Meine ersten Erinnerungen - Lew Tolstoi - E-Book

Meine ersten Erinnerungen E-Book

Lew Tolstoi

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Beschreibung

Eine Sammlung verschiedener kleiner Schriften des russischen Schriftstellers Lew Tolstoi. In ›Meine ersten Erinnerungen‹ besinnt er sich seiner frühen Kindheit: ein Bad, die Zärtlichkeiten der Mutter, Trennungsschmerz. Weiterhin enthalten sind: Zwei Briefe über Gewissensfragen, Eine Schande, Brief an einen Polen, Patriotismus oder Frieden?, Zur Frage von der Freiheit des Willens, Satirisches Gedicht

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LUNATA

Meine ersten Erinnerungen

sowie verschiedene kleine Schriften

Lew Tolstoi

Meine ersten Erinnerungen

sowie verschiedene kleine Schriften

© 1903 Lew Tolstoi

Aus dem Russischen von L. A. Hauff

Umschlagbild Christian Krohg

© Lunata Berlin 2020

Inhalt

Vorbemerkung des Herausgebers

Meine ersten Erinnerungen

Zwei Briefe über Gewissensfragen

Eine Schande

Brief an einen Polen

Patriotismus oder Frieden?

Zur Frage von der Freiheit des Willens

Satirisches Gedicht

Vorbemerkung des Herausgebers

Von den in den vorliegenden Blättern gesammelten kleinen Schriften Tolstois sind drei, nämlich »Zwei Briefe über Gewissensfragen«, »Eine Schande«, »Brief an einen Polen« schon vor einiger Zeit mir aus dem Hause des Grafen Tolstoi zugekommen mit dem Auftrag von ihm selbst, sie in geeigneter Weise zu veröffentlichen. Diesem Auftrag glaubte ich am besten zu entsprechen, indem ich sie der bewährten Obhut der Verlagsbuchhandlung Otto Janke übergab.

Die übrigen kleinen Schriften in Prosa sind aus den neuesten Bänden der Gesamtausgabe von Tolstois Werken übertragen worden. Die erste Stelle unter denselben gehört ohne Zweifel den »Ersten Erinnerungen«, welche Graf Tolstoi schon 1878 als Anfang einer leider unvollendet gebliebenen Autobiographie niederschrieb.

Diesen Erinnerungen, erlaubte ich mir, die Mitteilungenvon Eugen Schuyler, früherem amerikanischen Generalkonsul in Odessa, an die Seite zu stellen, welcher mit dem Grafen in persönlichem Verkehr stand. Diese Erinnerungen enthalten so viel Neues und Lesenswertes über den Entwicklungsgang Tolstois, seine Kriegsjahre, sein persönliches Wesen, seine Ansichten und Urteile, seine Schule, Familiengeschichte und manches andere, meist nach mündlichen Mitteilungen des Grafen, und Schuyler hat auf so liebenswürdige Weise dem berühmteren Namen den Vortritt zu lassen verstanden, daß der größere Teil seiner Erinnerungen in den eigenen Worten des Grafen wiedergegeben ist.

Schuylers Mitteilungen erschienen zuerst in Scribners Magazine in New York und die Redaktion der historischen Zeitschrift »Russkaja Stariná« (das russische Altertum) in St. Petersburg fand dieselben so gehaltvoll, daß sie sie in ihrer Zeitschrift vollständig wiedergab.

Das beigegebene satirische Gedicht fand ich gleichfalls in der »Russkaja Stariná«, mitgeteilt von einem Mitkämpfer im Krimkrieg. Die damalige nicht gerade geniale russische Kriegsleitung forderte die Satire im eigenen Lager heraus, und so entstand dieses Gedicht während der Belagerung von Sewastopol in einem heiteren Offizierskreise unter der Ägide und der eifrigsten Mitarbeit des jungen Stabskapitän Tolstoi, welchem der größere Teil der Verse zugeschrieben wird.

L. A. Hauff

Meine ersten Erinnerungen

Meine ersten Eindrücke vermag ich nicht mehr in die richtige Reihenfolge zu bringen. Ich weiß nicht mehr, was früher, was später war, und von einigen weiß ich nicht mehr, ob ich sie geträumt oder in Wirklichkeit empfangen habe.

Meine frühesten Erinnerungen sind die folgenden: Ich bin gebunden. Ich will die Arme freimachen und kann es nicht. Ich schreie und weine, und mein Geschrei ist mir selbst unangenehm, aber ich kann es nicht zurückhalten. Vor mir steht jemand und bückt sich zu mir herab, aber ich erinnere mich nicht, wer. Es war im Halbdunkel, aber ich erinnere mich, daß es zwei Personen waren. Mein Geschrei wirkt auf sie ein, sie sind in Sorge, binden mich aber nicht los, wie ich wünsche, und ich schreie noch lauter. Sie glauben, es müsse so sein, ich müsse gebunden sein, während ich weiß, daß das nicht nötig ist und ihnen das beweisen will. Und ich breche in lautes Geschrei aus, das mir selbst widerlich, aber nicht zurückzuhalten ist. Ich fühle die Ungerechtigkeit und Grausamkeit des Schicksals, nicht der Menschen, denn sie bedauern mich, sondern des Schicksals, und empfinde Mitleid mit mir selber. Ich weiß nicht und werde es niemals erfahren, was das war, ob man mich eingewickelt hat, als ich noch ein Säugling war, und ob ich dann meine Arme losgerissen habe, oder ob man mich erst in späteren Jahren einwickelte, damit ich mir nicht das Gesicht zerkratze, oder ob ich in dieser einen Erinnerung so viele Eindrücke angesammelt habe, wie das im Schlaf vorkommt, – aber das weiß ich, daß dies mein erster und stärkster Eindruck im Leben war. Ich verlange nach Freiheit, sie stört niemand, aber ich, der Kraft nötig hat, ich bin schwach, und sie sind stark.

Eine andere Erinnerung ist freudiger Art. Ich sitze in einer Wanne und bemerke einen nicht unangenehmen Geruch von etwas Neuem, mit dem man meinen kleinen Körper abreibt. Wahrscheinlich war es Kleie, und wahrscheinlich amüsierte mich die Neuheit der Situation in der Wanne und im Wasser, und ich bemerkte zum ersten Mal mit Wohlgefallen meinen kleinen Körper, die Brust und die darunter sichtbaren Rippen und die glatte, dunkle Wanne, die vertrockneten Hände der Wärterin, das warme, dampfende, plätschernde Wasser und besonders das Gefühl der Glätte der nassen Ränder der Wanne, wenn ich mit den Händchen darüber hinfuhr.

Es ist sonderbar und eigentlich schrecklich zu denken, daß ich in der Zeit von meiner Geburt bis zum dritten Jahr, also in der Zeit, wo ich an der Brust genährt, darauf entwöhnt wurde, wo ich anfing zu kriechen, zu gehen und zu sprechen, nicht eine einzige weitere Erinnerung, außer diesen beiden, finden kann.

Wann begann mein Dasein? Wann begann ich zu leben? Warum macht es mir Vergnügen, mich mir in meinem damaligen Zustand vorzustellen, und warum war es mir schrecklich, wie es jetzt noch vielen schrecklich ist, an den Augenblick zu denken, wo ich wieder in den Zustand des Todes eintrete, aus welchem wir keine in Worten auszudrückende Erinnerung mitbringen?

Habe ich etwa damals nicht gelebt, als ich lernte, zu sehen, zu hören, zu begreifen, zu sprechen, als ich schlief, als ich an der Brust sog, lachend die Brust küßte und das Herz meiner Mutter erfreute? Gewiß habe ich damals gelebt, und es war ein fröhliches Leben! Habe ich etwa nicht damals das alles erworben, wovon ich jetzt lebe, und habe ich nicht so viel und so schnell erworben, daß ich während meines ganzen übrigen Lebens nicht mehr den hundertsten Teil davon erworben habe? Von dem fünfjährigen Kind bis zu mir ist nur ein Schritt. Zwischen dem Neugeborenen und dem Fünfjährigen liegt eine weite Entfernung, zwischen dem Embryo und dem Neugeborenen – ein Abgrund. Zwischen dem Nichtsein und dem Embryo aber liegt nicht nur ein Abgrund, sondern – das Unbegreifliche.

Entfernung, Zeit und Ursache sind Formen der Vorstellung und das Wesen des Lebens liegt außerhalb dieser Formen, unser ganzes Leben aber ist eine immer weiter gehende Unterwerfung unter diese Formen und dann wieder die Befreiung von ihnen.

Meine späteren Erinnerungen beziehen sich auf das vierte und fünfte Jahr, aber ihre Zahl ist auch sehr gering, und keine einzige betrifft das Leben außerhalb der Wände des Hauses. Vor dem fünften Jahr existierte die Natur nicht für mich. Alle Vorgänge, deren ich mich erinnere, erlebte ich in meinem Bettchen, im Zimmer. Weder Gräser, noch Blätter, weder Himmel, noch Sonne gab es für mich. Es kann nicht sein, daß man mich nicht mit Blumen, mit Blättern spielen ließ, daß ich keine Gräser gesehen habe, daß man mich nicht gegen die Sonne schützte, aber bis zum fünften, sechsten Jahr habe ich nicht eine einzige Erinnerung von dem, was man Natur nennt. Wahrscheinlich muß man außerhalb der Natur stehen, um sie zu sehen, ich aber war ein Teil der Natur.

Die auf die Badewanne folgende Erinnerung ist die an »Jereméjewna«. Mit diesem Wort erschreckte man uns Kinder und wahrscheinlich auch schon früher, aber meine Erinnerung daran zeigt nur folgendes Bild. Ich liege im Bett, heiter und vergnügt wie immer und deshalb würde ich mich dessen auch nicht erinnern, aber plötzlich sagt die Wärterin oder sonst jemand aus dem, was meinen Lebenskreis bildete, etwas mit einer mir neuen Stimme und geht hinaus. Ich aber empfinde neben meiner Heiterkeit auch etwas Angst. Ich erinnere mich, daß ich nicht allein bin, sondern noch etwas Ähnliches da ist. (Das war wahrscheinlich meine um ein Jahr jüngere Schwester Maschenka,1 deren Bettchen in demselben Zimmer stand.) Wir beide freuen uns und ängstigen uns über das Ungewöhnliche, das mit uns vorgegangen. Ich verberge mich unter dem Kissen und sehe darunter hervor nach der Türe, durch welche ich etwas Neues und Heiteres erwarte. Und wir lachen, verstecken uns und warten. Da erscheint jemand mit einem Tuch und einer Haube, wie ich sie nie zuvor gesehen habe, aber ich erkenne, daß das dieselbe Wärterin (oder Tante, ich weiß es nicht) ist, welche immer bei mir ist, und sagt mit einer rauen Stimme, die ich erkenne, etwas Schreckliches von bösen Kindern und von Jereméjewna. Ich schreie vor Angst und Vergnügen, und wirklich, ich fürchte und freue mich zugleich darüber, daß ich Angst habe und will es diejenige, die mich erschreckt hat, nicht merken lassen, daß ich sie erkannt habe. Wir liegen still, dann aber beginnen wir absichtlich wieder, miteinander zu flüstern, um Jereméjewna wieder herauszufordern.

Eine ähnliche Erinnerung ist wahrscheinlich aus späterer Zeit, denn sie ist klarer, blieb mir aber immer unbegreiflich. Die Hauptrolle in dieser Erinnerung spielt ein Deutscher, Namens Fedor Iwanowitsch,2