Mein Weltbild - Albert Einstein - E-Book

Mein Weltbild E-Book

Albert Einstein

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Beschreibung

Bahnbrechender Physiker, genialer Schöpfer, eigensinniger Rebell – Albert Einstein war ohne Zweifel eine beeindruckende Persönlichkeit. Bücher über ihn gibt es wie Sand am Meer, aber hier kommt ausschließlich er selbst zu Wort: In Briefen, Notizen, Artikeln, Glossen, Reden und Interviews entfaltet sich so ein Bild eines vielseitig interessierten Wissenschaftlers, von dem bis heute eine einzigartige Faszination ausgeht.

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ALBERT EINSTEIN

MeinWeltbild

Herausgegeben von Carl Seelig

Das eBook einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt.Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzesist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das giltinsbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungenund die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.Der Nutzer verpflichtet sich, die Urheberrechte anzuerkennen undeinzuhalten.

1. eBook-Ausgabe 2021Vollständige Taschenbuchausgabe 2021© 1955, 2021 Europa, ein Imprint der Europa Verlage GmbH, MünchenUmschlaggestaltung und Motiv:Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, ZürichSatz: Robert Gigler, MünchenGesetzt aus der Minion Pro und der Cera Compact Pro

Konvertierung: BookwireePub-ISBN: 978-3-95890-474-3

Alle Rechte vorbehalten.www.europa-verlag.com

Inhalt

I. Wie ich die Welt sehe

Wie ich die Welt sehe

Vom Sinn des Lebens

Der wahre Wert eines Menschen

Vom Reichtum

Gemeinschaft und Persönlichkeit

Der Staat und das individuelle Gewissen

Gut und Böse

Religion und Wissenschaft

Die Religiosität der Forschung

Verlorenes Paradies

Die Notwendigkeit der ethischen Kultur

Faschismus und Wissenschaft

Von der Freiheit der Lehre

Neuzeitliche lnquisitionsme thoden

Erziehung zu selbständigem Denken

Erziehung und Erzieher

An japanische Schulkinder

Lehrer und Schüler

Die Davoser Hochschulkurse

Ansprache am Grabe von H. A. Lorentz

H. A. Lorentz’ Tätigkeit im Dienst der Zusammenarbeit

H. A. Lorentz als Schöpfer und als Persönlichkeit

Josef Popper-Lynkeus

Zum 70. Geburtstag von Arnold Berliner

Gruß an George Bernard Shaw

Bertrand Russell und das philosophische Denken

Die Interviewer

Glückwunsch an einen Kritiker

Meine ersten Eindrücke in Nordamerika

Antwort an amerikanische Frauen

II. Politik und Pazifismus

Friede

Zur Abschaffung der Kriegsgefahr

Das pazifistische Problem

Ansprache vor der Abrüstungsversammlung der Studenten

Von der Dienstpflicht

An Sigmund Freud

Die Frauen und der Krieg

Drei Briefe an Friedensfreunde

Aktiver Pazifismus

Ein Abschied

Zur Frage der Abrüstung

Zur Abrüstungskonferenz von 1932

Amerika und die Abüstungskonferenz von 1932

Vom Schiedsgericht

Die Internationale der Wissenschaft

Von den Minderheiten

Deutschland und Frankreich

Das Institut für geistige Zusammenarbeit

Kultur und Wohlstand

Krankheitssymptome des kulturellen Lebens

Gedanken über die ökonomische Weltkrise

Produktion und Kaufkraft

Produktion und Arbeit

Bemerkungen zur gegenwärtigen europäischen Situation

Vom friedlichen Zusammenleben der Nationen

Zur Sicherung des Menschengeschlechtes

Wir Erben

III. Im Kampf gegen den Nationalsozialismus

Bekenntnis

Briefwechsel mit der Preußischen Akademie der Wissenschaften

Ein Brief der Bayerischen Akademie der Wissenschaften

Antwort auf die Einladung zur Teilnahme an einer Demonstration

IV. Jüdische Probleme

Jüdische Ideale

Gibt es eine jüdische Weltanschauung?

Christentum und Judentum

Jüdische Gemeinschaft

Antisemitismus und akademische Jugend

Ansprachen über das palästinensische Aufbauwerk

Arbeitendes Palästina

Jüdische Gesundung

Brief an einen Araber

Über die Notwendigkeit des Zionismus

Aphorismen für Leo Baeck

V. Wissenschaftliche Beiträge

Prinzipien der Forschung

Prinzipien der theoretischen Physik

Zur Methodik der theoretischen Physik

Geometrie und Erfahrung

Was ist Relativitätstheorie?

Über Relativitätstheorie

Einiges über die Entstehung der Allgemeinen Relativitätstheorie

Das Raum-, Äther- und Feld-Problem der Physik

Johannes Kepler

Newtons Mechanik und ihr Einfluß auf die Gestaltung der theoretischen Physik

Maxwells Einfluß auf die Entwicklung der Auffassung des Physikalisch-Realen

Das Flettner-Schiff

Die Ursache der Mäanderbildung der Flußläufe und des Baerschen Gesetzes

Über wissenschaftliche Wahrheit

Zur Erniedrigung des wissenschaftlichen Menschen

Anmerkungen des Herausgebers

IWie ich die Welt sehe

Wie ich die Welt sehe

Wie merkwürdig ist die Situation von uns Erdenkindern! Für einen kurzen Besuch ist jeder da. Er weiß nicht, wofür, aber manchmal glaubt er, es zu fühlen. Vom Standpunkt des täglichen Lebens ohne tiefere Reflexion weiß man aber: man ist da für die anderen Menschen – zunächst für diejenigen, von deren Lächeln und Wohlsein das eigene Glück völlig abhängig ist, dann aber auch für die vielen Ungekannten, mit deren Schicksal uns ein Band des Mitfühlens verknüpft. Jeden Tag denke ich unzählige Male daran, daß mein äußeres und inneres Leben auf der Arbeit der jetzigen und der schon verstorbenen Menschen beruht, daß ich mich anstrengen muß, um zu geben im gleichen Ausmaß, wie ich empfangen habe und noch empfange. Ich habe das Bedürfnis nach Genügsamkeit und habe oft das drückende Bewußtsein, mehr als nötig von der Arbeit meiner Mitmenschen zu beanspruchen. Die sozialen Klassenunterschiede empfinde ich nicht als gerechtfertigt und letzten Endes als auf Gewalt beruhend. Auch glaube ich, daß ein schlichtes und anspruchsloses äußeres Leben für jeden gut ist, für Körper und Geist.

An Freiheit des Menschen im philosophischen Sinne glaube ich keineswegs. Jeder handelt nicht nur unter äußerem Zwang, sondern auch gemäß innerer Notwendigkeit. Schopenhauers Spruch: »Ein Mensch kann zwar tun, was er will, aber nicht wollen, was er will«, hat mich seit meiner Jugend lebendig erfüllt und ist mir beim Anblick und beim Erleiden der Härten des Lebens immer ein Trost gewesen und eine unerschöpfliche Quelle der Toleranz. Dieses Bewußtsein mildert in wohltuender Weise das leicht lähmend wirkende Verantwortungsgefühl und macht, daß wir uns selbst und die andern nicht gar zu ernst nehmen; es führt zu einer Lebensauffassung, die auch besonders dem Humor sein Recht läßt.

Nach dem Sinn oder Zweck des eigenen Daseins sowie des Daseins der Geschöpfe überhaupt zu fragen, ist mir von einem objektiven Standpunkt aus stets sinnlos erschienen. Und doch hat andererseits jeder Mensch gewisse Ideale, die ihm richtunggebend sind für das Streben und für das Urteilen. In diesem Sinn ist mir Behagen und Glück nie als Selbstzweck erschienen (ich nenne diese ethische Basis auch Ideal der Schweineherde). Meine Ideale, die mir voranleuchteten und mich mit frohem Lebensmut immer wieder erfüllten, waren Güte, Schönheit und Wahrheit. Ohne das Gefühl von Übereinstimmung mit Gleichgesinnten, ohne die Beschäftigung mit dem Objektiven, dem ewig Unerreichbaren auf dem Gebiet der Kunst und des wissenschaftlichen Forschens wäre mir das Leben leer erschienen. Die banalen Ziele menschlichen Strebens: Besitz, äußerer Erfolg, Luxus, erschienen mir seit meinen jungen Jahren verächtlich.

Mein leidenschaftlicher Sinn für soziale Gerechtigkeit und soziale Verpflichtung stand stets in einem eigentümlichen Gegensatz zu einem ausgesprochenen Mangel an unmittelbarem Anschlußbedürfnis an Menschen und an menschliche Gemeinschaften. Ich bin ein richtiger »Einspänner«, der dem Staat, der Heimat, dem Freundeskreis, ja, selbst der engeren Familie nie mit ganzem Herzen angehört hat, sondern all diesen Bindungen gegenüber ein nie sich legendes Gefühl der Fremdheit und des Bedürfnisses nach Einsamkeit empfunden hat, ein Gefühl, das sich mit dem Lebensalter noch steigert. Man empfindet scharf, aber ohne Bedauern die Grenze der Verständigung und Konsonanz mit anderen Menschen. Wohl verliert ein solcher Mensch einen Teil der Harmlosigkeit und des Unbekümmertseins, aber er ist dafür von den Meinungen, Gewohnheiten und Urteilen der Mitmenschen weitgehend unabhängig und kommt nicht in die Versuchung, sein Gleichgewicht auf solch unsolide Grundlage zu stellen.

Mein politisches Ideal ist das demokratische. Jeder soll als Person respektiert und keiner vergöttert sein. Eine Ironie des Schicksals, daß die andern Menschen mir selbst viel zuviel Bewunderung und Verehrung entgegengebracht haben, ohne meine Schuld und ohne mein Verdienst. Es mag wohl von dem für viele unerfüllbaren Wunsch herrühren, die paar Gedanken zu verstehen, die ich mit meinen schwachen Kräften in unablässigem Ringen gefunden habe. Ich weiß zwar sehr wohl, daß es zur Erreichung jedes organisatorischen Zieles nötig ist, daß einer denke, anordne und im Großen die Verantwortung trage. Aber die Geführten sollen nicht gezwungen sein, sondern den Führer wählen können. Ein autokratisches System des Zwanges degeneriert nach meiner Überzeugung in kurzer Zeit. Denn Gewalt zieht stets moralisch Minderwertige an, und es ist nach meiner Überzeugung Gesetz, daß geniale Tyrannen Schurken als Nachfolger haben. Aus diesem Grunde bin ich stets leidenschaftlicher Gegner solcher Systeme gewesen, wie wir es heute in Italien und Rußland erleben. Was die im gegenwärtigen Europa herrschende demokratische Form in Mißkredit gebracht hat, ist nicht der demokratischen Grundidee zur Last zu legen, sondern dem Mangel an Stabilität der Spitzen der Regierungen und dem unpersönlichen Charakter des Wahlmodus. Ich glaube aber, daß die Vereinigten Staaten von Nordamerika in dieser Beziehung das Richtige getroffen haben: sie haben nämlich einen auf genügend lange Zeit gewählten, verantwortlichen Präsidenten, der genug Macht hat, um tatsächlich Träger der Verantwortung zu sein. Dagegen schätze ich an unserem Staatsbetrieb die weitergehende Fürsorge für das Individuum im Falle von Krankheit und Not. Als das eigentlich Wertvolle im menschlichen Getriebe empfinde ich nicht den Staat, sondern das schöpferische und fühlende Individuum, die Persönlichkeit: sie allein schafft das Edle und Sublime, während die Herde als solche stumpf im Denken und stumpf im Fühlen bleibt.

Bei diesem Gegenstand komme ich auf die schlimmste Ausgeburt des Herdenwesens zu reden: auf das mir verhaßte Militär! Wenn einer mit Vergnügen in Reih und Glied zu einer Musik marschieren kann, dann verachte ich ihn schon; er hat sein großes Gehirn nur aus Irrtum bekommen, da für ihn das Rückenmark schon völlig genügen würde. Diesen Schandfleck der Zivilisation sollte man so schnell wie möglich zum Verschwinden bringen. Heldentum auf Kommando, sinnlose Gewalttat und die leidige Vaterländerei, wie glühend hasse ich sie, wie gemein und verächtlich erscheint mir der Krieg; ich möchte mich lieber in Stücke schlagen lassen, als mich an einem so elenden Tun beteiligen! Ich denke immerhin so gut von der Menschheit, daß ich glaube, dieser Spuk wäre schon längst verschwunden, wenn der gesunde Sinn der Völker nicht von geschäftlichen und politischen Interessenten durch Schule und Presse systematisch korrumpiert würde.

Das Schönste, was wir erleben können, ist das Geheimnisvolle. Es ist das Grundgefühl, das an der Wiege von wahrer Kunst und Wissenschaft steht. Wer es nicht kennt und sich nicht mehr wundern, nicht mehr staunen kann, der ist sozusagen tot und sein Auge erloschen. Das Erlebnis des Geheimnisvollen – wenn auch mit Furcht gemischt – hat auch die Religion gezeugt. Das Wissen um die Existenz des für uns Undurchdringlichen, der Manifestationen tiefster Vernunft und leuchtendster Schönheit, die unserer Vernunft nur in ihren primitivsten Formen zugänglich sind, dies Wissen und Fühlen macht wahre Religiosität aus; in diesem Sinn und nur in diesem gehöre ich zu den tief religiösen Menschen. Einen Gott, der die Objekte seines Schaffens belohnt und bestraft, der überhaupt einen Willen hat nach Art desjenigen, den wir an uns selbst erleben, kann ich mir nicht einbilden. Auch ein Individuum, das seinen körperlichen Tod überdauert, mag und kann ich mir nicht denken; mögen schwache Seelen aus Angst oder lächerlichem Egoismus solche Gedanken nähren. Mir genügt das Mysterium der Ewigkeit des Lebens und das Bewußtsein und die Ahnung von dem wunderbaren Bau des Seienden sowie das ergebene Streben nach dem Begreifen eines noch so winzigen Teiles der in der Natur sich manifestierenden Vernunft.

Vom Sinn des Lebens

Welches ist der Sinn unseres Lebens, welches der Sinn des Lebens aller Lebewesen überhaupt? Eine Antwort auf diese Frage wissen, heißt religiös sein. Du fragst: Hat es denn überhaupt einen Sinn, diese Frage zu stellen? Ich antworte: Wer sein eigenes Leben und das seiner Mitmenschen als sinnlos empfindet, der ist nicht nur unglücklich, sondern auch kaum lebensfähig.

Der wahre Wert eines Menschen

ist in erster Linie dadurch bestimmt, in welchem Grad und in welchem Sinn er zur Befreiung vom Ich gelangt ist.

Vom Reichtum

Ich bin fest davon durchdrungen, daß keine Reichtümer der Welt die Menschheit weiterbringen können, auch nicht in der Hand eines dem Ziele noch so ergebenen Menschen. Nur das Beispiel großer und reiner Persönlichkeit kann zu edlen Auffassungen und Taten führen. Das Geld zieht nur den Eigennutz an und verführt stets unwiderstehlich zum Mißbrauch.

Kann sich jemand Moses, Jesus oder Gandhi bewaffnet mit Carnegies Geldsack vorstellen?

Gemeinschaft und Persönlichkeit

Wenn wir über unser Leben und Streben nachdenken, so bemerken wir bald, daß fast all unser Tun und Wünschen an die Existenz anderer Menschen gebunden ist. Wir bemerken, daß wir unserer ganzen Art nach den gesellig lebenden Tieren ähnlich sind. Wir essen Speisen, die von anderen Menschen erzeugt sind, wir tragen Kleidungsstücke, die andere Menschen hergestellt haben, und bewohnen Häuser, die andere Menschen gebaut haben. Das meiste, was wir wissen und glauben, haben uns andere Menschen mitgeteilt mittels einer Sprache, die andere geschaffen haben. Unser Denkvermögen wäre ohne Sprache gar ärmlich, dem der höheren Tiere vergleichbar, so daß wir wohl gestehen müssen, daß wir dasjenige, was wir den Tieren in erster Linie voraushaben, unserem Leben in menschlicher Gemeinschaft zu verdanken haben. Der einzelne – von Geburt an allein gelassen – würde in seinem Denken und Fühlen tierähnlich-primitiv bleiben in einem Maß, das wir uns nur schwer vorzustellen vermögen. Was der einzelne ist und bedeutet, ist er nicht so sehr als Einzelgeschöpf, sondern als Glied einer großen menschlichen Gemeinschaft, die sein materielles und seelisches Dasein von der Geburt bis zum Tod leitet.

Was ein Mensch für seine Gemeinschaft wert ist, hängt in erster Linie davon ab, inwieweit sein Fühlen, Denken und Handeln auf die Förderung des Daseins anderer Menschen gerichtet ist. Je nach der Einstellung eines Menschen in dieser Beziehung pflegen wir ihn als gut oder schlecht zu bezeichnen. Es sieht auf den ersten Blick so aus, wie wenn die sozialen Eigenschaften eines Menschen allein für seine Beurteilung maßgebend wären.

Und doch wäre eine solche Auffassung nicht richtig. Es läßt sich leicht erkennen, daß alle die materiellen, geistigen und moralischen Güter, die wir von der Gesellschaft empfangen, im Lauf der unzähligen Generationen von schöpferischen Einzelpersönlichkeiten herstammen. Einer hat einmal den Gebrauch des Feuers, einer den Anbau von Nährpflanzen, einer die Dampfmaschine erfunden.

Nur das einzelne Individuum kann denken und dadurch für die Gesellschaft neue Werte schaffen, ja selbst neue moralische Normen aufstellen, nach welchen sich das Leben der Gemeinschaft vollzieht. Ohne schöpferische, selbständig denkende und urteilende Persönlichkeiten ist eine Höherentwicklung der Gesellschaft ebensowenig denkbar wie die Entwicklung der einzelnen Persönlichkeit ohne den Nährboden der Gemeinschaft.

Eine gesunde Gesellschaft ist also ebenso an Selbständigkeit der Individuen geknüpft wie an deren innige soziale Verbundenheit. Es ist mit viel Berechtigung gesagt worden, daß die griechisch-europäisch-amerikanische Kultur überhaupt, im besonderen die Kulturblüte der die Stagnation des Mittelalters in Europa ablösenden italienischen Renaissance, auf der Befreiung und auf der relativen Isolierung des Individuums beruhe.

Blicken wir nun auf die Zeit, in der wir leben! Wie steht es mit der Gemeinschaft, wie mit der Persönlichkeit? Die Bevölkerung in den Kulturländern ist gegenüber früheren Zeiten ungemein dicht; Europa beherbergt heute ungefähr dreimal soviel Menschen als vor hundert Jahren. Aber die Zahl der Führernaturen hat unverhältnismäßig abgenommen. Nur wenige Menschen sind durch ihre produktive Leistung den Massen als Persönlichkeiten bekannt. Organisation hat bis zu einem gewissen Maße die Führernaturen ersetzt, besonders auf dem Gebiet der Technik, aber in einem recht fühlbaren Grad auch auf dem Gebiet der Wissenschaft.

Besonders empfindlich macht sich der Mangel an Individualitäten auf dem Gebiet der Kunst bemerkbar. Malerei und Musik sind deutlich degeneriert und haben ihre Resonanz im Volke weitgehend verloren. In der Politik fehlt es nicht nur an Führern, sondern die geistige Selbständigkeit und das Rechtsgefühl des Bürgers sind weitgehend gesunken. Die demokratische, parlamentarische Organisation, welche eine solche Selbständigkeit zur Voraussetzung hat, ist an vielen Orten ins Wanken geraten; Diktaturen sind entstanden und werden geduldet, weil das Gefühl für die Würde und das Recht der Persönlichkeit nicht mehr genügend lebendig ist. In zwei Wochen kann durch die Zeitungen die urteilslose Menge in irgendeinem Lande in einen Zustand solcher Wut und Aufregung versetzt werden, daß die Männer bereit sind, als Soldaten gekleidet zu töten und sich töten zu lassen für die nichtswürdigen Ziele irgendwelcher Interessenten. Die militärische Dienstpflicht scheint mir das beschämendste Symptom für den Mangel an persönlicher Würde zu sein, unter dem unsere Kulturmenschheit heute leidet. Dementsprechend fehlt es nicht an Propheten, welche unserer Kultur den baldigen Untergang prophezeien. Ich gehöre nicht zu diesen Pessimisten, sondern glaube an eine bessere Zukunft. Diese Zuversicht möchte ich noch kurz begründen:

Die gegenwärtigen Verfallserscheinungen beruhen nach meiner Meinung darauf, daß die Entwicklung der Wirtschaft und Technik den Daseinskampf der Menschen sehr verschärft hat, so daß die freie Entwicklung der Individuen schweren Schaden gelitten hat. Die Entwicklung der Technik fordert aber von dem Individuum immer weniger Arbeit für die Befriedigung des Bedarfs der Gesamtheit. Eine planvolle Verteilung der Arbeit wird immer mehr zur gebieterischen Notwendigkeit, und diese Verteilung wird zu einer materiellen Sicherung der Individuen führen. Diese Sicherung aber sowie die freie Zeit und Kraft, die dem Individuum übrigbleiben werden, vermögen der Entwicklung der Persönlichkeit günstig zu sein. So kann die Gemeinschaft wieder gesunden, und wir wollen hoffen, daß spätere Historiker die sozialen Krankheitserscheinungen unserer Zeit als Kinderkrankheiten einer höherstrebenden Menschheit deuten werden, die lediglich durch zu rasches Tempo des Kulturprozesses veranlaßt waren.

Der Staat und das individuelle Gewissen

Es ist eine uralte Frage: Wie soll sich der Mensch verhalten, wenn der Staat ihm Handlungen vorschreibt, die Gesellschaft von ihm eine Haltung erwartet, die das eigene Gewissen als unrecht verwirft?

Die Antwort liegt nahe: Du bist völlig abhängig von der Gesellschaft, in der du lebst. Du mußt dich deshalb ihren Vorschriften unterwerfen. Du kannst nicht für solche Handlungen verantwortlich gemacht werden, die unter unwiderstehlichem Zwang zustande kommen.

Man braucht dies nur deutlich auszusprechen, um zu bemerken, wie sehr eine solche Auffassung dem normalen Rechtsgefühl widerstreitet. Äußerer Zwang kann die Verantwortung des Individuums in gewissem Sinn mildern, aber nicht aufheben. Bei Gelegenheit der Nürnberger Prozesse hat man diesen Standpunkt gewissermaßen als selbstverständlich eingenommen.

Was an unseren Institutionen, Gesetzen und Sitten moralisch wertvoll ist, stammt aus den Äußerungen des Rechtsgefühls zahlloser Individuen. Einrichtungen sind im moralischen Sinn ohnmächtig, wenn sie nicht durch das Verantwortungsgefühl lebendiger Individuen gestützt und getragen werden.

Das Bestreben, das moralische Verantwortungsgefühl der Individuen zu wecken und zu stützen, ist daher wichtiger Dienst an der Gesamtheit.

In unserer Zeit lastet auf den Vertretern der Natur wissenschaften und auf den Ingenieuren eine besonders große moralische Verantwortung, da die Entwicklung der Werkzeuge militärischer Massenvernichtung in das Gebiet ihrer Tätigkeit fällt. Deshalb erscheint mir die Gründung einer »Society for Social Responsibility in Science« einem wahren Bedürfnis zu entsprechen. Solche Vereinigung erleichtert es durch Diskussion der Probleme dem einzelnen, sich zu einem selbständigen Urteil durchzuringen über den von ihm zu wählenden Weg. Ferner ist gegenseitige Hilfe derer dringend nötig, die dadurch in eine schwierige Lage kommen, daß sie der Stimme ihres Gewissens folgen.

Gut und Böse

Es ist im Prinzip richtig, daß denen die meiste Liebe entgegengebracht werden soll, die zur Veredelung der Menschen und des menschlichen Lebens am meisten beigetragen haben. Wenn man aber weiter fragt, was für Menschen das seien, gerät man in nicht geringe Schwierigkeiten. Bei den politischen, ja, sogar bei den religiösen Führern ist es meist recht zweifelhaft, ob sie mehr Gutes oder Schlechtes bewirkt haben. Ich glaube daher allen Ernstes, daß man den Menschen am besten dient, indem man sie mit einer edlen Sache beschäftigt und dadurch indirekt veredelt. Dies gilt in erster Linie von den bedeutendsten Künstlern, in zweiter Linie aber auch von den Forschern. Es ist richtig, daß die Ergebnisse der Forschung den Menschen nicht veredeln und bereichern, wohl aber das Streben nach dem Verstehen, die produktive und rezeptive geistige Arbeit. So wäre es doch gewiß auch schlecht angebracht, wenn man den Wert des Talmud nach seinen intellektuellen Ergebnissen beurteilen wollte!

Religion und Wissenschaft

Alles, was von den Menschen getan und erdacht wird, gilt der Befriedigung gefühlter Bedürfnisse sowie der Stillung von Schmerzen. Dies muß man sich immer vor Augen halten, wenn man geistige Bewegungen und ihre Entwicklung verstehen will. Denn Fühlen und Sehnen sind der Motor alles menschlichen Strebens und Erzeugens, mag sich uns letzteres auch noch so erhaben darstellen. Welches sind nun die Gefühle und Bedürfnisse, welche die Menschen zu religiösen Denken und zum Glauben im weitesten Sinne gebracht haben? Wenn wir hierüber nachdenken, so sehen wir bald, daß an der Wiege des religiösen Denkens und Erlebens die verschiedensten Gefühle stehen. Beim Primitiven ist es in erster Linie die Furcht, die religiöse Vorstellungen hervorruft. Furcht vor Hunger, wilden Tieren, Krankheit, Tod. Da auf dieser Stufe des Daseins die Einsicht in die kausalen Zusammenhänge gering zu sein pflegt, spiegelt uns der menschliche Geist selbst mehr oder minder analoge Wesen vor, von deren Wollen und Wirken die gefürchteten Erlebnisse abhängen. Man denkt nun, die Gesinnung jener Wesen sich günstig zu stimmen, indem man Handlungen begeht und Opfer bringt, welche nach dem von Geschlecht zu Geschlecht überlieferten Glauben jene Wesen besänftigen bzw. dem Menschen geneigt machen. Ich spreche in diesem Sinne von Furcht-Religion. Diese wird nicht erzeugt, aber doch wesentlich stabilisiert durch die Bildung einer besonderen Priesterkaste, welche sich als Mittlerin zwischen den gefürchteten Wesen und dem Volke ausgibt und hierauf eine Vormachtstellung gründet. Oft verbindet der auf andere Faktoren sich stützende Führer oder Herrscher bzw. eine privilegierte Klasse mit ihrer weltlichen Herrschaft zu deren Sicherung die priesterlichen Funktionen, oder es besteht eine Interessengemeinschaft zwischen der politisch herrschenden Kaste und der Priesterkaste.

Eine zweite Quelle religiösen Gestaltens sind die sozialen Gefühle. Vater und Mutter, Führer größerer menschlicher Gemeinschaften sind sterblich und fehlbar. Die Sehnsucht nach Führung, Liebe und Stütze gibt den Anstoß zur Bildung des sozialen bzw. des moralischen Gottesbegriffes. Es ist der Gott der Vorsehung, der beschützt, bestimmt, belohnt und bestraft. Es ist der Gott, der je nach dem Horizont des Menschen das Leben des Stammes, der Menschheit, ja das Leben überhaupt liebt und fördert, der Tröster in Unglück und ungestillter Sehnsucht, der die Seelen der Verstorbenen bewahrt. Dies ist der soziale oder moralische Gottesbegriff.

In der heiligen Schrift des jüdischen Volkes läßt sich die Entwicklung von der Furcht-Religion zur moralischen Religion schön beobachten. Ihre Fortsetzung hat sie im Neuen Testament gefunden. Die Religionen aller Kulturvölker, insbesondere auch der Völker des Orients, sind in der Hauptsache moralische Religionen. Die Entwicklung von der Furcht-Religion zur moralischen Religion bildet einen wichtigen Fortschritt im Leben der Völker. Man muß sich vor dem Vorurteil hüten, als seien die Religionen der Primitiven reine Furcht-Religionen, diejenigen der kultivierten Völker reine Moral-Religionen. Alle sind vielmehr Mischtypen, so jedoch, daß auf den höheren Stufen sozialen Lebens die Moral-Religion vorherrscht.

All diesen Typen gemeinsam ist der anthropomorphe Charakter der Gottesidee. Über diese Stufe religiösen Erlebens pflegen sich nur besonders reiche Individuen und besonders edle Gemeinschaften wesentlich zu erheben. Bei allen aber gibt es noch eine dritte Stufe religiösen Erlebens, wenn auch nur selten in reiner Ausprägung; ich will sie als kosmische Religiosität bezeichnen. Diese läßt sich demjenigen, der nichts davon besitzt, nur schwer deutlich machen, zumal ihr kein menschenartiger Gottesbegriff entspricht.

Das Individuum fühlt die Nichtigkeit menschlicher Wünsche und Ziele und die Erhabenheit und wunderbare Ordnung, welche sich in der Natur sowie in der Welt des Gedankens offenbart. Es empfindet das individuelle Dasein als eine Art Gefängnis und will die Gesamtheit des Seienden als ein Einheitliches und Sinnvolles erleben. Ansätze zur kosmischen Religiosität finden sich bereits auf früher Entwicklungsstufe, z. B. in manchen Psalmen Davids sowie bei einigen Propheten. Viel stärker ist die Komponente kosmischer Religiosität im Buddhismus, was uns besonders Schopenhauers wunderbare Schriften gelehrt haben. – Die religiösen Genies aller Zeiten waren durch diese kosmische Religiosität ausgezeichnet, die keine Dogmen und keinen Gott kennt, der nach dem Bild des Menschen gedacht wäre. Es kann daher auch keine Kirche geben, deren hauptsächlicher Lehrinhalt sich auf die kosmische Reliosität gründet. So kommt es, daß wir gerade unter den Häretikern aller Zeiten Menschen finden, die von dieser höchsten Religiosität erfüllt waren und ihren Zeitgenossen oft als Atheisten erschienen, manchmal auch als Heilige. Von diesem Gesichtspunkt aus betrachtet, stehen Männer wie Demokrit, Franziskus von Assisi und Spinoza einander nahe.

Wie kann kosmische Religiosität von Mensch zu Mensch mitgeteilt werden, wenn sie doch zu keinem geformten Gottesbegriff und zu keiner Theologie führen kann? Es scheint mir, daß es die wichtigste Funktion der Kunst und der Wissenschaft ist, dies Gefühl unter den Empfänglichen zu erwecken und lebendig zu erhalten.

So kommen wir zu einer Auffassung von der Beziehung der Wissenschaft zur Religion, die recht verschieden ist von der üblichen. Man ist nämlich nach der historischen Betrachtung geneigt, Wissenschaft und Religion als unversöhnliche Antagonisten zu halten, und zwar aus einem leichtverständlichen Grund. Wer von der kausalen Gesetzmäßigkeit allen Geschehens durchdrungen ist, für den ist die Idee eines Wesens, welches in den Gang des Weltgeschehens eingreift, ganz unmöglich – vorausgesetzt allerdings, daß er es mit der Hypothese der Kausalität wirklich ernst nimmt. Die Furcht-Religion hat bei ihm keinen Platz, aber ebensowenig die soziale bzw. moralische Religion. Ein Gott, der belohnt und bestraft, ist für ihn schon darum undenkbar, weil der Mensch nach äußerer und innerer gesetzlicher Notwendigkeit handelt, vom Standpunkt Gottes aus also nicht verantwortlich wäre, sowenig wie ein lebloser Gegenstand für die von ihm ausgeführten Bewegungen. Man hat deshalb schon der Wissenschaft vorgeworfen, daß sie die Moral untergrabe, jedoch gewiß mit Unrecht. Das ethische Verhalten des Menschen ist wirksam auf Mitgefühl, Erziehung und soziale Bindung zu gründen und bedarf keiner religiösen Grundlage. Es stünde traurig um die Menschen, wenn sie durch Furcht vor Strafe und Hoffnung auf Belohnung nach dem Tode gebändigt werden müßten.

Es ist also verständlich, daß die Kirchen die Wissenschaft von jeher bekämpft und ihre Anhänger verfolgt haben. Andererseits aber behaupte ich, daß die kosmische Religiosität die stärkste und edelste Triebfeder wissenschaftlicher Forschung ist. Nur wer die ungeheuren Anstrengungen und vor allem die Hingabe ermessen kann, ohne welche bahnbrechende wissenschaftliche Gedankenschöpfungen nicht zustande kommen können, vermag die Stärke des Gefühls zu ermessen, aus dem allein solche dem unmittelbar praktischen Leben abgewandte Arbeit erwachsen kann. Welch ein tiefer Glaube an die Vernunft des Weltenbaues und welche Sehnsucht nach dem Begreifen wenn auch nur eines geringen Abglanzes der in dieser Welt geoffenbarten Vernunft mußte in Kepler und Newton lebendig sein, daß sie den Mechanismus der Himmelsmechanik in der einsamen Arbeit vieler Jahre entwirren konnten! Wer die wissenschaftliche Forschung in der Hauptsache nur aus ihren praktischen Auswirkungen kennt, kommt leicht zu einer ganz unzutreffenden Auffassung vom Geisteszustand der Männer, welche – umgeben von skeptischen Zeitgenossen – Gleichgesinnten die Wege gewiesen haben, die über die Länder der Erde und über die Jahrhunderte verstreut waren. Nur wer sein Leben ähnlichen Zielen hingegeben hat, besitzt eine lebendige Vorstellung davon, was diese Menschen beseelt und ihnen die Kraft gegeben hat, trotz unzähliger Mißerfolge dem Ziel treu zu bleiben. Es ist die kosmische Religiosität, die solche Kräfte spendet. Ein Zeitgenosse hat nicht mit Unrecht gesagt, daß die ernsthaften Forscher in unserer im allgemeinen materialistisch eingestellten Zeit die einzigen tief religiösen Menschen seien.

Die Religiosität der Forschung

Sie werden schwerlich einen tiefer schürfenden wissenschaftlichen Geist finden, dem nicht eine eigentümliche Religiosität eigen ist. Diese Religiosität unterscheidet sich aber von derjenigen des naiven Menschen. Letzterem ist Gott ein Wesen, von dessen Sorgfalt man hofft, dessen Strafe man fürchtet – ein sublimiertes Gefühl von der Art der Beziehung des Kindes zum Vater, ein Wesen, zu dem man gewissermaßen in einer persönlichen Beziehung steht, so respektvoll diese auch sein mag.

Der Forscher aber ist von der Kausalität allen Geschehens durchdrungen. Die Zukunft ist ihm nicht minder notwendig und bestimmt wie die Vergangenheit. Das Moralische ist ihm keine göttliche, sondern eine rein menschliche Angelegenheit. Seine Religiosität liegt im verzückten Staunen über die Harmonie der Naturgesetzlichkeit, in der sich eine so überlegene Vernunft offenbart, daß alles Sinnvolle menschlichen Denkens und Anordnens dagegen ein gänzlich nichtiger Abglanz ist. Dies Gefühl ist das Leitmotiv seines Lebens und Strebens, insoweit dieses sich über die Knechtschaft selbstischen Wünschens erheben kann. Unzweifelhaft ist dies Gefühl nahe verwandt demjenigen, das die religiös schöpferischen Naturen aller Zeiten erfüllt hat.

Verlorenes Paradies

Noch im 17. Jahrhundert sind die Wissenschaftler und Künstler von ganz Europa so fest durch ein gemeinsames idealistisches Band verbunden gewesen, daß ihre Zusammenarbeit durch die politischen Ereignisse kaum beeinflußt wurde. Der Allgemeingebrauch der lateinischen Sprache festigte noch die Gemeinschaft. Heute schauen wir auf diese Situation wie auf ein verlorenes Paradies. Die nationalen Leidenschaften haben die Gemeinschaft der Geister zerstört, und die lateinische Sprache, die ehedem alle einte, ist tot. Die Wissenschaftler, die zu Vertretern der radikalsten nationalen Traditionen geworden sind, haben den Sinn für die Gemeinschaft verloren.

Heute stehen wir vor der bestürzenden Tatsache, daß die Politiker, die Männer des praktischen Lebens, die Träger des internationalen Gedankens geworden sind. Sie sind es, die den Völkerbund geschaffen haben.

Die Notwendigkeit der ethischen Kultur

Es ist mir ein Bedürfnis, Ihrer »Gesellschaft für Ethische Kultur« anläßlich ihres Jubiläums Glück und Erfolg zu wünschen. Freilich ist es keine Gelegenheit, um uns mit Genugtuung an das zu erinnern, was ehrliches Streben auf dem moralischen Gebiet in diesen 75 Jahren erreicht hat. Denn man kann nicht behaupten, daß die moralische Gestaltung des menschlichen Lebens im großen heute vollkommener ist als im Jahre 1876.

Damals herrschte die Meinung vor, daß alles erhofft werden könnte von der Aufklärung wissenschaftlich konstatierbarer Tatsachen und von der Bekämpfung von Vorurteil und Aberglauben. All dies ist in der Tat wichtig und des Strebens der Besten würdig. In dieser Beziehung ist in diesen 75 Jahren vieles erreicht und durch die Literatur und die Bühne verbreitet worden.

Aber das Wegräumen der Hindernisse allein führt noch nicht zu einer Veredelung des sozialen und individuellen Daseins. Neben diesem negativen Wirken ist das positive Streben nach einer ethisch-moralischen Gestaltung des menschlichen Zusammenlebens von überragender Bedeutung. Hier kann uns keine Wissenschaft erlösen. Ich glaube sogar, daß die Überbetonung der rein intellektuellen, oft nur auf das Faktische und Praktische gerichteten Einstellung in unserer Erziehung direkt zu einer Gefährdung der ethischen Werte geführt hat. Ich denke dabei nicht so sehr an die Gefahren, die der technische Fortschritt den Menschen direkt gebracht hat, als an die Überwucherung der gegenseitigen menschlichen Rücksichten durch ein »matter of fact«-Denken, das sich wie ein erstarrender Frost über die menschlichen Beziehungen gelegt hat.

Die moralische und ästhetische Vervollkommnung ist ein Ziel, das den Bemühungen der Kunst näher steht als denen der Wissenschaft. Wohl ist das Verstehen der Nächsten von Bedeutung. Dies Verstehen wird aber nur fruchtbar, wenn es von Mit-Freude und von Mit-Leid getragen ist. Die Pflege dieser wichtigsten Triebfedern moralischen Handelns ist es, was von der Religion übrigbleibt, wenn man sie von der Komponente des Aberglaubens gereinigt hat. In diesem Sinne bildet die Religion einen wichtigen Teil der Erziehung, der viel zuwenig und besonders auch zuwenig systematisch Berücksichtigung findet. Das furchtbare Dilemma der politischen Weltsituation hat viel zu tun mit jener Unterlassungssünde unserer Zivilisation. Ohne »ethische Kultur« gibt es keine Rettung für die Menschen.

Faschismus und Wissenschaft

Brief an Minister Rocco in Rom

Sehr geehrter Herr Kollege!

Zwei der bedeutendsten und angesehensten Männer der Wissenschaft Italiens wenden sich an mich in ihrer Gewissensnot und ersuchen mich, daß ich Ihnen schreiben möchte, damit womöglich eine grausame Härte vermieden wird, die den italienischen Gelehrten droht. Es handelt sich um eine Eidesformel, in welcher die Treue zum faschistischen System gelobt werden soll. Die Bitte geht dahin, Sie möchten Herrn Mussolini den Rat geben, er möge der Blüte der Intelligenz Italiens diese Erniedrigung ersparen.

Wie verschieden unsere politischen Überzeugungen auch sein mögen, in einem fundamentalen Punkt weiß ich mich mit Ihnen einig: wir sehen und lieben beide in den Blüten der europäischen Geistesentwicklung unsere höchsten Güter. Diese ruhen auf der Freiheit der Überzeugung und der Lehre, auf dem Grundsatz, daß das Streben nach Wahrheit allem andern Streben vorangestellt werden muß. Nur auf dieser Basis konnte in Griechenland unsere Kultur entstehen und in Italien zur Zeit der Renaissance ihre Auferstehung feiern. Dies höchste Gut ist mit dem Märtyrerblut reiner und großer Männer bezahlt worden, um derentwillen Italien heute noch geliebt und verehrt wird.

Es liegt mir fern, mit Ihnen darüber zu rechten, was für Eingriffe in die Freiheit der Menschen durch die Staatsraison gerechtfertigt werden dürfen. Aber das von praktischen Interessen des Alltags losgelöste Streben nach wissenschaftlicher Wahrheit sollte jeder Staatsgewalt heilig sein, und es liegt im höchsten Interesse aller, daß die aufrichtigen Diener der Wahrheit in Ruhe gelassen werden. Dies liegt gewiß auch im Interesse des italienischen Staates und seines Ansehens in der Welt.

Von der Freiheit der Lehre

Zum »Fall Gumbel«

Zahlreich sind die Lehrkanzeln, aber selten die weisen und edlen Lehrer. Zahlreich und groß sind die Hörsäle, doch wenig zahlreich die jungen Menschen, die ehrlich nach Wahrheit und Gerechtigkeit dürsten. Zahlreich spendet die Natur ihre Dutzendware, aber das Feinere erzeugt sie selten.

Das wissen wir alle, warum also klagen? War es nicht immer so, und wird es nicht immer so bleiben? Gewiß ist es so, und man muß das von Natur Gegebene hinnehmen, wie es eben ist. Aber es gibt daneben auch einen Zeitgeist, eine der Generation eigentümliche Gesinnung, die sich von Mensch zu Mensch überträgt und die einer Gemeinschaft ihr charakteristisches Gepräge gibt. An der Wandlung dieses Zeitgeistes muß jeder sein kleines Teil arbeiten.

Vergleichen Sie den Geist, der in der hiesigen akademischen Jugend vor einem Jahrhundert lebendig war, mit dem heute lebendigen! Es gab einen Glauben an eine Besserung der menschlichen Gesellschaft, Hochachtung vor jeder ehrlichen Meinung, jene Toleranz, für die unsere Klassiker gelebt und gekämpft haben. Es gab damals ein Streben nach einer größeren politischen Einheit, welche Deutschland hieß. Damals war es die akademische Jugend und waren es die akademischen Lehrer, in denen diese Ideale lebten.

Auch heute gibt es ein Streben nach sozialem Fortschritt, nach Toleranz und Freiheit des Gedankens, nach einer größeren politischen Einheit, die bei uns heute Europa heißt. Heute aber ist die akademische Jugend nicht mehr die Trägerin der Hoffnungen und Ideale des Volkes, sowenig wie die akademische Lehrerschaft. Dies muß jeder zugeben, der ohne Leidenschaft, mit nüchternem Blick, unsere Zeit betrachtet.

Wir sind heute zusammengekommen, um uns auf uns selbst zu besinnen. Der äußere Anlaß zu dieser Zusammenkunft ist der »Fall Gumbel«. Dieser von Gerechtigkeitssinn getragene Mann hat mit hingebendem Fleiß, mit hohem Mut und mit musterhafter Objektivität über ungesühnte politische Verbrechen geschrieben und durch seine Bücher der Gemeinschaft einen großen Dienst erwiesen. Wir erleben es, daß dieser Mann heute von der Studentenschaft und zum Teil auch von der Lehrerschaft seiner Hochschule bekämpft und zu verdrängen gesucht wird.

So weit darf politische Leidenschaft nicht gehen. Ich bin der Überzeugung, daß jeder, der Herrn Gumbels Bücher mit offenem Geiste liest, davon einen ähnlichen Eindruck haben wird wie ich selbst. Solcher Männer bedarf es, wenn wir es zu einer gesunden politischen Gemeinschaft bringen sollen.

Urteile jeder nach seinem eigenen Ermessen, auf Grund seiner eigenen Lektüre, aber nicht nach dem, was andere ihm sagen!

Geschieht dies, so kann der »Fall Gumbel« nach einem wenig rühmlichen Anfang noch Gutes bewirken.

Neuzeitliche Inquisitionsmethoden

Das Problem, vor welches sich die Intelligenz dieses Landes gestellt sieht, ist ein sehr ernstes. Es ist den reaktionären Politikern gelungen, durch Vorspiegelung einer äußeren Gefahr das Publikum gegen alle intellektuellen Bemühungen mißtrauisch zu machen. Auf der Basis dieses Erfolges sind sie daran, die freie Lehre zu unterdrücken und die nicht Gefügsamen aus allen Stellungen zu verdrängen, d. h. auszuhungern.

Was soll die Minderheit der Intellektuellen gegen dieses Übel tun? Ich sehe offengestanden nur den revolutionären Weg der Verweigerung der Zusammenarbeit im Sinne von Gandhi. Jeder Intellektuelle, der vor ein Komitee vorgeladen wird, müßte jede Aussage verweigern, d. h. bereit sein, sich einsperren und wirtschaftlich ruinieren zu lassen, kurz, seine persönlichen Interessen den kulturellen Interessen des Landes zu opfern.

Diese Verweigerung dürfte aber nicht gegründet werden auf den bekannten Trick der möglichen Selbstinkrimierung, sondern darauf, daß es eines unbescholtenen Bürgers unwürdig ist, sich solcher Inquisition zu unterziehen, und daß diese Art Inquisition gegen den Geist der Verfassung verstoße. Wenn sich genug Personen finden, die diesen harten Weg zu gehen bereit sind, wird ihnen Erfolg beschieden sein. Wenn nicht, dann verdienen die Intellektuellen dieses Landes nichts Besseres als die Sklaverei, die ihnen zugedacht ist.

Erziehung zu selbständigem Denken

Es ist nicht genug, den Menschen ein Spezialfach zu lehren. Dadurch wird er zwar zu einer Art benutzbarer Maschine, aber nicht zu einer vollwertigen Persönlichkeit. Es kommt darauf an, daß er ein lebendiges Gefühl dafür bekommt, was zu erstreben wert ist. Er muß einen lebendigen Sinn dafür bekommen, was schön und was moralisch gut ist. Sonst gleicht er mit seiner spezialisierten Fachkenntnis mehr einem wohlabgerichteten Hund als einem harmonisch entwickelten Geschöpf. Er muß die Motive der Menschen, deren Illusionen, deren Leiden verstehen lernen, um eine richtige Einstellung zu den einzelnen Mitmenschen und zur Gemeinschaft zu erwerben.

Diese wertvollen Dinge werden der jungen Generation durch den persönlichen Kontakt mit den Lehrenden, nicht – oder wenigstens nicht in der Hauptsache – durch Textbücher vermittelt. Dies ist es, was Kultur in erster Linie ausmacht und erhält. Diese habe ich im Auge, wenn ich die »humanities« als wichtig empfehle, nicht einfach trockenes Fachwissen auf geschichtlichem und philosophischem Gebiet.

Überbetonung des kompetitiven Systems und frühzeitiges Spezialisieren unter dem Gesichtspunkt der unmittelbaren Nützlichkeit töten den Geist, von dem alles kulturelle Leben und damit schließlich auch die Blüte der Spezialwissenschaften abhängig ist.

Zum Wesen einer wertvollen Erziehung gehört es ferner, daß das selbständige kritische Denken im jungen Menschen entwickelt wird, eine Entwicklung, die weitgehend durch Überbürdung mit Stoff gefährdet wird (Punktsystem). Überbürdung führt notwendig zu Oberflächlichkeit und Kulturlosigkeit. Das Lehren soll so sein, daß das Dargebotene als wertvolles Geschenk und nicht als saure Pflicht empfunden wird.

Erziehung und Erzieher

Sehr geehrtes Fräulein!

Ich habe etwa sechzehn Seiten Ihres Manuskripts gelesen und – dabei geschmunzelt. Es ist alles klug, gut beobachtet, ehrlich, in gewissem Sinn selbständig und doch so eigentümlich weiblich, d. h. abhängig und getränkt mit Ressentiments. Ich wurde auch ähnlich behandelt von meinen Lehrern, die mich wegen meiner Unabhängigkeit nicht liebten, mich umgingen, wenn sie Assistenten brauchten (ich war allerdings als Student etwas liederlicher als Sie, das muß ich sagen). Aber es wäre mir nicht der Mühe wert gewesen, etwas über meine Schülererlebnisse zu schreiben, und noch viel weniger hätte ich es verantworten wollen, andere zum Drucken oder gar zum Lesen zu veranlassen. Zudem macht man immer eine schlechte Figur, wenn man sich über andere beklagt, die da neben einem in der ihnen konformen Weise nach Luft schnappen.

Stecken Sie also Ihr Temperament in die Tasche und bewahren Sie Ihr Manuskript auf für Ihre Söhne und Töchter, damit sie daraus Trost schöpfen und – darauf pfeifen, was ihre Lehrer ihnen sagen oder von ihnen denken.