Mein Sonnenkind - Hardy Schober - E-Book

Mein Sonnenkind E-Book

Hardy Schober

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  • Herausgeber: Südwest
  • Kategorie: Ratgeber
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2012
Beschreibung

Ein Vater im Kampf gegen die Waffenlobby und Killerspiele

11. März 2009 – der Tag, der Hardy Schobers Leben für immer verändert. Der Tag des Amoklaufs von Winnenden. Jana Schober, 15 Jahre, stirbt durch eine Kugel des Attentäters. Hardy Schober verliert die geliebte Tochter. Doch statt sich zurückzuziehen, tritt er an die Öffentlichkeit: Er gibt seine Tätigkeit als Finanzierungsberater auf, gründet das Aktionsbündnis Amoklauf Winnenden und wird Vorstand der Stiftung. Damit beginnt sein Kampf für sichere Schulen, gegen Killerspiele und die unsichtbare Macht der Waffenlobby. Offene Anfeindungen, Drohbriefe und persönliche Angriffe gehören nun zu seinem Leben. Aber er lässt sich nicht einschüchtern und engagiert sich weiterhin, damit eine solche Tat nicht noch einmal geschieht. Harry Schobers Buch ist die persönliche, ergreifende Geschichte eines Vaters, der berichtet, wie ihn der Tod der Tochter traf, wie er mit dem Schmerz umgeht und bis heute versucht, die unbegreifliche Tat zu verstehen.

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Seitenzahl: 268

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Dieses Buch sollte es nicht geben müssen. Es erzählt von einer der größten Katastrophen, die je an einer deutschen Schule passierten: dem Amoklauf von Winnenden. Durch das Buch werden unsere toten Kinder nicht wieder lebendig. Doch es soll dazu beitragen zu verhindern, dass ein ähnliches Unglück noch einmal geschieht. Die politisch Verantwortlichen haben bislang wenig dafür getan, dass diese Gefahr aus unserem Alltag verschwindet. Deshalb gibt es dieses Buch.

Inhaltsverzeichnis

Das Sonnenkind„Du schaffst es, Jana! Du kommst durch!“Eltern müssen draußen bleibenUnsere Hoffnung überlebte am längstenDer SchreiIm Raum der Stille„Wir haben alles getan, um das Leben Ihrer Tochter zu retten“„Warum reden wir über die Waffen?“In Janas Zimmer„Die Felixe dürfen nie alleine sein“Janas AuftragWenn der Tod eines Kindes zum Vermächtnis wirdSchlaflose NächteDie Stiftung gegen Gewalt an Schulen – Wie alles anfingBewusstseinswandel?Erste politische ReaktionenWir beginnen uns zu organisieren„Großkaliber schießen – das ist, als würden Sie einen Rennwagen fahren“„Wer nicht für uns ist, ist gegen uns“Wirklich eine Frage des Geldes?Aktion, nicht ReaktionGewalterfahrungen frei Haus: Ego-Shooter„Sie haben keine Chance. Die Politik ist durchsetzt mit Waffenliebhabern"Ein Statement für das AktionsbündnisDer Vater des MördersDer ProzessWie die Waffenlobby funktioniertMir san mirEine Politik der allzu ruhigen HandCodewort „Tigger“„Chillen wir mal?“„Es wurde Zeit, dass sich jemand darum kümmert“Eine ganz normale FamilieHass auf die WeltHäuserkampf im KinderzimmerDer Killerspiel-KillerDie schwarz-gelbe Lobby der SpieleindustrieErste ErfolgeDas Kostbarste, was wir haben: unsere KinderUnerwartete Unterstützung„Empört euch, beschwert euch, wehrt euch!“Ein vielstimmiges Plädoyer gegen WaffenVom Kampf zum SpielJahreswechselEine Initiative, die Mut machtNach dem Schock ist vor dem SchockViel Geld für viele WaffenEin zu hoher PreisWarum muss ich kämpfen?Gegen die WandFakt ist … was wir daraus machenDer Optimist und der Pessimist in mir„Nie wieder“EpilogDas Aktionsbündnis Amoklauf WinnendenQuellenCopyright

Das Sonnenkind

Drei Tage vor der Katastrophe sah ich meine Tochter zum letzten Mal. Es war Karnevalszeit – Fastnacht, wie man bei uns sagt –, eine Zeit des Vergnügens, der Freude, des Spaßes.

Jana war begeisterte Tänzerin bei den Gardemädchen der „Waiblinger Salathengste“. Unsere Heimatstadt Winnenden, nahe der baden-württembergischen Hauptstadt Stuttgart, gehört zum Einzugsbereich der schwäbisch-alemannischen Fastnacht oder „Fasnet“. Eine jahrhundertealte Tradition, ursprünglich entstanden, um den Menschen an den Tagen vor Beginn der Fastenzeit ihre Verstrickung mit der Sünde vor Augen zu führen. Inzwischen ist von dieser alten Bedeutung kaum noch etwas zu spüren – nur gelegentlich klingt sie noch an, etwa in der Redensart „Fasnet ist eine ernste Sache“.

Für Jana war die Fasnet natürlich vor allem ein großer Spaß. Ich nannte sie „mein Sonnenkind“, weil ihre Freude so ansteckend war. Gab es irgendwo Probleme – sei es in der Schule, im Verein oder auch mal zu Hause –, hatte sie die Fähigkeit, alles schnell ins Positive zu wenden. In der Fasnet hat der Narr ursprünglich die Aufgabe, durch seine Freude am Leben den Tod vergessen zu lassen. Das traf auch auf Jana zu. Sie verkörperte pure Lebensfreude.

Sicherlich dachte sie an diesem 8. März 2009 an alles, nur nicht an den Tod. Wahrscheinlich dachte sie daran, dass sie mit ihren Mädels einen vorderen Rang beim Tanzwettbewerb belegen wollte. Fünfzehn Gardetanzgruppen traten an, und tatsächlich belegte ihre Truppe am Ende einen tollen dritten Platz. Jana dachte auch an meinen alten Mercedes, mit dem sie sich gerne spazieren fahren ließ. Sie liebte dieses Auto und fragte mich, ob ich sie nach der Veranstaltung damit abholen würde.

„Den Mercedes darfst du nie verkaufen, Papa“, sagte sie. „Ich mag das Auto viel zu sehr.“

An was mag sie noch gedacht haben? Vielleicht an die Musik, zu der sie tanzen würde. Sie stammte von Falco, dem österreichischen Superstar, der 1998 ebenfalls einen frühen Tod gestorben war. Das Stück hieß „Der Kommissar“, und die Gardemädchen traten als Polizisten und Verbrecher auf. Sie hatten falsche Waffen dabei. Wie seltsam es sich anfühlt, wenn ich das heute aufschreibe. Entreißt einem der Tod jäh ein geliebtes Kind, stellt man sich ständig die Frage: Hätte ich das nicht im Vorhinein spüren müssen? Gab es nicht Zeichen, die ich hätte deuten können? Wäre das Unglück zu verhindern gewesen?

Für meine Frau Ulrike und mich war der Tag, an dem Jana ihren Wettbewerb hatte, ein Tag wie viele andere. Ulrike brachte Jana zum Bus, der von der Rundsporthalle Waiblingen starten sollte. Ich musste einen Termin auf dem Landratsamt wahrnehmen. Kurz zuvor hatte ich einen Katalysator in Janas Lieblingsauto einbauen lassen, nun wollte ich mir die Umweltplakette besorgen. Wie gesagt: Ein ganz gewöhnlicher Tag.

Zu dieser Zeit arbeitete ich als Selbstständiger in der Immobilienbranche. Ich hatte viel mit Baufinanzierungen zu tun, half Menschen, sich ein Eigenheim zu erwerben, oder verwaltete ihre Mietobjekte. Die Hälfte meiner Arbeitszeit verbrachte ich in Leipzig. Dort hatte ich eine kleine Zweitwohnung. Am Tag nach Janas Tanzveranstaltung würde ich mich wieder dorthin aufmachen. Winnenden – Leipzig, das bedeutete sechs Stunden Fahrzeit, falls der Verkehr auf den Autobahnen mitspielte.

Am Abend holte ich Jana wie versprochen mit dem Mercedes ab. Wie ein Wasserfall sprudelte es aus ihr heraus: Ganz großartig war die Tanzveranstaltung gewesen, die Mädels in Hochform, die Kostüme super, sie hatten eine Menge Spaß gehabt. Als wir zu Hause eintrafen, gähnte sie bereits.

„Ich glaube, ich schlafe jetzt erst mal zehn Stunden am Stück“, lachte sie. „Ich gehe gleich ins Bett.“

Ich gab ihr einen Gutenachtkuss, ohne zu wissen, dass ich sie nie wieder in die Arme schließen würde. Ohne zu wissen, dass sie bald tot sein würde.

„Du schaffst es, Jana! Du kommst durch!“

Am nächsten Morgen war ich schon früh auf den Beinen. Bei einer Autovermietung besorgte ich einen Smart, und noch bevor Ulrike, Jana und ihre Schwester Annabell aufgestanden waren, bog ich bereits auf die A 81 ein. Ich hatte Glück, kam glatt durch alle Nadelöhre hindurch und erreichte Leipzig kurz vor Mittag. Die Stadt hat mir schon immer sehr gefallen; ich mag die prächtigen Häuser wie etwa Barthels Hof oder Speck’s Hof, die der Innenstadt dieses charakteristische Bild einer Kaufmannsstadt verleihen. Und ich schätze die herzliche Freundlichkeit der Leipziger.

Gleich nach der Ankunft kümmerte ich mich um einen neuen Wagen, den ich kaufen wollte. Der alte Mercedes war eher ein Liebhaberstück, kein Familienauto, überhaupt nicht geeignet für längere Urlaubsfahrten oder Wochenendausflüge. Zwei Erwachsene, zwei Kinder und ein Hund brauchen ihren Platz, und so sah ich mir bei einem Händler im Stadtteil Wurzen einen Zweitwagen für uns, einen Renault, an. Wir wurden uns rasch handelseinig, und ich nahm mit dem neuen Wagen meinen nächsten Kundentermin wahr. Ein Haus kaufen oder verkaufen – das machen die meisten Menschen nur einmal im Leben. Deshalb braucht es seine Zeit und meist auch viele Gespräche. Eines davon stand nun an. Meine Kundin Sylvia Schuster wollte ihr Haus verkaufen und hatte einige Detailfragen. Da ich für sie die Baufinanzierung abgewickelt hatte, war ich mit ihrer Situation bereits vertraut. Wir waren inzwischen ganz gut miteinander bekannt. Nachdem das Geschäftliche vom Tisch war, tauschten wir uns über unsere Familien aus. Sylvia Schuster war Schneidermeisterin und fertigte Kostüme für die Kölner Karnevalsvereine an.

„Ist Ihre Tochter nicht auch in der Fasnet aktiv?“, wollte sie wissen.

Ich erzählte von Janas letztem Tanzauftritt. Das Publikum war von den Kostümen der Garde begeistert gewesen. Das hörte Sylvia Schuster gerne.

„Deshalb liebe ich meinen Beruf. Die ausgefallenen Ideen, die fantasievollen Kostüme. Obwohl es harte Arbeit ist, all die Pailletten auf die Kleider zu nähen.“

Wir sprachen noch eine Zeit lang über die abgelaufene Karnevalssaison am Rhein, dann verabschiedete ich mich. Ich ahnte nicht, dass wir uns schon am nächsten Tag wieder hören sollten. Dann würde sie nicht über Baufinanzierungen sprechen und auch nicht über den Karneval. Sondern über eine Sache, die so schrecklich ist, dass die meisten Menschen sie verdrängen: Ein Amoklauf an einer Schule. Der Amoklauf an Janas Schule.

Manche Menschen, heißt es, besitzen die Gabe der Vorsehung. Ob das ein Segen oder ein Fluch ist, ist schwer zu sagen. Vermutlich Letzteres, denn was bleibt uns übrig, als das Geschehene zu akzeptieren? Trotzdem bedaure ich heute noch, dass ich am Mittwoch, den 11. März 2009 um 9:33 Uhr, nicht spürte, was sich gerade in Winnenden ereignete, das bis dahin eine friedliche kleine Stadt gewesen war. Um diese Zeit saß ich in meinem neuen Auto und fuhr zurück zum Händler. Der Grund ist eine ganz eigene Ironie des Schicksals: Das Autoradio funktionierte nicht. Es benötigte einen Code, den der Händler mir nicht gegeben hatte. Die Folge war, dass ich nicht Radio hören konnte. So bekam ich nicht mit, wie überall in Deutschland Sendungen unterbrochen wurden für eine dramatische Sondermeldung: Ein Amoklauf an einer Schule in Süddeutschland. Eine Schießerei. Verletzte. Tote. Genaueres war noch nicht bekannt. Vom Informationschaos, das in diesen Minuten ausbrach, erfuhr ich erst später.

Dafür klingelte mein Telefon. Sylvia Schuster war dran, meine Kundin. Einen kurzen Moment lang dachte ich, dass ihr vielleicht noch eine amüsante Karnevalsanekdote eingefallen war oder ein Tipp für Janas neues Kleid. Doch ihre Stimme klang angespannt.

„Winnenden“, sagte sie, „da ist etwas passiert.“

In Winnenden passiert nie etwas. Nein, ganz so kann man das nicht sagen: Die Stadt liegt zwar im Windschatten von Stuttgart, ist aber mit ihren fast 28 000 Einwohnern ein lebendiger Ort mit viel Charme und hohem Freizeitwert. Außerdem ist Winnenden Schulzentrum mit gleich zwei Gymnasien und zwei Realschulen. Das Einzugsgebiet ist enorm: Gleich hinter der Stadt beginnt der Schwäbische Wald, ein ländliches Gebiet von beträchtlicher Größe. Kinder, die dort aufwachsen, gehen in Winnenden zur Schule: auf das Lessing-Gymnasium oder das Georg-Büchner-Gymnasium. Auf die Albertville-Realschule oder die Geschwister-Scholl-Realschule. Auf die Haselstein-Förderschule oder die Robert-Boehringer-Werkrealschule. Die vielen Kinder und Jugendlichen prägen das Ortsbild von Winnenden und geben der Stadt ein frisches, jugendliches Gesicht. „In Winnenden passiert nie etwas“ hieß bis zum 11. März 2009 so viel wie: In Winnenden passiert nie etwas Böses. Es schien einer der Orte zu sein, an denen die Welt noch in Ordnung ist. Heute wissen wir, dass es solche Orte nicht gibt. Dass selbst eine idyllische Stadt wie Winnenden sich von einer Sekunde auf die andere in eine Hölle verwandeln kann. Dass das überall wieder passieren kann, zu jeder Zeit an jedem Ort in Deutschland.

„Winnenden“, wiederholte Sylvia Schuster. Ihre Stimme zitterte jetzt, „da ist ein Amoklauf.“

Amoklauf. Dieses Wort hat sich in mein Gehirn eingebrannt wie ein dunkler Fleck. Er lässt sich nie mehr entfernen, von diesem Augenblick an bis in alle Ewigkeit. Dieser Fleck ist dazu da, mich immer wieder daran zu erinnern, dass an jenem 11. März unschuldige Menschen sterben mussten. Er ruft mir schmerzhaft ins Gedächtnis, dass ein Amoklauf jederzeit wieder passieren kann. Dass wir das, was geschehen ist, hätten verhindern können. Dass so etwas sich nie wieder ereignen darf.

Sylvia Schuster schwieg. Ich bog inzwischen auf das Gelände des Händlers ein.

„Was für ein Amoklauf?“, fragte ich.

Meine Gedanken rasten. Es ist geradezu unheimlich, wie viel einem Menschen im Bruchteil einer Sekunde durch den Kopf gehen kann. Zuerst der Unglaube: Das kann nicht sein, doch nicht bei uns, nicht in Winnenden! Dann die Angst: Aber meinen Töchtern geht es gut? Dann die Panik: Ich muss mehr wissen, ich brauche Informationen! Sylvia konnte mir da nicht weiterhelfen. Sie wusste auch nicht mehr. Wir beendeten das Gespräch. Und ausgerechnet jetzt funktionierte das Radio nicht!

Wieder klingelte mein Handy. Es war Ulrike, meine Frau. Ihre Stimme war fest, obwohl sie Schreckliches zu berichten hatte.

„Jana wurde angeschossen“, sagte sie. „Und drei ihrer Freundinnen, die neben ihr in der Bank saßen.“

Ich weiß nicht mehr, wie unser Gespräch weiterverlief. Fragte ich nach dem Wer, nach dem Warum? Ulrike erinnert sich auch nicht mehr. Vermutlich sagte sie: „Ich fahre sofort zur Schule.“ Vermutlich sagte ich: „Ich fahre sofort nach Hause.“ Sicher kann ich mir nicht sein. Ich weiß nur noch, dass ich kurz darauf in meiner kleinen Wohnung stand. Ich weiß, dass ich sorgfältig die Fenster schloss. Den Müll trug ich nicht hinaus, er war noch da, als ich ein halbes Jahr später wiederkam.

Dann war ich auf der Autobahn. Ich forderte dem Renault alles ab, was er unter der Motorhaube hatte. Ich brach sämtliche Verkehrsregeln. Ich schrie: „Halt durch, Jana, halt durch! Ich komme! Ich bin unterwegs!“

Ich klammerte mich an den Gedanken, dass Jana durchtrainiert war. Dass sie nie krank war. Dass sie stark war.

Ich schrie: „Du schaffst es, Jana! Du kommst durch!“, und trat das Gaspedal bis ans Bodenblech.

Es war die längste Fahrt meines Lebens, obwohl ich die Strecke noch nie so schnell zurückgelegt hatte. Als ich Winnenden erreichte, war dort das Chaos ausgebrochen.

Eltern müssen draußen bleiben

Wir leben in einer Zeit, die von Filmen geprägt ist. Passiert in einem Film ein Unglück, kommt irgendwann der Held der Geschichte und bringt Ordnung in die Unordnung. Im wirklichen Leben sieht das anders aus. Wir sind es nicht gewohnt, mit Situationen umzugehen, die wir nie zuvor erlebt haben. Auch die Polizei, die Feuerwehr, das Technische Hilfswerk (THW), die Sanitäter, Seelsorger und Psychologen können die Folgen eines Amoklaufs nicht üben. Niemand wusste, wie mit solch einer Situation umzugehen war. An diesem 11. März 2009 in Winnenden verhielten sich manche Menschen wie Helden. Andere versagten. Keinem ist ein Vorwurf zu machen. Denn alle begannen den Tag wie ich – den Kopf voller Pläne für den Alltag. Mit Ausnahme des Täters hatte niemand sich an diesem Morgen Gedanken über ein Massaker gemacht.

Während ich über die Autobahn raste, telefonierte ich unentwegt. Ulrike wusste nicht, wohin man die verletzten Kinder gebracht hatte. Keiner schien es zu wissen. Es gibt Dutzende Krankenhäuser rund um Winnenden und noch mehr in Stuttgart. Ich rief eine Bekannte im Krankenhaus Waiblingen an, unserer Nachbargemeinde, dann einen Kollegen aus dem Sportverein, der bei der Polizei arbeitete. Sie versprachen nachzuforschen und schnellstens zurückzurufen. Bald stellte sich heraus: Niemand will etwas sagen. Stattdessen gab es unzählige Gerüchte. Furchtbare Gerüchte. Einige Kinder seien tot. Der Täter auf der Flucht. Nein, nicht auf der Flucht, noch in der Schule. Nein, nicht in der Schule, unterwegs im Auto. Nein, nicht in einem Auto, zu Fuß. Er habe Geiseln genommen. Es sei zu einem Feuergefecht mit der Polizei gekommen.

Es gibt kaum etwas Schlimmeres, als ohne verlässliche Informationen zu sein. Um 15 :15 Uhr kam ich in Winnenden an. Ich fuhr Richtung Hermann-Schwab-Halle, die nur 150 Meter von der Albertville-Realschule entfernt ist. Die Stadt sah aus wie ein Kriegsschauplatz. Ein Jahr später, bei der ersten Gedenkfeier, sollte Ralf Michelfelder, der Leiter der Waiblinger Polizeidirektion, in einer Pressemitteilung sagen: „Wir wollen keine optische Wiederholung des 11. März 2009.“ Das Bild, das sich mir bot, war schockierend: Überall wimmelte es von schwer bewaffneten Beamten. Auf der Fahrt hatte ich immer wieder versucht, mir einzureden, dass es vielleicht doch nicht so schlimm sei. Jetzt bestätigten sich meine schlimmsten Befürchtungen: In Winnenden war der Super-GAU passiert, der schlimmste anzunehmende Unfall. Trotzdem klammerte ich mich an einen Gedanken: Jana war stark, Jana würde überleben! Mittlerweile redete man von einem Dutzend Toten, und in den Gerüchten stieg die Zahl der Opfer von Stunde zu Stunde. Ein schwer verletztes Kind werde gerade im Helikopter ins Stuttgarter Katharinenhospital ausgeflogen, hieß es. War es Jana? Ich rief in Stuttgart an. Wir wissen von nichts, sagte man dort, tut uns leid. Nochmals klapperte ich alle Krankenhäuser telefonisch ab: Winnenden, Waiblingen, Backnang, Schorndorf. Überall dasselbe Resultat: Nichts, nichts, nichts!

Vielleicht wissen die anderen Schüler etwas? Einige von ihnen sollen im Hallenbad ausharren, hieß es. Denn es drohe Gefahr. Der Täter sei noch immer auf der Flucht; nein, er ist gefasst; ist er nicht; doch, ist er. Jemand schreit, der Täter schieße auf ein Ladengeschäft. Er tötet schon wieder! Er knallt alles ab, was sich bewegt! Vielleicht kommt er zurück! Panik bricht aus.

Soll ich im Hallenbad nach Jana suchen? Oder in anderen Schulen? Einige Kinder wurden dorthin evakuiert. Eine neue Meldung: Ein vermisstes Kind wurde gefunden, die Eltern schließen es überglücklich in die Arme. Andere Eltern, die weiter bangen und vor Angst schon fast wahnsinnig sind, freuen sich mit.

Ich machte mich auf zur Albertville-Realschule. Keiner darf sie betreten. Mit „keiner“ sind allerdings nur die Eltern gemeint. Der baden-württembergische Innenminister, der Bürgermeister und andere Politiker, auf die schon Fernsehkameras warten, gehören nicht zu „keiner“. Sie dürfen rein. Sie haben auch keine Kinder verloren. Eltern aber müssen draußen bleiben. Die Polizei sperrt uns aus.

Wieder rief ich Ulrike an: „Wo bist du?“

„In der Hermann-Schwab-Halle.“

Dort richteten Einsatzkräfte und Sanitäter ein Lagezentrum ein. Ich kam nicht durch, ließ irgendwann das Auto auf der Straße stehen. Noch mehr Polizei vor der Halle. Ein Polizist hielt mich zurück: „Sie dürfen nicht rein!“

Ich versuchte zu erklären, dass meine Tochter verletzt sei und meine Frau drinnen auf mich warte. Er glaubte mir nicht. Alle waren total verunsichert. Irgendwo da draußen war noch immer ein bewaffneter Mensch unterwegs, ohne Skrupel und entschlossen zu töten. Alles, was wir bis dahin als Lebensordnung gekannt hatten, brach in wenigen Augenblicken in sich zusammen.

Ich erklärte es dem Mann nochmals. Meine Tochter. Verletzt. Meine Frau. Da drin. Endlich ließ er mich durch. Ich rannte auf die Halle zu, betrat sie, schrak zurück: Was war das? Weshalb die Stellwände? Die Halle sah aus wie eine Seuchenstation. Ich wusste nicht, dass sich hinter den Stellwänden psychologische Betreuer fieberhaft um Angehörige bemühten.

„Hardy!“

Der Schrei gellte durch die Halle. Ich erkannte die Stimme, natürlich erkannte ich die Stimme, sie gehörte Ulrike. Ich sah mich um. Sie lief auf mich zu. Auf einmal war ich umringt von Polizisten. Zwei Beamte fassten mich an den Armen, führten mich von ihr weg.

„Ulrike!“, rief ich, dann sah ich sie nicht mehr. Immer mehr Menschen drängten sich zwischen uns.

Die Beamten führten mich hinter eine der Stellwände. Sie redeten auf mich ein. Ich verstand nicht, was sie sagten. Ich verstand nur den einen Satz: Jana ist ihren Verletzungen erlegen.

Sie lebt nicht mehr.

Sie ist tot.

Jana ist tot.

Meine Tochter wurde 15 Jahre alt. Sie musste sterben, weil ein Waffennarr seine Beretta-Pistole im Haus herumliegen ließ. Sie musste sterben, weil dort auch jede Menge Munition herumlag. Sie musste sterben, weil der Sohn des Hauses die Pistole an sich nahm und Amok lief. So einfach ist das. Und so unbegreiflich.

Der 17-jährige Amokläufer ermordete außer Jana acht weitere Schüler, drei Lehrer, drei Passanten. Dann erschoss er sich selbst.

Das alles wusste ich noch nicht, als die Polizisten mich hinter die Stellwand zerrten. Keiner wusste es zu diesem Zeitpunkt.

In diesem Augenblick wusste ich nur: Jana ist tot. Sie ist tot. Sie hat es nicht geschafft.

Meine Frau durfte es mir nicht sagen. Sie wusste es schon seit einer Viertelstunde, und die Polizisten waren besorgt: „Wie wird ihr Mann reagieren?“ [Ref. 1]

Inmitten des Chaos entschied die Polizei, dass es ihre Sache war, dem Vater die traurige Mitteilung zu machen.

Kurz nach dem Amoklauf begann sich die Sportschützenlobby zu formieren. Sie wusste, was auf sie zukommen würde: die Forderung, das Waffengesetz zu verschärfen. Sie war geübt darin, solche Angriffe abzuwehren. Das Beste war, selbst in die Offensive zu gehen.

Einer der rührigsten Waffenlobbyisten, der FDP-Bundestagsabgeordnete Hartfrid Wolff, sagte im Deutschen Bundestag: „Nicht zuerst die Waffe ist das Problem, sondern der Mensch, der sie einsetzt.“ Ins selbe Horn stieß FDP-Mann Serkan Tören. Auf diese Aussage hatte sich die Waffenlobby verständigt. Die Waffe ist nicht das Problem. Mit anderen Worten: Wir können nichts dafür.

Doch dieses Mal konnten sich die Lobbyisten nicht so einfach aus der Sache herausstehlen. Schon bald nach dem Massaker erfuhren die Menschen in Deutschland, dass zwei Millionen Schützen mehr als sieben Millionen einsatzfähiger Schusswaffen gehortet hatten. Bis dahin waren wir alle der Meinung gewesen, dass die US-Amerikaner Weltmeister im Waffensammeln sind und hier in Europa allenfalls noch die Schweizer. Nun lernte eine fassungslose Mehrheit, dass mitten unter uns bis an die Zähne bewaffnete Menschen leben. Und dass viele von ihnen ihre Waffen und Munition äußerst fahrlässig aufbewahren.

Den Vertretern der Waffenlobby war das gleichgültig. Dafür wurden sie auch nicht bezahlt. Sie wurden für ihre Propaganda bezahlt. Unermüdlich wiederholten sie ihre immer gleiche Botschaft: Es ist der Mensch, nie die Waffe. Wir können nichts dafür. Deshalb braucht an den bestehenden Gesetzen nichts geändert zu werden. Wir wollen schießen und wir werden schießen, und wenn euch das nicht passt, dann …

Anfänglich blieben diese Drohungen noch vage. Heute sind sie das schon lange nicht mehr. Wer sich mit der Waffenlobby anlegt, bekommt täglich E-Mails: „Lass diesen Unsinn, Schober, oder irgendeiner wird sich an dir rächen.“ „In anderen Ländern hätte man dich längst exekutiert, in Deutschland geht das leider etwas länger.“ [Ref.2]

Wird nicht gedroht, verlegt man sich aufs Jammern. Als wären nicht die Eltern der toten Kinder die Leidtragenden, sondern die Waffenbesitzer. „An den blutigen Amoklauf von Winnenden hat sich nahtlos ein weiterer Amoklauf angeschlossen: Der Amoklauf gegen die Besitzer legaler Waffen“, beklagte sich Georg Zakrajsek, Generalsekretär der Interessengemeinschaft liberales Waffenrecht in Österreich. Ich stand diesen unnachgiebig vertretenen Ansichten ebenso entsetzt gegenüber wie Millionen anderer Deutscher, die ihren Lebensinhalt nicht beim Schießen finden. Wie kann man so kalt und herzlos argumentieren?, fragten wir uns. Keiner von diesen Menschen hat sein Kind verloren. Mein Kind aber ist tot. Jana ist tot. Wenn dieser sinnlose Tod einen Sinn machen soll, dann nur, indem wir verhindern, dass ein ähnliches Massaker noch einmal passiert.

Natürlich kam dieser Gedanke erst später. Erst einmal stand ich da, umringt von Polizisten. Sie hatten gesagt, was sie zu sagen hatten, jetzt wussten sie auch nicht weiter.

Ich habe keine Ahnung mehr, was ich in diesem Augenblick dachte, ganz sicher aber nicht, dass ich schon bald mit einem Aktionsbündnis an die Öffentlichkeit treten würde, um den Waffenwahnsinn zu stoppen. Doch dies war der auslösende Moment – die unheimliche Atmosphäre in der Hermann-Schwab-Halle in Winnenden, inmitten weinender und schluchzender Eltern, umgeben von Polizisten, Sanitätern und Seelsorgern, die an diesem Tag ihr Bestes gaben und doch so wenig tun konnten. Und alles das, weil am Morgen ein 17-jähriger Junge mit der Waffe seines Vaters aufgebrochen war, um ein Massaker zu verüben.

Unsere Hoffnung überlebte am längsten

Ein Klassenzimmer. Hinten die Tür, vorne die Tafel mit dem Lehrer oder der Lehrerin, dazwischen Bänke mit Schülerinnen und Schülern. Eine Szene, die sich in Deutschland und vielen anderen Ländern jeden Tag unzählige Male abspielt. Egal, welcher Schultyp oder welche Klassenstufe  – so sieht Schule aus, seit jeher. Die Institution Schule ist im Wandel, heißt es oft, aber manches bleibt gleich. Bestimmte Dinge sollen sich auch nicht wandeln: Dass unsere Kinder morgens zur Schule gehen und danach heil und gesund nach Hause kommen, ist ein ungeschriebenes Gesetz. Darauf verlassen sich in Deutschland alle Eltern. Sie verlassen sich so fest darauf, dass sie sich gar nicht vorstellen können, es könnte anders sein.

Auch Ulrike und ich und die anderen betroffenen Eltern des Amoklaufs von Winnenden haben sich darüber nie groß den Kopf zerbrochen. Im Sportunterricht kann es Unfälle geben, das weiß man. Auf dem Pausenhof kann ein Streit ausbrechen. Es gibt Schulen in sozialen Brennpunkten, in denen die Welt nicht so friedlich ist wie in Winnenden. Auch davon haben wir gehört. Doch selbst dort wachen Eltern nicht mit dem Gedanken auf, dass man ihren Kindern während der Schulstunden in den Kopf schießen wird. Dass ihre Tochter die sterbende Banknachbarin im Arm hält, während der Täter schon auf sie zielt. Würden Eltern so etwas ernsthaft befürchten, schickten sie ihre Kinder nicht mehr zur Schule. Das gilt auch für Eltern, die selbst Waffen zu Hause haben. Anderenfalls bräche das Bildungssystem in sich zusammen. Keine Schulausbildung. Keinen Beruf. Deutschland schafft sich ab, und dieses Mal wirklich.

Doch wir schicken unsere Kinder zur Schule. Trotz der Amokläufe von Erfurt, Emsdetten und Winnenden, trotz ernst zu nehmender Drohungen von Nachahmern und mit dem Wissen, dass jeden Tag etwas Ähnliches passieren kann. Auch Ulrike und ich schicken unsere Tochter Annabell in die Schule. Die Psychologen nennen es Verdrängung. Die Soziologen sprechen von Fatalismus. Wir Eltern sagen: Was bleibt uns anderes übrig?

Helfen kann nur eines: die Gewissheit, dass unsere Kinder in der Schule tatsächlich sicher sind. Brauchen wir dazu Wachtposten vor den Schulen? Oder Metalldetektoren wie am Flughafen? Abgeschlossene Türen oder Klinken, die sich von außen nicht bewegen lassen? Oder ist es an der Zeit, das Übel an der Wurzel zu packen und dafür zu sorgen, dass in Privathaushalten keine großkalibrigen Kurzwaffen herumliegen?

Denn nur deshalb geschah, was geschehen ist: Ein Klassenzimmer. Hinten die Tür, vorne die Tafel, dazwischen Bänke mit unseren Kindern. Jana sitzt in der letzten Reihe, neben ihren Freundinnen Chantal, Krissi und Elena, genannt Eli. Plötzlich geht die Tür auf. Tim Kretschmer tritt herein. Er schießt in die Decke. Dann schießt er auf die Mädchen. Chantal und Krissi werden getroffen. Sie sind auf der Stelle tot. Elena erleidet Durchschüsse im Arm. Einen weiteren an der Schulter. Einen Streifschuss am Hals. Der Schuss in die Schulter wirft sie vom Stuhl. Deshalb trifft Tim Kretschmer sie nicht in den Kopf. Jana sieht zu Eli hinüber. Das weiß man, weil alle Schusswinkel penibel nachgemessen wurden. Die letzte Kugel im Magazin trifft meine Tochter in den Kopf. Es ist ein Durchschuss – hinten rechts tritt das Projektil ein, vorne links tritt es heraus. Es verletzt auf seiner weiteren Bahn noch andere Schüler.

Jana wird zu Boden geschleudert. Sie blutet stark. Eli schafft es trotz schwerster Verletzungen, mit dem Handy ihre Mutter anzurufen. Ihre Mutter ruft Elis Oma an, die bei uns im Haus wohnt. Diese läuft die Treppe hoch, alarmiert meine Frau. „Fahr schnell zur Schule“, sagt sie. „Da ist was passiert.“

Tim Kretschmers erste Attacke in Janas Klassenzimmer hat nur kurz gedauert. Als er den Raum verlässt, reagiert Janas Lehrerin Marie-Luise Braun. Sie läuft hinter ihm her und verriegelt die Tür von innen. Gerade will der Mörder erneut herein. Er hat nachgeladen und möchte zu Ende bringen, was er begonnen hat. Er will weiter töten. Doch der Zugang ist versperrt. Tim Kretschmer hebt die Beretta seines Vaters und feuert durch die Tür. Er trifft Marie-Luise Braun. Er feuert noch einmal. Und noch einmal. Dann läuft er weiter.

In den Räumen der Schulleitung muss Astrid Hahn die Schüsse gehört haben. Was tut eine Schulleiterin in solch einem Augenblick? Auch Astrid Hahn wachte am 11. März 2009 nicht mit dem Gedanken an ein Massaker in ihrer Schule auf. Auch sie ist nicht vorbereitet.

Von Astrid Hahn ist nicht bekannt, dass sie persönlich nachgesehen hat, was los ist. Allerdings wurden zwei Referendarinnen von Tim Kretschmer erschossen. Nie geklärt wurde, wer ihnen den Auftrag erteilt hatte, nach dem Rechten zu sehen. Ihre Verletzungen werden später von Gerichtsmediziner Dr. Heinz-Dieter Wehner folgendermaßen dokumentiert: „Schwere Zerstörungen im Bauchbereich. Zerfetzung des Lebergewebes. Trümmerfrakturen des Brustwirbelkörpers. Verletzungen, die mit dem Leben nicht vereinbar sind.“ Verletzungen, die mit dem Leben nicht vereinbar sind.

An diesem Tag werden Menschen zu Helden. Andere Menschen mutmaßlich nicht. Trotzdem werden Letztere später von der Politik ausgezeichnet. Astrid Hahn erhält das Bundesverdienstkreuz. Marie-Luise Braun wird nicht einmal erwähnt. Auch nach dem Amoklauf von Winnenden bleibt der Mensch, was er ist: unberechenbar.

Nachdem Ulrike von Elenas Oma alarmiert worden war, fuhr sie sofort zur Schule. Dort kursierten bereits die wildesten Gerüchte: Verletzte, Tote, der Täter noch im Haus, nein, unterwegs … von Jana erfuhr Ulrike nichts. Sie erfuhr nicht, dass Jana noch lebte. Tatsächlich hat sie von allen Todesopfern noch am längsten gelebt. Jana starb um 11:33 Uhr, auf die Minute genau zwei Stunden nachdem der Mörder das Feuer eröffnet hatte. Eine halbe Stunde später, um 12 Uhr, ließ man Ulrike wissen, dass Jana verletzt sei. Die Hoffnung, unsere Tochter könnte überlebt haben, hielt länger als die Wirklichkeit.

Der Schrei

Nachdem die Polizisten mir in der Hermann-Schwab-Halle vom Tod meiner Tochter berichtet hatten, wollte ich niemanden sehen. Ich wollte keinen Trost, ich wollte kein „Du Armer“, ich wollte nur weg. Ich verließ die Halle, lief ziellos umher. Mir war nicht klar, ob das, was ich erlebte, wirklich war oder nur ein Albtraum. Ich wusste, mein Leben würde nie mehr sein wie zuvor, und schob den Gedanken sofort wieder weg. Dann kam ein neuer Gedanke: Das, was gerade passiert, wünsche ich niemandem, nicht einmal meinem ärgsten Feind.

Während ich dies aufschreibe, frage ich mich, ob dieser Gedanke irgendeine Art von Vorsehung war. Vor dem 11. März 2009 hatte ich keine Feinde. Inzwischen ist das ganz anders. Und selbst wenn mir heute ein „aufmerksamer Beobachter“ schreibt: „Herr Schober, ich wünsche Ihnen von Herzen, dass Sie eines Tages durchsiebt aufgefunden werden“, denke ich: Nein! Solch eine schreckliche Erfahrung soll niemand durchmachen müssen. Auch kein Waffennarr und kein Waffenlobbyist. Auch nicht der „aufmerksame Beobachter“.

An jenem 11. März war mir noch nicht klar, wie oft ich diesen Gedanken würde denken müssen. Wie oft mir andere Menschen den Tod wünschen oder mir den Tod meiner eigenen Tochter anlasten würden. Wie oft ich hasserfüllte E-Mails, Briefe und Anrufe erhalten sollte, nur weil ich öffentlich sage: Faustfeuerwaffen haben in Privathaushalten nichts zu suchen. Weil ich sage: Privatpersonen dürfen keine großkalibrigen Kurzwaffen besitzen.

Wer immer mir mit Hass begegnet, weil ihm die Wahrheit nicht gefällt, wird sich am Ende der Verantwortung nicht entziehen können. Die Waffenlobby kommt um ihre Verantwortung nicht herum. Das war, was mir durch den Kopf ging, die erste Viertelstunde nach der Nachricht von Janas Tod: Wir Erwachsenen haben Verantwortung gegenüber den Kindern. Wenn sie Fahrrad fahren, setzen wir ihnen einen Helm auf. Wenn sie Ski fahren, tun wir das auch. Gehen sie abends aus, holen wir sie ab. Wir tun alles, was wir können, damit sie sicher durchs Leben kommen. Doch Helmaufziehen genügt nicht mehr. Abholen nach der Disco auch nicht. Der Tod lauert jetzt an anderen Orten. Der Mörder kommt direkt in die Schule. Und das nicht in einer großen Stadt, sondern in der beschaulichen Idylle einer Kleinstadt im „Musterländle“ Baden-Württemberg, wo doch die Welt eigentlich noch in Ordnung ist. Idylle ist auch nur ein anderes Wort für Lüge. Wie viele andere Menschen bin auch ich erst nach dem Massaker aufgewacht. Seither lassen wir uns nicht mehr mit den üblichen Beschwichtigungsformeln besänftigen. Seither pochen wir auf Veränderung.

Ich blieb eine Viertelstunde für mich allein, erst dann konnte ich andere Menschen zu mir lassen. Später stellte sich heraus, dass ich sogar Ulrike zurückgewiesen hatte. Daran habe ich keine Erinnerung. Ulrike, ohnehin eine starke Persönlichkeit, war zu diesem Zeitpunkt gefestigter als ich.

Obwohl ich nicht rauche, verspürte ich den Wunsch nach einer Zigarette. Eine Notfallseelsorgerin besorgte mir eine. Sie hieß Annette Kautz und war Ulrike und mir zugeteilt. Wie viele andere Menschen aus diesen ersten schweren Stunden wurde auch sie eine enge Freundin der Familie und später Mitglied im Förderverein. Keiner, der an diesem Tag dabei war, konnte sein Leben einfach so weiterleben. Alle sind erfüllt von der Überzeugung, dass sich etwas ändern muss. Selbst unseren hartnäckigsten Gegnern würde es nicht anders ergehen. Wären sie dabei gewesen, könnten wir sie heute im Aktionsbündnis begrüßen, dessen bin ich mir ganz sicher. Doch sie hatten Glück, sie mussten nicht dabei sein, das Massaker und seine Folgen nicht am eigenen Leib erfahren. Daher ist es unsere Aufgabe, sie mit Worten zu überzeugen, was schwer genug ist, doch nicht aussichtslos.

Auch mir halfen damals Worte. Annette Kautz stellte mir einfache Fragen, zum Beispiel, wie die Fahrt von Leipzig nach Winnenden gewesen sei. Es tat gut, über etwas anderes als den Amoklauf zu sprechen, sich dem Unbegreiflichen nur ganz langsam anzunähern. Nach und nach erfuhr ich, dass Jana ins Krankenhaus nach Ludwigsburg gebracht worden war – das einzige Krankenhaus, das ich bei meiner hektischen Telefonaktion ausgelassen hatte. Dort war sie gestorben.

„Ich will sie sehen“, sagte ich.

Ein Polizist, der in der Nähe stand, antwortete: „Das ist unmöglich.“

Wieder diese Botschaft: Eltern müssen draußen bleiben. Für mich aber war klar: Egal, wie viele Uniformierte und sonstige Autoritäten derselben Meinung waren – ich würde mich darüber hinwegsetzen. Ich würde meine Tochter noch einmal sehen. Ich würde Jana besuchen.

Um uns herum summte es wie in einem Bienenstock. Eine frühere Lehrerin von Jana stieß dazu. Sie hatte nähere Informationen, was passiert war. Durch sie erfuhren wir, dass der Mörder nicht nur Janas neunte Klasse, sondern auch die zehnte Klasse heimgesucht hatte. Allmählich fiel ich in eine Art Trance. Es geschah so vieles gleichzeitig, dass ich es nicht mehr aufnehmen konnte. Ich sah in die Gesichter anderer Eltern. Mitleid wallte auf, obwohl ich selbst untröstlich war.