkuppeln. Sie ist nicht nur Lukes Schwester, sondern auch noch das angesagteste Mädchen unserer Stufe! Als Gegenleistung soll ich ihr helfen, bei meinem besten Freund Noah zu landen. Der perfekte Liebesdeal also. Und anfangs läuft es wirklich super. Doch dann geht auf einmal alles schief, weil mein blödes Herz sich einfach nicht mehr an den Plan hält ...

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Seitenzahl: 355

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Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Vollständige E-Book-Ausgabedes in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Copyright ® 2023 by Michaela Thewes

Copyright deutsche Originalausgabe ® 2023 by Bastei Lübbe AG, Köln

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Michael Meller Literary Agency GmbH, München

Textredaktion: Annika Grave

Umschlaggestaltung: Kristin Pang unter Verwendung von Motiven von © Elena Barenbaum / shutterstock.com; vectorsanta / AdobeStock; mary_stocker / AdobeStock; NTRdesign / AdobeStock; 4zevar / AdobeStock; Caelestiss / AdobeStock; Miceking / shutterstock.com; AnastasiaOsipova / AdobeStock

eBook-Erstellung: 3w+p GmbH, Rimpar (www.3wplusp.de)

ISBN 978-3-7517-3826-2

one-verlag.de

luebbe.de

Kapitel 1

»Hast du ihn schon gesehen?«

Seinen Namen zu nennen ist überflüssig. Natürlich weiß ich sofort, wen Nele meint. Es vergeht kein Schultag, an dem ich mir auf der Suche nach Luke nicht gefühlte hundert Mal den Hals verrenke. Im Foyer, auf dem Schulhof, im Gedränge auf den Fluren, an den Schließfächern ... und natürlich in der Cafeteria. Aber leider ist er hier heute noch nicht aufgetaucht. Ich habe, während ich mir an der Essensausgabe die Beine in den Bauch gestanden habe, mit den Augen jeden Winkel des Raumes abgesucht. Zur Sicherheit sogar mehrmals. Doch Fehlanzeige. Wenn Luke sich nicht gerade unter einem Tisch verkrochen oder hinter der Salattheke verschanzt hat, ist er definitiv nicht hier.

»Nee«, murmele ich und schüttele frustriert den Kopf, »keine Spur von ihm.«

Mist! Der Gedanke, dass ich Luke beim Mittagessen sehen werde, war das Einzige, das den Schultag bis jetzt einigermaßen erträglich gemacht hat. Sofern das bei einer Folter wie Schule überhaupt möglich ist. Und nun auch noch das! Ich versuche die Enttäuschung, die wie ein fieser Kloß in meinem Hals festsitzt, runterzuschlucken. Aber außer einem trockenen Würgen bringt das gar nichts.

»Mach dir nichts draus, Charly.« Nele tätschelt aufmunternd meine Hand. »Früher oder später wird ihn der Hunger bestimmt hertreiben.«

»Kann schon sein.« Über den Tisch hinweg werfe ich ihr einen dankbaren Blick zu, dann checke ich schnell noch mal die Eingangstür. Safety first. Natürlich habe ich mich extra so hingesetzt, dass ich den Eingang im Auge behalten kann. »Vielleicht hat er heute aber auch gar keine Zeit, in die Cafeteria zu gehen«, überlege ich laut, während ich den Burger, den ich bis jetzt noch nicht angerührt habe, auf meinem Teller hin und her schiebe. Obwohl mein Magen im Unterricht bedrohlich klingende Laute von sich gegeben hat – eine Mischung aus wütendem Dobermann und gluckerndem Abflussrohr –, fühlt er sich plötzlich wie zugeschnürt an. Aber vielleicht hat er ja auch gar nicht vor Hunger, sondern aus Abneigung gegen die olle Rosenstolz, unsere Deutschlehrerin, so laut geknurrt. Was ich verdammt gut verstehen könnte ...

»Vielleicht muss Luke noch lernen. Er schreibt gleich einen Geschichtstest«, schiebe ich, als ich Neles fragenden Blick sehe, zur Erklärung hinterher.

»Der Arme«, sagt die beste und liebste Freundin der Welt mitfühlend. Und das war's. Mehr nicht. Dafür könnte ich sie abknutschen! Das ist meine Nele.

Jemand anderes hätte mich bestimmt für verrückt erklärt oder zumindest damit aufgezogen, dass ich nicht nur Lukes Stundenplan in- und auswendig kenne, sondern darüber hinaus sogar weiß, was für Tests oder Klassenarbeiten er schreibt. Schließlich sind wir nicht zusammen. Zumindest nicht im engeren Sinne. Na gut, im weiteren leider auch nicht. Eigentlich bin ich mir noch nicht einmal sicher, ob er meinen Namen kennt. Aber wen zum Teufel interessieren schon solche Nebensächlichkeiten, wenn man bis über beide Ohren verliebt ist?!

Während Nele ihre Burgerhälften so fest zusammendrückt, dass Ketchup an den Seiten hervorquillt, runzelt sie nachdenklich die Stirn. »Kuki hat gar nicht erwähnt, dass er heute einen Geschichtstest schreibt. Wahrscheinlich hat er das mal wieder total verpennt.«

Neles Freund Kuki ist genau wie Luke in der Neunten, also eine Jahrgangsstufe über uns, und die beiden gehen in die gleiche Klasse. Seit ungefähr acht Monaten sind Nele und Kuki nun schon zusammen, aber noch verliebt wie am ersten Tag. Und wie immer, wenn sie von ihm redet – also ungefähr alle drei bis fünf Minuten –, beginnen ihre grünen Augen zu leuchten.

»Was hat Kuki verpennt? Dass er heute einen Test schreibt oder dir davon zu erzählen?«

»Beides wahrscheinlich.« Nele begutachtet kritisch ihren Burger, so als wolle sie Maß nehmen, und reißt dann den Mund wie beim Zahnarzt sperrangelweit auf. Was ziemlich bescheuert aussieht. Außerdem hat sie die Größe des Monsterburgers unterschätzt. Erst beim dritten Anlauf gelingt es ihr, ein kleines Stück abzubeißen.

Während ich ihr gedankenverloren beim Kauen zusehe, entfährt mir ein tiefer Seufzer. »Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie ich dich beneide.«

»Um Kuki?«, nuschelt Nele mit vollem Mund.

»Ha, ha, guter Witz.« Ich verdrehe die Augen und zeige ihr einen Vogel. »Den kannst du gerne behalten.«

Ich darf das sagen. Schließlich weiß meine Freundin, dass ich Kuki wirklich gerne habe. Auch wenn er ein Spinner ist. Aber schließlich ist er ihr Spinner. Darüber hinaus ist er nett, witzig, sportlich, immer gut drauf – und verdammt anstrengend. Wie ein Hamster auf Ecstasy, wuselig und durchgeknallt. Darum kann ich ihn nur in kleinen Dosen ertragen.

»Und worum beneidest du mich dann?« Nele tastet mit einer Hand in ihren blonden Haaren, die sie heute zu einem lässigen Dutt zusammengefasst hat, nach ihrer neuen Sonnenbrille und legt sie neben sich auf den Tisch.

»Dass der Kerl, in den du verliebt bist, auch in dich verliebt ist.«

Nele nickt bedächtig. »Zugegeben, das macht die Sache um einiges leichter. Für den Anfang wäre es vielleicht nicht schlecht, wenn Luke und du irgendeine Gemeinsamkeit hättet. Muss ja nichts Großes sein. Irgendwas, worüber ihr quatschen könnt.«

Na, die hat gut reden! Frustriert streiche ich mir eine lange Ponysträhne hinters Ohr. »Du meinst, wie du und Kuki?« Wenn das mal so einfach wäre. »So viel Glück kann nun mal nicht jeder haben. Ich meine, sieh euch doch nur mal an: Der Server einer Dating-App würde bei so vielen Matches bestimmt abstürzen. Ihr spielt nicht nur beide Handball, sondern seid sogar noch im selben Verein ... und auf derselben Schule.« Ich zähle die Gemeinsamkeiten an den Fingern ab und halte nun demonstrativ Finger Nummer vier in die Höhe. Ha, und da soll noch mal einer sagen, ich könnte nicht bis drei zählen. »Von eurem Freundeskreis wollen wir gar nicht erst reden ... Gott sei Dank habt ihr nicht auch noch dieselben Eltern. Das wäre echt doof.«

Nele grinst wie ein Honigkuchenpferd. »Wir sind eben füreinander bestimmt. Kuki und ich mussten einfach zusammenkommen. Das war Schicksal.«

Echt jetzt?!? Ich beiße mir auf die Lippen und verkneife es mir, sie darauf hinzuweisen, dass es nicht das Schicksal, sondern Kukis bester Freund Noah und ich gewesen sind, die sie verkuppelt haben. Aber das ist zum einen Schnee von gestern, und zum anderen geht es jetzt zur Abwechslung mal um Luke und mich und darum, wie aus uns endlich ein Paar werden kann. Auf das Schicksal will ich mich dabei nämlich lieber nicht verlassen. Das ist dummerweise ziemlich unzuverlässig. Also bleibt mir nichts anderes übrig, als meinem Glück selbst auf die Sprünge zu helfen, auch wenn sich das bisher als äußerst schwierig erwiesen hat. An mir hat es übrigens nicht gelegen. Na ja, vielleicht ein klitzekleines bisschen.

»Die Kletter-AG war ein absoluter Reinfall«, seufze ich deprimiert.

»Ich hab dir gleich gesagt, dass es Schwachsinn ist, dich für diese AG anzumelden. Ich meine, wer geht schon klettern, wenn er Höhenangst hat?!«

»Hast recht, das muss ein ziemlicher Trottel sein«, murmele ich kleinlaut.

Zugegeben, meine brillanteste Idee ist das nicht gerade gewesen. Aber zumindest eine Gelegenheit, um in Lukes Nähe zu sein. Logisch, dass ich da nicht lange gezögert habe. Auch wenn ich dafür wochenlang jeden Dienstag in der Turnhalle allein beim Anblick der Kletterwand in Panik verfallen bin. Doch ich habe tapfer durchgehalten, nur damit Luke endlich auf mich aufmerksam wird und sich dann in mich verliebt. Zumindest in der Theorie hat das perfekt geklungen.

In der Praxis habe ich jedoch die meiste Zeit in stinkenden Toilettenräumen herumgelungert oder mich auf andere Art unsichtbar gemacht. Obwohl es mir so fast immer gelungen ist, mich erfolgreich vor der bescheuerten Kletterwand zu drücken, bin ich trotzdem irgendwie erleichtert gewesen, als Luke zum Ende des Halbjahrs aus der AG ausgetreten ist. Damit hat es auch für mich keinen Grund mehr gegeben, mich jede Woche in Lebensgefahr zu begeben. Früher oder später hätte mich entweder der bestialische Gestank auf dem Schulklo umgebracht oder ich wäre vor Langeweile gestorben. Denn auch wenn ich mich jedes Mal in einer anderen Toilettenkabine verschanzt habe, ist mir schon nach kurzer Zeit der Lesestoff ausgegangen. Nicht dass ich die mit Edding an die Wände gekritzelten Sprüche besonders witzig gefunden hätte. Jungs sind wie Klos: Entweder besetzt oder beschissen war noch einer der besseren. Also habe ich angefangen, Bodenfliesen zu zählen oder abwechselnd große und kleine Löcher in die Luft zu starren.

»Mensch, es wird doch irgendwas geben, das euch verbindet«, reißt Nele mich aus meinen unschönen Erinnerungen. »Es muss ja nicht gleich ein gemeinsames Hobby sein. Wer weiß, vielleicht habt ihr die gleichen Vorlieben. Es könnte doch sein, dass ihr beide auf Shakespeare, Bayern München, Katzenbabys oder McDonalds steht. Das wäre doch schon mal ein Anfang.«

»Wie du als meine beste Freundin eigentlich wissen solltest, bin ich weder Shakespeare- noch Bayern-München-Fan. Und Katzenbabys und McDonalds mag doch irgendwie jeder.«

»Das waren doch nur Beispiele.« Nele verdreht genervt die Augen. »Es können natürlich auch andere Dinge sein.«

»Dinge«, wiederhole ich gedehnt.

»Oder von mir aus auch Leute. Vielleicht habt ihr ja sogar irgendwelche gemeinsamen Freunde oder Bekannte.«

»Nicht, dass ich wüsste.« Während ich noch tief in Gedanken versunken bin, lässt mich plötzlich ein lautes Scheppern zusammenzucken.

Nele und ich sind so in unser Gespräch vertieft gewesen, dass uns gar nicht aufgefallen ist, dass wir Gesellschaft bekommen haben. Neben unserem Tisch steht Chiara. Dem Lärm nach zu urteilen, muss sie ihr Tablett ziemlich unsanft abgestellt haben.

»Ihr habt doch nichts dagegen, wenn ich mich zu euch setze?« Sie rückt sich einen Stuhl zurecht und sieht uns abwartend an.

Häää? Wie bitte?

Meine Kinnlade gehorcht dem Gesetz der Schwerkraft und klappt nach unten. Gut, dass ich noch nicht in meinen Burger gebissen habe, das würde eine schöne Sauerei geben.

An Neles Gesichtsausdruck kann ich erkennen, dass sie mindestens genauso überrascht ist wie ich. Ihre mandelförmigen Augen sind plötzlich kugelrund. Chiara hat noch nie zusammen mit uns Mittag gegessen. Die Königin speist normalerweise inmitten ihres treu ergebenen Hofstaats, der ihr nicht nur jeden Wunsch von den Augen abliest, sondern diesen auch sofort erfüllt.

Wo sind ihre Zofen heute bloß abgeblieben?

Auf der Suche nach Chiaras Freundinnen schaue ich mich in der Cafeteria um. Echt kein schöner Anblick. Kahle Wände, blankgescheuerte Tischplatten und hässliche Plastikstühle. Neulich ist im Fernsehen so eine Doku über Haftanstalten gelaufen, und ich schwöre: Eine Gefängniskantine, die dort gezeigt wurde, hat genauso ausgesehen wie unsere Cafeteria. Na ja, streng genommen ist Schule ja sowieso nichts anderes als Knast mit Freigang. Trotzdem wäre es ganz nett, wenn man das wenigstens in der Mittagspause mal vergessen könnte. Wäre die Cafeteria etwas gemütlicher eingerichtet, würde der Fraß, den wir hier vorgesetzt bekommen, vielleicht ein bisschen besser schmecken.

Ich lasse meinen Blick die Tischreihen entlangwandern. Es gibt jede Menge freie Plätze. Das könnte heute allerdings nicht nur an der scheußlichen Einrichtung und der Qualität des Essens, sondern auch an dem schönen Sommerwetter liegen. Ein paar Tische weiter entdecke ich schließlich Chiaras Clique, die ohne ihre Anführerin seltsam unvollständig wirkt. Wie ein Fahrrad ohne Lenker oder so was in der Art. Ob sie sich gestritten haben? Warum in aller Welt sollte Chiara sich sonst zu uns setzen wollen?

Obwohl ich sie nicht besonders gut leiden kann, habe ich plötzlich Mitleid mit ihr. Wenn Chiara mit ihren Freundinnen so zerstritten ist, dass sie es noch nicht mal mit ihnen an einem Tisch aushält, ist das schon hart.

Ich möchte mir gar nicht vorstellen, wie ich mich fühlen würde, wenn Nele und ich uns plötzlich aus dem Weg gehen würden. Wir sind seit der Grundschule miteinander befreundet und haben uns in all den Jahren noch nie so richtig heftig gestritten. Natürlich hat es hin und wieder mal Stress gegeben, aber dank Neles direkter Art haben wir alles immer schnell klären können.

Auch jetzt redet meine Freundin nicht lange drum herum, sondern sagt an Chiara gewandt: »Wenn du schon fragst ... Doch, wir haben etwas dagegen, dass du dich zu uns setzt.«

Ich zucke zusammen und trete Nele unter dem Tisch unsanft vors Schienbein. Aber sie verzieht noch nicht einmal das Gesicht. Klar, als Handballerin ist sie hart im Nehmen. Auf dem Spielfeld darf man nicht zimperlich sein – das weiß ich aus eigener Erfahrung. Wer Angst vor blauen Flecken hat, sollte besser gleich zu Hause bleiben.

Chiara stutzt und hält mitten in der Bewegung inne. Mit einer Abfuhr hat sie offensichtlich nicht gerechnet.

»Beglück doch einfach jemand anderen mit deiner Gesellschaft«, setzt Nele noch eisig hinzu, als Chiara nach wie vor keine Anstalten macht, sich wieder zu verziehen.

Ist Nele noch ganz dicht?!? Hat sie vergessen, mit wem sie redet?! Chiara ist nicht nur das angesagteste Mädchen in unserer Klasse, sie ist außerdem Lukes Schwester. Wenn ich irgendwie bei ihrem Bruder landen will, ist es bestimmt nicht besonders hilfreich, sie zur Feindin zu haben.

Was soll ich nur tun? Ich mustere sie vorsichtig und versuche an ihren auffällig geschminkten Augen abzulesen, ob sie sehr sauer ist.

Doch anstatt beleidigt zu sein, tut sie einfach so, als hätte Nele einen Scherz gemacht. Erleichtert atme ich auf. Glück gehabt. Chiara wirft lachend ihre blonde Mähne über die Schultern und lässt sich mit einer eleganten Bewegung auf den Stuhl gleiten.

Gibt es für diese Art des Hinsetzens – der leichte Schwung aus der Hüfte ist der Hammer –eine spezielle Choreografie, die man lernen kann? Oder muss man dafür ein angeborenes Talent besitzen? Bei mir würde dieser Move bestimmt eher nach einem Hüftschaden aussehen.

Im Gegensatz zu mir ist Nele nicht so leicht zu beeindrucken. Sie zuckt gleichgültig mit den Schultern und wendet sich demonstrativ an mich. »Wo waren wir noch gleich?«

Es ist offensichtlich, dass sie vorhat, Chiara einfach zu ignorieren.

»Äh, keine Ahnung«, lüge ich und hoffe, dass mein roter Kopf mich nicht verrät. Ich werde ganz sicher nicht in Chiaras Anwesenheit über ihren Bruder reden. Eher schrubbe ich den Boden der Cafeteria mit 'ner Zahnbürste. »Ich glaube, wir hatten gerade über die nächste Deutscharbeit gesprochen.«

Als wäre die ganze Situation nicht so schon unangenehm genug, werde ich das Gefühl nicht los, dass wir beobachtet werden. Womit ich, wie ich kurz darauf feststelle, richtigliege. Chiaras Freundinnen starren unverhohlen zu uns rüber. Was glotzen die denn so dämlich?

Chiara scheint davon überhaupt nichts mitzukriegen und spießt sich ein Salatblatt mit der Gabel auf. »Ach ja, die Deutscharbeit. Wie lästig. Bestimmt überlegt sich die Rosenstolz wieder irgendeine Gemeinheit. Das hat sie echt drauf. Aber was soll's. Zum Glück haben wir die schlimmste Stunde des Tages für heute hinter uns.«

»Da sagst du was«, stimme ich ihr aus tiefstem Herzen zu. Ich denke daran, wie mich unsere Deutschlehrerin vorhin an der Tafel wieder mal gequält hat. Kein Plan, warum sie sich so auf mich eingeschossen hat. Sie nutzt jede Gelegenheit, mich vor der Klasse fertigzumachen. »Ich frage mich echt, was ich der Rosenstolz getan habe.«

»Nimm's nicht persönlich, Charlotte. Die Rosenstolz ist einfach 'ne blöde Kuh. Wahrscheinlich ist sie gefrustet, weil sie keinen Kerl abbekommen hat, und nun lässt sie ihre miese Laune an uns aus.«

Ich weiß nicht, was mich mehr überrascht. Dass Chiara überhaupt mit mir redet – wir gehen zwar seit fast vier Jahren in dieselbe Klasse, aber bis heute hat sie mich immer wie Luft behandelt – oder dass sie sogar ganz nett sein kann. Bisher habe ich sie immer für eine arrogante, hochnäsige Tussi gehalten, die sich auf ihr gutes Aussehen, ihre reichen Eltern, ihren eigenen YouTube-Channel und auf was weiß ich nicht noch etwas einbildet. Was vermutlich auch zutrifft ...

»Hoffentlich sind wir die Rosenstolz nach den Sommerferien los. Noch ein Jahr länger ertrage ich das nicht«, sage ich. »Charlotte«, äffe ich den gekünstelten Tonfall unserer Deutschlehrerin nach. »Wann wirst du endlich begreifen, dass Kommas kein überflüssiges Chichi sind, das man einfach weglassen kann?!«

»Chichi.« Chiara lacht. »Stimmt, das ist eins ihrer Lieblingswörter. Und wie sie das immer betont – echt zum Schießen.«

Nele scheint das im Gegensatz zu uns gar nicht witzig zu finden. Mit unbewegter Miene mampft sie weiter ihren Burger und macht keine Anstalten, sich an der Unterhaltung zu beteiligen. Typisch Nele. Sie versucht nie, sich zu verstellen, und zieht einfach ihr Ding durch. Egal was andere von ihr halten. Ich wünschte, ich wäre da ein bisschen mehr wie sie. Aber so cool bin ich nun mal nicht. Andererseits habe ich doch gar keine andere Wahl, als nett zu Chiara zu sein. Und Nele könnte mich ruhig ein bisschen unterstützen. Immerhin hat sie mir doch selbst geraten, etwas zu finden, was Luke und mich verbindet. Etwas – oder jemanden. Wer hätte gedacht, dass ich diesen Jemand in der Cafeteria auf einem zerkratzten Plastiktablett serviert bekomme?

»Tohuwabohu ist auch so ein Wort, das sie ständig benutzt. Und Kokolores«, ergänze ich grinsend.

Warum ist mir vorher eigentlich noch nie aufgefallen, wie viel Ähnlichkeit Chiara mit Luke hat? Wenn sie – wie jetzt gerade – lacht, kommt auf ihrer linken Wange ein kleines Grübchen zum Vorschein. Genau wie bei ihrem Bruder.

Bevor mir noch weitere typische Rosenstolz-Ausdrücke einfallen, wird es hinter mir im Raum plötzlich unruhig. Als ich mich umdrehe, um zu sehen, was da los ist, entdecke ich an der Essensausgabe eine Horde Neuntklässler. Mist, ich habe sie gar nicht in die Cafeteria kommen sehen. Chiaras Auftauchen hat mich total abgelenkt.

Die Jungs grölen und lachen laut. Hier und da werden freundschaftliche Schläge oder Tritte ausgetauscht.

»Hey, nicht vordrängeln! Dahinten ist das Ende der Schlange«, schnauzt ein Lauch lautstark einen Mitschüler an.

Dieser erwidert etwas, was ich aufgrund der Entfernung nicht verstehen kann. Aber es ist garantiert nichts Nettes gewesen, denn der Lauch hebt nun drohend die Faust.

Schnell lasse ich meinen Blick weiter an der Schlange der wartenden Schüler entlangwandern.

Da durchfährt es mich plötzlich wie ein Stromschlag. Von den Haar- bis hinunter in die Zehenspitzen.

BÄÄM!

Im meinem Kopf springt eine wild blinkende Alarmlampe an, und mein Herzschlag setzt für einen Moment aus.

Total verrückt! Obwohl ich mir den ganzen Vormittag nichts sehnlicher gewünscht habe, als ihn endlich zu sehen, würde ich jetzt, wo es endlich so weit ist, am liebsten abhauen. Geht aber nicht, denn aufzustehen wäre viel zu riskant. Und laufen ist sowieso völlig unmöglich, denn meine Knie fühlen sich sogar im Sitzen wie Pudding an. Ich atme ein paarmal langsam ein und aus, möglichst ruhig und schön tief aus dem Bauch heraus. Om ..., om ..., om ... Mein Herz, das zum Glück wieder zu schlagen begonnen hat, hämmert dabei schmerzhaft gegen meinen Brustkorb.

Luke sieht wie immer unglaublich gut aus. Er trägt heute Jordans, eine abgewetzte Jeans und einen grauen Hoodie, der für diese Sommerhitze eigentlich viel zu warm ist. Der Pulli muss neu sein, zumindest hat er ihn in der Schule noch nie angehabt. Jede Wette, dass ich den Inhalt seines Kleiderschranks besser kenne als er selbst. In diesem Moment dreht Luke sich so, dass ich sein Gesicht von vorn sehen kann, und damit ist es komplett um mich geschehen. O mein Gott, diese blauen Augen! Und da etwas dermaßen Schönes und Anbetungswürdiges natürlich auch den richtigen Rahmen verdient, sind sie von unglaublich dichten, langen Wimpern umgeben. Okay, ehrlich gesagt ist das aus dieser Entfernung nicht zu erkennen, aber mein Unterbewusstsein leistet ganze Arbeit und ergänzt alle fehlenden Details. Lukes halblange honigblonde Haare locken sich über der Kapuze seines Hoodies leicht. Und seine breiten Schultern ...

Oh, shit! Wie peinlich. Schlagartig wird mir bewusst, dass ich Luke die ganze Zeit anstarre. Fehlt nur noch, dass ich zu sabbern beginne.

Auffälliger geht es ja wohl kaum.

Schluss jetzt!

Unter Aufbietung all meiner Willenskraft zwinge ich mich, ihm wieder den Rücken zuzudrehen. Nele hat die Neuankömmlinge natürlich auch längst entdeckt. Ihre Miene, die seit Chiaras Auftauchen mürrisch und abweisend gewesen ist, hat sich aufgehellt, und ihre Wangen sind leicht gerötet. Kein Wunder, denn unter den Jungs befindet sich auch Kuki. Was dank seines dröhnenden Gelächters nun wirklich nicht zu überhören ist.

Nele winkt und macht ihrem Freund Zeichen, zu uns an den Tisch zu kommen.

»Kuki und Noah sind im Anmarsch«, teilt sie mir kurz darauf so aufgekratzt mit, als hätte Ed Sheeran ihr ein Privatkonzert versprochen.

»Okaaaay«, antworte ich gedehnt und weit weniger euphorisch als Nele. Nichts gegen Kuki und Noah – Noah ist sogar einer meiner engsten Freunde, gleich nach Nele –, aber eine andere Person wäre mir grade um einiges lieber. Zumindest habe ich nun einen triftigen Grund, mich erneut umzudrehen. Auch wenn ich Luke dieses Mal nur von hinten zu sehen bekomme, reagiert mein Herz direkt mit einem wilden Trommelwirbel. Und zieht sich gleich darauf schmerzhaft zusammen, denn das ist womöglich der letzte Blick, den ich heute auf ihn erhaschen werde ... wenn ich mir nicht ganz schnell was einfallen lasse.

Leicht panisch wende ich mich an Chiara. »Ist das dahinten nicht dein Bruder?«, frage ich so beiläufig wie möglich und deute mit dem Kinn Richtung Essensausgabe.

Doch Chiara blickt nicht mal auf und zuckt nur gleichgültig mit den Schultern. »Kann schon sein.«

Hey, ein bisschen mehr Begeisterung, wenn ich bitten darf. Wie kann einem der eigene Bruder bloß so egal sein? Also, wenn meine Schwester dahinten stehen würde ... dann würde mich das auch nicht jucken.

Keine Ahnung, was ich mir von Chiara erhofft habe. Vielleicht, dass sie Luke ebenfalls herbeiwinkt. Aber mit der Geschwisterliebe ist das halt so eine Sache ...

»Bin mal gespannt, ob es sich mittlerweile bis zu Kuki rumgesprochen hat, dass er gleich einen Test schreibt«, unterbricht Nele mein Gedankenkarussell.

Eigentlich interessiert mich das im Augenblick herzlich wenig, aber ich bin froh, dass Nele wieder die Alte ist.

»Hi.« Noah erreicht als Erster unseren Tisch, dicht gefolgt von Kuki, der hinter dem Rücken seines Freundes bescheuerte Grimassen schneidet. Während Noah Chiaras Anwesenheit mit einem irritierten Seitenblick zur Kenntnis nimmt, scheint Kuki an der Situation nichts ungewöhnlich zu finden. Nach einem fröhlichen »Hallo!« beugt er sich zu Nele runter und drückt ihr einen fetten Kuss auf die Lippen.

»Ich bin vor Sehnsucht nach dir fast gestorben.« In der rechten Hand balanciert er einen Pappteller mit einer Frikadelle, mit der linken fasst er sich theatralisch an die Brust.

»Du Armer«, bemitleidet ihn Nele. »Dafür siehst du aber noch ziemlich lebendig aus.«

»Glaub mir, das täuscht.« Von einer Sekunde auf die nächste scheint alle Energie aus seinem Körper zu entweichen, und er wankt leicht hin und her, so als könne er sich kaum noch auf den Beinen halten. »Wohl noch nie was von inneren Blutungen gehört, was?« Mit einem teuflischen Grinsen schleckt er einen Tropfen Ketchup von seinem Finger.

»Iiii, du bist ja eklig«, quietscht Nele und wendet angewidert den Blick ab.

»Kuslowski, heb dir die Vorstellung lieber für die Geschichtsstunde auf.« Luke, der wie aus dem Nichts hinter Kuki aufgetaucht ist, schlägt ihm lachend auf die Schulter.

O. Mein. Gott! Mir wird abwechselnd heiß und kalt. Das kann er doch nicht bringen, ohne Vorwarnung hier einfach so aufzukreuzen!

»Luke hat recht«, sagt Noah. »Vielleicht kannst du dich ja vor dem Test drücken.«

»Gute Idee. Aber an der Performance muss ich vorher noch arbeiten.« Kuki wendet sich an sein Publikum. »Ein bisschen Schaum vor dem Mund käme nicht schlecht, oder was meint ihr?«

»Dass du Tollwut hast, glaubt man dir jedenfalls sofort«, sagt Noah grinsend, »auch ohne Schaum.«

Obwohl sie in die gleiche Klasse gehen, haben Kuki und Noah normalerweise kaum etwas mit Luke zu tun. Bestimmt liegt es an Chiara, dass Luke an unseren Tisch gekommen ist. Oder der liebe Gott hatte heute endlich mal Zeit, all meine unerhörten Gebete abzuarbeiten.

Auf jeden Fall kann ich mein Glück kaum fassen!

Und im Gegensatz zu Kuki muss ich die Schwäche, die mich in Lukes Gegenwart erfasst, nicht einmal schauspielern. Gut, dass ich sitze, denn dieser Typ ist einfach Wahnsinn! Im Vergleich zu vielen anderen Neuntklässlern, die wie zu groß geratene Kinder aussehen, die noch heimlich zu Hause mit Lego spielen, wirkt er bereits total erwachsen und männlich. Immerhin ist er ja auch schon fast sechzehn. Versonnen betrachte ich seine breiten Schultern, die völlig unverhofft auf einmal zum Greifen nah sind. Wie es sich wohl anfühlt, den Kopf in diese einladende Kuhle an seiner Halsbeuge zu schmiegen?

Ich bin viel zu abgelenkt, um das kleine Wortgeplänkel zwischen den Jungs weiter zu verfolgen.

Erst als Chiara plötzlich »Setzt euch doch zu uns« sagt, bin ich mit einem Schlag wieder hellwach. Keine Ahnung, warum sie auf einmal so komplett anders drauf ist, aber wen juckt das schon? Jetzt zählt nur Lukes Antwort, und ich kann meinen Blick nicht von seinen Lippen lösen.

»Nee, geht nicht.« Luke schüttelt den Kopf.

Ob man mir meine Enttäuschung ansieht?

Pokern wäre echt nicht mein Ding. Ich versuche, mich zusammenzureißen und einen möglichst neutralen Gesichtsausdruck aufzusetzen. Was verdammt schwer ist, wenn man bedenkt, dass ich ganz knapp davor gewesen bin, die restliche Mittagspause mit dem tollsten, coolsten und süßesten Jungen der Schule zu verbringen. Na ja, wenigstens hab ich genug Zeit, ihn in aller Ruhe aus der Nähe zu betrachten.

Eine Haarsträhne ist ihm in die Stirn gefallen. Am liebsten würde ich aufspringen und sie zur Seite streichen. Als ich mich bei diesem Gedanken ertappe, spüre ich, wie mir die Hitze ins Gesicht steigt. Oh nein, bestimmt leuchtet mein Kopf wie eine Warnlampe! Und je mehr ich dagegen ankämpfe, desto mehr glühen meine Wangen. Ein Teufelskreis. Ich versuche nicht weiter über meine Gesichtsfarbe nachzudenken und mich stattdessen voll und ganz auf Luke zu konzentrieren. Was die Sache nicht wirklich besser macht. Im Gegenteil ... Auf seiner Wange zeigt sich gerade wieder dieses wahnsinnig süße Grübchen, das ich vorhin auch bei Chiara entdeckt habe.

»Wir müssen uns noch auf den Geschichtstest vorbereiten.« Grinsend schiebt er den linken Ärmel seines Sweatshirts hoch. Der Arm, der darunter zum Vorschein kommt, sieht aus, als wäre er tätowiert. Mit Kugelschreiber hat Luke dort jede Menge Jahreszahlen und stichwortartige Notizen hingekritzelt. Darum also der Hoodie trotz der Bullenhitze!

Ich durchforste mein Hirn nach einer witzigen Bemerkung oder einem schlagfertigen Kommentar, mit dem ich bei Luke Eindruck hinterlassen kann. Aber da ist nichts. Nur gähnende Leere. Irgendetwas MUSS mir doch einfallen. JETZT. SOFORT. Denn wer weiß, wie lange es dauern wird, bis ich wieder die Chance bekomme, mit ihm zu reden. Wochen? Monate? Oder gar Jahre?

Los, Charly, trau dich endlich!

Jetzt oder nie.

»Meinst du ...«, beginne ich, obwohl ich immer noch keinen blassen Schimmer habe, was ich sagen soll. Wie wäre es mit: Meinst du, du könntest dich in mich verlieben? Oder: Meinst du, unsere Kinder erben deine wunderschönen Augen? Am passendsten wäre aber vermutlich: Meinst du, mir wird vor dem Abi noch ein halbwegs vernünftiges Ende für diesen Satz einfallen?

Luke dreht den Kopf ein wenig zur Seite und sieht mich nun zum ersten Mal direkt an.

Diese Augen! Wahnsinn! Sie leuchten türkisblau – wie das Meer in der Karibik. Ich komme mir vor wie ein Stück Treibgut, das von den Wellen hin und her geschleudert wird. Kein Wunder, dass mir plötzlich ganz schwindelig ist.

»Meinst du ...« Ich huste, um den Frosch in meinem Hals loszuwerden und um Zeit zu schinden. »Meinst du, das fällt nicht auf? Wenn der Bieler dich erwischt, gibt er dir bestimmt 'ne Sechs«, presse ich schließlich etwas heiser hervor.

Aaaahrrgh! Am liebsten würde ich mir die Zunge abbeißen. Wenn ich ihn jetzt noch daran erinnere, nach dem Essen Zahnseide zu benutzen, klinge ich fast wie meine Mutter. Bestenfalls hält Luke mich nun für eine brave Streberin. Schlimmstenfalls für eine gehirnamputierte, brave Streberin. Da habe ich endlich mal die Gelegenheit, ihn auf mich aufmerksam zu machen, und vergeige es dermaßen.

»Na und?« Luke zuckt gleichgültig mit den Schultern. »Mehr als 'ne Sechs wäre sowieso nicht drin gewesen. Außerdem ist der Bieler doch selbst ein Fossil. Dem würde es nicht einmal auffallen, wenn ich das aufgeschlagene Geschichtsbuch vor mir auf den Tisch lege.«

»Na wenn das so ist, würde ich mir an deiner Stelle die Mühe mit dem Spickzettel sparen«, brummt Noah und malt bei dem Wort Spickzettel imaginäre Anführungszeichen in die Luft.

»Wie gut, dass du zwei Arme hast«, sage ich in dem verzweifelten und wohl auch ziemlich armseligen Versuch, witzig zu sein. Doch das bekommt Luke zum Glück schon gar nicht mehr mit. Er hat seine gesamte Aufmerksamkeit auf das Schnitzelbrötchen in seiner Hand gerichtet.

Fasziniert beobachte ich, wie er herzhaft zubeißt. Mehr aus Reflex als aus Hunger öffne ich ebenfalls den Mund und nehme einen Bissen von meinem Burger.

Igitt.

Selbst im warmen Zustand ist das labberige Brötchen mit den schlappen Salatblättern und der ungewürzten Frikadelle bestimmt kein kulinarisches Highlight gewesen, aber kalt ist es das reinste Brechmittel. Am liebsten würde ich das ekelhafte Zeug sofort wieder ausspucken, würge den Bissen dann aber doch irgendwie runter. Die Hoffnung, dass Luke noch mal zu mir rüberschaut, ist nämlich noch da.

Auch wenn es so aussieht, als hätte er längst das Interesse an mir verloren. Was ich verdammt gut verstehen kann.

Während ich vergeblich versuche, den fiesen Geschmack des Burgers mit einem Schluck Wasser hinunterzuspülen, merke ich, dass mit Nele irgendwas nicht stimmt. Sie mustert mich durchdringend und reibt dabei mit dem rechten Zeigefinger immer wieder über ihre Nasenspitze.

Wie lautet noch mal dieses blöde Sprichwort, das meine Oma früher immer benutzt hat? Wenn die Nase juckt, gibt's Geld? Oder heißt es Schnee? Da Nele genau wie ich chronisch pleite ist, würde ich ihr die Kohle von Herzen gönnen. Aber da ist die Wahrscheinlichkeit, dass es heute bei dreißig Grad im Schatten zu schneien beginnt, wohl größer ...

Nele starrt mich immer noch an, als wollte sie mich hypnotisieren. Von der vielen Reiberei ist ihre Nase schon ganz rot. Wenn sie nicht vorhat, als Rentier Rudolph aufzutreten, will sie mir bestimmt irgendwas mitteilen. Die Frage ist bloß, was? Ratlos sehe ich sie an und zucke mit den Schultern. Aber anstatt mir nun einen anderen Hinweis zu geben, reibt sie nur noch heftiger an ihrer Nase herum.

»Meine Damen, es war schön, mit euch zu plaudern.« Kuki lüftet einen unsichtbaren Hut und deutet eine kleine Verbeugung an. »Aber wir müssen euch jetzt leider verlassen.«

»Ciao. Man sieht sich.« Luke hebt lässig die Hand und ist genauso schnell verschwunden, wie er aufgetaucht ist.

Nur mit Mühe kann ich mir einen enttäuschten Seufzer verkneifen. Während Kuki und Nele noch einen innigen Abschiedskuss austauschen, grübele ich darüber nach, wie peinlich mein Verhalten gewesen ist. Auf einer Skala von eins bis zehn, bei der zehn der Gipfel der Peinlichkeit ist, würde ich mir eine Elf geben. Und das auch nur, wenn man meine Nervosität wohlwollend berücksichtigt ...

»Charly?« Noah, der sich ebenfalls zum Gehen bereit macht, sieht mich abwartend an. Offenbar erwartet er eine Antwort von mir.

»Same time, same place?«, wiederholt Noah netterweise seine Frage, während er nach dem Rucksack angelt, den er zu seinen Füßen abgestellt hat.

»Ja klar«, murmele ich abwesend.

Nachdem die Jungs verschwunden sind, steht Chiara auf und greift nach ihrem Tablett. »So, ich muss auch los.« Ihren Salat hat sie kaum angerührt. Kein Wunder, dass sie so schlank ist, denke ich neidisch. Wenn sie nicht mal das Karnickelfutter anrührt ... Über mein Gewicht kann ich mich zwar – trotz Pommes und Burgern – auch nicht beklagen, aber meine Figur ist mehr so sportlich durchtrainiert, Chiaras hingegen total modelmäßig. Ihre Beine sind mindestens einen Meter länger als meine. Was natürlich nicht stimmen kann, da Chiara höchstens einen Kopf größer ist als ich, aber irgendwie fühlt es sich so an.

»Ich sehe euch dann später in der Klasse.« Obwohl Chiara euch sagt, schaut sie dabei nur mich an. Im Gehen dreht sie sich noch mal um. »Du hast da übrigens was an der Nase, Charlotte.«

»Danke«, sage ich und greife hastig nach der weißen Papierserviette, in der das Besteck eingewickelt gewesen ist. Wenn ich die ganze Zeit, während Luke an unserem Tisch gewesen ist, einen ekeligen Popel an der Nase gehabt habe, werde ich diese Schule nie wieder betreten. Nie, nie wieder.

Ich wische mit der Serviette über meine Nase und sehe Rot. Sehr viel Rot, um genau zu sein.

Schlagartig verstehe ich, was Nele mir vorhin klarmachen wollte. Der Menge Ketchup nach zu urteilen, die sich an meiner Serviette befindet, muss ich ausgesehen haben wie ein Clown.

Oh nein! Ich würde am liebsten im Boden versinken. Wie kann ich es nur jedes Mal so vermasseln?

»Vielleicht hat Luke das Ketchup gar nicht bemerkt«, versucht Nele, mich zu trösten.

»Ja ... vielleicht«, sage ich und ziehe eine verzweifelte Grimasse, »farblich kann es sich ja kaum von meinem Gesicht abgehoben haben. Mein Kopf ist garantiert so rot gewesen wie eine Tomate.«

»Hm.«

Hm? Bloß hm? Mehr nicht?!?

Hätte sie mir, um mich aufzumuntern, nicht eigentlich widersprechen müssen?

»Das war echt weird«, brummt Nele stattdessen.

»Peinlich trifft es wohl eher.«

»Meinst du, sie hat vielleicht eine Wette verloren?«

»Wer?«

»Na, Chiara natürlich. Warum sollte sie sich sonst mit dem niederen Volk abgeben?« Nachdenklich knabbert Nele an ihrer Unterlippe herum. »In Reli haben wir doch letzte Woche diese Sache mit dem Sozialprojekt besprochen. So von wegen Bedürftigen helfen und so. Womöglich hat Chiara sich vorgenommen, an uns eine gute Tat zu vollbringen, indem sie unser Image etwas aufpoliert.«

»Quatsch.« Ich bin mir nicht sicher, ob Nele das wirklich ernst meint. »So nötig haben wir das nun auch wieder nicht.«

In jeder Klasse gibt es eine Hierarchie. Eine Art ungeschriebene Hackordnung. Wobei mir persönlich die Bezeichnung Nahrungspyramide noch besser gefällt. Fressen oder gefressen werden ... Ich finde, das trifft es ganz gut. In unserer Klasse sieht diese Pyramide folgendermaßen aus: Ganz oben an der Spitze steht Chiara, darunter kommen ihre Freundinnen Tessa, Leonie und Anna, und dann kommt lange, lange nichts. Nele und ich gehören zur breiten Mittelschicht. Wir sind weder besonders angesagt, noch gehören wir zu den Nerds. Wenn Chiara also ein gutes Werk tun will, indem sie jemand aus dem sozialen Abseits befreit, gibt es sicher besser geeignete Kandidaten in unserer Klasse.

Nein, ich bleibe dabei: Der Grund für Chiaras merkwürdiges Verhalten ist ganz simpel.

»Ich glaube, sie hat mit den Mädels aus ihrer Clique Beef und brauchte beim Essen einfach nur Gesellschaft«, teile ich Nele das Ergebnis meiner Überlegungen mit.

»Das klingt logisch. Trifft aber nicht zu. Schau mal zum Geschirrwagen.«

Ich folge Neles Anweisung und entdecke neben dem Wagen, auf dem sich die benutzten Tabletts mit dem dreckigen Geschirr türmen, Chiara und ihre Freundinnen.

Obwohl die vier optisch eigentlich sehr unterschiedlich sind – Leonie hat beispielsweise kurze schwarze und Anna lange mittelbraune Haare –, wirken sie trotzdem wie geklont. Vermutlich liegt das an ihrem Klamottenstil: Alles, was sie tragen, sieht wahnsinnig modisch und sexy aus. Tessa, neben Chiara die zweite Blondine im Bund, sprengt heute mit ihrer Oberweite fast ihr weit ausgeschnittenes T-Shirt. In dem Outfit würden meine Eltern mich nicht einmal bis zum Briefkasten an der Ecke, geschweige denn in die Schule gehen lassen!

Die vier stecken gerade die Köpfe zusammen und tuscheln – oder lästern? – über irgendwas. Keine Spur von dicker Luft.

Entweder hat sich Chiara gar nicht mit Tessa, Anna und Leonie gestritten, oder es gab eine Blitzversöhnung.

»Ich sage dir, da ist was faul«, verkündet Nele mit finsterer Miene. »Die hat nicht ohne Grund mit uns zu Mittag gegessen. Jede Wette, da kommt noch was.«

Kapitel 2

Nach der siebten Stunde wartet Noah vor dem Schultor auf mich. Wir haben den gleichen Heimweg, denn wir wohnen gerade mal einen Steinwurf voneinander entfernt.

Als ich drei oder vier gewesen bin, haben die Zanders das Haus auf der gegenüberliegenden Straßenseite gekauft, und seitdem sind Noah und ich praktisch unzertrennlich. In der Grundschule habe ich dann Nele kennengelernt, mit der ich all den Mädelskram, wie Noah es nennt, unternehme: shoppen, gemeinsam aufs Klo gehen, über Jungs quatschen und so weiter. Aber der enge Kontakt zu Noah ist nie abgebrochen. Auch wenn wir heute kein Seil mehr quer über die Straße spannen, um in einer Blechdose verschlüsselte Botschaften und Süßigkeiten hin und her zu schicken.

Wobei man der Ehrlichkeit halber sagen muss, dass ich davon mehr profitiert habe als er. Meine Mutter ist Zahnarzthelferin, und Süßigkeiten sind in unserem Haus tabu. Der missionarische Eifer, mit dem sie sich für die Zahngesundheit stark macht, kann einem ganz schön auf den Geist gehen. Als wäre es nicht schon schlimm genug, dass sie an Halloween anstelle von Maoam und Schokoriegeln Obst und Nüsse an die Nachbarskinder verschenkt, hat sie ein Jahr sogar Zahnbürsten statt Süßigkeiten verteilt. Kein Wunder, dass seitdem niemand mehr für Süßes oder Saures an unserer Tür klingelt – und alle unsere Freunde mit meiner Schwester und mir Mitleid haben. Denn irgendwie sind wir permanent unterzuckert.

Das weiß natürlich auch Noah. Als er mich kommen sieht, hält er mir grinsend eine geöffnete Tüte Gummibärchen entgegen, und ich greife gierig hinein. Mindestens die Hälfte des Inhalts hat Noah schon verputzt. Zufrieden registriere ich, dass er mir wie immer meine Lieblingssorten, die Gelben und die Roten, übriggelassen hat.

»Das ist genau das, was ich jetzt brauche«, nuschele ich mit vollen Backen. »Danke.«

»Kein Ding.« Noah stößt sich mit dem Fuß von der Mauer ab, und wir setzen uns in Bewegung.

Eine Weile traben wir in einträchtigem Schweigen nebeneinanderher. Jeder hängt einfach so seinen Gedanken nach. Nur das Rascheln der Gummibärchentüte und unser zufriedenes Schmatzen sind hin und wieder zu hören.

»Wie war der Geschichtstest?«, frage ich, als wir kurz darauf an einer roten Ampel Halt machen müssen.

Die Süßigkeiten haben wir in Rekordzeit vernichtet. Mit einem zielsicheren Wurf befördert Noah die leere Tüte in einen Mülleimer. Treffer, versenkt. Für einen super Handballspieler wie ihn kein Ding.

»Ganz okay, glaube ich. Zumindest gab's keine bösen Überraschungen.« Ohne hinzusehen, zieht er eine Wasserflasche aus der Seitentasche seines Rucksacks und schraubt den Verschluss ab. »Der Bieler ist zwar eine ziemliche Schlaftablette, aber eins muss man ihm lassen: Fair ist er. Im Gegensatz zu vielen anderen Lehrern versucht er nicht, dir bei Tests einen reinzudrücken.«

»Weißt du, wie es bei Luke gelaufen ist?«

Noah verdreht die Augen. Dann nimmt er einen tiefen Schluck aus seiner Wasserflasche, macht sie anschließend wieder zu und verstaut sie in seinem Rucksack. »Warum fragst du ihn das nicht selbst, wenn es dich so brennend interessiert?« Er schlägt sich mit der flachen Hand vor die Stirn. »Ach, sorry, das dürfte schwierig werden. Ihr redet ja gar nicht miteinander.«

»Das stimmt nicht«, protestiere ich halbherzig. »Heute in der Cafeteria haben wir uns unterhalten.«

»So, so, unterhalten nennst du das also«, neckt mich Noah. »Dein Redefluss war ja wirklich kaum zu bremsen. Ich hatte schon Angst, du würdest den armen Kerl ohnmächtig quatschen.«

»Ja, mach dich ruhig über mich lustig. Ich weiß auch nicht, was da los war. Mir ist einfach nichts Brauchbares eingefallen. Totales Blackout.« Wie bei der letzten Deutscharbeit. Verärgert zucke ich mit den Schultern. Die ganze Sache frustriert mich. »Möchtest du vielleicht auch noch eine Bemerkung zu dem Ketchup machen, das ich an der Nase hatte? Na komm schon, immer raus damit. Dann haben wir das hinter uns.«

»Echt jetzt? Das war Ketchup?« Noah zwinkert mir zu. »Und ich hab gedacht, du hättest Nasenbluten.«

Mittlerweile ist die Ampel auf Grün umgesprungen, und wir überqueren die Straße.

Ich seufze tiefer, als ein Pottwal tauchen kann. »Oh Mann, seien wir ehrlich: Das mit Luke habe ich total verkackt.«

»Ich weiß sowieso nicht, was ihr Mädchen an dem so toll findet. Mal abgesehen von seiner Strandmatte natürlich.« Noah streicht sich mit einer affektierten Bewegung durch die Haare. Allerdings gibt es da nicht viel zu streichen, denn seine sind, im Gegensatz zu Lukes, ziemlich kurz. Dank diverser Wirbel sieht Noah immer so aus, als wäre er gerade erst aus dem Bett gekrabbelt. Früher hat er noch versucht, seine Haare zu bändigen. Mittlerweile hat er diesen Strubbellook jedoch mit Hilfe von Gel zu seinem Markenzeichen gemacht.

Noah schirmt seine Augen mit der Hand gegen die Sonne ab und tut, als würde er nach etwas Ausschau halten. »Hat jemand zufällig mein Surfbrett gesehen?«

Ach du Scheiße! Habe ich ihm etwa erzählt, dass ich neulich davon geträumt habe, wie Luke und ich uns am Strand begegnen? Und, ja, in diesem Traum hatte er tatsächlich ein Surfbrett unter dem Arm. Na und?

Aber auch wenn wir uns viel anvertrauen, das habe ich Noah garantiert nicht erzählt!

»Hör auf, du Blödmann!« Lachend boxe ich gegen seinen Oberarm.

»Aua!« Er tut, als hätte ich ihm wehgetan, obwohl ich genau weiß, dass mein Hieb für ihn kaum mehr als ein leichter Stups gewesen ist. Aber immerhin beendet er nun seine Baywatch-Parodie.

»Wie kommt es eigentlich, dass ihr heute zusammen mit Queen Chiara Mittag gegessen habt?«, will Noah wissen.

Ich zucke ratlos mit den Schultern. »Das wüsste ich auch gerne. Sie hat sich einfach zu uns gesetzt. Ich dachte, sie hätte sich vielleicht mit ihren Mädels gezofft, aber nach der Mittagspause waren sie wieder best friends.«

»Versteh mal einer die Weiber ...«, sagt Noah grinsend.

»Ach, und später, in der Mathestunde, hat Chiara sich während der Freiarbeit meinen Taschenrechner geliehen. Schon irgendwie merkwürdig.«

»Was ist merkwürdig daran, dass sie ihren Taschenrechner vergessen hat? Mir passiert das ständig.«

»Ja, schon. Aber sie hätte sich genauso gut Tessas Taschenrechner leihen können. Oder Leonies. Oder Annas, die hat wahrscheinlich nicht nur immer eine Batterie zum Wechseln, sondern sogar einen nagelneuen Ersatztaschenrechner dabei. Und dann hat Chiara während dieser ganzen Leihaktion auch noch so lange mit mir gequatscht, dass wir einen Anschiss kassiert haben.«

»Stimmt, wenn sich jemand freiwillig so lange mit dir unterhält, ist das schon merkwürdig«, sagt Noah und knufft mich freundschaftlich in die Seite.

»Ach, was soll's, ist ja auch egal«, erwidere ich, als wir gerade in unsere Straße einbiegen.

Im Gegensatz zu den meisten anderen Kindern habe ich schon im Sandkasten-Alter unsere Adresse auswendig gekannt. Sogar noch vor meinem Geburtsdatum. Einfach weil ich sie so schön fand. Habakukweg 3 –