Mein zauberhafter Sommer im Inselbuchladen - Julie Peters - E-Book
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Mein zauberhafter Sommer im Inselbuchladen E-Book

Julie Peters

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Beschreibung

Willkommen in der charmantesten Buchhandlung am Meer!

Frieke ist glückliche Besitzerin des kleinen Buchladens am Inselweg, und noch glücklicher ist sie mit Bengt – bis sie plötzlich merkt, dass an Eddas Warnung, Einmal-Junggeselle-immer-Junggeselle, doch etwas dran sein könnte. Gut, dass es ihre beste Freundin Emma gibt. Als Mutter von Zwillingen hat sie für jedes Problem eine Lösung. Erst aber muss sie ihr eigenes Leben in den Griff bekommen, nachdem Ehemann Torben sie mit den beiden Söhnen von heute auf morgen sitzen gelassen hat. Und so gerät Frieke emotional zusehends in Seenot. Außerdem ist ihr morgens immer so übel …

Warmherzig, humorvoll und mit viel frischer Seeluft.

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Über das Buch

Frieke ist glückliche Besitzerin des kleinen Buchladens am Inselweg, und noch glücklicher ist sie mit Bengt – bis sie plötzlich merkt, dass an Eddas Warnung, Einmal-Junggeselle-immer-Junggeselle, doch etwas dran sein könnte. Gut, dass es ihre beste Freundin Emma gibt. Als Mutter von Zwillingen hat sie für jedes Problem eine Lösung. Erst aber muss sie ihr eigenes Leben in den Griff bekommen, nachdem Ehemann Torben sie mit den beiden Söhnen von heute auf morgen sitzen gelassen hat. Und so gerät Frieke emotional zusehends in Seenot. Außerdem ist ihr morgens immer so übel …

Über Julie Peters

Julie Peters, geboren 1979, arbeitete einige Jahre als Buchhändlerin und studierte ein paar Semester Geschichte. Anschließend widmete sie sich ganz dem Schreiben. Sie lebt mit ihrer Familie im Westfälischen. Im Aufbau Taschenbuch ist bereits der Roman »Mein wunderbarer Buchladen am Inselweg« von ihr erschienen.

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Julie Peters

Mein zauberhafter Sommer im Inselbuchladen

Roman

Inhaltsübersicht

Informationen zum Buch

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Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Epilog

Danksagung

Impressum

Kapitel 1

»Timo, geh sofort runter!«

Beherzt griff Emma zu und zog ihren Sohn vom Tisch, der zwischen zwei mit rotem Plüsch gepolsterten Bänken festgeschraubt war. Timo kreischte sofort los und wehrte sich mit Händen und Füßen. Er hatte erstaunlich viel Kraft für einen Einjährigen.

Lars, der sich das ganze Spektakel von der Bank aus angesehen hatte, während er zufrieden an seiner Dinkelbrezel knabberte, entschied sich, in das Gebrüll seines Zwillingsbruders einzustimmen. Solidarisch wie immer.

Emma seufzte. Atmen, sagte sie sich. Einfach atmen. Die Überfahrt dauert nur noch vierzig Minuten.

Was gleichzeitig bedeutete, dass sie bereits fünf Minuten nach der Abfahrt in Neuharlingersiel die Nerven verloren hatte. Phantastisch. Natürlich guckten alle anderen Passagiere in ihre Richtung, neugierig, ob sie es schaffte, zwei heulkreischende Kleinkinder zu bändigen, die sich auf keinen Fall irgendetwas von ihrer Mama sagen lassen wollten. Wie immer unglaublich peinlich.

Emma lächelte entschuldigend in alle Richtungen und versuchte gleichzeitig, sowohl Lars als auch Timo zu beruhigen. Bei Lars war es einfach; sie drückte ihm einfach eine weitere Dinkelbrezel in die Hand. Kurz schaute er zwischen Timo und der Brezel hin und her, dann war es vorbei mit seiner Solidarität. Puh, Glück gehabt, seine Tränen versiegten so schnell, wie sie gekommen waren.

Timo war wie üblich schon etwas komplizierter. Mit Essen ließ er sich selten bestechen, er brauchte immer eine besondere Ablenkung. Möwengucken zum Beispiel. Aber sie konnte ja schlecht Lars alleine lassen … seufzend kramte sie in der großen Umhängetasche, die sie immer bei sich trug, nach einem Buch. Vielleicht würde das ja helfen. Kaum hatte Timo das Buch gesehen, schob er ihre Hand weg und vergrub seine Hände in ihrer Umhängetasche. »Widjo! Widjo!«

Emma wurde rot. Und ein bisschen ärgerlich.

»Du kannst jetzt kein Video gucken«, sagte sie streng. »Wir sind mitten auf dem Meer, da gibt es keinen Handyempfang.«

Timo starrte verständnislos zu ihr hoch, und nicht zum ersten Mal dachte Emma, dass sie für den Job als Mama einfach völlig ungeeignet war, weil das Leben mit Kindern nicht nur unberechenbar war, sondern man sich auch der Tatsache stellen musste, dass so ein Kleinkind nur die Hälfte von dem verstand, was ein Erwachsener sagte. Was natürlich nur daran lag, wie ein Erwachsener mit dem Kind sprach. Und daran verzweifelte Emma regelmäßig.

»Hier«, sagte sie resigniert und drückte Timo ihr Smartphone in die Hand. Der grinste zufrieden.

Beim Kramen in der Tasche war Emma ihre Sonnenbrille in die Hände gefallen, die sie nun aufsetzte. Erschöpft blickte sie aus dem Fenster auf das glitzernde Wasser der Fahrrinne, in der sich die SPIEKEROOGII von Neuharlingersiel zur Insel pflügte.

Sie hatte Frieke nicht Bescheid gesagt, dass sie mit den Jungs unterwegs zu ihr war. Es sollte eine Überraschung sein. Ob das die richtige Entscheidung gewesen war? Egal, jetzt war es dafür ohnehin zu spät. Wie sie Timos Dickschädel kannte, würde sie ihm das Handy nur unter Gebrüll wieder entringen können – und das auch erst, wenn sie ihm eine bessere Ablenkung bot. Ein Krabbenbrötchen vom Imbissstand am Hafen zum Beispiel. Oder eine Fahrt im Bollerwagen bis zum Dorf.

Sie versuchte, sich etwas zu entspannen und die Blicke der Leute um sich herum zu ignorieren, denn sie sprachen Bände: Rabenmutter! Füttert das eine Kind zwischen den Mahlzeiten und lässt das andere völlig unkontrolliert Medien konsumieren!

Die Wahrheit war: Emma hätte auch so gedacht. Früher. Vor zwei Jahren, als sie noch mit den Zwillingen schwanger war, hatte sie jeden Ratgeber zu Schwangerschaft und Geburt gelesen, den sie in die Finger bekam. Und als sie damit fertig war (und zu ihrer eigenen Überraschung immer noch schwanger – was sollte das Gerücht, dass Zwillinge immer deutlich vor Termin kamen?), hatte sie schon mal alles über die Erziehung von Kleinkindern gelesen. Keine schlechte Entscheidung, wie sich kurz nach der Geburt von Lars und Timo herausstellte. Denn danach blieb ihr fürs Lesen erst mal gar keine Zeit mehr.

Emma lächelte. Was würde Frieke mir jetzt wohl empfehlen?, überlegte sie. Ihre beste Freundin war seit gut einem Jahr die Inhaberin der kleinen Inselbuchhandlung von Spiekeroog. Und sie wusste immer ganz genau, welches für die Leserin das richtige Buch war.

Vermutlich so etwas wie Bobo Siebenschläfer oder Paw Patrol. Schön kurz und nicht zu anspruchsvoll. Also nicht zu anspruchsvoll für Kleinkinder.

Sie musste unwillkürlich grinsen. Ja, ja, die Freuden der Elternschaft. Nach knapp zwei Jahren mit den beiden Jungs zu Hause hatte sie sich langsam, aber sicher daran gewöhnt, dass von ihrem früheren Leben nicht mehr viel übrig war. Pixibücher statt Krimis im Bett, Kinderliedervideos statt Netflix am Abend. Manchmal konnte sie sich nicht mal daran erinnern, wer sie eigentlich früher gewesen war. Vor der Schwangerschaft.

Aber wenn sie länger darüber nachdachte – automatisch steckte sie Lars noch eine Dinkelbrezel zu und strich Timo, der weiter vergnügt auf das Smartphone patschte, übers Haar –, fiel es ihr wieder ein.

Früher war sie beim KOMET beschäftigt gewesen und hatte für die vielen Reporter deren Reisen geplant und abgerechnet. Eine Arbeit, die einerseits ihrem Fernweh zugutekam, das sie im Urlaub dann ebenfalls auslebte, andererseits aber enorm von ihrem Perfektionismus profitierte. Ihr Ehrgeiz war, dass jeder Reporter die perfekten Reiseverbindungen hatte – egal, ob er nach Tiflis oder Timbuktu reiste. So lernte sie auch Frieke kennen, die in die entlegensten Winkel der Erde fuhr, um dort Reportagen zu schreiben. Ponyzucht zwischen Tradition und Moderne bei den Mongolen zum Beispiel, die ihre Ponys inzwischen auf einer Internet-Auktionsplattform zum Kauf anboten. Die Geschichte war Emma im Gedächtnis geblieben …

»Perde!« Timo stand schon wieder auf dem Tisch, das Smartphone hatte er achtlos fallen lassen, und es war unter der Bank gelandet. Auch diesmal stimmte Lars ein. »Perde, Perde!«

Emma spähte an den beiden blonden Wuschelköpfen vorbei nach draußen, wo inzwischen die südwestlichen Ausläufer der Insel vorbeizogen. Auf den Salzwiesen standen tatsächlich Pferde. Wobei »Pferde« noch zu viel war – Ponys allenfalls. Islandponys. Sie erinnerte sich an einen ihrer früheren Ausflüge auf die Insel, als Frieke ihr bei einem Spaziergang zum Westend vom Isländerhof im Westen des Dorfs erzählt hatte. Die Isländer grasten im Sommer in dem weitläufigen Naturschutzgebiet jenseits des Deichtors, das das Dorf vor den Sturmfluten im Herbst und Winter schützte.

»Ja, Pferde«, sagte sie und versuchte, die beiden Zwerge vom Tisch zu ziehen. Da sie damit keinen Erfolg hatte, schlang Emma die Arme um die kleinen Körper und drückte sie an sich. Einen winzigen Moment lang erlaubte sie sich, den herrlich-sauberen Duft ihrer Kinder einzuatmen und dabei die Augen zu schließen – Sonnencreme, Apfelschnitze und Sommer.

Obwohl, einer von beiden hatte auch eindeutig eine volle Windel.

Emma seufzte und schlug die Augen wieder auf. Inzwischen hatten sie schon fast den Hafen von Spiekeroog erreicht, und die kleine Herde Isländer war außer Sicht. Sie zog die beiden Jungs vom Tisch und suchte in der Wickeltasche nach frischen Windeln und Feuchttüchern.

»Sie wollen das aber jetzt nicht hier machen?«

Der Blick des älteren Herrn, der auf der anderen Seite des Gangs an einem der mittleren Tische saß, war entsetzt.

Emma schaute sich kurz um. »Wieso, gibt es hier einen Wickelraum?«, fragte sie hoffnungsvoll.

Er gab einen Laut von sich, den man allerhöchstens als schnippisches Schnauben bezeichnen konnte, und erhob sich schwerfällig. Auf seinen Gehstock gestützt, humpelte er Richtung Ausgang, während sich auch die anderen Reisenden rings um Emma fürs Aussteigen bereit machten. Emma zog Timo auf die Bank, der es zum Glück hasste, wenn er eine volle Windel hatte. Eine der seltenen Gelegenheiten, bei denen er wirklich zuverlässig stillhielt.

Zwei Minuten später stellte sie Timo auf den Boden, und sofort flitzte er los. Lars war ihm dicht auf den Fersen, und bevor sie noch etwas rufen konnte, waren die beiden in den alten Herrn gelaufen, der sich schwer auf seinen Stock stützte und geduldig mit den anderen Passagieren wartete, dass die Gangway ausgelegt wurde.

»Hoppla«, murmelte Emma.

Er fuhr zu den Zwillingen herum und ließ seinen Stock auf den Boden niedersausen. »Weg mit euch, ihr Kröten!«, rief er. Lars zuckte nicht mal mit der Wimper, während Timo ängstlich zusammenfuhr, sich umdrehte und zurück zu Emma lief. Schluchzend barg er seinen Kopf an ihrem Rock.

So, jetzt reichte es ihr aber. Was bildete sich der Kerl eigentlich ein, sie erst anzupflaumen, weil sie ein Kleinkind wickelte, und dann auch noch so eine Gruselshow abzuziehen?

»Haben Sie ein Problem mit uns?«, fragte sie ihn und reckte kampfeslustig das Kinn. Sie hob Timo hoch und ging zwei Schritte auf ihn zu. Lars blickte immer noch zu dem alten Mann auf; dieser war tatsächlich mehr als einen Kopf größer als Emma, die grauen Haare raspelkurz geschnitten. Die Augen waren von einem verwaschenen Braun, seine große Nase wirkte etwas zu rot. Er trug einen hellen Anzug mit Weste und Einstecktüchlein.

»Warum sollte ich ein Problem haben?« Er fuchtelte mit seinem Stock vor Lars’ Nase herum. Schnell zog Emma ihren Sohn zu sich, langsam wurde sie richtig sauer. Was dachte sich dieser Kerl eigentlich? Gehörte ihm etwa die Insel?

»Sie behandeln uns, als wären wir …«

Sie verstummte.

»Abschaum?«, half er ihr. »Ich mag einfach keine Kinder. Habe ich noch nie. Sie machen Dreck, Lärm, und man fühlt sich in ihrer Nähe einfach unwohl. So. Und nun entschuldigen Sie mich bitte.« Er schob sich an den Wartenden vorbei, die ihm eher verwundert als bereitwillig Platz machten.

Kopfschüttelnd setzte Emma erst Timo, dann Lars in den Zwillingsbuggy und verließ als eine der Letzten die Fähre. Ein Pulk aus Tagesgästen und Urlaubern war bereits auf der Straße Richtung Dorf unterwegs. Der Wind jagte helle Wölkchen über den blauen Himmel, es roch herrlich nach Salzwiesen, Fisch und Urlaub. Die Imbissbude war von einigen Hungrigen umlagert, und sobald Lars und Timo die Bude sahen, setzte ein zweistimmiges Geschrei an, weil sie unbedingt ein Krabbenbrötchen wollten.

Als Emma an der Reihe war und ein Krabbenbrötchen bestellte, fuhr gerade ein Golfkarren vor dem Terminal vor. Der ältere Herr im hellen Anzug, der auf einer Bank gewartet hatte, sprang auf und lief darauf zu. Ein junger Kerl half ihm in den Golfkarren und lief dann zu den Containern und zerrte einen Koffer hervor, den er heranschleppte.

»Dauert das noch lange?«, nölte der alte Mann. Sprachlos sah Emma zu, wie sich der junge Mann herumkommandieren und beschimpfen ließ, weil er ein »nutzloser Lump« sei.

Was bewog solche Menschen eigentlich dazu, andere immer kleinzumachen? Sie verstand es einfach nicht. Sie würde Frieke mal nach ihm fragen. Vielleicht wusste die mehr.

»Ich sag ja nix, aber Ihre Jungs sollten lieber auf die Krabben aufpassen«, meinte die Fischbrötchenverkäuferin.

»Lars, nein!«

Zu spät. Kichernd hatte der Kleine eine Krabbe aus der Brötchenhälfte gepult, die sie ihm gegeben hatte, und einer der Möwen zugeworfen. Im Nu hüpften weitere Vögel näher. Schnell schob Emma den Buggy weiter. Sie musste zum Dorf. Zur Buchhandlung. Dorthin ließ sie auch ihr Gepäck liefern.

Sie seufzte, als sie an die vielen Taschen dachte. Sie war gekommen, um länger zu bleiben.

Routinemäßig ging Friekes Blick zu der Uhr, die über der Eingangstür ihrer kleinen Buchhandlung hing. Viertel nach zwölf. Vor zehn Minuten hatte die Fähre angelegt. Es war ein Samstag, das Wetter sonnig und schön – einem guten, wuseligen Tag in der Buchhandlung mit vielen kauffreudigen Kunden stand also nichts im Wege. Sie atmete tief durch. Ende Mai. Ein langes Wochenende stand bevor, bald begann der Juni mit der Hauptferienzeit. Auf der Insel hatte bis zuletzt hektische Betriebsamkeit geherrscht. Ein neues Apartmenthotel war über den Winter am Noorderpad entstanden – größer als alle anderen Hotels im Ort. Im Inselrat hatte es einige Auseinandersetzungen deshalb gegeben, weil die Insulaner stets darauf achteten, dass der pittoreske Ortskern erhalten blieb. Die Fraktion der Ladenbesitzer und Gastwirte fand es gut, wenn noch mehr zahlungskräftige Kundschaft auf die Insel kam, die anderen Vermieter sahen die Entwicklung kritisch. »Wir wollen kein zweites Sylt werden, wo’s nur teuer ist!«

Frieke hatte an der öffentlichen Inselratssitzung teilgenommen, bei der es letzten November um die Frage ging, ob das Hotel nicht den Charakter der Insel verrate. Es war hoch hergegangen, aber letztlich hatten sich die Befürworter durchgesetzt, und der Bau wurde fortgesetzt.

Nun stand das Hotel einige Hundert Meter weiter, und Frieke fand es gar nicht so schlimm wie befürchtet. Es war sogar recht geschmackvoll und hielt sich strikt an die Vorgaben für Neubauten: roter Ziegelstein, weiße Sprossenfenster, ein grün gestrichener Giebel. Drei Stockwerke hoch; höher durfte man auf Spiekeroog nicht bauen.

»Guck mal, wir haben Nachschub.« Ihre Saisonkraft Lilli wuchtete einen Karton auf den Kassentisch und packte einen Stapel aus: »Mein wunderbarer Buchladen am Inselweg«. Eine herrlich romantische Liebesgeschichte, die auf Spiekeroog spielte. Die Autorin dieses kleinen Buchs kannte sich wohl auf der Insel aus, und seit der Roman vor ein paar Wochen erschienen war, lag immer ein Stapel neben der Kasse. Oder auch nicht, denn es verkaufte sich sehr gut. Sie mussten ständig nachbestellen.

Frieke beobachtete, wie Lilli die Bücher ausrichtete und dann den Karton mit den restlichen Exemplaren unter den Tisch schob.

Gegenüber in der Eisdiele liefen die Vorbereitungen auch schon auf Hochtouren. Nebenan in der Friesenstube war man auf Mittagsgäste eingestellt, eine Tafel verkündete in geschwungener Kreideschrift, es gebe Spargel, wahlweise mit Schnitzel oder Lachs, auf jeden Fall aber mit Salzkartoffeln und Sauce hollandaise. Mh, sie bekam direkt Hunger.

Die ersten Besucher schlenderten den Noorderloog entlang, spähten in die Wirtschaften, studierten die Speisekarten und blieben vor der Buchhandlung stehen. Seit letztem Sommer hatte Frieke einen Strandkorb neben der Tür aufgestellt, in dem man sich ausruhen konnte, bevor man sich auf den Weg zum Strand machte. Dort lagen auch immer ein paar Bücher, die zu abgegriffen waren, um sie noch zu verkaufen. Manchmal verschwand eines, aber genauso oft ließ jemand auch dort ein Buch liegen. Frieke sah keine Veranlassung, sie daran zu hindern. Wenn Bücher auf diesem Weg zu dem Leser fanden, der sie gerade brauchte, fand sie das schön, denn sie sagte sich, dass diese Bücher vor allem von denjenigen mitgenommen wurden, die nach Geschichten lechzten, sich aber vielleicht nicht immer das neueste Hardcover leisten konnten.

Langsam füllte sich die Buchhandlung, und Frieke hatte die nächste halbe Stunde alle Hände voll damit zu tun, ihre Kunden zu beraten und zu kassieren. Lilli lief zwischen Kasse und Lager hin und her, und als es zu voll wurde, schlüpfte sie hinter den Kassentisch. »Ich mach das hier«, sagte sie sehr bestimmt.

Frieke trat hinter der Kasse hervor und atmete tief durch. Eine ältere Dame mit Wanderstiefeln und einer Outdoorjacke hielt ihr ein Buch vor die Nase. »Ist das gut?«, fragte sie und riss mit ihren Walkingstöcken beinah die Bücher vom Kassentisch.

Frieke musterte ihr Gegenüber kurz. Dann schüttelte sie den Kopf. »Für Sie habe ich dahinten das Richtige«, sagte sie und ging mit der Frau zu den Regionalkrimis und zog einen aus dem Regal, der in der Provence spielte. Nach einem kurzen Blick auf den Klappentext wurde das Gesicht der Dame ganz weich. Düfte, Wärme, dazu eine nicht zu grausame Mordgeschichte – Frieke hatte mal wieder einen Treffer gelandet. Zufrieden wandte sie sich der nächsten Kundin zu.

»Emma!«, rief sie erstaunt, als sie erkannte, wer vor ihr stand.

»Überraschung!«, rief Emma und fiel ihr um den Hals, bevor Frieke etwas sagen konnte. Schließlich wusste sie, dass ihre beste Freundin Überraschungen eigentlich hasste.

»Wahnsinn«, stotterte sie. »Was machst du denn hier?«

»Ach, ich bin mit den Jungs hier. Ganz spontan. Sie sitzen draußen im Buggy und schlafen. Die Seeluft wirkt doch immer wieder.« Emma lachte und schob ihre Sonnenbrille in die blonden Haare. »Hier ist ja ganz schön was los.«

Frieke zuckte mit den Schultern. »Saison«, sagte sie lapidar. »Aber sag mal, können wir später sprechen? Um eins mache ich zu, dann können wir nach Hause und zu Mittag essen.«

»Klar. Ich bummle noch ein bisschen durch die Läden.« Sie zwinkerte Frieke zu. Sie wussten beide, dass Spiekeroog sich nicht gerade dadurch auszeichnete, dass es hier besonders viele Geschäfte gab, die zum Bummeln einluden.

»Mach das. Um eins wieder hier?«

Emma winkte, dann war sie schon wieder verschwunden. Frieke runzelte die Stirn. Fast hätte sie Emma ein Buch in die Hand gedrückt. »Liebe dich selbst, und es ist egal, wen du heiratest« würde gerade ebenso gut passen wie »Das Jawort« von Elizabeth Gilbert. Beide wurden besonders gern von Frauen gelesen, die das Gefühl hatten, in ihrer Ehe in eine Sackgasse geraten zu sein. Aber das war Quatsch. Emma und Torben waren doch das Traumpaar schlechthin! So ein Buch empfahl sie sonst nur frustrierten Mittdreißigerinnen, die erschöpft hinter ihrer Brut herhechelten, während der Gatte sich bestens gelaunt einen Stapel Krimis aussuchte, weil er ja schließlich Urlaub hatte. Nein, so war Emma nicht. Trotzdem. Als sie sie sah, hatte Frieke spontan an so ein Buch gedacht.

Emma saß im Strandkorb und hielt ihre nackten Füße in die Sonne, während die Jungs immer noch friedlich schliefen. Es war einer dieser wirklich seltenen Augenblicke, in denen sie nicht nur zur Ruhe kam, sondern auch nachdenken konnte. Leider war das im Moment mehr als gefährlich, denn sobald sie anfing nachzudenken, fielen ihr all die Dinge wieder ein, die in ihrem Leben gerade total verkehrt liefen. Schon hatte sie wieder Torbens Stimme im Ohr: »Bist du sicher, dass sie nicht in ihrem Zimmer schlafen wollen?«, »Meinst du nicht, du verwöhnst die beiden zu sehr?«, »Glaubst du, bei anderen Eltern läuft auch so viel schief?«. In den ersten Monaten hatte Torben es auch noch »süß« gefunden, dass die Zwillinge am liebsten eng an Emma gekuschelt schliefen. Dann aber, als die Jungs älter wurden, war er immer häufiger aufs Sofa ausgewichen. Fast hatte sie sich daran schon gewöhnt, war es nicht immer so in den ersten Jahren, dass die Beziehung litt und man vor allem für die Kinder lebte? Gerade bei Zwillingen? Damit hatte sie leben können, aber nicht mit dem, was gestern Abend passiert war. Noch jetzt traten ihr die Tränen in die Augen, wenn sie daran dachte! Noch nie in ihrer Ehe hatten sie sich so heftig gestritten. Und am Morgen, nach einer schlaflosen Nacht, hatte sie keinen anderen Ausweg gesehen, als ihren Koffer zu packen und mit den Zwillingen auf die Insel zu fahren. Ohne darüber nachzudenken, ob sie so kurz vor der Hauptsaison überhaupt eine Wohnung oder ein Hotelzimmer bekam. Zur Not hoffte sie, bei Frieke und Bengt unterschlüpfen zu können.

»So habe ich mir das nicht vorgestellt.«

Dieser eine Satz. Wie eine Ohrfeige.

Torben und sie hatten gerade die Zwillinge bettfein gemacht und in den Schlaf begleitet. Lars war etwas unruhig, weil bei ihm gerade die hinteren Backenzähne durchkamen. Timo hingegen schlief bereits selig, seinen Kuschelelefanten fest an sich gedrückt. Für einen Moment war sie restlos glücklich gewesen.

Und dann das. »So habe ich mir das nicht vorgestellt.«

Noch jetzt hörte sie, wie kalt Torbens Stimme dabei geklungen hatte. Sofort hatte sie sich von ihm losgemacht.

»Was hast du dir nicht so vorgestellt?«

»Das alles. Kinder haben.«

Für einen Moment war sie sprachlos gewesen, dann wollte sie es genau wissen. »Inwiefern?«

Torben zuckte mit den Schultern. »Müssen wir das unbedingt jetzt besprechen?«

Sie verschränkte die Arme und wollte ihn schon anfauchen, natürlich müssten sie das jetzt besprechen, während sie auf die friedlich schlafenden Zwillinge blickten. Wie brachte er es übers Herz, damit überhaupt anzufangen? Aber wenn sie laut wurden, würde Lars vielleicht aufwachen, und dann musste Emma ihn wieder stundenlang herumtragen, bis er sich beruhigte und wieder einschlief.

»Lass uns ins Wohnzimmer gehen.«

Torben warf sich aufs Sofa, während Emma an den Kühlschrank ging. Sie brauchte Schokolade. Viel Schokolade.

Die Worte waren in der Welt, und sie vermutete, dass Torben sie nicht leichtfertig ausgesprochen hatte, sondern unter Umständen schon seit Wochen oder Monaten darauf herumkaute, bevor er sie aussprach. So war Torben.

»Du meinst, wir hätten keine Kinder bekommen sollen?«, fragte sie, nachdem sie zwei Stücke Nougatschokolade verputzt hatte.

Er zuckte mit den Schultern. »Sieh dich an«, sagte er.

»Was soll mit mir sein?«

»Du bist nicht mehr die Frau, in die ich mich verliebt habe.«

Emma erstarrte, das wurde ja immer schlimmer. Wie konnte er zu ihr solche Dinge sagen? Und was sollte das heißen, dass sie nicht mehr die Frau war, in die er sich verliebt hatte?

»Das wirst du erklären müssen«, fauchte sie.

»Wann haben wir das letzte Mal einen Abend zu zweit verbracht? Wann sind wir mal ins Kino gegangen? Ins Theater? Dein Theaterabo hast du gekündigt. Und wir waren bisher nicht einmal in der Elbphilharmonie.«

Eine Welle der Erleichterung durchströmte sie. Offensichtlich machte er sich Sorgen um sie, hatte es nur sehr unglücklich formuliert.

»Du reibst dich auf.«

»Das wird besser, wenn sie in die Kita gehen.«

Torben schüttelte den Kopf. »Das ist ja nicht alles. Wir. Wir finden gar nicht mehr statt. Abends, wenn die beiden schlafen, bist du immer auf Abruf. Man kann nicht mal vernünftig Serien schauen, ohne dass du ständig aufspringst und nach ihnen schaust.«

Emma sagte dazu nichts. Timos unruhiger Schlaf wäre ein mögliches Argument gewesen. Oder die Tatsache, dass Lars ständig seinen Schnuller verlor und davon aufwachte. Wieso war ihm das nicht bewusst? Es waren doch auch seine Kinder?

»Außerdem … ich fühle mich so nutzlos. Ich gehöre gar nicht richtig dazu.«

»Du bist ja auch selten da«, sagte sie spitz.

In seinem Job als Rechtsanwalt hatte Torben natürlich immer viel zu tun. Manchmal war er tagelang auf Geschäftsreisen. Vielleicht bildete Emma sich das ein, aber gefühlt waren diese Reisen mehr geworden in den letzten Monaten.

»Du meinst, jetzt ist es meine Schuld, wenn ich mit den Zwillingen nicht klarkomme?« Er zog die Augenbrauen hoch.

Emma seufzte. »Das habe ich nicht gesagt.«

Sie merkte, wenn sie nicht aufpasste, gerieten sie in eine Spirale aus Anschuldigungen und Wut und wurden einander mit jeder Minute fremder. Oder waren sie sich schon so fremd, dass sie gar nicht zurückkonnten? Emma wusste es nicht. Sie war zu müde, um darüber jetzt nachzudenken. Aber sie musste sich zusammenreißen; das hier war wichtig. Wenn sie Torben nicht verlieren wollte, musste sie sich zusammenreißen!

»Ich glaube …«, hörte sie ihn sagen.

Sie schloss die Augen. Sag es nicht.

»Ich glaube, wir sollten darüber nachdenken, ob es so weitergehen kann. Oder ob wir etwas ändern sollten.«

»Was können wir denn ändern?«, fragte sie leise. »Außer dass wir uns trennen.«

Er zuckte nur mit den Schultern.

Schulterzucken. Das war alles, was ihm nach sieben gemeinsamen Jahren, vielen Reisen, einer Hochzeit und zwei Kindern geblieben war.

»Ich weiß es nicht«, sagte er leise. »Darum frage ich dich. Was können wir anders machen, damit ich dich wieder für mich gewinnen kann, Emma?«

Sie war wie betäubt. Das war doch kein Wettbewerb, in dem Torben gegen die Zwillinge antrat. Sie hatten sich gemeinsam für die Kinder entschieden, gemeinsam dafür gekämpft. Sie hatten geweint vor Freude, als Emma schwanger wurde, sie hatten sich aneinander festgehalten, als auf dem Ultraschall zum ersten Mal zwei winzig kleine, blubbernde Herzchen erschienen waren. Zwillinge! Es war im ersten Moment ein Schock gewesen, auch wenn sie bewusst das Risiko eingegangen waren. Aber in den Monaten der Schwangerschaft hatten sie sich gemeinsam ausgemalt, wie schön das werden würde. Gemeinsam mit ihren Kindern wollten sie die Welt erobern, sie wollten viel reisen. Dann holte die Realität sie ein, zwei Säuglinge zu versorgen war kein Spaß. Aber Emma verzichtete gern auf die Welt, denn ihre Welt waren diese kleinen Neugeborenen. Alles eine Phase, sagte sie sich. Es würde irgendwann besser werden. Und jetzt, kurz vor dem zweiten Geburtstag der Zwillinge, hatte sie tatsächlich das Gefühl, dass es besser wurde. Und dann stellte Torben alles in Frage, was sie in dieser Zeit geschafft hatte.

»Emma?«

Er klang verzagt, aber sie sah auf und in seinem Blick war mehr als nur dieses Fremde, das sich dort über die Monate eingeschlichen hatte, in denen sie abends im Bett bei den Babys gelegen hatte, während er sich unten im Wohnzimmer irgendwelche Serien reinzog. Waren da irgendwo noch seine Gefühle für sie? Wenn es so war, verbarg er sie gut.

Wenn nicht …

»Was möchtest du tun?«, fragte sie und schluckte die Tränen runter.

»Vielleicht sollten wir eine Pause machen.«

Er hatte also schon darüber nachgedacht. Es war also schon vorbei, denn nichts anderes verbarg sich hinter dieser Floskel. »Eine Pause machen«, das hieß im Klartext doch, dass er die Trennung wollte.

Emma nickte. Sie hörte von oben ein kleines Stimmchen; Lars rief nach ihr. »Vielleicht«, sagte sie, stemmte sich vom Sofa hoch und ging nach oben. Was sollte sie auch sagen? Dachte Torben, sie würde versuchen, ihn vom Gegenteil zu überzeugen?

Während sie Lars tröstete, der nach seinem Schnuller suchte, während sie vor dem Bett kniete und durch die Gitterstäbe seine Hand hielt, bis er wieder eingeschlafen war, lauschte Emma. Doch von unten drang kein Geräusch herauf. Auch der Fernseher blieb an diesem Abend aus, als wäre Torben sogar die Lust auf seine geliebten Serien vergangen.

Wenigstens das, dachte Emma. Es wäre ihr unerträglich, wenn er in dieser Situation weitermachen könnte wie bisher.

Die Nacht verbrachte Torben auf dem Sofa, und als Emma am Morgen mit den Jungs aufstand, die beide schon um kurz nach fünf wach waren – viel zu früh für alle Beteiligten! –, war er bereits weg. Keine Nachricht von ihm, kein Zettel. Die Decke auf der Couch sorgfältig zusammengelegt. Keine Spur.

Sie packte und fuhr nach Neuharlingersiel. »Wir machen einen Ausflug, das wird toll!«, lockte sie Lars und Timo, die fröhlich in die Hände klatschten und alles erstaunlich gutgelaunt mitmachten. Nicht mal die Autofahrt wurde zum gewohnten Horrortrip, denn sie hatten Hamburg noch nicht ganz hinter sich gelassen, als erst Timo und dann Lars die Augen zuklappten und sie bis kurz vor Neuharlingersiel schliefen.

Als wäre es genau richtig, dass Emma mit ihnen auf die Insel fuhr.

»So, jetzt habe ich für euch Zeit.« Frieke ließ sich neben Emma in den Strandkorb fallen und sprang sofort wieder auf. »Kaffee? Schwarz?«

»Hast du auch einen Milchkaffee?«

Frieke hob die Augenbrauen, nickte aber und kommentierte Emmas Sinneswandel nicht. Früher hatte sie Kaffee immer schwarz getrunken. Inzwischen war er nicht nur ein Getränk, das wach machte, sondern manchmal auch das Einzige, was sie bis zum Mittagessen zu sich nahm. Da war ein Milchkaffee mit einem Löffel Zucker zwar alles andere als gesund, aber wenigstens nahrhaft.

Als Frieke wenige Minuten später mit einem kleinen Tablett zurückkam, auf dem sie zwei Becher balancierte, sagte sie mit einem Augenzwinkern: »Wusste ich doch, dass die Mutterschaft dich irgendwie weich gemacht hat.«

Bevor Emma das kommentieren konnte, spürte sie, wie ihr Tränen in die Augen stiegen. Sie konnte gerade noch den Milchkaffee entgegennehmen und auf den Boden stellen, bevor sie heulte wie ein Schlosshund.

»Ach herrje«, murmelte Frieke und drückte Emmas Arm. Mehr machte sie nicht. Sie wartete einfach, bis Emma sich ausgeheult hatte. Und danach fragte sie nicht, was denn los sei, sondern sie tranken schweigend den Milchkaffee und streckten gemeinsam die Füße in die Sonne. Frieke zog eine Packung Taschentücher aus der Gesäßtasche, und Emma schnäuzte sich ausgiebig.

»Was wirst du jetzt tun?«, fragte Frieke irgendwann, weil sie offenbar die richtigen Schlüsse gezogen hatte. Dafür liebte Emma ihre Freundin. Sie wusste einfach, was los war. Hatten ihr das die Bücher verraten, als Emma vorhin vor ihr stand? Gut möglich …

Sie zuckte mit den Schultern. Sie wusste nicht, was sie tun sollte. Sie hatte keine Pläne. Bisher war ihr Leben wohlgeordnet gewesen, und sie hatte sich selbst aus dem Nest geschubst, in dem Torben und sie es sich eingerichtet hatten. Das Reihenhaus vor den Toren von Hamburg – nun, dorthin wollte sie nicht zurück. Dort waren sie glücklich gewesen, und die Erinnerung daran war im Moment einfach nicht möglich.

Sie zuckte nur mit den Schultern. »Irgendwas wird mir schon einfallen.«

»Hm«, machte Frieke. »Die Ferienwohnung über dem Buchladen ist im Moment leider vermietet, sonst könntest du dort einziehen.«

»Ich dachte, ich kann vielleicht in euer Gästezimmer …«

Frieke schüttelte bedauernd den Kopf. »Tut mir leid, da wohnt derzeit Lilli.« Als sie Emmas verständnislosen Blick bemerkte, fügte sie hinzu: »Meine diesjährige Saisonkraft.«

»Was ist aus Thea geworden?«

»Thea studiert. Sie kommt erst Mitte Juli auf die Insel. Bis dahin müssen wir uns zu zweit durchschlagen.«

»Ich könnte auch helfen.«

»Und deine Jungs nehmen derweil den Laden auseinander? Ich glaube, ich verzichte.« Frieke lachte.

Emma biss sich auf die Unterlippe. Für einen winzigen Moment hatte sie das vergessen. Dass sie zwei Kinder hatte, die zu klein waren, um sie sich selbst zu überlassen.

»Aber wenn du auf der Insel bleiben möchtest, fällt uns schon was ein«, sagte Frieke. »Ich höre mich mal für dich um, okay?«

»Danke«, sagte Emma schwach.

Lars regte sich und wurde wach. Frieke räumte die Tassen zurück in den Laden und drückte Emma eine Brotdose in die Hand. »Hier«, sagte sie. »Mein Mittagessen.«

»Aber das ist dein Mittagessen.«

»Na und? Oder hast du für dich etwas mitgenommen?«

Emma schüttelte den Kopf. Natürlich nicht. Sie hatte für die Zwillinge genug dabei, aber an sich hatte sie nicht gedacht.

»Salat und kaltes Omelett. Und Erdbeeren. Geh an den Strand, creme die Jungs gut ein, und lass sie toben. Ich kümmere mich um euer Quartier für heute Nacht. Habt ihr Sandspielzeug?«

Emma schüttelte den Kopf. Herrje, hatte sie überhaupt an irgendetwas gedacht?

»Drüben in dem Laden haben sie hübsche Sets, mit denen man die schönsten Sandburgen bauen kann. Oh, und falls ihr einen Strandkorb mieten wollt, geh zu Claas und richte ihm Grüße von mir aus. Er hat für besondere Inselgäste immer welche in Reserve.« Frieke zwinkerte Emma zu. »Und ihr gehört bestimmt dazu.«

Solche Freunde, dachte Emma, während sie den Buggy den Noorderpad entlangschob und Frieke winkte, waren mit Gold nicht aufzuwiegen.

Kapitel 2

Am Strand herrschte reges Treiben. Viele Strandkörbe waren besetzt und zur Sonne ausgerichtet. In manchen schliefen Mütter und Väter mit ihren Kindern, andere wurden von wachsenden Sandburgen umfriedet. Emma ließ Lars und Timo aus dem Buggy, und sofort rannten die beiden los, warfen sich auf den Knien in den Sand und fingen an, nach Muscheln zu graben. Sie stellte Sandspielzeug neben die beiden – alles in doppelter Ausführung, was die Wahrscheinlichkeit für Streit zumindest etwas verringerte – und ließ sich aufatmend neben ihnen in den Sand sinken. Auf den Strandkorb konnten sie verzichten – solange die beiden im Sand wühlen konnten, waren sie glücklich.

Hinter den Strandkörben führte ein Bohlenweg zu einem Dünenaufgang. Dahinter standen Bänke, auf denen ein paar Sonnenanbeter saßen. Eine ältere Frau fiel Emma auf. Sie las in einem abgegriffenen Taschenbuch und hatte die nackten Füße im Sand vergraben. Nur gelegentlich blitzten die hellblau lackierten Fußnägel hervor. Man sah ihr an, wie sehr sie ihre Lektüre genoss. Gelegentlich ließ sie das Buch sinken, und ihr Blick schweifte über Strandkörbe, Sand, Menschen und Meer, als wäre dies ein Anblick, an dem sie sich nicht sattsehen konnte.

Bei einem dieser Rundumblicke bemerkte sie Emma und lächelte. Ihre silbrigen Löckchen wippten im leichten Wind. »Schön, nicht wahr?«, fragte sie.

»Was denn?« Emma wusste nicht, wovon sie sprach.

»Mit den Kindern. Man wird ganz ruhig, wenn man sie im Spiel beobachtet. Ich konnte früher nicht genug kriegen davon.«

»Oh.« Emma hatte gar nicht bemerkt, wie Lars und Timo einträchtig miteinander Sand schaufelten. Der eine schaufelte den Sand in die Förmchen, der andere kippte ihn wieder aus. Das taten sie so konzentriert und in ihr Spiel vertieft, dass Emma spürte, wie ihr ganz eng ums Herz wurde.

Die alte Dame stand auf und kam zu Emma herüber. »Darf ich?«, fragte sie, und als Emma ein Stück beiseite rückte, ließ sie sich mit einem leisen Ächzen in den Sand sinken. »Ich bin Johanne.« Sie streckte die Hand aus. Ihr Händedruck war warm und angenehm fest.

»Emma. Und das sind Lars und Timo.«

»Ich frage Sie jetzt nicht, ob Sie die beiden auseinanderhalten können. Oder eine dieser anderen Fragen, die man offenbar nur Zwillingsmüttern stellt.«

Emma grinste. »Nur zu! Ich glaube, ich habe sie inzwischen alle gehört. Als Zwillingsmutter scheint man einer seltenen Spezies anzugehören.«

Johanne wiegte den Kopf. »So selten ist das gar nicht mehr«, meinte sie.

Dazu sagte Emma nichts, denn ihr Gegenüber hatte damit gar nicht so unrecht. Als Torben und sie die Familienplanung angingen, hatte sie schon bald das Gefühl, dass irgendetwas nicht stimmte, und nach einigen Untersuchungen, zu denen Emma ihre Frauenärztin drängte, stellte sich tatsächlich heraus, dass sie nicht ohne Weiteres schwanger werden konnte. Nach dem ersten Schock führte sie der gemeinsame Weg in eine Kinderwunschklinik, und schon nach der zweiten Behandlung stellte sich der Erfolg in Form der Zwillingsschwangerschaft ein. Dass sie kein Einzelfall waren, sah Emma in ihrem weiteren Bekanntenkreis, in dem sie von mindestens zwei weiteren Zwillingspärchen wusste, die nicht auf natürlichem Weg entstanden waren. Und noch ein paar andere, bei denen sich Emma aber nicht zu fragen traute.

»Meine Großnichte hat auch Zwillinge. Süße Zwerge, aber ich sehe sie viel zu selten. Ich habe schon Probleme, immer all meine Enkel zu sehen.« Johanne lächelte. »Für Ihre Eltern muss es doch auch eine große Freude sein, dass sie Enkel haben, oder?«

Schlagartig schwand Emmas gute Laune. »Meine Mutter lebt nicht mehr«, sagte sie knapp.

»Oh, das tut mir sehr leid.« Johanne wirkte ehrlich betroffen. »Ich wollte Ihnen nicht weh tun. Aber Ihr Vater …?«

Emma schüttelte nur den Kopf, verbat sich damit jede weitere Frage, und zu ihrer Erleichterung verstand Johanne auch ohne viele Worte, dass ihr Vater nicht gerade ein Thema war, über das sie gerne sprach.

Wenn sie jetzt noch sagt, dass es doch die Hauptsache ist, wenn meine kleine Familie glücklich ist, muss ich leider aufstehen und gehen, dachte Emma. Sonst fange ich an zu heulen.

Sie vergrub ihre Füße tiefer im Sand und sagte eine Weile gar nichts. Johanne räusperte sich. »Mein Ältester wäre beinahe ohne Vater aufgewachsen. Hat sich aus dem Staub gemacht, der Lump. War damals so. Wenn man nicht verheiratet war, konnte sich der Mann verdünnisieren, und die Frau konnte sehen, wo sie bleibt. Aber ich habe es hingekriegt. Und nicht schlecht, will ich mal meinen. Er ist wohlgeraten, mein Thomas.« Ihre Stimme wurde ganz weich. »Das kriegen wir Frauen schon hin, wenn’s sein muss. Und bald darauf habe ich einen gefunden, der wollte immer Kinder. Wir haben noch drei bekommen. Zwischen Thomas und den eigenen hat er nie einen Unterschied gemacht. Zumindest habe ich das nicht gemerkt. Und wir Mütter, wir haben gute Antennen dafür.«

Sie verstummte.

Emma kramte in ihrer Tasche nach der Sonnenbrille. Das, was Johanne ihr da erzählte, rührte sie, denn hinter den Worten spürte sie eine so viel größere Geschichte. Doch es tat ihr auch weh, und sie brachte es nicht übers Herz, diese nette, alte Dame zurechtzuweisen oder sie einfach sitzenzulassen, nur weil sie gerade einen wunden Punkt berührt hatte. Wie sehr sich die Geschichten doch glichen! Ihr Vater hatte sich auch immer um die Familie gekümmert – irgendwie. Dass es für ihn vor allem eine Pflicht gewesen war, manchmal sogar lästig, hatte sie auf die harte Tour begreifen müssen. Nach dem Tod ihrer Mutter verkaufte er ihr Elternhaus und zog auf eine Plantage in Südspanien, wo er Orangen und Mangos zog. Ihr Kontakt beschränkte sich im Moment darauf, dass er alle paar Monate ein Paket mit Früchten schickte, dazu eine knappe Nachricht – Grüße vom Opa aus Spanien oder dergleichen. Sie redete sich ein, dass das gar nicht weh tat. Aber das war eine Lüge.

Und jetzt hatte Torben ihre Beziehung nicht nur in Frage gestellt, sondern war auch nicht zufrieden damit, wie das Familienleben war. Er hatte es sich also anders vorgestellt? Vielen Dank auch. Achtung, Spoiler: Kinder brachten Verantwortung mit sich. Das hatten offenbar sowohl ihr Vater als auch ihr Ehemann unterschätzt. Nur hatte Torben den Mut, sich schon früher aus der Affäre zu ziehen. Oder war es nicht mutig, sondern rücksichtslos?

Es durfte sie vermutlich nicht wundern, dass sie sich einen Mann ausgesucht hatte, der keine dauerhafte Verantwortung übernehmen wollte. Dabei hatte sie gedacht, sie sei über die Kränkungen ihres Vaters hinweg. Denn genau das war es, was er mit ihr tat: stete Erinnerung daran, wie unwichtig sie für sein Leben war. Er war noch nicht einmal nach Deutschland gekommen, um die Zwillinge kennenzulernen.

»Ach, Kindchen. Ich habe mich gerade hinreißen lassen. Entschuldigen Sie.« Johanne tätschelte ihren Arm.

Emma zog den Arm zurück. Wenn es etwas gab, das für sie schlimmer war als Fremde, die ihre ganze Lebensgeschichte vor ihr ausbreiteten, dann war es, von ihnen berührt zu werden. Sie versuchte, sich zusammenzureißen. Johanne konnte ja nichts dafür, dass sie gerade in einer schwierigen Lage steckte.

»Schon gut«, sagte sie, aber Johanne verstand, dass es eben nicht gut war, und stand auf. »Ich hole uns mal was zu essen«, sagte sie. »Dürfen die Jungs Pommes?«

»Klar«, sagte Emma schwach. Sie blickte Johanne nach.

Unwillkürlich musste sie an Frieke denken. Die Insel, pflegte Frieke zu sagen, packt dich. Und dann lässt sie nie mehr los. Bisher hatte Emma das für einen Witz gehalten, aber jetzt schien es auch ihr zu passieren. Obwohl jedes Thema, das Johanne anschnitt, ihr irgendwie weh tat, mochte sie die alte Dame. Ob sie eine Urlauberin war? Oder lebte sie hier?

Es dauerte nicht lange, und Johanne kam mit einem Tablett zurück, auf dem zwei Limoflaschen und zwei große Portionen Pommes mit Mayo und Ketchup angerichtet waren. Emma half ihr, die Pommesschalen auf der Decke abzustellen, die sie im Sand ausgebreitet hatte.

Sobald die Jungs mitbekamen, dass es etwas zu essen gab, kamen sie angelaufen und ließen sich auf die Decke plumpsen, wobei sie den Sand aus ihren Klamotten großzügig rings um sich verteilten. Emma gab ihnen eine der Schalen, die andere teilten Johanne und sie sich. Dazu tranken sie Limo – für die Zwillinge gab es Wasser aus ihren Trinkflaschen –, und für eine halbe Stunde plauderten sie einfach angeregt über alles Mögliche. Emma erfuhr, dass Johanne tatsächlich auf der Insel lebte. »Schon mein ganzes Leben«, erklärte sie. »Früher hatten Ernst – mein Mann – und ich eine kleine Pension. Fünfzehn Betten, wir waren oft von Mai bis Oktober ausgebucht. Das war sehr schön. Aber nach seinem Tod habe ich sie verkauft. Zu viel Arbeit für einen allein.«

»Ach schade!«, rief Emma. »Sonst hätte ich bei Ihnen Quartier beziehen können. Wir sind nämlich spontan hier. Meine Freundin Frieke versucht gerade, noch etwas für heute Nacht für uns zu finden.«

»Frieke ist Ihre Freundin?« Ein Lächeln hellte Johannes Gesicht auf.

»Sie kennen sie?«

»Bei nicht mal tausend Insulanern kennt jeder jeden. Aber Frieke und mich verbindet noch etwas anderes.« Johanne leckte das Pommessalz von ihren Fingern. »Ich habe ihr das erste Buch gegeben. Damals, als sie auf die Insel kam und noch nicht wusste, dass sie bleibt. Ich hab’s sofort gesehen«, behauptete sie, »dass sie hierhergehört, meine ich. Und dass sie zu den Büchern gehört.«

»Ach, Sie sind die alte Dame mit dem Schmachtfetzen!« Emma erinnerte sich natürlich an die Geschichte, die Frieke gern erzählte. Wie sie auf die Insel kam und ihr auf der Fähre, wo sie kein Netz hatte, ein Liebesroman angeboten wurde. Es war der Anfang ihrer neuerwachten Bücherliebe, und wohin das geführt hatte, wusste man ja.

»Genau, ich bin das.« Johanne schien mit ihrer Nebenrolle bei dieser Geschichte sehr zufrieden zu sein. »Und wenn jemand eine Übernachtungsmöglichkeit für Sie findet, dann ist es Frieke Wallgren.«

Das hoffte Emma sehr. Sie wollte sich lieber nicht ausmalen, was geschah, wenn Frieke nichts fand. Ob sie dann mit der letzten Fähre zurückfuhren? Völlig desillusioniert?

Ich will nicht hier weg, dachte Emma. Wenigstens ein paar Tage möchte ich bleiben und mich dieser zauberhaften Inselruhe hingeben. Die hat doch schon bei anderen Wunder gewirkt …

* * *

Wunder konnte Frieke offenbar nicht vollbringen. Das gehörte nicht zu ihren Fähigkeiten. Frustriert legte sie auf. Inzwischen hatte sie so ziemlich jeden angerufen, von dem sie wusste, dass er Zimmer oder Wohnungen vermietete und mit dem sie sich einigermaßen verstand oder bei dem sie noch einen Gefallen einfordern konnte. Nicht mal ihre beste Inselfreundin Sonja konnte ihr helfen. »Du weißt schon, dass wir gerade kurz vor der Hauptsaison stehen und ein Feiertagswochenende haben?«, fragte sie ganz vorsichtig.

»Klar weiß ich das«, sagte Frieke zerknirscht. »Ich dachte nur, dass eventuell ein Gast krank geworden ist.«

Sonja lachte hell auf. Seit sie nicht mehr mit Bosse zusammen war, und er die Insel verlassen hatte, war sie förmlich aufgeblüht. »Falls es dir entgangen ist, viele Leute kommen auf die Insel, weil sie hier gesund werden. Oh, warte mal. Jetzt fällt mir doch was ein.« Frieke hörte im Hintergrund etwas rascheln. »Kann ich dich gleich zurückrufen? Ich muss mal jemanden anrufen. Vielleicht finden wir ja doch was für Emma und die Jungs.«

Als ihr Handy wenige Minuten später vibrierte, zuckte sie zusammen. Inzwischen war sie es gar nicht mehr gewohnt, ständig auf ihr Handy zu blicken. Sie zog es aus der Gesäßtasche ihrer Jeans und las die Nachricht.

Die Brandseeschwalbenkolonie braucht mich heute Nacht. Ist es okay, wenn ich draußen bleibe?

Bengt. Wie jeden Sommer hatte er auch dieses Jahr mit Beginn der Brutzeit seinen Bauwagen drüben am Westende der Insel aufgestellt und beobachtete seine Vögel. Manchmal blieb er über Nacht dort, und Frieke besuchte ihn abends. Dann saßen sie auf den Stufen des Bauwagens, er kredenzte ihr Kaffee aus der Frenchpress und seine neueste Kuchenkreation. Es waren Abende, die sie an ihren ersten Aufenthalt auf der Insel erinnerten, als das alles noch neu und nicht selbstverständlich für sie war.

Ich kann heute Abend aber nicht kommen. Emma ist überraschend da.

Dann fiel ihr etwas ein, und sie schickte eine zweite Nachricht hinterher: Passt aber. Dann kann sie mit den Jungs bei uns schlafen, und ich geh aufs Sofa.

Es dauerte nicht lange, und Bengt schrieb zurück: Komm doch über Nacht zu mir. Dahinter ein Zwinkersmiley.

»Auf gar keinen Fall«, murmelte Frieke. Das hatte sie zwar letztes Jahr schon ein paarmal gemacht, aber Bengts Bett im Bauwagen war längst nicht so bequem wie das im alten Kapitänshaus. Eine schmale Pritsche, auf die sie sich mühsam zu zweit quetschten, und sie hatte nach so einer Nacht das Gefühl, sie habe ständig wach gelegen oder sei fast aus dem Bett gefallen. Und sie konnte schlecht mit Rückenschmerzen in der Buchhandlung stehen, das schaffte sie einfach nicht mit nur einer Aushilfe, wenn die Insel von Tagesgästen überschwemmt wurde.

Also schrieb sie: Bis morgen!

Aber sie ärgerte sich. Nicht über Bengt; sie hatte von Anfang an gewusst, dass die Brandseeschwalben für ihn während ihrer Brutzeit eine hohe Priorität hatten, und das war für sie auch absolut okay. Nein, sie ärgerte sich darüber, dass sie sich daran störte, wenn Bengt nicht nach Hause kam und Emma über Nacht bei ihnen blieb.

Komisch. Normalerweise wäre Emmas Besuch ein Grund zur Freude. Aber Frieke scheute den Aufwand. Sie musste die Betten im Schlafzimmer frisch beziehen, mit ihrem Bettzeug aufs Sofa im Wohnzimmer umziehen, noch einmal in den Frischemarkt laufen und für das Abendessen einkaufen. Dabei wollte sie nach der Arbeit einfach nur nach Hause, irgendeine Kleinigkeit essen und sich dann mit einer Tüte Chips vor den Fernseher lümmeln, wo sie dann durch die Kanäle zappte, bis sie müde wurde. Oder mit einem Buch früh ins Bett.

Ihr leises Seufzen blieb nicht unbemerkt. Lilli legte einen Stapel Inselkrimis auf den Kassentisch und legte den Kopf schief. »Alles okay?«, erkundigte sie sich.

»Ja, ach. Glaube schon.«

Sie mochte Lilli. Mit ihren fünfundzwanzig Jahren war sie nach einem BWL-Studium, Auslandspraktika und einem ersten Jahr im Job zu der Erkenntnis gelangt, dass viel Geld auf Dauer nicht alles war, was sie glücklich machte, und dass sie nicht dafür geschaffen war, jeden Monat in einer anderen Stadt am anderen Ende der Welt aufzuwachen, weil die Beratungsfirma, bei der sie tätig war, sie ständig für neue Projekte einsetzte. Als Frieke sie bei dem telefonischen Vorstellungsgespräch fragte, was Lilli sich von dem Sommer auf Spiekeroog erhoffte, antwortete sie lapidar: »Ankommen.« Mehr musste Frieke nicht wissen, es war klar, dass sie sich wunderbar verstehen würden. Und sie wurde nicht enttäuscht. Lilli wusste, wie man anpackte. Sie lernte schnell, und mit ihrem blonden Bubikopf und den bunten Blumenkleidern, zu denen sie gern knallpinkfarbenen Lippenstift trug, sah sie überhaupt nicht aus wie eine Unternehmensberaterin auf Selbstfindungstrip.

Und offensichtlich hatte sie auch eine gehörige Portion Menschenkenntnis, denn ganz beiläufig sagte sie jetzt: »Mich nervt das auch immer, wenn meine Pläne über den Haufen geworfen werden. Kann ich überhaupt nicht leiden.« Bevor Frieke darauf antworten konnte, fügte sie hinzu: »Kann ich dir was abnehmen?«

Normalerweise hätte Frieke abgelehnt. Aber sie war zu müde, um sich diese Form von Stolz zu leisten.

»Du könntest gleich kurz in den Frischemarkt hüpfen und Spargel für heute Abend holen«, sagte sie. »Ich glaube nämlich, auf Gäste ist mein Kühlschrank nicht eingestellt.«

»Kein Problem. Schreib mir eine Liste, und ich besorge alles, was wir brauchen.«

Eine Sorge weniger. Jetzt konnte Frieke nach der Arbeit direkt nach Hause radeln und das Schlafzimmer herrichten. Alles andere würde sich schon ergeben. Und vielleicht wurde es ja ganz schön, so ein Mädelsabend zusammen mit Emma und Lilli auf ihrer kleinen Terrasse.

»Soll ich auch Wein mitbringen?« Lilli, stets die Planerin, schrieb bereits den Einkaufszettel.

Frieke zögerte. »Aber nicht zu viel.«

»Aye, aye, lady captain!« Zackig legte Lilli eine Hand an ihre imaginäre Matrosenmütze und tauchte wieder im hinteren Teil des Ladens unter, wo sie geschäftig herumräumte. Im Moment war es ruhiger. Die Tagesgäste kamen erst in etwa einer Stunde auf dem Rückweg vom Strand vorbei, dicht gefolgt von den hungrigen Urlaubern, die vor dem abendlichen Restaurantbesuch noch ein wenig stöbern wollten.

Frieke grinste. Sie rief auf dem Tablet, das sie tagsüber für alle geschäftlichen Belange nutzte und auf dem sie abends die für sie interessanten Neuerscheinungen las, die Warenwirtschaft auf und ging die Verkäufe der letzten Tage durch. Einige Bücher bestellte sie nach, zu ihrer Freude waren auch ein paar Titel dabei, die sie im Moment besonders gern verkaufte. Früher hatten Ebba und Willem, von denen Frieke vor einem Jahr die Buchhandlung übernommen hatte, noch mit Buchlaufkarten gearbeitet. Auf diesen wurde neben Titel, Autor und Verlag auch die Anzahl der Bücher notiert, die eingekauft wurden. Beim Verkauf wurden die Karten aus den Büchern genommen und bei Bedarf die Bücher eben nachbestellt. Das System hatte trotz des charmanten Anachronismus so seine Tücken; es bedeutete viel mehr Arbeit als die zehn Minuten, in denen sie die Liste der Warenwirtschaft durchging, und nicht selten vergaß man die Karte zu entnehmen, und das Ende vom Lied war, dass auch gutgehende Titel nur dann nachbestellt wurden, wenn ihr Fehlen dem Buchhändler auffiel.

Aber das war eben Ebbas und Willems Methode gewesen. Sie war schon etwas antiquiert, und als Frieke sich über Warenwirtschaftssysteme für Buchläden informierte, merkte sie erst, dass die kleine Inselbuchhandlung in den vergangenen Jahrzehnten offenbar einige Innovationssprünge verpasst hatte. Egal. Jetzt hatte sie nicht nur eine Facebookseite und einen Twitteraccount für die Buchhandlung (unter @kleineInselbuchhandlung schrieb sie Buchempfehlungen, kleine Anekdoten aus dem Lädchen oder kam mit ihren Kunden ins Gespräch), sondern auch eine moderne Warenwirtschaft, die sie regelmäßig auswertete.

Zehn Minuten später waren auch alle Nachbestellungen getätigt, und Frieke klappte die Schutzhülle des Tablets zu. Immer noch kein Rückruf von Sonja.

Vielleicht sollte sie sich einfach gedanklich schon mal darauf einrichten, dass Bengt für den Rest des Sommers bei seinen Brandseeschwalben blieb. Ihm würde das gefallen, das wusste sie.

Als sie vor anderthalb Jahren in das alte Kapitänshaus zusammengezogen waren, hatte Frieke schnell gemerkt, dass Bengt zwar gewisse Qualitäten als Hausmann hatte und in den Wintermonaten auch durchaus häuslich sein konnte, doch sobald im Frühling die Tage länger wurden und mit der baldigen Rückkehr der Brandseeschwalben zu rechnen war, galt seine Aufmerksamkeit nur noch seiner Arbeit. Er hatte dann wenig Sinn für lange Filmabende oder gemütliche Gespräche am Kamin bei Kerzenschein und Wein. Frieke sagte sich, dass das ja in Ordnung sei, schließlich hatte sie sich in ihn verliebt, weil er so war, wie er war. Außerdem blieb ihr im Sommer auch kaum Zeit für anderes als die Buchhandlung.

Trotzdem pikste das ein bisschen. Sie hatte auch für ihn ihr Leben auf den Kopf gestellt und etwas völlig Neues gewagt. Und er konnte sein Leben so weiterführen wie bisher – nur mit dem Unterschied, dass er die Winter nicht bei Tante Mette auf dem Festland, sondern bei Frieke im Inseldorf verbrachte.

Okay, jetzt übertrieb sie, aber ihr war gerade ein bisschen zum Heulen zumute, weil sie es sich einfach anders vorgestellt hatte. Vielleicht ganz gut, dass Bengt heute bei seinen Brandseeschwalben blieb, wenn sie emotional so neben der Spur war. Morgen ging es ihr bestimmt besser. Dann konnte sie mit ihm darüber reden, was sie störte und was anders laufen musste.

* * *

Nach einem letzten Blick auf den Überweisungsschein seiner nächsten Patientin ging Dr. Raik Tossens mit weit ausgreifenden Schritten in das Wartezimmer. »Frau Großewinkelmann?«

Eine Endvierzigerin, die etwas zu viel auf den Rippen hatte (Raiks professionelle Meinung), erhob sich. Sie trug eine Blümchenbluse, einen blauen Rock und Riemchensandalen, die mit Glitzersteinen besetzt waren. Am meisten strahlte aber ihr Lächeln, sobald sie Raik erblickte. »Herr Doktor!« Sie versuchte, ihm die Hand zu reichen, aber das konnte Raik gerade noch abwenden, indem er mit der rechten Hand einladend zum Behandlungszimmer zeigte.

»Dort entlang bitte.«

Er versuchte, seinen Patienten möglichst nicht die Hand zu geben, da manche mit einem geschwächten Immunsystem anreisten und daher schon ein kleiner Schnupfen sie umhauen konnte.

Wie ihm ein kurzer Blick auf Frau Großewinkelmanns Überweisung verriet, war das bei ihr zum Glück nicht der Fall.

»So, was kann ich denn für Sie tun?«, fragte er und setzte sich hinter den wuchtigen Eichenholztisch. Ein Erbstück seines Vaters, der früher Landarzt auf dem Festland gewesen war. Es hatte Raik ein kleines Vermögen gekostet, dieses Möbelstück, das ihm lieb und teuer war, nach seiner Praxiseröffnung vor ein paar Jahren auf die Insel bringen zu lassen.

»Ja, Herr Doktor, ich bin zur Kur hier, nech?« Seine Patientin versuchte sich an einem koketten Lächeln. Raik erwiderte das Lächeln nachsichtig. »Mein Hausarzt Dr. Rodenbrock meint, ich hätte es mit der Lunge.«

Sollte Raik eine Wette abschließen, würde er eher auf beginnenden Diabetes und fehlende Fitness tippen, aber er nickte nur wohlwollend und notierte etwas auf einem Zettel.

»Und darum hat er mich hergeschickt. Das Reizklima, Sie wissen schon.«

»Ja, natürlich. Wie lange bleiben Sie?«

Sie strahlte ihn an. »Drei Wochen.«

»Gut, also was kann ich für Sie tun?«

»Also, ich dachte … weil ich doch so krank bin …«

Raik nickte, doch in Gedanken war er schon woanders. Diese Patientin war wie so viele, die Tag für Tag in seiner Praxis saßen und sich über ihren Kuraufenthalt freuten: drei oder vier Wochen auf der Insel, können Sie mir Behandlungen verschreiben, ich habe es mit der Lunge, mit dem Herzen, aber das ist ja alles so teuer, die Krankenkasse wird’s schon zahlen.

Frau Großewinkelmann sah nicht so aus, als könnte sie sich die zusätzlichen Behandlungen nicht leisten. Aber was wusste er schon. Viele Patienten kamen zu ihm mit diesem Wunsch, und er war es leid, mit ihnen zu diskutieren. Was möglich war, machte er.

Manchmal fand Raik seinen Job als Inselarzt anstrengend.

Aber er lächelte nachsichtig, winkte kurz zum Abschied, was Frau Großewinkelmann erröten ließ. Sie stolperte am Empfangstresen vorbei. »Auf Wiedersehen!«, flötete sie, dann war sie fort.

Lungenkrank? Um nichts in der Welt war diese Frau lungenkrank. Aber vielleicht brauchte sie Aufmerksamkeit. Ein Kuraufenthalt mochte da das richtige Rezept sein, und die Thalasso-Behandlungen würden auch nicht schaden. Zuwendung. Freundliche Worte. Nette Menschen, die sie im Frühstücksraum am Morgen begrüßten. Vielleicht auch ein kleiner Kurschatten oder eine neue Freundschaft. Raik wünschte ihr das von Herzen.

»Gerade hat Sonja Petersen angerufen und um Rückruf gebeten.« Seine Assistentin Christine schob ihm einen rosa Klebezettel über den Tresen.

»Mache ich sofort.« Raik nahm die nächste Patientenkarte vom Stapel, der nicht kleiner zu werden schien. Dann ging er zurück in sein Sprechzimmer und ließ sich aufatmend auf den Stuhl hinter dem Schreibtisch fallen.

Sonjas Nummer kannte er auswendig. Ihre Familie war in den letzten zwei Jahren ziemlich gebeutelt worden, nicht zuletzt durch die Krankheit ihres Nesthäkchens Raphaela.

»Was gibt’s?«, fragte er, sobald Sonja sich meldete. »Ist bei der Kleinen alles okay?«

»Ja, ihr geht’s prima.« Es war schon Ironie des Schicksals; ausgerechnet das kleine Mädchen, das im Reizklima der Nordseeinsel aufgewachsen war, litt unter schwerem Asthma. »Ich habe eine Bitte an dich.«

»Erzähl.«

»Aber du sagst nur zu, wenn es dir wirklich nichts ausmacht, okay?«

»Okay.« Jetzt war er neugierig.

»Habt ihr eine Wohnung frei?«