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Rainer Magulski , Jahrgang 1941, Kriminaloberrat a.D. hat 1987 seinen Traumberuf (zuletzt 9 Jahre Leiter Kripo Konstanz/Bodensee) aus politischem Protest aufgegeben, um sich selbst treu zu bleiben. Der Sammelband "Mein weiter Weg zum Projekt Welbürger21" enthält alle Werke, die seine weite Gedanken- und Autoren-Wegstrecke bis hin zum Projekt Weltbürger21 markieren. Beim Anblick der problematischen politischen Verhältnisse auf der derzeitigen Weltbühne sieht er das als seine Antwort. In den Büchern leistet er sich, wie er schreibt, als kleiner Kriminalist große Gedanken über Gott und die Welt. Die Sammelband-Leserschaft erwarten diese Bücher, von denen die ersten drei als Einzelexemplare vergriffen sind: "Die WUD ist da oder wie eine Traumpartei entsteht" hat er 1985 als kleinen Protestroman geschrieben, der heute wieder eine gewisse Berechtigung hat; "Mensch, das Prinzip Partnerschaft" hat er 2001 verfasst, um seine Überlegungen besser mit anderen Interessierten diskutieren zu können; "Ein heftiger Herzstich" ist die wahre Fallgeschichte seines ersten großen Kriminalfalls, den er 1970 als junger Kriminalkommissar in Kehl bearbeitet hat. Erst 40 Jahre nach Aburteilung hat er den Fall nachrecherchiert, weil eine wichtige Frage nicht geklärt war. Im Dialog mit dem verurteilten Täter ist es ihm im Interesse der Opferfamilie gelungen, endlich die ganze Wahrheit zu erfahren. In der Fallschilderung wird auch deutlich, wie Rainer Magulski als Kriminalist gearbeitet hat und denkt. "Wirklichkeit und Traum" ist seine Autobiografie. In ihr hat er 2011/2016 versucht, seine persönliche und berufliche Entwicklung als Wirklichkeit selbstkritisch zu reflektieren, damit Interessierte an seinem (Traum-) Projekt ihn besser einschätzen können."Eddas Lebenszeichen" ist eine fiktive Kriminalgeschichte. Darin hat er seine Vorstellungen zum Projekt Weltbürger21 eingebunden.
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Seitenzahl: 1068
Veröffentlichungsjahr: 2017
Rainer Magulski
Sammelband
© 2017 Rainer Magulski
Umschlag, Innenteil-Koordination: Angela Herold, Herold-Design
Bilder, Illustration: Marianne Magulski und Autor
Verlag: tredition GmbH, Hamburg
ISBN
Paperback
978-3-7439-0649-5
e-Book
978-3-7345-9167-9
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.
Gewidmet allen friedliebenden und partnerschaftlich denkenden Weltbürgern im 21. Jahrhundert
Vorwort
Der Sammelband enthält alle Werke, die meine weite Gedanken- und Autoren-Wegstrecke bis hin zumProjekt Weltbürgernmarkieren. Dies ist auch meine Antwort auf die problematischen politischen Verhältnisse auf der derzeitigen Weltbühne. In den Büchern leiste ich mir als kleiner Kriminalist große Gedanken über Gott und die Welt. Ich bin froh, meinen Weg selbstbestimmt gegangen zu sein und so meine Ohnmachtsgefuhle überwunden zu haben.
Den Leser erwarten diese Bücher:
Die WUD ist da oder wie eine Traumpartei entstehthabe ich 1985 als kleinen Protestroman geschrieben, der in unseren unruhigen Umbruchzeiten wieder eine gewisse Berechtigung hat.
Mensch, das Prinzip Partnerschafthabe ich2001verfasst, um meine Überlegungen mit anderen Interessierten besser diskutieren zu können.
Ein heftiger Herzstichist die wahre Fallgeschichte meines ersten großen Kriminalfalls, den ich 1970 als junger Kriminalkommissar bearbeitet habe. Erst 40 Jahre nach der Aburteilung habe ich den Fall nachrecherchiert, weil eine wichtige Frage trotz gerichtlichem Urteilsspruch nicht geklärt war. Im Dialog mit dem verurteilten Täter ist es im Interesse der Opferfamilie gelungen, endlich die ganze Wahrheit zu erfahren. In der Fallschilderung wird auch deutlich, wie ich als Kriminalist denke.
Wirklichkeit und Traumist meine Autobiografie. In ihr habe ich 2011/2016 versucht, meine persönliche/berufliche Entwicklung als Wirklichkeit selbstkritisch zu reflektieren, damit Interessierte an meinem (Traum-) Projekt mich besser einschätzen können.
Eddas Lebenszeichenist eine fiktive Kriminalgeschichte. Darin habe ich auch meine Vorstellungen zum Projekt Weltbürger 21 eingebunden. Für den Leser bleibt es hoffentlich spannend, obwohl er immer orientiert ist, wie die Protagonisten (Opfer, Täter, Angehörige, Sicherheitsberater, Kriminalpolizei) denken, träumen und handeln - und was sie erleben.
Allensbach, im Frühjahr 2017
Rainer Magulski
Rainer Magulski
oder wie eine Traumpartei entsteht
Dem kritischen Wähler zur Hoffnung Den Parteien zur Besinnung
In meiner Empörung wegen des Parteispendenskandals weiss ich mich mit vielen Menschen über alle unterschiedlichen politischen Positionen hinweg einig. Viele Gespräche in letzter Zeit haben das gezeigt.
Die in diesen Tagen bekannt gewordenen Geldzuwendungen des Bundesverbandes der Pharmazeutischen Industrie und der Versicherungswirtschaft an Parteifunktionäre und Politiker sowie Millionenspenden des Zigarettenkonzems Reemtsma über die so genannten 'Spendenwaschanlagen' an etablierte Parteien werfen einen weiteren langen Schatten auf die Glaubwürdigkeit in unserer parlamentarischen Demokratie. Und die Pressemeldungen darüber werden immer kleiner. Gewöhnung?
Mit diesem autobiographischen Protest-Roman, in welchem ich einige Gedanken und Ereignisse von über zwei Jahren in das Erleben von wenigen Stunden zusammenfasse, will ich mich nicht auf ein fragwürdiges moralisches Podest stellen. Auch deshalb enthält das Buch Bekenntnisse, die mich selbst angreifbar machen.
Mit der schwachen Stimme eines Wählers lässt sich auf den Parteispenden-Skandal und vor allem auf seine ungenügende Bewältigung nicht ausreichend reagieren. Für mich war dieses Buch als Wähler und Polizeibeamter die einzige Möglichkeit, nicht nur meinen Protest, sondern auch konstruktive Überlegungen auszudrücken.
Die Namen der erwähnten Personen der Zeitgeschichte und die Namen von Angehörigen und Freunden wurden nicht geändert.
Konstanz, im August 1985
Rainer Magulski
Ergänzende Anmerkungen:
Dieses Buch habe ich im September 1986 allen 520 Abgeordneten des Deutschen Bundestages mit einem Anschreiben zugestellt. Ferner habe ich damals den (nicht mehr bestehenden) Verlag Rainer Magulski, Konstanz, gegründet, um im Herbst 1986 auf der Buchmesse in Frankfurt als Aussteller teilnehmen zu können. Diese Vorgänge sind in meiner Autobiografie genauer beschrieben - siehe das Kapitel „Auf unserer Urlaubsfahrt“.
Allensbach im Februar 2017
Rainer Magulski
Raki atmet tief ein. Die kalte Winterluft tut ihm gut. Der Schnee unter seinen Schuhen knirscht leicht, als er über den Münsterplatz mit seinem beschneiten Kopfsteinpflaster eilt. Es hat nun doch noch geschneit. Der Schnee liegt wie Pulverzucker über der Stadt. Er wird in Konstanz wohl nicht lange halten.
Als Raki in die Theatergasse einbiegt, begegnet ihm auf der anderen Straßenseite Herr Wilhelm von der Polizeidirektion, der erst kürzlich ein Vierteljahr im Krankenhaus gelegen hatte. Seit Weihnachten ist er aber wieder gesund.
„Einen schönen Abend, Herr Wilhelm!“
Die über die Straße gerufenen Worte unterstreicht Rudi mit einem winkenden Anheben seiner rechten Hand, die er danach sogleich wieder in die Manteltasche steckt.
'Der Wilhelm ist ein feiner Mensch', denkt er. 'Ob der hinter seinem fröhlich-optimistischen Wesen nicht auch Probleme mit sich herumträgt, wie wohl jeder Mensch? - Bestimmt'.
In der Konzilstraße flutet der Fahrzeugverkehr wie jeden Werktagabend um diese Zeit. Heute ist es auf der Straße besonders rege. Vielleicht wegen des Sonnenscheins. Oder weil Freitag ist. 'Warum die nicht längst die Innenstadt autofrei und einen Einbahn-Ringverkehr gemacht haben? ' schießt es Raki durch den Kopf. 'Konstanz hat dafür doch ideale Voraussetzungen'.
Am Fußgänger-Überweg beim Bahnübergang zum Susosteig vor dem Insel-Hotel zeigt die Ampel Rot. Um das Warten abzukürzen, beginnt Raki, die Autos zu zählen, die in Richtung Marktstätte fahren. Dabei merkt er sich, wie viele Frauen hinter dem Steuer sitzen. Bis die Ampel auf Grün schaltet, hat er dreiundzwanzig Autos gezählt. Immerhin - vierzehnmal saß eine Frau am Steuer. Er überlegt: 'ist das nun Zufall - oder ist der Anteil autofahrender Frauen wirklich so hoch? '
Als die Ampel auf Grün umschaltet, überquert er mit forschen Schritten Straße und Bahngeleise und geht auf dem Susosteig weiter. Rechts von ihm verläuft der Inselkanal. Sein Blick fällt auf zwei Schwäne, die gemächlich nebeneinander dahinziehen. Ein hurtiges Blässhuhn schwimmt keck-frech zwischen den beiden Schwänen hindurch, die das weiter nicht kümmert.
Das Wasser ist kristallklar wie schon lange nicht mehr. Auf dem Grund sind sogar die kleinen Kieselsteine zu sehen. Über einem kopfgroßen Stein haben sich Algen gelegt. So könnte man sich das lange, wallende Haar einer Meerjungfrau vorstellen.
Raki’s Augen suchen die vor ihm liegende alte Rheinbrücke ab. Mauke müsste eigentlich gleich zu sehen sein. Bevor er das Büro verließ, hatte er zu Hause das Telefon klingeln lassen und ihr damit signalisiert, sie möge ihm entgegenkommen. Das machte er oft so.
Da sieht er sie. Er erkennt sie schon aus der Feme an ihrem brünetten, kurz geschnittenen Haar, der blauen Ledeijacke und den schwarzen Cordhosen. In ihrer unnachahmlichen, ihm vertrauten Art geht sie eilig und doch vorsichtig die Brückentreppe hoch. Die vielen Fußgänger verdecken einen Moment die Sicht auf sie. Dann sieht er sie von vome. Er beschleunigt unbewusst seine Schritte. Sein Gesicht ist jetzt voll freudiger Erwartung. Auch Mauke hat ihn gesehen. Ihre blauen Augen leuchten auf, und ihr klares, ausdrucksstarkes Gesicht ist erwartungsvoll. Fast genau auf der Brückenmitte treffen sie sich. Er begrüßt Mauke mit „Hallo, sei gegrüßt“, ergreift ihr rechte Hand, drückt sie innig und gibt ihr einen Willkommenskuss auf den Mund. Mauke fragt zurückgrüßend nur „Na, du?“. Dann hakt sie sich an seinem rechten Arm ein.
Während beide zunächst schweigsam gehen, denkt er: 'Was für ein Glück hab ich doch mit Mauke. Nun kennen wir uns schon 26 Jahre. Und ich bin immer noch verliebt in sie! '
„Ist das nicht ein herrlicher Tag? Heute Morgen war der Weg in die Stadt einmalig.“
Maukes Gesicht glüht in der Kälte - aber wohl auch, weil sie sich gut fühlt.
„Es ist schön, dass Du das auch einmal erlebt hast“, sagt Raki. „Mein morgendlicher Spaziergang am See entlang und quer durch die Stadt zur Dienststelle macht mich ausgeglichen. Ich habe dabei schon imponierende Stimmungen und Bilder erlebt. Das Licht ist gerade ab Ende Januar bis in den Frühling hinein besonders eindrucksvoll. Die Sonne steht dann kurz vor sieben günstig, wenn ich unterwegs bin. Der Himmel und der See sehen täglich neu aus. Ich kann mich daran nicht satt sehen.“
Nach einer Pause spricht Raki weiter: „Weißt Du, Mauke, ich bin froh, dass wir hier leben. Ich möchte nicht mehr weg. Konstanz ist mir ans Herz gewachsen. Aber sag, wie war's heute bei Dir?“
„Es gab viele Aufregungen - und ich habe mich über einiges bei meiner Arbeit im Haus am Bach schwer geärgert.“ Mauke meint, und dabei bebt ihre Stimme leicht: „Meine Arbeit mit den Leuten gefällt mir. Sie gibt mir viel. Ich möchte sie jetzt nicht verlieren. Nur einige Dinge im Haus gefallen mir nicht. Aber lassen wir das. Ich will mir nicht den schönen Spaziergang verderben.“
Schweigend gehen sie weiter. Raki denkt: 'Es war vor 20 Jahren gut und richtig, dass Mauke ihren Beruf aufgegeben hat, um ganz für die Familie leben zu können. Das ist vor allem Beate und Peter zu Gute gekommen. Finanziell standen wir bei meinem geringen Verdienst in den ersten Jahren schlecht da. Aber wir waren trotzdem eine zufriedene und glückliche Familie. Mit dem gleichen Engagement, wie Mauke zuerst als Lehrerin, dann als Mutter ihren Aufgaben nachging, packt sie nun ihre Arbeit im Haus am Bach an. Es ist für sie eine neue Erfahrung, als Sozialbetreuerin für psychisch Kranke verantwortlich zu sein. Der Umgang mit den Kranken ist für sie oft schwer aber auch befriedigend! '
Als sie die Treppe zur Fußgängeranterführung rantergehen, schlägt Raki vor, noch über die Seestraße zu spazieren. Mauke willigt ein: „Auf uns wartet ja niemand. Peter und Nanni sind bei Kellers, Beate und Christoph kaufen ein. Beate braucht Steppschuhe.“
Raki nimmt Mauke jetzt an die Hand.
Er denkt: 'Es ist schön - wir empfinden immer noch wie ein junges Paar. Nur nicht so unbeschwert. Dafür aber reifer. Allerdings habe ich Mauke auch schon manchen Kummer gemacht. Gerade sie hätte meine Verlässlichkeit und Treue immer gebraucht'.
Eine alte Frau steht beim Rondell in Höhe der Glämischstraße auf dem unteren betonierten Absatz der gemauerten Böschung. Um sie herum kreischen die Möwen. Auch Schwäne, Blässhühner und Enten sind in Scharen versammelt. Die Alte greift von Zeit zu Zeit in ihre Plastiktüte und wirft den Tieren Brot und trockene Kuchenstückchen zu. Sie bemüht sich, einem jungen Schwan Futter zukommen zu lassen. Aber die Möwen fliegen frech immer wieder dazwischen. Und die Blässhühner und die Enten wehren sich ebenfalls gegen die beabsichtigte Begünstigung.
Mauke und Raki schauen eine Weile zu. Dann gehen sie langsam Hand in Hand weiter.
„Und wie war's bei Dir?“, fragt Mauke.
„Der Tod der Helga Heiland beschäftigt mich zurzeit wieder - hab ich Dir in den letzten Tagen nichts vom neuesten Ermittlungsstand erzählt?“
„Nein“, Mauke blickt ihn erwartungsvoll an, „Du erzählst mir ja kaum was von Deinen dienstlichen Problemen.“
„Also gut, pass auf. Du weißt ja, vor einigen Tagen wurde in einem großen Mietshaus in der Tumerstraße eine Frauenleiche gefunden. Es handelt sich vermutlich um die Leiche der Helga Heiland. Nach dem Grad der Verwesung ist sie ungefähr vier Wochen tot. Das Problem: Beide Hände fehlen. In der Wohnung war nun noch die Katze der Helga Heiland. Zuerst hielten wir's für möglich, dass die Katze sich aus Hunger über die Hände der toten Frau hergemacht hatte. Andererseits kann das kaum sein, denn beide Hände waren relativ gleichmäßig abgetrennt, und jegliche Überreste von Knochen und Fingernägel fehlen. Bei der Sektion der Leiche wurden angeblich Bissspuren der Katze festgestellt. Die Todesursache steht auch noch nicht fest. Es wurden keine Anzeichen für einen gewaltsamen Tod gefunden. Toxikologische und andere Untersuchungen sind noch fällig. Der Fall ist für mich vor allem aus folgenden Gründen problematisch: Erstens fehlen die Wohnungsschlüssel. Sie müssten vorhanden sein, wenn die Frau sich alleine in ihrer Wohnung aufhielt, als sie gestorben ist. Außerdem haben wir uns mit dem Phänomen Katzenfraß jetzt eingehend beschäftigt. Vor allem ein Aufsatz aus dem Jahre 1926 eines Professor Strauch gibt da Aufschluss. Er hat bei Versuchen mit Katzen ihre Fressgewohnheiten genau analysiert und beschrieben. Danach hinterlassen die Eckzähne einer Katze, die als sogenannte Fangzähne eingesetzt werden, charakteristische Einstichwunden entlang der Bissränder. Das kommt daher, dass eine Katze mit den Fangzähnen jede Beute nur festhält. Den Abbiss vollführt sie mit den Mahl- oder Backenzähnen. An den Armstümpfen fehlen solche charakteristischen Wundränder. Der Fall ist außerdem kriminalistisch delikat, weil die Helga Heiland sich offensichtlich von Männern aushalten ließ. Auf den Strich ging sie aber wohl nicht. Sie war Alkoholikerin und hatte in den letzten Jahren in betrunkenem Zustand Angstvorstellungen. Einmal löste sie Alarm aus, weil es ihr im Haus nach Gas roch. Dabei gibt es in dem Haus keinen Gasanschluss. Oder sie tobte und warf mit Gegenständen um sich. Nach alten Bildern zu urteilen sah sie früher mal sehr gut aus. Sie war als junges Mädchen Mannequin und Filmkomparsin. Vor drei Jahren hat sie unehelich ein Mädchen zur Welt gebracht. Da war sie 40 Jahre alt. Der Vater soll Türke sein. Als er von der durch sie veranlassten Adoption des Kindes erfahren hat, soll er sie vor gut einem Jahr bedroht haben. Morgen wird das Zimmer zum dritten Mal gründlich durchsucht. Außerdem sind noch viele Ermittlungen notwendig. Dann werden wir weitersehen. Übrigens ist die Tote noch nicht zweifelsfrei identifiziert. Wir suchen da noch ihren Zahnarzt. Hoffentlich finden wir ihn.“
„Was verstehst du unter schöner Frau - beschreib mir die Helga Heiland“.
„Auf den erkennungsdienstlichen Aufnahmen aus dem Jahre 1962 und auf ihren aufgefundenen Privatfotografien sieht sie recht gut aus“, berichtet Raki. „Sie hatte schwarzes, hochgestecktes Haar, ein fein geschnittenes Gesicht und eine sexy Figur. Im Vergleich zu ihrem jetzigen Aussehen kann man nur sagen: Schönheit ist sehr schnell vergänglich“ Bei den letzten Worten lacht Raki.
„Ach Du!“ entfährt es Mauke.
Schweigsam gehen beide weiter. Am Ende der Seestraße hinter dem Yachthafen bleiben sie eine Weile stehen, schauen über den spiegelglatten See zum Säntis-Massiv. Der schneebedeckte Bergriese beginnt im Abendrot zu glühen. Ein Postkartenbild. Aber die Natur ist nicht kitschig. Im Gegenteil. Die Augen können sich nicht satt sehen.
Auf einem Seezeichen sitzt ein Kormoran und lauert auf Beute. Ob auch ihn die Stimmung beeindruckt? Wir Menschen trauen in unserer Überheblichkeit den Kreaturen tiefere Empfindungen nicht zu.
Raki fällt die Behauptung von einem seiner Lehrer ein: „Der Hund hat keine Seele.“ Wie engstirnig hat er solche Auffassungen immer eingestuft. Leicht streichelt er Mauke übers Haar, verstärkt zärtlich den Druck der Hand und gibt ihr einen Kuss auf die Stirn: „Ich bin froh und dankbar, dass es Dich für mich gibt.“
Danach gehen sie den Weg zurück. Die Sonne steht als glutrote Scheibe am westlichen Horizont. Die Abendstimmung, die Farben, das Licht beeindrucken beide stark.
Mauke unterbricht das Schweigen: „Woran denkst Du?“
„An die hohe Politik. Mir gingen eben einige Affären durch den Kopf. Ich dachte an Kießling und Wömer, Lambsdorff und Barzel. Auch Wömer dürfte längst nicht mehr im Amt sein. Er hat damals total versagt und dem Ansehen der Bundeswehr schwer geschadet. Sein Verhalten als geheimer Ermittler war geschmacklos, stümperhaft und in jeder Beziehung eines Ministers unwürdig. Uns Deutschen fehlt für solche Fälle gewissermaßen englischer Stil. Und Kohl mangelt es an politischem Augenmaß und Führungskraft. - Die Affären kamen der Regierung vielleicht sogar recht. Lenkten sie doch zeitweise vom Parteispenden-Skandal ab. Ich bin deswegen empört. Meines Erachtens haben auch die meisten Medien die Ungeheuerlichkeit des Skandals nicht klar genug gesehen.“
Raki schaut Mauke nachdenklich an: „Was ist denn passiert? - Die Parteien, und zwar die etablierten, also CDU/CSU, SPD und FDP, haben 1967 auf Druck des Bundesverfassungsgerichts, das sie an die Bestimmungen des Grundgesetzes erinnern musste, ein Parteiengesetz geschaffen. Darin wird den Parteien vorgeschrieben, die Herkunft der ihnen zufließenden Gelder in einem jährlichen Rechenschaftsbericht offen zu legen. Bei Spenden von mehr als 20.000 DM im Jahr muss der Spender namentlich genannt werden. Was aber haben die Parteien gemacht? Sie schafften oder benutzten parteinahe Stiftungen für angeblich gesellschaftspolitische und demokratische Bildungsarbeit, die den steuerbefreienden Status der Gemeinnützigkeit erhielten oder hatten. So konnten die Parteien über Stiftungen und andere dubiose Organisationen hohe Spenden unter Umgehung des Parteiengesetzes und unter Umgehung unserer Verfassung kassieren. Im Jargon von Kriminellen nennt man solche Praktiken: das Geld waschen. So etwas ist eigentlich nur bei kriminellen Vereinigungen oder im Zusammenhang mit organisierter Kriminalität, nicht aber mit den Parteien eines demokratischen Rechtsstaates zu erwarten!“
Raki bleibt stehen. Er wischt mit der linken Hand über seine buschigen Augenbrauen.
„Bist Du in Deinem Urteil nicht ein wenig hart?“ fragt Mauke. Sie lächelt ihn an. „Politiker sind eben auch nur Menschen.“
Raki entgegnet: „Natürlich. Nur - sie haben ein Gesetz gemacht und gleichzeitig Wege gesucht, um eben dieses Gesetz zu umgehen, das ihr eigenes Handeln bindet. Sie haben damit ihre Pflicht zur Rechts- und Gesetzestreue vorsätzlich aufs Gröbste verletzt. Wohlweislich enthält das Parteiengesetz, wie das bei Gesetzen sonst so üblich ist, keine Strafhormen. Die Glaubwürdigkeit nicht nur der Parteien, sondern des Parlaments steht auf dem Spiel. Die Repräsentanten der Parteien sind schließlich in der Regel Abgeordnete. Wenn Spenden für den Spender einen Sinn haben sollen, dann müssen natürlich die verantwortlichen Parteiführer davon wissen. Sonst ginge die Wirkung der Spenden in die Leere. Bei Millionenspenden kann das der Spender nicht wollen. Ich behaupte nicht, dass alle Abgeordneten über die fragwürdigen Spendenpraktiken Bescheid wussten. Aber die Machtzentralen der Parteien haben offensichtlich wissentlich mitgemischt, und das muss Wirkung auf die Entscheidungsträger in den Fraktionen gehabt haben. Damit aber ist der Nerv unseres demokratischen Staatswesens getroffen worden!“
Raki drückt die linke Hand von Mauke und sagt entschuldigend: „Verzeih meine politischen Monologe. Aber ich habe in den letzten Jahren, Monaten und Wochen viel über diese Probleme nachgedacht. Immerhin ist für mich die Reihenfolge so: Zuerst bin ich Kreatur, dann Mensch, dann Demokrat und erst auf dieser Basis Kriminalist. Wenn mich aber dieses demokratische System oder genauer die verantwortlichen Politiker so elementar enttäuschen, dann steht möglicherweise auch mein Beruf zur Disposition.“
„Aber morgen werde ich schon noch in den Dienst gehen“, fügt er mit einem Lächeln hinzu, als er in Maukes erschrecktes Gesicht blickt.
'Sie macht sich wohl Sorgen. Natürlich denkt sie an das Studium von Beate und Peter und an das liebe Geld. Mauke braucht Sicherheit, Zuverlässigkeit, Vertrauen. Was soll ich sie mit meinen wilden Gedanken beunruhigen! ', denkt Raki.
Mauke schaut Raki ernst an: „Die Verhältnisse im Großen wirst Du nicht ändern. Natürlich verstehe ich Deinen Unmut. Ich vermisse aber bei Dir, dass Du da ansetzt, wo Du ansetzen könntest: Zuerst bei Dir, bei Deinem Job und so.“
Raki entgegnet: „Wenn nur der Perfekte eine Berechtigung zur Kritik an den Verhältnissen da oben hätte, würde es keine Kritik mehr geben können. Ich bin mir meiner persönlichen Fehler und Schwächen bewusst. Ich nehme mir aber trotzdem die Freiheit, unerträgliche Verhältnisse zu kritisieren.“
Jetzt gehen sie auf die mitten im Park liegende ehemalige Fabrikanten-Villa zu, in der sie seit sieben Jahren zur Miete wohnen. „Ich bin so froh über unsere Wohnung - auch wenn die 1300 DM monatlich für uns schließlich kein Pappenstiel sind“, erklärt Raki.
Mauke schaut ihn glücklich an: “Wir werden es schon schaffen. Ich möchte jedenfalls nicht mehr in einem Block wohnen. Die Wohnverhältnisse in Kehl haben mir gereicht.“ Nachdem Raki die schwere Holztür aufgeschlossen hat, gehen beide umschlungen die gediegene Holztreppe hoch.
Während Mauke das Geschirr und die Zutaten zum Abendessen auf den Küchentisch stellt, zieht Raki sich um. Er fühlt sich in seinen legeren Hausklamotten einfach wohler. Am liebsten würde er nie Krawatten und beengende Anzüge tragen. 'Ob wohl viele so empfinden, die sich tagein-tagaus in solche Konfektions-Zwänge fügen? ' denkt er dabei flüchtig. 'Wir verhalten uns alle doch verdammt angepasst. '
Als er kurz darauf aus dem Badezimmer kommt, fragt ihn Mauke, auf was er Appetit habe. Sie einigen sich schnell auf Bier, Schwarzwälder Speck mit Knoblauch und anschließend Käse.
Raki nimmt das große Küchenmesser und geht auf den Boden. Dort hängt eine Speckseite, die sie erst vor wenigen Tagen über Verwandte in Schonach im Schwarzwald direkt vom Bauern gekauft haben. Der Speck ist schön hart - wie er sein muss, damit er richtig schmeckt. Raki schneidet eine Scheibe ab.
Als er in die Küche zurückkommt, hat Mauke den Tisch bereits gedeckt. Raki holt noch eine Flasche Fürstenberg-Pils aus dem Kühlschrank und schenkt die Gläser voll. Dann setzt er sich Mauke gegenüber an den Tisch.
„Na, was gibt's außer dem Ärger im Haus am Bach noch zu berichten?“
Während Mauke ganz dünne Scheibchen von einer Knoblauchzehe abschneidet, beginnt sie zu erzählen. Von ihrer Kollegin, der Frau Salomon, die zwei Monate nach ihr als Sozialbetreuerin eingestellt wurde und die wie sie auch eine Ausbildung als Lehrerin hat. Sie verstehen sich gut. Das ist für Mauke neben den Heiminsassen der Lichtblick im Haus.
Nach einer kleinen Essenspause erzählt sie ihm von den Leuten im Haus am Bach. In der Beschäftigung mit ihnen geht Mauke offensichtlich auf. Sie will und wird sich für die Leute einsetzen. Einiges könnte dort ihrer Überzeugung nach verbessert werden.
Nachdem Raki ein Stück Speck nach Schwarzwälder Art ganz dünn geschnitten hat, legt er eine Handvoll auf Maukes Speckbrettchen und nimmt sich mit der Messerspitze eine ordentliche Portion Knoblauchscheibchen. Dann prostet er ihr gut gelaunt zu. Beide trinken und essen langsam und mit offensichtlich gutem Appetit. Knoblauch zum Speck zu essen haben sie erst kürzlich von Schweizer Freunden gelernt. Das ist eine Gaumenfreude.
„Also abends schmeckt es mir immer am besten“, sagt Mauke, „dabei sollte ich mich vernünftigerweise gerade abends zurückhalten.“ Dann fügt sie mit Blick auf die reichhaltige Käseplatte hinzu: „Und dem kann ich auch nicht widerstehen.“
Raki lacht: „Mir gefällst Du, wie Du bist. Ich finde, Du hast Dich mit Deiner Figur sehr gut gehalten.“
„Ach was, das sagst Du nur so. Die Augen fallen Euch Männern aber immer nur bei den geilen Schlanken aus dem Kopf.“
Mauke wechselt das Thema.
„Du hast vorhin auf der Seestraße angedeutet, Du würdest vielleicht Deinen Beruf aufgeben. Das höre ich heute zum ersten Mal. Vielleicht könntest Du mich über Deine Absichten aufklären. Schließlich sind die Kinder und ich dann ja wohl mit betroffen.“
„Ich habe bisher darüber nicht gesprochen, weil diese Gedanken noch sehr vage sind.“
Raki holt tief Luft:
„Du weißt, ich liebe meinen Beruf. Er ist interessant, abwechslungsreich, und er vermittelt Einsichten in das Menschenleben, wie wohl kaum ein anderer Beruf. Ich wirke nun schon 25 Jahre als Polizeibeamter. Mir gefallt's immer noch. Das einzig Störende ist für mich die Beamteneigenschaft. Man ist an ein und denselben Dienstherm, den Staat gebunden. Das entspricht meiner inneren Einstellung zum Beruf und zum Berufsleben prinzipiell nicht. Lieber wäre mir schon, ich könnte im Laufe meines Lebens - ich habe schließlich nur eines - in mehreren Berufen wirken und Erfahrungen sammeln. Du weißt, in mir steckt eine große Portion Abenteurerblut, innere Unruhe, Risikobereitschaft - aber auch eine tiefe Freude am Leben. Und je älter ich werde, desto mehr sind es die kleinen Dinge, die meine Bewunderung, mein Staunen auslösen. Natürlich würde ich gerne und viel reisen und dabei Neues erleben. Aber auch das frische Grün einer Birke, das Weinblatt im Herbst, das gefurchte Gesicht eines alten Menschen oder die Maserung eines Steines können mich faszinieren.“
Mit dem großen scharfen Messer schneidet Raki erneut den Speck in kleine Streifen auf.
„Wenn ich aber den Beruf aufgeben würde, dann ganz schlicht als eine persönliche Protestaktion gegen die Ungeheuerlichkeit, die uns allen mit dem Parteispenden-Skandal zugemutet wird.
- Wenn solch eine Aktion einen Sinn hätte, müsste ich es machen. Ich frage mich aber ernsthaft, ob die Wirkung einer demonstrativen Berufsniederlegung von mir nicht überschätzt wird. Vielleicht kann ich mich wirkungsvoller und besser wehren, wenn ich den Beruf weiterhin ausübe.“
„Und wovon würdest Du leben wollen, wenn Du Deinen Beruf an den Nagel hängst?“ Mauke blickt ihn skeptisch an.
„Ich habe genug Selbstvertrauen. Ich bin überzeugt, wir würden nicht verhungern.
„Du willst aber doch Beate und Peter studieren lassen. Meinst Du wirklich, Du könntest in einem anderen Beruf so viel verdienen?“
„Was verdien' ich denn schon. Ich glaube fest, dass ich in der Lage wäre, in der freien Wirtschaft mehr als jetzt zu verdienen.“
„Machst Du Dir da nichts vor? Womit würdest Du denn so viel Geld verdienen wollen? -Schenkst Du mir noch einen Schluck ein?“
Während Raki aus dem Kühlschrank eine neue Flasche Bier holt und die beiden Gläser nachfüllt, erklärt er: „Natürlich würde ich mich nicht auf ein abhängiges Arbeitsverhältnis einlassen. Ich würde mich selbständig machen. Und zwar mit dem, was ich kann. Ich bilde mir ein, einiges von Kriminalistik zu verstehen. Die Bekämpfung der Kriminalität ist vernünftigerweise eine staatliche Aufgabe. Es gibt aber auch im Privatbereich genug kriminalistische Probleme, die der Staat nicht übernimmt. Ich denke nicht an eine herkömmliche Detektei. Es gibt viele Fälle, die nie angezeigt werden, weil die Opfer nicht wollen oder können. Sie haben aber vielleicht ein privates oder zivilrechtliches Interesse, einen Sachverhalt mit kriminalistischen Methoden aufklären oder untersuchen zu lassen. Oder sie brauchen einen Vermittler, der von bestimmten Verbrechenspraktiken etwas versteht und selbst nicht dem Strafverfolgungszwang unterliegt. In Ausnahmefällen, denke ich schon, könnte ich auch private Ermittlungen und Beratungen durchfuhren. Ein ganz neuer Zweig für kriminalistische Ermittlungen wäre aber folgendes Gebiet, auf das ich mich wahrscheinlich spezialisieren würde: Es gibt viele Menschen, die sich im Leben etwas aufgebaut haben. Sie wollen ihr Lebenswerk - vielleicht die Fabrik - nach ihrem Tod erhalten und weiter geführt wissen. Sie haben vielleicht keine oder keine nahen oder geeigneten Erben. Ich würde es als kriminalistisch-psychologisch reizvolle Aufgabe ansehen, geeignete, würdige Personen zu finden. Und ich wüsste auch schon wie.“
Mauke bestreicht sich eine halbe Schnitte mit Butter, legt darauf dicht nebeneinander kleine Knoblauchscheibchen und streut dann ein wenig Salz über den Leckerbissen.
„Und das meinst Du ernst?“
Raki lacht:
, Aber ja doch. Im Übrigen wäre das nicht alles. Du weißt, ich schreibe gerne. Und eine kleine journalistische Liebe habe ich immer noch. Immerhin war das einmal die Alternative, falls es mit meinem Kriminalisten Beruf nichts geworden wäre. Eine Verbindung von beiden könnte ich mir sinnvoll vorstellen. Etwa als freier Journalist große Kriminalfälle recherchieren und darüber berichten. Vielleicht auch kriminalistische Beratung für die verschiedenen Autoren, indem ich Manuskripte auf kriminalistische Ungereimtheiten hin überprüfen würde. Du siehst, ich wäre flexibel. Das Beste wäre: Mein Honorar würde sich am Einkommen und Besitzstand meiner Auftraggeber orientieren. Der Wohlhabende müsste tiefer in die Tasche greifen. Dafür könnte ich dann auch mal einem armen Teufel kostenlos oder günstig zu helfen versuchen.“
Raki legt das Messer neben das leere Brettchen, prostet Mauke nochmals zu und trinkt das Glas in einem Zug aus: „Doch das steht zur Zeit nicht zur Diskussion. Ich beobachte auch noch scharf, was sich in der politischen Szene im Zusammenhang mit der Aufklärung der Parteispenden-Manipulationen tut. - Vom Untersuchungsausschuss erwarte ich allerdings nicht allzu viel. Die Parteien sind nicht interessiert, die eigenen gesetzwidrigen Praktiken voll aufzuhellen. Sie werfen sich die Bälle gegenseitig zu. Das geht hin und her. Wenn bisher einige prominente Schafe gefunden worden sind, um sie zu schlachten, so hat der Untersuchungsausschuss nur einen spärlichen Anteil daran. Ihm geht es nur am Rande oder gar nicht um Verfehlungen der Parteien schlechthin. Wenn jetzt auf einige exemplarisch mit dem Finger gezeigt wird, wie etwa auf Lambsdorff oder Barzel, so lenken sie damit die Öffentlichkeit tatsächlich von ihrem eigenen Versagen ab.“
Während der letzten Worte wendet er sich der Käseplatte zu. Von den insgesamt sieben Käsesorten schneidet er jeweils zwei Stückchen ab und legt jeweils eines auf Maukes und auf sein eigenes Holzbrettchen.
„Der Münster ist aber wieder große Klasse“
„Ja“, pflichtet Mauke ihm bei.
„Dem konnte ich nicht widerstehen. Er sah so aus, wie er schmeckt - ausgezeichnet gereift.“
Mauke strahlt ihn angriffslustig an: „Die Reife magst Du wohl auch nur beim Käse. Sonst hast Du mehr für junges Gemüse übrig, nicht wahr?“
Raki lächelt und kontert: „Sicher braucht man auch junges Gemüse, denn es enthält viel Vitamin A. Das wiederum benötigt man, um nicht blind zu werden. Und Du weißt, wie wichtig mir meine Sehschärfe ist. So kann ich immer wieder in Deine wundervollen Augen blicken, und...“ Raki schaut ihr tief in die Augen, steht auf, geht um den Tisch herum, gibt ihr zärtliche Küsse auf die Stirn und beide Augen, streichelt ihr übers Haar und setzt sich dann wieder, bevor er mit ernster Wärme in der Stimme weiterspricht, „.. .wenn es überhaupt so etwas wie eine Seele gibt, dann sind mir Deine Augen der Beweis dafür.“
Mauke nimmt das still in sich auf. Schweigend essen sie weiter.
Der durchdringende Lärm von Einsatzfahrzeugen weckt Raki auf. Es müssen Feuerwehr-, Polizei- und Rettungsfahrzeuge sein, die die Stille der Nacht mit ihren Martinshörnern unbarmherzig unterbrechen. 'Vielleicht fahren sie zu einem Brandfall', überlegt Raki. Er schaut auf die Uhr. Es ist fünf nach zwölf. Mauke ist nicht wach geworden. Sie atmet tief und regelmäßig. Raki dreht sich auf den Bauch und versucht wieder einzuschlafen. Aber das gelingt nicht. Nach dem Lärm der vielen Einsatzfahrzeuge scheint ein größerer Einsatz zu laufen. Einige Minuten wartet er, ob das Telefon schrillt. Dann ist er versucht, das Polizeirevier anzurufen und nachzufragen. Doch er überlegt sich's anders. 'Die wissen ja, wie sie mich erreichen können'.
Es gelingt ihm jetzt aber nicht, wieder einzuschlafen. Er fühlt sich gar nicht mehr müde. Seine Gedanken wandern zurück in die Vergangenheit:
Raki sieht sich auf einer Schaukel in einem blühenden Garten. Das muss im Alter von gut drei Jahren in Koppalin in Pommern gewesen sein. Auch erinnert er sich noch schemenhaft an den Ritt auf der Bettkante im Schlafzimmer der Eltern, wobei er dann abgestürzt ist. Er brach sich das Schlüsselbein und musste in Krankenhaus. Er war das erste Mal von seinen Eltern getrennt. Eine schreckliche Zeit. Die Schwestern im Krankenhaus waren hart und streng.
Ihm fallen die vielen Hasenställe ein, die sein Vater hinter dem Haus in drei Etagen und in einer langen Reihe übereinander aufgestellt hatte. Und er entsinnt sich, dass er in eine dunkle Kiste gesperrt wurde, weil er schrie und brüllte. Wie die späteren Schilderungen ans Tageslicht brachten, hatte sein Vater die Kiste für ihn extra gebaut. Die Gründe, warum er häufig in die Kiste gesteckt worden war, sind ihm heute noch nicht klar. Die abgeschlossene Kiste durfte er erst verlassen, wenn er zu schreien aufgehört hatte. 'Von daher habe ich vielleicht meine Einzelgänger Mentalität', überlegt Raki. 'Ich habe eigentlich nie anderen Menschen rückhaltlos vertraut. Mauke ist wohl die einzige Ausnahme. Aber auch ihr habe ich erst nach und nach mein Vertrauen schenken können'.
Er überlegt nun, an was er sich noch erinnern kann. Er sieht sich als kleinen Jungen bei hohem Schnee und bitterer Kälte auf einen mit zwei Pferden bespannten Leiterwagen gehoben, auf dem schon allerlei Gerätschaften und Möbel gestapelt sind. 'Das war wohl im Januar 1945', fallt ihm ein, 'als die Flucht aus Pommern begann'.
Ein weiteres Bild hat sich ihm eingeprägt: Der ganze Himmel voll von Fallschirmspringern. Das muss unterwegs auf der Flucht gewesen sein. Die Güterwaggone waren überfüllt. Nur Frauen, Kinder und alte Männer. Damals hätte seine Schwester Brigitte fast den Zug verpasst, als sie bei einem Halt ins Gebüsch gegangen war. Der Zug fuhr ohne Vorwarnung wieder an. Sie wurde von einigen Frauen gerade noch in den letzten Waggon hoch gezogen.
Dann Bilder von Ladelund in Schleswig-Holstein, wo er als Jüngster mit der Mutter und den vier Geschwistern zuerst in einem einzigen Zimmer hauste. Mäuse und Ratten kamen noch dazu. Überall, wo es war zu fressen gab, fand man sie. Im ganzen Barackenlager war kein Versteck vor ihnen sicher. Nachts hatte man Angst, man werde angenagt.
Dann gab es bald im Gesindehäuschen vom Bauernhof Jepsen eine Zweizimmer-Wohnung. Ein Gärtchen gehörte auch zum Haus. Darin wurden von seinem Bruder Hans-Joachim und ihm Kartoffeln und Tabak angepflanzt. Raki erinnert sich, wie ausgerechnet der Dorfpolizist immer seine Zigaretten, das Stück für zwei Mark, bei ihnen kaufte. Er sieht den rundbauchigen Alten vor sich in seinen Lederstiefeln, gegen die er ständig mit einer Reitpeitsche schlug.
Als die Gefangenen nach Hause kamen und in Ladelund einmarschierten, war auch Vati dabei.
Raki wird nie vergessen, wie er als Steppke von sechs Jahren am Straßenrand stand und die Hand zum Heil-Hitler-Gruß erhob. Das war ihm von früher Kindheit anerzogen, wenn Soldaten auftauchten. Doch diesmal bekam er von der Mutti eine schallende Ohrfeige. Damit war auch ihm klar gemacht, wie die Zeiten sich geändert hatten.
Raki’s Gedanken wechseln nach Hausach, wo er mit dem Zug in der Silvester-/Neujahrsnacht des Jahres 1948/1949 mit den Eltern und Geschwistern angekommen war. Am nächsten Morgen erst sah er den Schwarzwald. Die schneebedeckten Tannen und hohen Berge waren für ihn etwas Neues. Zuvor kannte er nur die Ebene, nur Meer, Wiesen, Felder und kleinere Waldungen. Der von den Bergen umgebene Ort wirkte geschützt. Er verspürte bald aber auch die ihn fast erdrükkende Enge. Nirgends hatte das Auge den Blick in die Feme frei. Es überkam ihn Heimweh nach der Ebene. Selbst der Himmel war hier nur in einem kleinen Ausschnitt zu sehen.
Schon nach kurzer Zeit hatte er einen Weg gefunden, sich den Blick in die Weite zu verschaffen. Mindestens einmal die Woche bestieg er die Berge rings rum. Meistens wählte er den Spitzfelsen. In einer knappen Stunde hatte er ihn erklommen und blieb dann stundenlang auf dem Gipfel. Die Augen sogen die Feme ein. Sie konnten sich nicht satt sehen. Das waren für ihn besonders schöne Stunden in Hausach. Die Kindheit und Jugendjahre hat er in der Geborgenheit dieser kleinen Stadt gern verbracht. Hausach ist ihm zur zweiten Heimat geworden.
Ihm fallen Streiche ein, die er mit Klaus und Wilfried, seinen Freunden, erlebt hat. So die Geschichte, als sie eine ganze Eisenbahnschiene an einer Böschung oberhalb der Geleise im Gras entdeckten und beim Alteisenhändler verkaufen wollten. Den komplizierten Transport mit dem kleinen Leiterwägelchen und der langen Schiene über verschwiegene Feld- und Waldwege wird er wohl nie vergessen. Die Schiene fiel mehrmals vom Wägelchen herunter und der Leiterwagen kippte manchmal mit um. Nach dieser beschwerlichen Fahrt nahm ihnen der Händler den Fund nicht einmal ab. Stattdessen informierte er Raki’s Vater. Es gab einige Hiebe mit dem Lederriemen. Und die Eisenbahnschiene musste wieder zurück gebracht werden.
Das einmalige Erlebnis mit den Gänsen fallt ihm ein. Wilfried, Klaus und Raki saßen in der Frohnau am Waldrand und schauten einer Schar Gänse zu. Raki fielen Erzählungen seiner Großmutter ein, wie sie in Pommern den Gänsen manchmal beim Eierlegen nachgeholfen hatte. Im Brustton der Überzeugung erzählte er seinen Freunden, wie man das macht - obwohl er noch nie selbst dabei gewesen war. Wilfried wettete gegen Raki und Klaus. Der Entschluss war schnell gefasst, es einmal zu probieren. Das Absondem einer als geeignet eingeschätzten Gans von der Herde war das erste Problem. Nach einigen Treibjagden war die auserwählte Gans von den anderen getrennt. Dann musste sie gefangen werden. Zunächst gab es nur Fangversuche. Doch schließlich kam Raki und Klaus das hohe Gras der Wiese zu Hilfe. Die Gans wurde gefasst. Während Klaus sie festhielt, versuchte Raki sein Glück. Er fummelte der schreienden Gans zwischen den Beinen herum. Er wusste nicht, wo er eigentlich greifen musste. Eh er sich's versah: Ein riesiges Gänse Ei fiel ins Gras. Die Freude war bei allen gleich groß - selbst die Gans schien zufrieden zu sein. Das faustgroße Ei wurde in die Wohnung der älteren Schwester von Klaus gebracht und dort gebraten. Es hat ausgezeichnet geschmeckt. Alle drei wurden fast satt. Es war ein unvergessliches Abendteuer.
Raki erinnert sich auch an das Fangen von Forellen. Im Frühling und Sommer lagen sie an manchen Tagen stundenlang auf dem Bauch und suchten entlang von unterspülten Bachrändem mit den Händen nach den Forellen. Ab und zu gelang ihnen ein Fang. Das war damals ja Fischwilderei, bedenkt Raki.
Mauke spricht im Schlaf irgendetwas Unverständliches und dreht sich dann auf die andere Seite um. Danach atmet sie ruhig und regelmäßig weiter. Raki überlegt: 'Sie wird wohl geträumt haben oder träumt immer noch'. Er wirft einen Blick auf die Uhr. Es ist halb eins. Wenn man nachts wach liegt, vergeht die Zeit nur sehr langsam.
Ihm fällt seine Situation als Schüler auf dem Gymnasium ein. Damals gingen Arbeiterkinder normalerweise noch nicht dorthin. Die Eltern mussten Schulgeld zahlen. Das konnte nur eine besser verdienende Gesellschaftsschicht leisten. Raki fühlte sich in der Schule vom ersten Tag an als Außenseiter. Schon alleine deshalb, weil er sich nicht die nötigen Schulbücher und -hefte kaufen konnte und im Sommer barfuß in die Schule gehen musste. Für Schuhe fehlte das Geld. Das schaffte zu den anderen Schülern Abstand. Auch Ausflüge konnte er nicht mitmachen, wenn sie Geld kosteten. Ende der Quarta ging er von der Schule - wegen Französisch hätte er die Klasse wiederholen müssen. Er wollte einfach nicht mehr den Eltern auf der Tasche liegen. Sie gaben sich ja viel Mühe. Aber es fehlte an allen Ecken und Enden.
Wie peinlich war es ihm immer gewesen, wenn er in den kleinen Laden zum Einkäufen geschickt wurde und anschreiben lassen musste. Ihm war damals klar: Er musste sich so schnell wie möglich auf seine eigenen Füße stellen. Er machte noch die 8. Klasse der Volksschule durch und lernte dann bei Mannesmann Schlosser.
Das einschneidendste Erlebnis während der Lehrzeit war der tödliche Tauchunfall des Anton Geiser aus Haslach, der ein Jahr älter als Raki war. Damals wäre beinahe auch er ertrunken. In der Mittagspause hatten sie in dem Wassertümpel vor der Turbine gebadet, weil der Kanal abgesperrt war. In einer Vertiefung vor dem Gebäude stand das Wasser. An jenem verhängnisvollen Tag sagte Anton, er wolle in die Schreinerwerkstatt tauchen. Wenn man etwa zehn Meter unter dem Gebäude durchgetaucht sei, erreiche man eine Luke, die in die Werkstatt führe. Unsere Zweifel ließ er nicht gelten. Tatsächlich tauchte er dann als erster. Im Vertrauen auf seine Aussage sprang Raki nach kurzer Zeit hinterher. Nach dem Eintauchen wurde es sofort stockdunkel. Zweimal stieß Raki beim Schwimmen gegen Stützbäume, die das Gebäude trugen. Der von Anton beschriebene Lichtschacht war nicht zu finden. Raki schwamm weiter und spürte plötzlich einen Schlag gegen seine Stirn. Er war gegen eine Mauer gestoßen. Er begriff: Da gab es keinen Luftschacht - oder er war daran vorbei geschwommen. Die Luft wurde ihm knapp. Das ihn umgebende Wasser schien ihn zu erdrücken. Er erkannte: Es war höchste Eile geboten! Mit den Füßen stieß er sich von der Mauer ab und bemühte sich, die Richtung zurück im rechten Winkel zur Wand konsequent beizubehalten. Dreimal müsste er Stützbäumen, gegen die er stieß, ausweichen. Die Zeit schien endlos zu werden. Der Druck im Kopf steigerte sich zur Unerträglichkeit. Unwiderstehliche Atemnot schien ihm den Kopf zu zersprengen. Mit äußerstem Willen zwang er sich, jetzt bloß nicht in Panik zu geraten. Er sagte sich: Wenn du ruhig bleibst und nur willst, dann kommst du hier raus! Er schwamm, schwamm und zwang sich eisern: Durchhalten, durchhalten! - Und dann wurde das Wasser heller und heller. Nach wenigen Schwimmstößen hatte er es geschafft.
Beim Auftauchen war er fix und fertig. Erst jetzt begriff er richtig, in welcher Gefahr er sich befunden hatte. Darm durchfuhr es ihn: Anton! Ihm schwante Böses. Er rief dem kleinen Willi zu: „Los renn' und alarmiere die Feuerwehr!“
In wenigen Minuten hatte sich dann fast die gesamte Betriebsbelegschaft versammelt. Die Männer der Betriebsfeuerwehr pumpten das Wasser aus. Raki mit seinen 14 Jahren ließ sich eine Leine geben, band sie sich um den Bauch und tauchte noch dreimal in das dunkle, schmutzige Becken, um Anton zu suchen. Beim dritten Mal wäre er trotz der Leine fast ertrunken, weil sich die Halteleine um einen Stützbaum verwickelt hatte. Raki brach dann erschöpft das Tauchen ab.
Nach einer guten Stunde wurde Antons Leiche im hintersten Winkel des unterirdischen Kanals vor einem Rechen gefunden. Anton hatte sich offenbar verirrt. Die von ihm beschriebene Luke gab es nicht. Es ist für Raki immer ein Rätsel geblieben, warum Anton diese Geschichte erzählte, und von wem er sie vielleicht gehört hatte.
Mit Schrecken denkt Raki an die Beerdigung in Haslach. Es war der heißeste Tag des Jahres. Jedenfalls kam es ihm so vor. Eine riesige Menschenmenge und ein weiter Weg von der Friedhofskapelle zum Grab. Raki war einer der vier Sargträger. Alles Arbeitskameraden. Durch die Hitze war ein penetranter starker Leichengeruch widerlicher Begleiter auf dem nicht enden wollenden Weg. Zudem tropfte aus dem Sarg alle paar Meter rötliche Leichenflüssigkeit. Raki musste aufpassen, dass die Tropfen nicht auf seine Schuhe fielen.
Raki spürt, er wird jetzt nicht schlafen können. Um Mauke nicht zu wecken, steht er leise auf, zieht sich seinen Morgenmantel an und geht ins Wohnzimmer. Auf seinem Schreibtisch liegen einige Zeitschriften. Er blättert sie oberflächlich durch. Er nimmt dann den SPIEGEL mit der SchlagzeileFlick - Zahlmeister der Republikin die Hand. Auf dem Titelblatt das Konterfei von Friedrich Karl Flick, der es mit seinen Zuwendungen an die Parteien in Millionenhöhe zu einer ernsten Krise in der Bundesrepublik hat kommen lassen. Immerhin musste inzwischen Rainer Barzel gehen. Und Kohl, Genscher, Strauß und auch Männer der SPD sehen nicht gut aus. Sie alle haben kassiert - und offensichtlich nicht allein von Flick. Auch andere Firmennamen sind aufgetaucht. Wie Bosch, Porsche, Mercedes. Da sind hohe Beträge von Hand zu Hand gegangen. 'Wenn es nicht so ernst wäre, könnte man ob dieser Schmierenkomödie lachen, überlegt Raki.
Der kleine Signalton seiner Quarzuhr zeigt ihm an, dass es zwei Uhr sein muss. 'Wird mit den Einsatzfahrzeugen doch nicht so schlimm gewesen sein'.
Dann legt er den Spiegel zur Seite und öffnet das linke Schreibtischfach. Sein Blick fällt auf ein in orangefarbenem Karton zusammen geheftetes Manuskript, das er im Alter von 31 Jahren geschrieben hat. Er nimmt das Buch nachdenklich in die Hand. 'Ja, dieGedanken am Horizonthabe ich voll Idealismus geschrieben'.
Er schlägt die erste Seite auf und schaut das Inhaltsverzeichnis durch. Es umfasst fünfzehn Kapitel. Dann blättert er um und liest das dem Buch vorangestellte Gedicht langsam Zeile für Zeile, als müsste er jetzt versuchen, hinter den Sinn der selbstverfassten Zeilen zu kommen:
Was wäreeine Stimme ohne Ohren-sinnlos verloren?
ohne Raum und Zeit-absolute Ewigkeit?
ein Gott ohne Menschenglauben-müsste der nicht verstauben?
ein Ende ohne Beginn-bekäme das einen menschlichen Sinn?
ein Leben ohne Tod-ewige Not?
die Dunkelheit ohne Licht-ich weiss es nicht!
'Vielleicht', sinniert Raki, 'drücken diese Verse aus, was auch heute von mir so empfunden wird: Wir Menschen sind außerstande, unsere Welt und uns selbst wahrhaft zu begreifen. Das Geheimnis Leben können wir nicht verstehen.- vielleicht, weil wir ein Teil von ihm sind'.
Er blättert um und liest weiter:
Im Januar 1973
Meine lieben Kinder, liebe Beate, lieber Peter,
Ihr seid nun neun und siebeneinhalb Jahre alt, und wir leben in einer Zeit der Gärung.
Meine Gedanken eilen in die Zukunft, von der ich nicht wissen kann, wie sie aussehen wird. Esist fraglich, ob ich später je die Gelegenheit haben werde, mich Euch verständlich zu machen. Ichkönnte sterben, bevor Ihr groß seid - und dann wüsstest Ihr eigentlich nichts von mir und jenenGedanken, die mich beschäftigen. Erschreckt nicht, wenn ich im Alter von 31 Jahren an den Toddenke und ihn für mich persönlich jederzeit einkalkuliere. Aber der Tod ist immer möglich - undauch notwendig für alles Leben auf dieser Erde.
Mich drängt es, Euch für später aufzuschreiben, wie und was ich heute denke und glaube. Erstwenn Ihr einiges davon wisst, werdet Ihr eines Tages ein Urteil über mich fällen - und vielleichtVerständnis für mich aufbringen können.
Ich bitte Euch, meine Gedanken kritisch nachzudenken. Kritisch sein heißt doch nichts anderes, als sich mit den Dingen intensiv zu beschäftigen und dabei eigene Gedanken zu entwickeln.Voraussetzung für ein positives kritisches Bewusstsein ist, wie ich es sehe, die Selbstkritik. Wennwir ständig an uns arbeiten, uns immer wieder selbst überprüfen, verhilft uns diese Selbstkritikzu einem flexiblen Standort.
Viele Menschen meinen, sie müssten einen einmal bezogenen Standpunkt um jeden Preis behaupten. Davon halte ich nichts. Es gab zwar Zeiten - und auch heute denken wohl noch vieleso - in denen die Überzeugung vorherrschte, dass ein Mann eine feste Meinung und Prinzipienzu haben hat, nach denen er sein Leben ausrichtet und die er wie seine Ehre verteidigen muss.Diese Prinzipientreue hat ganz sicher für das Leben der Menschen miteinander eine wichtigeBedeutung. Sie birgt aber auch Gefahren in sich. Wie ich es sehe, durchläuft der Mensch währendseines Lebens einen Wandlungsprozess. Neue Erfahrungen, Erkenntnisse, die auf ihn eindringen,und mit wachsendem Alter eine zunehmende Übersicht über die Dinge ermöglichen, zwingenvielfach zum Meinungswandel. Das Alter kann sich seine gewonnenen Erfahrungen, sein Wissenjedoch nur zu Nutze machen, wenn die Bereitschaft zum Umdenken grundsätzlich besteht. Sindaber stattdessen nur unverrückbare Prinzipien vorhanden, laufen wir Gefahr, die Ewig-Gestrigen' zu sein. Dann bleiben wir im wahrsten Sinne des Wortes 'Kinder unserer Zeit' und hemmenalles, was diese Zeit zu überwinden versucht.
Wenn ich zu bestimmten, mir wichtig erscheinenden Themen meine heutigen Gedankenschriftlich zu fixieren versuche, bin ich mir bewusst, dass das nur bruchstückweise möglich seinkann. Sollte es mir trotzdem gelingen, Euch auf diesem Wege eine Ahnung von meinem Denken zuvermitteln, würde ganz glücklich sein
Euer Papi
Jetzt lässt Raki das Manuskript sinken, lehnt sich in den Sessel zurück, legt die Füße entspannt und ausgestreckt auf die Schreibtischplatte und fragt sich: 'Denke ich heute auch noch so - oder bin ich in meiner Art zu denken schon eingeschnürter? Es ist wohl so: Meine Auffassungen kristallisieren sich in manchen Punkten zu Überzeugungen. Unumstößlich sind sie aber nicht'.
Anschließend liest Raki einiges im Kapitel, dessen Überschrift zum Titel des Manuskripts ausgewählt wurde:
Gedanken am Horizont
Wer stellt sich nicht irgendwann in seinem Leben die Frage nach der Größe des Weltalls, nachseinem Anfang und Ende. Oft lag ich als Jüngling abends oder nachts unter wolkenlosem Himmelirgendwo im Freien und blickte sinnend in die Vielzahl der Gestirne. Immer wieder versuchte ich,auf alle jene Fragen eine Antwort zu finden, die sich mir aufdrängten. Auch in der Schule konnteich keine Antworten finden. Dort hatte ich überhaupt nichts vom Kosmos gehört. Und dabei hätteich zumindest gerne eine vage Vorstellung gehabt. Das einzige'Wissen'über das Weltall erfuhrich von unserem Religionslehrer. Es stammte aus der Schöpfungsgeschichte der Bibel!
'Die Bildungssituation zwischen damals und heute', denkt Raki dazu, 'hat sich doch sehr verändert. Alleine durch das Fernsehen werden einem heute bestimmte Themenkomplexe wie spielend nahegebracht'. Er blättert einige Seiten weiter:
Kein Mensch wird je alle sich stellenden Fragen entwirren und beantworten können. Die besten technischen Hilfsmittel sind nur geeignet, dem Menschen eine bessere Vorstellung für seinenächste Umgebung im All zu vermitteln. Doch gleichzeitig zeigen ihm gerade diese Hilfsmittelseine Winzigkeit im System dieser Welt. Mit der wachsenden Entfernung, in der es uns möglichsein wird, immer neue Sternensysteme und Vorgänge im Kosmos zu entdecken, kommen wir letztlich doch nicht dahinter, welche Ausdehnung das All hat. Unsere Vorstellungskraft reicht nichtaus, jene Größe zu begreifen, die sich im All auftut. Doch alleine schon die Ahnung von den Vorgängen im Kosmos ist überwältigend und sinnverwirrend...
Als Menschen sind wir in Raum und Zeit gestellt. Wir erfahren und lernen, dass die Sonnenach bestimmten Zeitabläufen am Horizont erscheint und verschwindet - wir denken in Zeiteinheiten. Wir erfahren und lernen auch, dass es keine Grenzen gibt. Wo der Fluss aufhört beginntdas Meer und dahinter wieder das Festland. Es ist immer etwas dahinter. Unsere andere Erfahrung lehrt uns aber, räumlich und damit in Grenzen zu denken, wollen wir uns in dieser Welt undvor allem auf der Erde orientieren. Das hat verhängnisvolle Konsequenzen: Wir denken uns dieWelt in Grenzen und erwarten gleichzeitig, dass sie grenzenlos ist. Ähnliches widerfährt uns mitder Zeit. Wir bestehen auf einen Anfang und einem Ende und kalkulieren doch mit der Ewigkeit.Deshalb sind letztlich sie die Probleme, die unser Verstand nicht zu verarbeiten vermag: Unendlichkeit und Ewigkeit. Aus unserer menschlichen Natur heraus sind wir nicht fähig, Unendlichesund Ewiges wirklich zu begreifen.
Raki lehnt sich zurück: Wie groß wird wohl die Wahrscheinlichkeit sein, dass ähnliche Lebensbedingungen wie auf der Erde existent sind? Eigentlich müssten solche Voraussetzungen geschätzt bei jedem 100. Sonnensystem vorliegen. Das ergäbe ja eine astronomische Zahl von belebten Planeten!
Dann blättert er weiter zu dem Kapitel'Gedanken über Götter und Glauben', überspringt einige Seiten und liest dann:
...Eure Mutter und ich sind deshalb 1971 aus der evangelischen Kirche ausgetreten. Das sollEuch nicht hindern, den eigenen Weg in Glaubensfragen zu suchen ...
...Es ist keinesfalls so, dass ich nicht an irgendeine Schöpfung glaube. Als kleiner Junge wollte ich sogar einmal Pfarrer werden.
Doch es ist mir nicht möglich, die Kraft zu erkennen, die hinter allem stehen mag. Sie zupersonifizieren, indem ich dieser Kraft oder Urgewalt einen Namen gebe - das kann ich nicht...
... Uns Menschen bleibt nur die Erkenntnis: Wir sind mitten in einem für unsere Begriffe ewigen Prozess eingebunden, dem wir nicht entrinnen können. Mit dem ersten Atemzug, mit demersten Augenblick des Lebens gehen wir dem Tod entgegen und sind als Menschengeschlechtund Kreatur ein kleiner Bestandteil einer unbegreiflichen Evolution. Es wäre vermessen anzunehmen, unser Kosmos könnte entstanden oder geschaffen worden sein, um dem Menschen seineEntwicklung zu ermöglichen. Andererseits fallt es auch schwer zu glauben, der Mensch und allesorganische Leben seien zufällig entstanden. Soweit wir Lebensprozesse erforscht haben, müssenwir erkennen, dass alles offenbar nahtlos ineinander über geht und die Naturgesetze zu einemsinnvollen Ganzen zu gehören scheinen.
...Die Achtung, Ehrerbietung, Bewunderung und Erhaltung aller Erscheinungsformen desanorganischen und organischen Lebens istfür mich die Möglichkeit, ohne einen religiösen Glauben zu leben...
'Einen Gesichtspunkt habe ich damals wohl nicht klar genug formuliert', überlegt Raki. 'Die Existenz der Religionen hat seine menschlich vernünftigen und sinnvollen Gründe. Die Völker können nicht auf sie verzichten. Sicher sind die Menschen über ihre Religionen manipulierbarer. Aber sie würden wohl in Resignation verfallen, wenn sie keine psychische Hilfe bekämen. Religionen nähren nicht von ungefähr die Hoffnung auf ein ewiges Leben! Jedoch: Das entscheidende Problem der meisten Religionslehren sind ihre Glaubensdogmen und Alleinvertretungsansprüche. Das erzeugt Intoleranz. Intoleranz ist meines Erachtens auch die Saat, die die größten vermeidbaren Unglücke der Menschheit ermöglichte, so den Keim für Fremden- und Ausländerhass, für die Verfolgung Andersdenkender und sogar für Kriege.
Im Kapitel über die 'Vielfalt des Lebens' liest er sodann:
Und nun ist wohl der Augenblick gekommen, um ein ganz persönliches Bekenntnis abzulegen.Mir gefällt die Welt und das Leben auf dieser Erde. So wie es ist. Wie einfältig waren doch jene,die nur von sieben Weltwundern sprachen. Wir sind doch nur von Wundern umgeben! Der Farbenreichtum, die Gegensätzlichkeiten, die Wiedersprüchlichkeiten und Fragwürdigkeiten verleihen dem Dasein einen liebenswerten Reiz...
Raki überblättert die Kapitel'Über Jugend und Alter'und'Über die Liebe'und liest dann einiges aus dem Kapitel'Über den Tod':
Keine Philosophie kann am Tod vorbei. Durch ihn wird ein Leben erst möglich. Nur weil esden Tod gibt, ist das Leben erträglich, kann es schön und wundervoll sein...
...Die meisten Menschen wollen nicht sterben. Für sie kommt der Tod immerzu früh. Im Laufeseiner Entwicklung lernt der Mensch, sein Leben selbst in die Hand zu nehmen. Doch den Todeszeitpunkt kann er normalerweise nicht selbst bestimmen. Der Tod ist das Ende der menschlichenExistenz. Wir sprechen von Hinterbliebenen. Nur für sie kann der Tod bedeutungsvoll sein. DerBetroffene selbst wird nach meiner Überzeugung nie die Auswirkungen des Todes erfahren...
...einen Anteil am 'ewigen Leben'erreichen wir vielleicht nur, wenn wir über Kinder unserErbgut weiter gegeben haben...
Raki blättert weiter und liest unterm Kapitel 'Vom Sinn des Lebens' ausschnittweise:
...Wir leben inmitten einer sich ständig vollziehenden Schöpfungsgeschichte, die schon vorMilliarden Jahren begann, die vielleicht noch viele Milliarden Jahre dauern wird. Eines Tagesverglüht unsere Sonne, die Erde erkaltet, und alles Leben erlischt. Diese Perspektive erlaubt unsaber nun nicht mehr, weitere Spekulationen über den Sinn des Lebens anzustellen.
Wer die sich ergänzenden und aufeinander abgestimmten Naturgesetze bedenkt, wird sichauch fragen, wie dies alles möglich sein kann! Doch wohl kaum aus sich selbst heraus - aberauch nicht durch die Macht eines Gottes, der menschliche Züge hat. Es kommt für mich nur eineKraft in Frage, für die weder unsere menschliche Vorstellungskraft noch unser Glaube eine wahre Antwort finden kann.
Menschen sind wir alle
Es ist erschreckend für mich, dass es heute noch von Nationalisten und Rassisten wimmelt.Schließlich leben wir doch schon über 200 Jahre nach der Aufklärung! Ich sehe ein: Die verschiedenartigen Entwicklungen und Geschichtsabläufe der Völker haben auch unterschiedlicheMenschentypen hervor gebracht. Schließlich wirken sich Sprache und Kultur entscheidend aufdie Denkungsart aus. Und doch: Wir sind alle Menschen, gehören einer Art an. Aber manchescheinen unsere vielschichtige Natur in unseren Artgenossen zu hassen...
...Schon zur Zeit der Kreuzzüge genügte es, wenn die christlichen Heerführer sagten: AlleHeiden sind Sünder. Wer sich nicht bekehren lassen will, muss sterben...
Ausblick
Wir leben nicht mehr nur in der Atom-, sondern auch in der Astronautenzeit. Die technischeEntwicklung, die uns prägt, breitet sich explosiv aus. Während unsere Vorfahren noch Jahrtausende und Jahrhunderte unter einen Begriff einzuordnen vermochten, mit dem sie eine bestimmteZeitspanne der menschlichen Entwicklungsgeschichte charakterisieren konnten, sind solche Epochen jetzt auf wenige Jahrzehnte, ja wenige Jahre zusammengeschrumpft.
Lange fand der Mensch das Leben überschaubar und konnte einen gesicherten Standort beziehen. Mit dem Zeitalter der industriellen Entwicklung, der Atomkraft, des Computers und derRaumfahrt hat sich das total geändert.
Der einzelne Mensch hat die Übersicht und Orientierung verloren. Seine Entwicklungen nehmen unauflialtsam ihren Lauf. Niemand ist da, der diese Entwicklung insgesamt noch erfassen,nennenswert beeinflussen oder diktieren kann. Wir sind alle Spezialisten geworden, von denenjeder an der Gesamtentwicklung mitarbeitet, die aber keiner mehr zu lenken vermag. Der Einzelne hat in der Masse keine Bedeutung mehr. Selbst dann nicht, wenn er für kurze Zeit in ihremBlickpunkt steht. Die Massengesellschaft zwingt den einzelnen sich ihr anzupassen, im Strom mitzu schwimmen. Aber sie vermag ihm nicht das Gefühl der Vereinsamung zu nehmen... Wir lebennicht nur in einer Massengesellschaft, sondern auch in einer Demokratie. Die Demokratie isteine Staatsform, die sich nach den Bedürfnissen des einzelnen orientieren sollte. Keine andereStaatsform ermöglicht dem Menschen jenen persönlichen Freiheitsraum, wie ich ihn in der Demokratie schätzen gelernt habe und deshalb auch zu verteidigen bereit bin. Natürlich weiss ich,dass die Demokratie nicht perfekt ist und ihre Mängel hat...
Raki blättert gähnend bis zur letzten Seite das Manuskript durch. Dort liest er noch:
...Wichtiger als die Wahrheitssuche in der Welt scheint mir zu sein, dass wir uns selbst prüfenund fragen: Wie sind wir? Was sind unsere geheimen Wünsche? Was sind unsere Fähigkeiten,unsere Fehler und Schwächen? Sind wir überhaupt bereit, uns ehrlich zu prüfen und zu versuchen, uns selbst zu erkennen? Beginnt nicht hier die Wahrheit - bei und in uns selbst? Vor allemdiese Wahrheit müssen wir suchen und ernst nehmen, dürfen aber nicht an ihr verzweifeln, dennsie erschließt uns das Schöne genauso wie das Hässliche. Und sie legt dar, dass der Mensch demMenschen nicht gerecht werden kann, weil er immer nur von den eigenen Maßstäben ausgeht -und dann ist das Unrecht nicht mehr weit...
Raki ist froh. Ihm werden die Augenlider schwer. Er gähnt tief und langanhaltend. 'Jetzt wird's aber höchste Zeit, ins Bett zu kriechen', denkt er. Die Augen fallen ihm zu. Er bleibt im Sessel hinter dem Schreibtisch sitzen. Die Beine liegen noch immer auf der Schreibtischplatte. Der linke Arm macht sich selbständig. Er senkt sich. Dabei fallt das Manuskript auf den Boden. Raki schläft ein.
Er träumt.
Zuerst schemenhaft, dann deutlich sieht er einen Mann über den Stephansplatz in Konstanz gehen. Es ist Nacht und es schneit. Die schwarze Gestalt hebt sich gespenstisch vom hellen Schneehintergrund ab. Raki erkennt sich selbst. Er identifiziert sich mit dieser gespenstischen schwarzen Gestalt.
Im Vorbeigehen sieht er an einem alten Kleinwagen einen Aufkleber mit dem Aufdruck 'Nobody is perfekt'. 'Wie sinnig', denkt er, 'und du hast Dir eine ganze Menge vorgenommen - aber jetzt musst du da durch. Sei nicht feige. Du bist doch sonst nicht ängstlich. Fürchtest nicht Tod und nicht Teufel. Also auf in den Kampf! ', ruft er sich selbst zu. Er hebt den Blick und geht mit eiligen Schritten auf das Bürgerhaus zu. Zwei frische Wandschmierereien erwecken seine Aufmerksamkeit. In verblichener Farbe steht da
Volkszählungsboykott
(darunter in frischem Rot)
Von wem kriegen denn hier
die Politiker das Geld - Ätsch
Raki bleibt stehen. Die Volkszählungsgegner haben immerhin ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts erreicht, das dem Unbehagen in weiten Bevölkerungskreisen Ausdruck verliehen hat. Und das Verfassungsgericht hat sich wieder einmal als Hüter von grundlegenden Verfassungsprinzipien verdient gemacht.
Die Parolen sind genau unter dem 'Hecker-Balkon' gesprüht worden. Diesen Namen hat Raki dem Balkon bei seinen täglichen Vorbeigängen gegeben. Raki liest auf der unter dem Balkon in der Wand eingelassenen Sandsteintafel:
Vom Balkon dieses Hauses proklamierte am 12. April 1848-Friedrich Hecker-die erste deutsche Republik
Raki empfindet Sympathie für Hecker. Er war einer von mutigen Revolutionären, die Deutschland weiter gebracht haben. 'In Konstanz ist aber auch Jan Hus verbrannt worden', denkt er. Raki lächelt in sich hinein, als er seinen Weg fortsetzt. Entschlossen geht er auf die Eingangstüre zum Bürgersaal zu.
Das laute Stimmengewirr verstummt schlagartig, als er den Saal betritt. Die Menschen öffnen ihm eine breite Gasse, die zum Podium führt. Raki bleibt zuerst stehen. Er blickt in erwartungsvolle Gesichter. Dann geht er mit festen Schritten zum Rednerpult. Er steigt auf das Podium und tritt hinter das Pult. Die Versammlungsteilnehmer klatschen. Raki schaut sich erneut in der Menge um.
Er erkennt niemand. Und doch sind ihm alle sehr nah. Ihm tut der Beifall gut. Das Lampenfieber ist verflogen. Eine innere Beklemmung hat sich gelöst. Raki hebt dankend und zur Ruhe bittend beide Hände. Das Klatschen verstummt.
Raki fängt zu sprechen an:
„Meine lieben Freunde!
Dieser überfüllte Saal erfreut mich. Es ist umwerfend. Aber ich will standhaft bleiben. Zuallererst meinen herzlichen Dank für Ihr Interesse. Es macht mir Mut. Hören Sie mich bitte erst einmal an. Dann haben wir auch eine Diskussionsbasis.
Meine Einladung zu dieser Veranstaltung richtete sich an alle kritischen Bürger und überzeugten Demokraten. Ihr Empfang für mich sagt mir, ich kann Sie wohl alle dazu zählen. Bevor ich zur Sache komme, sind einige Worte zu meiner Person notwendig:
Ich bin ein politisch sehr interessierter Mensch. Zur unabhängigen Erfüllung meiner beruflichen Aufgaben als Leiter der Kriminalpolizei dieser schönen Stadt bin ich parteilos geblieben. Das meinte ich meinen Mitbürgern schuldig zu sein. Außerdem erleichtert das gegenüber jeder demokratisch legitimierten Regierung die für einen Polizeiführer gebotene Loyalität. Meine bisher geübte Zurückhaltung gebe ich heute auf. Aus Überzeugung kann ich nicht länger schweigen. Deshalb habe ich Sie zu dieser Versammlung gebeten. Ich allein trage dafür auch die Verantwortung.
Doch nun zur Sache. Was ist passiert? Unsere erst 36 Jahre alte Bundesrepublik ist von innen heraus faul und morsch geworden. Wichtige politische Repräsentanten unserer Gesellschaft haben versagt. Sie haben unsere Demokratie in ihrem Mark schwer verletzt. Und das Schlimme: Sie haben nicht die Kraft und den Mut zur Selbstreinigung! Dringend notwendige Konsequenzen sind ausgeblieben. Sie wissen - ich rede vom Parteispenden-Skandal!
Mit dem Parteispenden-Skandal ist eine Fratze unserer Demokratie sichtbar geworden.“
Im Publikum beginnt ein Raunen und Gemurmel. Einzelne Pfiffe werden laut. „Ruhig - weitersprechen lassen“, ruft ein Mann mit fordernder Stimme.
Raki spricht weiter:
„Manch einer wird nun sagen: Was will denn der. Unser System funktioniert doch. Die Manipulationen mit den Parteispenden und mit dubiosen Geldern der Wirtschaft sind aufgeflogen. Einige haben ihren Hut nehmen müssen. Andere werden ihn noch nehmen. Punktum. Außerdem stehen verschiedene Gerichtsverfahren ins Haus. Sie werden die notwendige Abrechnung mit den Verantwortlichen bringen.
Das stimmt nur teilweise. Strafrechtlich verfolgt werden lediglich einige Spender und Steuerkriminelle. Viele reden verharmlosend von Steuersündem. Und auf Seiten der Empfänger haben nur jene etwas zu befürchten, die zum Zeitpunkt des Spendenempfangs ein öffentliches Amt innehatten. Das auch nur dann, wenn ihre politischen Entscheidungen den Verdacht der Bestechlichkeit begründen. Alle anderen Parteigrößen und Parlamentarier, die gegen das Parteiengesetz verstoßen haben, bleiben straffrei.
Lassen Sie mich auch dies sagen: Der begründete Anschein der Korruptheit von Parteien und deren Mandatsträger gefährdet unsere Demokratie mehr als Bomben und Morde von irregeleiteten Extremisten. Wenn das Vertrauen in die Integrität der demokratischen Organe schwindet, verliert auch die Demokratie die erforderliche Vertrauensbasis im Volke. Das aber ist der günstige Nährboden, auf dem schlimme Demagogen eine Chance haben. Wir Deutschen können uns eine solche Entwicklung nicht mehr leisten.