Meine Mutter, unser wildes Leben und alles dazwischen - Joanna Nadin - E-Book

Meine Mutter, unser wildes Leben und alles dazwischen E-Book

Joanna Nadin

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Beschreibung

Manchmal ist das Gras auf der anderen Seite viel grüner ...

Dido ist sechs Jahre alt, als sie mit ihrer Mutter Edie von London in eine Kleinstadt in Essex zieht – dort hat Edie ein kleines Häuschen geerbt. Edie ist die coolste Mutter überhaupt, wenn auch etwas verrückt, und sie ist die einzige Familie, die Dido je hatte. Trotzdem fehlt ihr etwas. Auf einem Streifzug durch die neue Nachbarschaft entdeckt das neugierige Mädchen hinter einem Tor zum Nachbarsgarten ihr ganz persönliches Paradies: die perfekte Familie. Mutter, Vater und zwei Kinder – die Trevelyans sind alles, was sie sich immer erträumt hat. Von diesem Moment an ist Didos Schicksal untrennbar mit ihnen verbunden, doch welche Familie ist schon wirklich perfekt?

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Seitenzahl: 480

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Buch

Dido ist sechs Jahre alt, als sie mit ihrer Mutter Edie von London in eine Kleinstadt in Essex zieht – dort hat Edie ein kleines Häuschen geerbt. Edie ist die coolste Mutter überhaupt, wenn auch etwas verrückt, und sie ist die einzige Familie, die Dido je hatte. Trotzdem fehlt ihr etwas. Auf einem Streifzug durch die neue Nachbarschaft entdeckt das neugierige Mädchen hinter einem Tor zum Nachbarsgarten ihr ganz persönliches Paradies: die perfekte Familie. Mutter, Vater und zwei Kinder – die Trevelyans sind alles, was sie sich immer erträumt hat. Von diesem Moment an ist Didos Schicksal untrennbar mit ihnen verbunden, doch welche Familie ist schon wirklich perfekt?

Autorin

Joanna Nadin war Rundfunkjournalistin und Beraterin des britischen Premierministers, bevor sie das Schreiben für sich entdeckte. Sie hat über 70 Bücher für Kinder und Jugendliche geschrieben, darunter die preisgekrönte Penny-Dreadful-Serie, und war für die Carnegie Medal nominiert. Heute arbeitet sie als freiberufliche Redenschreiberin und als Lektorin für kreatives Schreiben an der Bath-Spa-University, an welcher sie kürzlich ihr Ph.D.-Studium abschloss. »Meine Mutter, unser wildes Leben und alles dazwischen« ist ihr erster Roman bei Blanvalet.

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JOANNANADIN

Meine Mutter, unser wildes Leben und alles dazwischen

Roman

Die Originalausgabe erschien 2018 unter dem Titel »The Queen of Bloody Everything« bei Mantle, an imprint of Pan Macmillan, London. Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen. Copyright © der Originalausgabe 2018 by Joanna Nadin Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2020 by Blanvalet Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München. Redaktion: Angela Kuepper Covergestaltung: Favoritbüro, München Covermotiv: Amy J. Bramer/Moment Opfen/Getty Images LH ∙ Herstellung: sam Satz: Vornehm Mediengestaltung GmbH, München ISBN978-3-641-24384-5 V002 www.limes.de

Für Henny

Jetzt

Also, wie fange ich am besten an? Mit Es war einmal vielleicht. Immerhin sind die Märchenzutaten alle dabei: eine verschlossene Tür, ein Witwer, eine böse Stiefmutter, zumindest im weitesten Sinne. Aber diese Begriffe sind aufgeladen, an Assoziationen geknüpft; sie fordern ein Und wenn sie nicht gestorben sind als Abschluss unserer Geschichte, und ich bin nicht sicher, ob das zu ihr passt, noch nicht.

Außerdem war Aschenputtel nie deine Baustelle. »Setz bloß nicht auf einen hübschen Prinzen, Dido«, sagtest du gern spöttisch durch den Zigarettenrauch hindurch, der dich unaufhörlich umwehte; der dich einhüllte, verfolgte, wie eine Zeichentrickwolke in Bugs Bunny. Wie Pig Pens Staubwolke. »Wenn doch mal einer auftaucht, ist er garantiert zu spät oder kommt nur zum Betteln oder Schnorren. Oder Schlimmeres.« Und ich mit meinen zwölf Jahren verdrehte dann die Augen, wie die Mädchen in den Romanen, und dachte: Das sind deine Prinzen, Mutter, nicht meine. Und ich bin nicht du.

Aber das bin ich doch, oder? Auch wenn ich vierzig Jahre – ein halbes Leben – gebraucht habe, um es zuzugeben.

Früher haderte ich mit meinem Erbe, den genetischen Puzzleteilen, die eine Hälfte von mir ausmachen. Ich dachte, ich könnte sie niederringen, unterdrücken, wenn ich ihn fände – den Mann, der seine blasse Haut an mich weitergegeben hatte, den Hang zur Pummeligkeit, die jämmerliche Hoffnung auf die große Liebe. Als er weder vor unserer Tür auftauchte noch in irgendeinem der Gesichter, denen ich in der Stadt hinterherlief, wandte ich mich ersatzweise an Freunde, stahl ihre Gewohnheiten, ihre Haarfarbe, ihren Hass auf Soulmusik. Auch Figuren aus Büchern mussten herhalten, in der Hoffnung, ich könnte mir ihre Kühnheit, ihre Kompetenz oder zumindest ihre clevere Schlagfertigkeit aneignen. Die Schauspielerei allerdings war deine Stärke, nicht meine, und zwar eine, die du mir nicht vermacht hast, sondern stattdessen kleine Ohren, einen überlangen zweiten Zeh und eine lebenslange Abneigung gegen Marzipan. Unter anderem.

Aber zurück zur Geschichte. Ich weiß jetzt, wie sie anfängt. Und wo. Dies, wird zu Beginn in schwarz-weißer Times New Roman stehen, ist die Geschichte von uns. Von dir und mir. Und unserem Weg hierher, in diesen neonbeleuchteten Raum im vierzehnten Stock eines Krankenhauses in Cambridge. Manches wird ganz neu für dich sein, oder deine Beteiligung daran wird nicht unmittelbar zu erkennen sein. Das ist eben mein Privileg als Rattenfängerin – ich darf fröhlich in andere Häuser und andere Städte tanzen, um dir Szenen zu zeigen, die unseren Weg geprägt haben. Und auch wenn du vielleicht hier und da einmal keine Hauptrolle spielst, bist du immer dabei, überspannt dein Einfluss Jahre und Ozeane. Das weiß ich jetzt.

Anderes wiederum wird dir bekannt vorkommen, obwohl es entstellt erscheinen wird, wie durch einen Zerrspiegel betrachtet oder durch eine alterstrübe Glasscheibe, da es ja aus dem Nebel meiner Erinnerung, aus meinem kurzsichtigen Blick erzählt wird. Würdest du Tom oder Harry fragen, würden sie dir eine andere Fassung liefern: ein geschrumpftes Bild, wie durch ein verkehrt herum gehaltenes Teleskop gesehen, oder ein rosarotes vielleicht, geschmückt mit Pailletten und Discokugelflimmern, die dem Geschehen einen Zauber verleihen.

Aber in dieser Geschichte – unserer Geschichte – gibt es keine Magie. Es gibt keine gute Fee, keinen Flaschengeist, kein Amulett und keinen Gral.

Es gibt nur uns. Dich und mich. Und ein Geflecht von Geheimnissen und Lügen, von Prophezeiungen und unbestimmten Ahnungen, die von einem Ohr ins andere geflüstert ein Eigenleben entwickelt haben; von Ehrlichkeit zur falschen Zeit und Vorwürfen am falschen Ort.

Aber ich greife mal wieder zu weit vor.

Kehren wir zurück zum Anfang.

Hörst du auch gut zu, Edie? Dann beginne ich jetzt.

Der König von Narnia

Juli 1976

Es beginnt in einem Garten in Essex in dem langen, heißen Sommer von 1976. Dem Sommer, in dem du einen Schlüsselbund von einer weitgehend unbekannten Großtante erbtest und wir aus einem kleinen Zimmer in einem besetzten Haus im Süden Londons in eine heruntergekommene Doppelhaushälfte aus rotem Backstein zogen; wenn schon nicht richtig auf dem Land, so doch im grüneren Teil des Kleinstädtchens Saffron Walden.

»Kleine Stadt, kleine Geister«, sagst du, als künftige Nachbarn uns durch den Vorhangspalt beobachten, während wir Mülltüten und Bananenkisten aus dem Kofferraum von Maudsley Micks Transit schleppen. Trotzig erwidere ich die Blicke und marschiere weiter, ohne mich um die Spur aus Tampons, Drehbüchern und einem Kartoffelstampfer zu kümmern, die ich auf dem Gartenweg hinter mir herziehe. Noch habe ich selbstverständlich nichts dagegen, mich als du zu geben, meine fluchende, rauchende, zierliche Mutter. Denn außer dir – und Mick und Toni und der wechselnden Besetzung von Außenseitern, Aussteigern und Ausgestoßenen, die ihr Lager in fremden Wohnungen aufschlagen – kenne ich nichts anderes.

Das soll sich allerdings bald ändern.

Mick fährt ab, sobald der letzte Koffer auf den Bürgersteig gewuchtet wurde.

»Ich muss noch nicht weg«, bietet er an. »Ich könnte bleiben und helfen. Beim Auspacken und so. Macht mir nichts aus.«

Dir aber schon. »Wir kommen klar«, sagst du nachdrücklich. »Stimmt’s, Di?« Du siehst mich an, während ich auf den hübschen Schiefersteinen unserer neuen Gartenmauer balanciere.

Ich nicke und hüpfe von meinem Hochseil hinunter, schlängle mich um deine Beine, unter einen Arm, eine fest entschlossene Barriere zwischen dir und diesem Kind-Mann, der die letzten vier Monate in deinem Bett – unserem Zimmer – geschlafen hat.

»Wenn du meinst«, sagt er.

»Oh ja, wir meinen«, erwiderst du.

Mick zuckt die Achseln und wendet sich zum Gehen, woraufhin du, vielleicht aus Mitleid mit ihm – oder eher mit dir selbst – , ihn noch einmal in deine Arme ziehst. Ich spüre sein Bein mich wegstupsen, höre die Nässe seiner Zunge an deiner und denke an die Aale, die wir einmal auf der Old Kent Road gesehen haben. Trotz der Hitze erschauere ich.

Der Kuss dauert zwei Minuten und dreiundzwanzig Sekunden. So lange, dass mein rechter Fuß einschlafen kann. So lange, dass die Spanner und Spannerinnen auf der anderen Straßenseite die Augenbrauen hochziehen und sich eine klare Meinung darüber bilden können, wer genau da in die Nummer siebenundzwanzig einzieht.

»Damit du mich nicht vergisst«, sagst du, als du ihn sanft zurückschiebst und dann mit geübtem Schwung mich auf deine Hüfte hebst.

»Wir sehen uns doch wieder, oder?«

Selbst ich, sechs Jahre alt, ahne die Verzweiflung seiner vom Speed rasselnden Nerven.

»Vielleicht«, sagst du. »Aber das hier draußen ist eine andere Welt.«

Und triumphierend sehe ich Mick nach, der sich geknickt in seinen Transporter trollt, rückwärts auf die Straße setzt und Richtung M 11 fährt.

»Jetzt sind es nur wir beide«, sagst du.

Nur wir beide. Und bei diesen Worten fühle ich die Luft knistern vor Möglichkeiten – der Aufmerksamkeit, die ich nun vielleicht bekomme, den Abenteuern, die wir vielleicht erleben. Überwältigt von dieser elektrischen Energie umschlinge ich dich ganz fest, presse die Arme um dürre Rippen, drücke das Gesicht in Micks Schweiß und dein Patschuli, die einen feuchten Film auf deinem Hals bilden.

»Mein Gott, du wirst langsam schwer«, sagst du und setzt mich auf klebrigem Teer ab. Mit wiegenden Hüften läufst du zum Haus. »Scheiße, ist das heiß«, ergänzt du gedämpft. Dann lauter, an mich gerichtet: »Ich würde nicht zu lange draußen bleiben. Sonst holst du dir einen Sonnenbrand.«

»Scheiße«, wiederhole ich, als du ins Halbdunkel verschwunden bist. Das Wort fühlt sich köstlich in meinem Mund an, und auch gefährlich. Wie die Schnapspralinen, die der dünne rothaarige Mann mir letztes Weihnachten gegeben hat, der gelacht hat, als ich in meinem Lamettahut und meiner Boa mit ihm durchs Wohnzimmer getanzt bin.

Ich schlucke das Wort hinunter, dann sehe ich mich um, ob unser Publikum mich gehört hat. Aber die Vorhänge sind zum Schutz vor der Mittagssonne zugezogen, also gehe ich theatralisch seufzend, ebenfalls die Hüften schwingend, dreizehn Schritte über den Gartenweg in unser neues Leben.

»Es ist kleiner, als ich es in Erinnerung habe.« Die Enttäuschung in deinem Tonfall droht über eine besondere Osmose in mich einzusickern, über eine hauchzarte Verbindung, die trotz ihrer vermeintlichen Leichtheit und Zerbrechlichkeit aus einem so unzerbrechlichen Element geschmiedet ist, dass sie Kanonenkugeln abfangen oder mächtige Armeen aufhalten könnte.

Meine Mundwinkel sinken herab, obwohl das hier mehr Haus ist, als ich jemals hatte oder mir auch nur erträumt habe. Wobei in meinen Fantasien beträchtlich weniger Staub vorkam, nicht so viele Gemälde von nackten Frauen und dafür mehr Zootiere. Immerhin hat eine der Frauen keine Schamhaare, genau wie ich, was mich mit der plötzlichen Hoffnung erfüllt, dass mir dieser seltsame Pelz erspart bleiben wird.

»Mir gefällt’s«, sage ich in der Hoffnung, dass meine Worte es wahr machen werden.

Und, Abrakadabra, so ist es auch.

»Ach, mir auch, Di«, sagst du. »Es ist perfekt. War es schon immer. Obwohl natürlich damals jeder Ort, an dem meine Mutter nicht war, ein Scheißparadies war.«

»Wann damals?«

»Was weiß ich, neunzehnfünfzig und ein paar Zerquetschte. Sechsundfünfzig? Siebenundfünfzig? Hab ich vergessen. Ich war sechs.«

Sechs. Mein Alter. Ich spüre ein Prickeln angesichts dieser Parallele. Eine Malzbonbon-Süße, begleitet vom Staunen darüber, was für ein Paradies man ohne seine Mutter haben könnte.

»Mann, hab ich einen Hunger«, verkündest du dann, der Themenwechsel schnell und effektiv: eine Spezialität von dir. Du siehst in den Kühlschrank, einen brummenden Koloss von einem Gerät, der wie eine Bühne aufleuchtet, wenn die Tür geöffnet wird, ein Phänomen unergründlicher Magie, das mich bis weit ins zehnte Lebensjahr verblüffen wird. Du hingegen bist weniger leicht zu beeindrucken und betrachtest die leeren Fächer eher mit Enttäuschung denn mit Ungläubigkeit. »Sie hätte wenigstens ein bisschen blöde Butter dalassen können«, findest du.

»Vielleicht hat sie sie aufgegessen, bevor sie gestorben ist.« Damit versuche ich, deine Stimmung zu heben. »Oder sie mochte lieber Margarine.«

»Niemand mag lieber Margarine«, sagst du. »Niemand, den man kennen will, jedenfalls. Und darum geht es nicht. Jemand war hier und hat sie mitgehen lassen, und den Scheiß-Hockney auch.«

Ich habe keine Ahnung, was ein Hockney ist, aber er kann unmöglich so köstlich sein wie das Essen, das du letzten Endes zusammenstellst, Chips und einen Kanten schwitzigen Käse aus dem Laden an der Ecke.

»Morgen kaufe ich was Richtiges«, sagst du.

Doch ich beklage mich nicht. Nach einer Ernährung, die aus dünnen Eintöpfen und Gemüsepfannen bestand, mit gestohlenem Strom gekocht, ist das Kribbeln von Salz und Essig auf meiner Zunge Luxus, ein Festmahl wie für eine Prinzessin. Am Schalter neben dem Tisch knipse ich das Licht an und aus, an und aus, meine Finger streichen über das glatte Bakelit.

»Ist ja gut, Di, das ist keine bescheuerte Disco.«

Ich ziehe die Hand weg, und wir sitzen in einem gelblichen Schein.

Seufzend schaltest du die Lampe aus. »Lass das. So was kostet jetzt Geld. Außerdem kriege ich Kopfweh davon.«

Innerhalb einer halben Stunde hat das Kopfweh dich nach oben gezwungen, um dich »eine Minute hinzulegen«.

»Du musst doch auch müde sein«, sagst du, als ich angesichts dieser enttäuschenden Nachricht ein langes Gesicht ziehe.

Ich schüttle den Kopf. Ich bin überhaupt nicht müde, und außerdem riecht dein Zimmer nach alten Menschen.

»Na, dann geh dich umsehen«, sagst du. »Aber lauf nicht zu weit weg.«

»Wie weit?«, frage ich, weil ich wissen möchte, ob zu diesem neuen Haus, diesem neuen Leben eine Grenze gehört.

»Timbuktu«, erwiderst du.

»Wo ist das?«

»Am Ende der Straße.«

Ich lausche deinen nackten Füßen auf der schmalen Treppe, zähle die Schritte, als du oben nach links zum Schlafzimmer abbiegst. Siebzehn. Schließlich höre ich dich unelegant auf die nackte Matratze fallen, da Bettzeug und Überzüge noch in den Regalen oder in schwarzen Plastiktüten liegen; wo so viele Dinge noch Wochen bleiben werden, Monate sogar, bis du dir endlich eingestehst, dass das hier unser Zuhause ist. Schließlich wird es bis auf das beharrliche Summen des Kühlschranks und die träge über unseren Essensresten schwirrenden Fliegen still im Haus.

Ich bin allein.

Die Erkenntnis ist aufregend und Furcht einflößend zugleich, und der Drang, zu dir zu rasen und mich an dich zu klammern wie an das Rettungsboot eines sinkenden Schiffes, ist gewaltig. Aber du bist krank beziehungsweise das, was du darunter verstehst, und ich kann mir schon dein Ächzen vorstellen, wenn du mich wegschiebst: »Jetzt nicht, Di.« Also setze ich mich auf meine Hände und schlage die Beine übereinander, bis der Drang nachgelassen hat. Und dann hüpfe ich auf den Boden, hebe einen Chip auf, der sich unter meinem Stuhl versteckt hat, und erkunde mit auf der Zunge zerschmelzenden Chipskrümeln die vier Zimmer, die unser Erdgeschoss bilden.

Nach fünf Minuten sind die Möglichkeiten erschöpft. Es gibt keinen Keller, keinen Geheimgang nach Frankreich, durch den nachts Wölfe schleichen könnten, und am allerschlimmsten, kein Narnia hinten in der Speisekammer, nur zwei Dosen Ananas, wobei diese zugegebenermaßen eine eigene Exotik besitzen. Auf dem Kaminsims steht keine Wunderlampe, nur ein alter Aschenbecher, der nichts als Staub abgibt, als ich an ihm reibe. Andererseits habe ich eine Glasmurmel gefunden, die wie ein Auge aussieht, zwei alte Pennys und einen toten Käfer, die befriedigend in der Tasche meiner lila Shorts klappern.

Vielleicht gibt es draußen etwas, denke ich, als ich das Gesicht an das untere Toilettenfenster drücke. Die Scheibe ist wellig, uneben, und mehr als wuchernde Büsche, ein grünes, unscharfes Gewirr, kann ich nicht erkennen. Ein Wald, beschließe ich erfreut. Denn im Wald fangen die besten Geschichten an: Dort trifft Rotkäppchen den großen, bösen Wolf, finden Hänsel und Gretel das Lebkuchenhaus und treibt Max Unfug und macht sich auf den Weg zu den wilden Kerlen. Also gehe ich durch die Hintertür in den Wald hinaus. Die Flip-Flops klatschen gegen meine Fersen, und während ich mit der Zunge schnalze und so das Hufgetrappel meines Pferdes imitiere, ziehe ich los, um mein Glück zu suchen, eine verfolgte Unschuld zu retten und meinen schönen Prinzen zu finden.

Und innerhalb von Minuten gelingt mir das alles.

Um das Haus herum wachsen braun verfärbte Rosensträucher und vertrocknete Hortensien. Hier gibt es keine Wölfe, denke ich, keine Drachen. Am Gartenende aber entdecke ich Bohnenstangen und dahinter die tief hängenden Zweige einer Kastanie, unter der Lichtflecken auf den Boden fallen. Das hier, das ist mein geheimer Garten, denke ich, und beherzt wie Mary Lennox, wenn auch nicht annähernd so kampflustig, stapfe ich durch das Dickicht.

Ich habe noch nie Obst an einem Baum gesehen, habe noch weniger Ahnung von Erntezeiten, erkenne aber durchaus eine Pflaume, wenn ich eine sehe. Ich greife nach oben und zupfe sie ab, beiße hinein und spucke das harte, bittere Fleisch würgend aus. Dann beobachte ich fasziniert die Ameisen, die über den Brei herfallen, als wäre es ein Klecks Marmelade.

Ich sehe nach oben. Der Garten ist dunkler hier, kühler, überschattet von den Häusern hinter der Mauer. »Angeberkästen« hat Mick sie genannt, als wir vorhin vorbeifuhren; dicke Villen mit Vorzeigehecken, die über ihre weitläufigen, üppig bepflanzten Grundstücke wachen. »Der Rasen ist bei denen genauso verbrannt wie bei allen anderen«, meinte er. Da du ihn ignoriert hast, habe ich das auch getan und stattdessen die Häuser angestarrt, ganz gebannt von ihrem schmucken roten Backstein, ihrer Eigenartigkeit. Jetzt möchte ich mir das genauer ansehen. Vor mir steht eine Mauer mit – erstaunlicherweise, spannenderweise – einer Holztür. Als ich an der rostigen Klinke rüttle, stelle ich fest, dass sie verschlossen ist. Ich nehme mir vor, im Haus nach dem Schlüssel zu suchen, und sei er auch unter Bodendielen vergraben oder von einem Kobold bewacht.

Fürs Erste gibt es aber noch einen anderen Weg. Geschickt wie ein Äffchen klettere ich in unseren Apfelbaum, dann hieve ich mich hinauf in die nachbarliche Kastanie, bis ich durch knisterndes dürres Laub auf Feindesgebiet spähe. Und da entdecke ich sie, von meinem Ausguck an Bord der Hispaniola. Keine Piraten allerdings, auch keine Indianer oder sonstigen Widersacher, die mir bisher untergekommen sind, sondern einen Jungen und ein Mädchen, völlig nackt, die von der Sonne beschienene Haut gebräunt und glänzend, die Haare aus Stroh zu purem Gold gesponnen wie von einer Müllerstochter. Das ist an sich schon Schatz genug, aber der echte Diamant in meiner Entdeckung ist, dass sie in der blauen Lagune eines Planschbeckens sitzen: Sogar ich weiß, dass das bei der derzeitigen Wasserknappheit streng verboten ist.

Sie, ungefähr in meinem Alter, sitzt seitlich, eine Hand auf der Hüfte wie eine scheue Meerjungfrau. Er, älter, stößt lässig ein Plastikboot mit dem Fuß auf sie zu. Und im selben Moment verliebe ich mich. Nicht nur in ihn, obwohl er das Beste daran ist, sondern in sie beide, in die ganze Szenerie, das Haus, den Garten, die Hochglanzperfektion. Und ich will unbedingt zu diesem Bild gehören. So unbedingt, dass das Wollen körperlich ist, ein harter, sehnsüchtiger Klumpen, der mit den Chips und dem Käse in meinem Bauch liegt und langsam anschwillt. So unbedingt, dass ich mich, in meinem bis dahin einzigen Akt des Wagemuts, von meinem Aussichtspunkt hinunterhangle und auf ihren Rasen springe, mitsamt Flip-Flops, totem Käfer und allem.

Synchron drehen die beiden sich um und reißen den Mund auf.

»Wer bist du denn?«, fragt zuerst das Mädchen.

»Ich …« Meine Verwegenheit ist jetzt leider aufgebraucht, deshalb kann ich nur mühsam stammeln: »D-Dido.«

»Das ist kein Name«, sagt das Mädchen sachlich. Worauf ich keine Antwort weiß. »Und überhaupt, was machst du hier? Das ist unser Garten.«

Ich schiele nach dem Jungen, dessen Augen groß sind, dessen Mund aber jetzt geschlossen ist und der sich ein Lächeln verkneift.

»Ich habe dich was gefragt, Fräulein«, herrscht mich das Mädchen an. Es steht jetzt, beide Hände in die Hüften gestützt, eine mustergültige Minimutter, oder jedenfalls wie die, von denen ich gelesen habe.

»Es ist heiß«, sage ich sinnlos und werde rot, sobald ich es ausgesprochen habe.

»Du kannst dich in unser Planschbecken setzen, wenn du magst«, sagt der Junge. »Wir haben noch Platz.«

Der Sehnsuchtsklumpen in meinem Bauch zerspringt, Schmetterlinge flattern bis in meine Kehle hinauf und meine Zehen hinunter. »Danke«, stoße ich kaum hörbar hervor. Und ohne ein weiteres Wort schleudere ich meine Flip-Flops ins Gras, ziehe mir die lila Shorts, die Mittwochs-Unterhose und das Oberteil aus und steige ins Wasser.

Es ist warm und milchig.

»Das ist das vom Baden«, sagt der Junge. »In den Nachrichten haben sie gesagt, das darf man benutzen.«

Ich frage mich, wessen Wasser es ist beziehungsweise war, während ich die Beine hebe und senke und meine blassen Oberschenkel in der täuschenden Trübe schrumpfen und sich ausdehnen sehe.

»Du bist dick«, stellt das Mädchen fest.

»Sei still, Harry«, sagt der Junge. »So was sagt man nicht.«

»Stimmt aber doch«, entgegnet das Mädchen, Harry. »Man kann Abnehmpulver zum Trinken kaufen. Das steht in der Zeitschrift von meiner Mami.«

Ich bin zu beschäftigt damit, den Namen Harry zu bestaunen – Ha-rriiiie – und ihn auszuprobieren, um zu merken, dass sie mich meint.

»Führst du Selbstgespräche?«

»Nein«, lüge ich. »Und überhaupt, dick ist eine feministische Frage.« Damit wiederhole ich, was du mir aus dem herausgerissenen Artikel vorgelesen hast, den Toni an die Badezimmertür geklebt hat.

»Was heißt das?«, fragt Harry.

Ich zucke die Achseln. »Weiß ich nicht. Das stand in der Zeitschrift von meiner Mami.«

Da lächelt sie, und davon ermutigt, löse ich mit dem Bein eine Flutwelle im Badewasser aus und versenke das Boot des Jungen.

»Hey«, sagt er. Aber er grinst jetzt ebenfalls breit und bespritzt uns im hohen Bogen.

»To-hom!«, beschwert Harry sich und zappelt wild mit beiden Füßen.

»Tom«, sage ich halblaut, ertaste die Form des Wortes, fest und rund wie ein Kiesel, und strample ebenfalls.

Bald schon haben wir drei die friedliche Lagune in ein stürmisches Meer verwandelt, das über den Rand schwappt und in die trockene Erde sickert. Unsere Beine sind verknotet, Zehen drücken gegen wer weiß was.

»Harriet?«, ertönt eine Stimme.

Als ich den Kopf hebe, sehe ich eine Frau über den Rasen stapfen. Sie ist eine größere, verhärtete Version des Mädchens neben mir, trägt einen makellosen weißen Kaftan und einen Strohhut und hält zwei Plastikbecher in den Händen, einer blau, einer rosa.

Vor dem Planschbecken bleibt sie abrupt stehen und starrt zuerst mich an, dann das Tohuwabohu, das wir angerichtet haben, schließlich wieder mich, unentschlossen, nehme ich an, um welche Katastrophe sie sich zuerst kümmern soll. Sie wählt mich.

»Und wer bist du, bitte schön?«

Während deine Stimme tief und rund ist, wie der Rauchkringel einer Zigarette, ist ihre präzise und scharfkantig, wie Glas. Aber auch fragil, als könnte sie, wie ihre Eigentümerin, jeden Moment platzen.

»Dido«, sagt Harry.

»Dei-do?« Sie wiederholt den Namen wie ein unanständiges Wort oder eine Lüge.

»Dido Sylvia Jones«, sage ich hastig, als könnte der Rest es ausgleichen, es doch noch zu einem richtigen Namen machen. »Sylvia ist wegen einer Frau, die Gedichte geschrieben und ihren Kopf in einen Ofen gesteckt hat.«

»So, so.« Ihre Miene ist straff und ungerührt. »Und wo genau bist du hergekommen, Dido?«

Harry sieht mich ratlos an, und mir wird bewusst, dass ich es ihnen noch gar nicht erzählt habe, weil niemand gefragt hat. Vielleicht glauben sie, ich wäre ein auf die Erde gefallenes Feenkind. Oder eine Waise. Letzteres liegt mir schon auf der Zunge, damit die Frau mich vielleicht adoptiert und ich für immer in dem großen Haus mit dem Planschbecken und den Limobechern wohnen kann. Da meldet sich Tom zu Wort: »Sie ist in das Haus nebenan eingezogen, stimmt’s?«

Erstaunt über seine hellseherischen Kräfte, kann ich nur nicken.

»So, so«, wiederholt die Frau. »Und wo ist deine Mutter?«

Ich sehe Tom an, ob er das auch weiß, aber offenbar sind seine Wahrsagerfähigkeiten für heute erschöpft.

»Die hat sich hingelegt«, antworte ich. »Sie hat gesagt, sie ist völlig im Arsch vom Umzug.«

Ich nehme die leichte Veränderung im Luftdruck so deutlich wahr wie das Scheppern einer Glocke. Und in diesem Moment erkenne ich die Macht von Sprache, die ihr innewohnende Zauberkraft, die entwaffnen und entrüsten kann, und ich erkenne auch, dass ein Wort – Arsch, mutmaße ich – nur mich beschädigt, mich gekennzeichnet hat. Insgeheim gelobe ich, künftig besser aufzupassen, was ich sage. Sobald ich weiß, was erlaubt ist und was nicht.

Es ist Tom, der die Anspannung löst, indem er kichert.

»Schluss jetzt, Thomas«, blafft seine Mutter. »Und mach den Mund zu, Harriet, sonst verschluckst du noch eine Fliege.«

Die beiden gehorchen, klemmen sich die Lippen zwischen die Zähne, um ihre Begeisterung zu unterdrücken, und bekommen zur Belohnung ihre Becher gereicht. Ich spähe hoffnungsvoll Richtung Küche, aber für fluchende Kinder gibt es keine Limo.

Wieder spricht mich die Frau an. »Weiß sie, dass du hier bist?«

»Irgendwie schon.«

»Was heißt das?«

»Sie hat gesagt, ich soll mich umsehen, aber nicht weiter als bis Timbuktu.«

Ungläubig zieht die Frau eine Augenbraue hoch, und ich überlege, ob Timbuktu ebenfalls ein schlimmer Kraftausdruck ist.

»Das stimmt«, beharre ich. »Sie hat nichts dagegen, solange ich nicht mit fremden Männern rede oder Hunde mit nach Hause bringe.«

»Was ist mit deinem Vater?«

»Habe keinen.« Jetzt bin ich an der Reihe, sachlich zu sein. Noch nie hat mir jemand so viele Fragen hintereinander gestellt, und ich bin ziemlich zufrieden mit mir, weil ich die meisten davon richtig beantwortet habe, trotz der »Arsch«-Sache.

»Jeder hat einen Vater«, sagt Harry.

»Tja, ich nicht«, erkläre ich. »Früher dachte ich, es ist Denzil, aber Edie hat gesagt, ich soll nicht so blöd sein. Weil der doch schwarz ist.«

»Gütiger.« Die Frau fasst sich an die Haare, die durch eine unsichtbare Kraft hochgehalten werden und am Hinterkopf irgendwie eingeklappt sind. Ordentlich, straff, wie sie. »Wie alt bist du denn?«

»Sechs Jahre und sieben Tage«, sage ich immer noch wahrheitsgemäß.

»Dann kommst du in Harrys Klasse«, sagt Tom. »Sie wird im September sieben.«

»Nur, wenn sie in die gleiche Schule geht«, verbessert seine Mutter. Dann wendet sie sich an mich, Besorgnis schwingt jetzt in ihrer Stimme mit. »Auf welche Schule gehst du denn?«

»Auf gar keine«, erwidere ich. »Toni unterrichtet mich zu Hause, und manchmal auch Chinese Clive, der gar nicht aus China kommt, sondern aus Jamaika. So heißt er nur, weil er Schweinefleisch süß-sauer liebt. Das war aber in London. Edie sagt, jetzt, wo wir in der miesen Provinz wohnen, darf ich auf eine richtige Schule, deshalb komme ich in drei Wochen und zwei Tagen auf die St. Mary’s.«

»Wir haben dieses Jahr Mrs. Maxwell«, sagt Harry. »Sie ist alt und dick, und Karen Kerr hat gesagt, dass sie Brian Banner mal mit einem Tafelwischer gehauen hat, nur weil er zu laut gehustet hat.«

»Hat sie nicht«, sagt Tom.

»Hat sie doch. Du bist bloß sauer, weil du Miss Wicks nicht mehr hast.« Verschwörerisch wendet sie sich an mich. »Er ist in Miss Wicks verliebt.«

Das »i« dehnt sie endlos lang aus, und ich empfinde einen seltsamen Stich, den ersten, wie sich herausstellen wird, von vielen. Verwirrt erzähle ich die einzige Schulgeschichte, die ich kenne. »Edie sagt, in ihrer alten Schule in Cambridge, die war nur für Mädchen, und in der musste man einen Hut tragen, jedenfalls ist da ein Mädchen mal fast geflogen, weil es den Musiklehrer geküsst hat.«

Ich erzähle ihnen nicht, dass dieses Mädchen Edie war, also du, aber die Frau kneift trotzdem die Lippen zusammen.

»Und wer, bitte schön, ist diese Edie?«

Jetzt bin ich es, die eine ungläubige Miene macht. »Meine Mama natürlich. Eigentlich heißt sie Edith, aber das hasst sie, und unseren Nachnamen auch, wegen dem Pa-tri, Patri-irgendwas. Sie sagt, zu ihrem dreißigsten Geburtstag, der in vier Jahren, acht Monaten und … siebzehn Tagen ist, lässt sie ihn ändern.«

»In was?«, fragt Harry.

»Moon, sagt sie, oder vielleicht Nefertiti. Aber Toni – die mag Frauen – hat ihr gesagt, sie soll nicht so rumspinnen.«

»Das reicht jetzt.« Die Frau denkt kurz über diesen letzten Gräuel nach. »Hier ist jedenfalls nicht Timbuktu«, sagt sie schließlich. »Das hier ist The Lodge. Und für euch beide wird es höchste Zeit reinzugehen, sonst bekommt ihr einen Sonnenstich.«

Gehorsam steht Tom auf, und zum ersten Mal sehe ich ihn in seiner ganzen nackten Herrlichkeit.

Sie sieht ihn allerdings auch.

»Ach, um Himmels willen, Thomas, setz dich hin«, sagt sie. »Oder zieh dir was an.«

»Ist schon gut«, sage ich. »So was habe ich schon haufenweise gesehen.« Und das stimmt. Den von Maudsley Mick, von Chinese Clive und all den anderen, die glauben, ich schlafe, wenn sie sich mitten in der Nacht zum Pinkeln aus dem Zimmer schleichen. »Ist ja nur ein Penis«, hast du damals immer gesagt, und das wiederhole ich jetzt.

Dieser Satz hat leider nicht die beruhigende Wirkung, auf die ich abgezielt habe.

»Rein jetzt, alle beide«, sagt die Frau, und dann zu mir: »Und du gehst auch besser.«

»Kann ich nicht«, sage ich.

»Warum denn nicht?«

Ich zeige auf den Baum. »Auf dieser Seite ist der Ast zu hoch.«

»Also wirklich.«

Ich rechne damit, feierlich um das Haus herumgeführt zu werden, hoffe gleichzeitig auf einen Aufschub, eine Gnadenfrist, eine Einladung in das Märchenschloss, selbst wenn sie von der Weißen Königin stammt. Doch unglaublich, unfassbar wird mir das Nächstbeste angeboten: ein Talisman in Form eines alten Eisenschlüssels, eines Schlüssels, der sich nicht in einer Schublade oder einer Wunderlampe befindet, sondern in der Holztür selbst, und zwar auf dieser Seite der Mauer. Die Frau dreht ihn, und es erklingt ein köstliches Knacken wie ein Ausrufezeichen.

»Tschüss, Dido«, sagt Tom.

»Ciao«, sage ich. »Das heißt Hallo und Auf Wiedersehen.«

»Tschau«, ahmt Harry mich nach.

»Jetzt kommt endlich«, befiehlt ihre Mutter. Und dieses Mal gehorchen beide Kinder und galoppieren mit ihren schimmernden Körpern über verbranntes Gras.

Du hast vergessen, wieder abzuschließen, denke ich. Aber ich sage es nicht. Sondern ich stecke meine Füße in die Flip-Flops, hebe meine Hose und mein Oberteil vom Rasen auf und ziehe den Schlüssel leise, sorgsam aus dem Schloss. Und als ich sein Gewicht in der Hand spüre, seine Macht, seine Bedeutung, begreife ich, dass ich genau das gefunden habe, wonach ich gesucht habe. Mein Narnia, mein Nimmerland. Und darin gibt es keine Faune oder Krokodile oder sprechende Biber, sondern eine Möchtegern-Wendy und einen ganz und gar nicht verlorenen Jungen und eine Welt, die man, wie ich später erfahren werde, normal nennt.

Die für mich jedoch vorerst die reinste Zauberei ist.

Und mit dem Schlüssel zu diesem Wunderland in meiner heißen, feuchten Hand hüpfe ich den Gartenweg hinauf, um dir alles zu erzählen.

Hänsel und Gretel

August 1976

In meinem Portemonnaie habe ich ein Polaroid. Früher hing es mit einem Bärenfellmützen-Magneten an unserem Kühlschrank, weißt du noch? Ein unscharfer Schnappschuss von einem Jungen und einem Mädchen – Tom und ich – in Pseudo-Lederhose und Dirndl, Hand in schwitziger Hand, in die Kamera blinzelnd, die Gesichter rot von der Polyesterhitze. Erinnerst du dich an diesen Tag?

Das war der Tag, an dem du ihn kennengelernt hast.

Es war schon fast September, ein Samstag am Ende eines Sommers, der in seiner Beharrlichkeit in einen Altweibersommer überging. Der Garten passte mit seinen Braun- und Umbratönen zu unseren Teppichböden, und jegliche Frucht, die genug Wasser ergattert hatte, um zu mehr als einem Kern heranzuwachsen, war mittlerweile zur Rosine verschrumpelt oder von Wespen aufgebläht. Ich war fast drei Zentimeter gewachsen und jetzt groß genug, um das Schränkchen im Badezimmer zu erreichen, wo die Tabletten aufbewahrt wurden. Doch die Zeit weigerte sich strikt, ähnlichen Regeln zu folgen, dehnte Stunden zu gefühlten Tagen aus oder blieb gänzlich stehen.

Denn sie waren weg.

Seit unserem Planschbeckentreffen bin ich jeden Tag durch die Holztür in der Mauer geschlüpft, habe jeden Tag den Garten verlassen vorgefunden, das Haus verschlossen, die Vorhänge vorgezogen. Ich habe schon Angst gehabt, sie wären alle in der Dürre gestorben. Oder weggezogen, entsetzt von der Ankunft eines Mädchens mit komischem Namen, das »im Arsch« sagt und nichts Besonderes an einem Penis findet.

Erst am achten Nachmittag, als ich einer dicken grauen Frau begegne, die in der Küche eine dünne graue Katze füttert, erfahre ich, dass sie im Urlaub sind.

»Cornwall.« Ihre Wangen wackeln wie rosa Pudding. »Drei Wochen, jedes Jahr. Haben sie dir das nicht erzählt?«

Ich schüttle den Kopf.

»Du wohnst in dem alten Henderson-Haus, oder?«

»Henderson-Jones eigentlich«, sage ich. »Wir heißen nur Jones wegen …« Ich versuche, mich zu erinnern, ob es um Männer oder Rassisten oder Arme ging. »… was Schlimmem.«

Die Katzenfrau runzelt die Stirn, sodass ihre ganze Haut zerknittert.

»Seid ihr verwandt?«

Ich nicke. »Nur hat uns ewig niemand gesagt, dass sie tot ist, deshalb waren wir nicht auf der blöden Beerdigung.«

Die Wangen der Frau nehmen ein kräftiges Dunkelrot an. »Tja, also, husch, husch jetzt, ich schließe wieder ab.«

Also husche ich mit meinen Neuigkeiten nach Hause.

»Sie sind nicht tot!«, verkünde ich. »Sie sind nur in Cornwall.«

»Also so gut wie«, seufzt du auf dem ausgeleierten Samt der Chaiselongue. Auf diesem Möbelstück verbringst du viel Zeit, beanspruchst es ganz für dich, liegst mit einem Buch und einer Dose Nüssen auf dem Polster.

»Drei Wochen, hat sie gesagt, das sind also noch … dreizehn Tage.«

»Wer ist sie?« Du schlägst ein Auge auf und siehst mich durchdringend an. »Die Katzenmutter?«

»Nein, die Frau, die die Katze füttert. Sie hat einen Schnurrbart.«

Andere Mütter, ältere Mütter hätten darauf hingewiesen, dass es unhöflich ist, Leute anzustarren, unhöflich, so etwas überhaupt zu bemerken. Du aber prustest nur »Ha!« und schließt das Auge wieder.

»Warum sind wir noch mal nur Jones?«, frage ich daraufhin. »Ist mir nicht eingefallen.«

Das Lächeln, das bei dem Gedanken an die schnurrbärtige Frau deine Lippen umspielt, verschwindet abrupt, und du stehst auf und drängst dich an mir vorbei in die Küche. »Wer will das wissen?«

»Die Frau, die die Katze füttert.« Ich folge dir. »Und ich.«

»Weil …«, setzt du an. Dann überlegst du es dir anders. »Ach Gott, Dido, hörst du mal mit der Inquisition auf?« Du ziehst eine rosa Sobranie-Cocktail-Zigarette aus der Packung, deine siebte heute, und zündest sie vornübergebeugt am Gasherd an. Ich halte den Atem an, während ich darauf warte, dass deine Haare Feuer fangen. Nichts passiert, ich bin beinahe enttäuscht.

»Geh was lesen oder so«, sagst du und wedelst mit der linken Hand.

Und das Gespräch ist beendet.

Ich stapfe in mein Zimmer hinauf, lege mich auf mein Bett – eine schmale, harte Pritsche, die anders als dein Bett und zu meinem ewigen Leidwesen kein Prinzessin-auf-der-Erbse-Potenzial besitzt, wobei wenigstens, sagst du, niemand darin gestorben ist – und schlage mit hörbarem, demonstrativem Schnauben eine stockfleckige Ausgabe von Der Samthase auf Seite eins auf.

Ich bin eine frühreife Leserin, unterrichtet von Toni, die unsere Wohnung mir und einem Franzosen mit braunen Zähnen zuliebe emsig mit selbstklebenden Dymo-Etiketten beschriftete. Toilette, Tisch, Traube, lernten wir. Badezimmer, beschissene Mäuse, Bong. Dort allerdings hatten die Bücher langweilige Umschläge und noch langweiligere Inhalte und waren darüber hinaus aus der Bibliothek geliehen, sodass wir sie, wenn ich gerade ein halbes Kapitel gelesen hatte, zu Mr. Higgins mit seiner fahlen Haut und seinem Sauermilchgeruch zurückbringen mussten.

Hier gibt es Bücher in Hülle und Fülle, und alle gehören mir: Woolf und Wilde, Waugh und Wharton, alphabetisch geordnet und nach Größe und Farbe sortiert. Ich habe mir eine Lesefestung gebaut, bewacht von einem ausgestopften Raben in einer Glasglocke, einem Geschöpf, das ich auf dem Dachboden gefunden habe und das du mich großmütig hast behalten lassen, trotz deines sichtlichen Abscheus. Du hast ja deine eigenen Schätze: einen Schrank voller changierender Seide und schwarzem Taft und Pelzen, der Abenteuer verheißt, aber als ich hineinsteige, nur Mottenkugeln und wurmstichiges Holz zu bieten hat, das unter mir einbricht, ein Missgeschick, das du zum Brüllen komisch findest, was meinen Stolz verletzt, wenn auch nicht meinen nackten Po.

In meiner Festung also ziehe ich mich in meine eigene Traumwelt zurück, eine Welt, die von zum Leben erwachten Stoffhasen bevölkert wird, von Jungen, die fliegen können, von Müttern, die Picknicks vorbereiten, Haare flechten und geduldig darauf warten, dass ihre Männer nach Hause kommen.

Später steigst du zu mir ins Bett, flüsterst mir ein rauchiges »Entschuldige« zu und zerrst mich dann hoch, damit wir uns als »Damen« verkleiden können, indem wir uns vor dem halb blinden Spiegel Federn in die Haare stecken, uns eine bernsteinfarbene Flüssigkeit aus einem Fläschchen mit ausgebleichtem Etikett auf den Hals, die Handgelenke und, für mich faszinierend, auf den Knochen zwischen meinen Brustwarzen tupfen und uns die Lippen mit einem korallenroten Stift anmalen, der so zäh wie Lehm ist. Am Tag danach gehen wir, immer noch herausgeputzt, in die Stadt und kaufen kratzige Schulblusen und karierte Kleider und, zu meiner großen Freude, rote Sandalen mit T-Steg. Und wieder einen Tag darauf holen wir uns bei Glover’s ein Eis am Stiel und essen es am Marktplatz, während wir dem Obst- und Gemüsemann beim Zudrehen von Papiertüten voller festkochender Kartoffeln und dicker südafrikanischer Äpfel zusehen und den Eiermann nachäffen, der den Dutzendpreis ruft. Aber eigentlich ist das nur Hintergrundrauschen, Bühnenaufbau. Denn was ich die ganze Zeit wirklich mache, ist, die Tage zu zählen, bis Harry und Tom nach Hause kommen.

Am 28. September wache ich von einem Hämmern vor meinem Fenster auf. Hinter dem Vorhang liegt unser Garten, dann ihr Garten. Und in ihrem Garten ist ein Mann mit kurzer Hose und Schnurrbart, allerdings einem richtigen, und dieser Mann macht oben im Baum irgendetwas mit Holz.

»Edie!«, brülle ich. »Da ist wer!«

»Scheiße noch mal«, ertönt deine Stimme von gegenüber. »Wie spät ist es?« Es folgt eine Pause. Dann: »Noch nicht mal zehn.«

»Aber da ist ein Mann«, sage ich. »Im Garten.«

»Was?«

Die Androhung – oder vielleicht Verheißung – eines Mannes, selbst eines unerlaubt eingedrungenen, lockt dich aus dem Bett, und du tauchst nur mit einer Perlenkette und einer schwarzen Unterhose bekleidet neben mir auf. Seufzt dann schwer. »Der ist nicht in unserem Garten«, sagst du. »Der ist ja drüben.«

»Was, wenn er ein Einbrecher ist?«

»Wohl kaum. Er hat Slipper an.«

Wir beobachten ihn eine Minute, sehen ihn den Hammer gegen eine Säge eintauschen, sie professionell Probe biegen wie der Zauberer aus dem Palladium, bevor er eine Dame zerteilt.

»Was zum … Wehe, der will den Baum abhacken.« Wütend trommelst du gegen die Scheibe.

Er dreht sich um, entdeckt uns und winkt. Dann legt er sich eine Hand ans Ohr, als hätte er nicht richtig gehört.

Du öffnest das Fenster, um ihn auf seine Unvernunft hinzuweisen. »Säg den bloß nicht um, habe ich gesagt.«

»Ich, äh … Mrs. Jones?« Er zeigt auf dich, verwirrt.

»Was?« Du siehst an dir hinunter. »Ach. Von mir aus. Moment.«

Du stapfst in dein Zimmer und kehrst mit Maudsley Micks Grateful-Dead-T-Shirt zurück. »Ich habe gesagt, säg den bloß nicht ab«, brüllst du. »Und nicht Mrs. Irgendwas.« Kurze Pause. »Einfach Edie.«

»Ich heiße David«, ruft er zurück. »Willst du nicht runterkommen? Kann man sich besser unterhalten.«

»Na schön«, zischst du, lässt das Fenster weit offen für die Welt und marschierst in deinem Oberteil voller Brandlöcher und deiner Unterhose die Treppe hinunter, dicht gefolgt von mir in meinem Nylon-Nachthemd mit Apfelmuster.

Ich-heiße-David heißt auch Mr. Trevelyan, was mir eine weitere wertvolle Information verschafft: »Tom Trevelyan«, sage ich halblaut, während du über das Holz sprichst und über das Wetter und wann und warum wir hergezogen sind. »Harriet Trevelyan.«

»Heute ist ihre Geburtstagsparty«, endet ein Satz, und ich spitze die Ohren. »Dafür mache ich das hier. Hätte schon vor Wochen passieren sollen, aber das Spielhaus wurde ewig nicht geliefert. Das hier ist der Sockel.« Er tätschelt das bereits zwischen zwei Ästen befestigte Holz wie ein Pferd. »Darauf kommt dann das Haus. Wird allerdings nicht bis zur Party fertig sein.«

»Wie schade«, sagst du ohne jede Ironie, was für deine Verhältnisse erstaunlich ist.

»Ja.« In seinem Ton schwingen Bedauern und Resignation mit. »Ich bin derjenige, der nachher darin eingesperrt ist. In der Hundehütte.«

Du lachst laut, geziert, sodass er lächelt.

»Komm doch auch«, sagt er. »Ihr beide.« Endlich sieht er mich an. »Du musst Dido sein.«

Eifrig nicke ich, entzückt, dass sie ihm meinen Namen gesagt, mir Wichtigkeit zuerkannt haben.

»Es ist ein Kostümfest«, warnt er. »Ich hab noch gesagt, dass das überflüssig ist, sollen alle einfach Badesachen anziehen, aber jetzt steht es schon so auf den Einladungen.«

»Ach, Kostüm kriegen wir hin, oder, Di?« Du siehst mich nicht einmal an, als ich ein emphatisches Ja ausstoße.

»Also dann, drei Uhr. Und Entschuldigung wegen dem Lärm.«

»De nada.« Du tust die Belästigung ab, als wolltest du eine Fliege verscheuchen.

»Wie bitte?«

Wieder lächelst du. »Spanisch. Das heißt ›macht nichts‹.«

Um drei Uhr stecke ich in einem hastig zusammengestellten Kostüm aus deinem alten, mit Krepppapierblättern verzierten und mit Sicherheitsnadeln an meine Größe angepassten Gymnastikanzug und einem in einer seidengefütterten Schachtel gefundenen Diadem. Ich bin begeistert, wenn auch unsicher, wer oder was ich sein soll.

»Gaia«, erklärst du mir zum mindestens dritten Mal. »Mutter Erde. Die Königin der ganzen Scheißwelt.«

Ich bin gern die Königin der ganzen Scheißwelt, selbst in einem juckenden Ganzkörperanzug und einem unangenehm ins linke Ohr piksenden Kopfschmuck, also schreite ich hoheitsvoll durchs Haus und über den Gartenweg zu der Tür, hinter der etwas vor sich geht.

Von meinem Kinderzimmer-Observatorium aus habe ich bereits beobachtet, dass ein Tapeziertisch mit roter Papierdecke und weißen Papptellern gedeckt, Dosenpyramiden aufgebaut, Säcke zum Hüpfen bereitgelegt und gemietete Sonnenschirme aufgespannt worden sind. Aber von Tom und Harry noch keine Spur, nur von ihrer namenlosen Mutter und David, die sich über das Spielhaus gestritten haben, welches ganz offensichtlich den falschen Rosaton hat. Jetzt allerdings höre ich Quieken und gackerndes Lachen, Klatschen und Singsang eines Spiels: Empompi Kolonie Kolonastik Empompi Kolonie!

»Komm schon«, bettle ich zappelnd vor Ungeduld.

»Bin unterwegs«, behauptest du. Aber es dauert noch vier Minuten und zehn endlose Sekunden, bevor du in deinem Bikini und einer schwarzen Perücke aus Großtante Ninas Kostümkiste an der Tür auftauchst.

»Wer bist du?«

»Kleopatra«, sagst du und zündest dir eine Zigarette aus der in deine Hose geklemmten Packung an. »Auf Urlaub.« Du steckst das Feuerzeug wieder in dein Oberteil und drückst die Klinke des mittlerweile immer geöffneten Tors.

»Sollen wir?«

Ich habe schon Szenen in Filmen gesehen, wo eine Person einen Raum betritt und alles mucksmäuschenstill wird, weil entweder ihre Schönheit solche Ehrfurcht hervorruft oder ihre Niederträchtigkeit stummen Zorn. Dieser Moment, denke ich, fällt in letztere Kategorie.

Ich schließe die Tür hinter uns, weil ich glaube, darauf warten alle: die Kinder mit den ungeworfenen Bällen in der Hand, die Mütter mit den Teetassen auf halber Höhe. Es dauert eine Sekunde, nachdem ich einen Indianer, zwei Cowboys und vier Prinzessinnen entdeckt habe, bis mir auffällt, dass keiner der Erwachsenen einen Bikini trägt. Keiner von ihnen ist überhaupt verkleidet.

»Mist«, zischst du halblaut und drückst meine Hand. Aber zum ersten Mal reagiere ich mit Trotz und Treulosigkeit und erwidere den Druck nicht. Sondern ich lasse los, weil ich die Ungeheuerlichkeit deines Fehlers ahne.

»Edie«, ertönt schließlich eine Stimme. »Und Dido. Wie schön, dass ihr kommen konntet.«

Es ist David, Mr. Trevelyan, der mit einem Teller Würstchen aus der Küche tritt.

»Interessantes Kostüm.« Er zieht die Augenbrauen hoch und kneift die Lippen zusammen, um seine Erheiterung zu verbergen. Und in dem Moment habe ich eine Vision von Tom – dieselben Augen, dasselbe Lächeln – und suche panisch und erfolglos den Garten nach ihm ab.

»Tut mir leid«, ergänzt er. »Ich hätte sagen sollen, dass es nur für die Kinder gilt. Aber du siehst super aus, ehrlich.« Er wendet sich an die Mutter. »Stimmt’s, Angela?«

»Angela«, wiederhole ich im Geiste. Das Wort ist golden, ein kostbarer Schatz. Denn sie ist wirklich ein Engel.

Angela – Mrs. Trevelyan – gibt keine Antwort, zieht nur wieder ein schmallippiges Gesicht. Also gehst du natürlich direkt auf sie zu und streckst ihr die Hand entgegen.

»Edie«, sagst du. »Ich glaube, meine Tochter kennst du schon.«

Sie ergreift deine Hand kurz und lässt sie dann fallen, als wäre sie heiß oder schmutzig. »Ja«, sagt sie. Dann: »Sie hat noch meinen Schlüssel. Wie man sieht.«

»Sie hat versucht, ihn zurückzugeben. Aber ihr wart weg.« Du machst einen Lungenzug und stößt eine Qualmwolke aus. »Wo ist denn überhaupt das Geburtstagskind?«

»Ach.« Gereizt schüttelt sie den Kopf. »Im Spielhaus mit Tom. Sie mag ihr Kostüm nicht. Angeblich ist es zu warm.«

»Sie ist Gretel«, erklärt David. »Du weißt schon, Dirndl.«

»Tom hat überhaupt nichts dagegen, als Hänsel zu gehen«, fährt Angela fort. »Deshalb weiß ich nicht, warum sie so einen Aufstand macht.«

»Tee?«, fragt David. »Oder was Stärkeres?«

Die Gäste haben sich mittlerweile von dem Schock, den wir ihnen versetzt haben, erholt, und es herrscht wieder ein gleichmäßiges Stimmengewirr. Ich habe keine Ahnung, was du antwortest oder ob überhaupt, denn ich kann nur noch an das Spielhaus denken. Ich möchte es sehr, sehr gern von innen sehen, möchte die beiden sehen. »Ich«, sage ich mir, »bin die Königin der ganzen Scheißwelt, also kann ich machen, was ich will.« Und so laufe ich schnell über das ordentliche hellbraune Gras, um eben das zu tun.

Das Haus hat ein echtes Plastikfenster mit rot karierten Vorhängen und riecht nach Farbe und Neuheit. Drinnen sehe ich Harry im Schneidersitz auf dem Boden hocken, und ich sehe auch Toms ausgestreckte Beine ihr gegenüber.

»Hallo«, sage ich beim Hereinkommen. Dann füge ich noch unnötigerweise hinzu: »Ich bin’s.«

»Hallo, Dido«, sagt Tom.

Harry schweigt, und mir fällt auf, dass ihr Gesicht rot und verquollen vom Weinen ist.

»Was ist denn los?«, frage ich. »Wenn dir zu heiß ist, könntest du deine Unterhose ausziehen. Edie sagt immer, das hilft.«

»Darum geht es nicht«, erklärt Tom. »Sondern darum, dass sie Gretel ist und ich Hänsel bin, und es ist ihre Geburtstagsparty, nicht unsere.«

»Ist es ja auch«, sagt Harry. »Und ich hab die Kostüme gar nicht ausgesucht, sie ist einfach in den Laden gegangen und hat sie ausgeliehen.«

»Die kosten fünf Pfund für drei Tage«, sagt Tom. »Was echt viel ist. Deshalb ist Mama sauer. Und außerdem bringt es ja nichts, weil Harry kein anderes hat.«

Und da kommt mir eine Idee, die in ihrer Einfachheit so großartig ist, dass ich mich eine Sekunde lang tatsächlich unbesiegbar und allwissend fühle.

»Wir könnten tauschen«, sage ich. »Du und ich.«

Harry hört auf zu schniefen und sieht mich schroff an. »Wer bist du denn überhaupt?«

»Gaia. Sie ist eine Königin. Von der ganzen Welt.« Das Scheiß verkneife ich mir, denn seit ich es zu dem nach Hund riechenden Mann in dem Laden an der Ecke gesagt habe, weiß ich, dass es ein Pass-auf-was-du-sagst-Wort ist und ich es nur in meinem Kopf aussprechen darf.

»Du siehst komisch aus«, meint sie nach einer Weile.

»Aber heiß ist mir nicht. Und die Blätter rascheln.« Um es zu beweisen, wackle ich mit dem Po.

Und das, plus Krone und Titel, reicht offenbar. Innerhalb einer knappen Minute haben Harry und ich uns aus unseren Outfits geschält, sie getauscht und verlassen das Spielhaus, begeistert von unseren neuen Inkarnationen, wie schlecht sie auch passen mögen.

Du stehst immer noch am Tapeziertisch, jetzt aber mit einem Glas in der Hand, in dem Wein sein könnte oder Pipi. Beides habe ich schon gesehen, damals, als uns das Wasser abgestellt wurde und die Toilette verstopft war, aber da du es trinkst und nicht in den Ausguss schüttest, nehme ich an, dass es Wein ist.

»Ah!«, rufst du. »Ihr habt getauscht. Wie schlau.«

Aber nicht jeder erkennt das Geniale an diesem Plan.

»Ach, du liebe Güte, Harriet«, schimpft Angela. »Das ist nicht deins.«

»Nein, das ist von Dido«, sagt sie. »Es gefällt mir besser.«

»Ich weiß nicht mal, was das darstellen soll.«

»Mutter Erde«, sagst du, eine Augenbraue herausfordernd hochgezogen.

»Natürlich«, sagt Angela. »Was sonst? Ehrlich, Harriet. Die Kamera ist schon bereit, damit wir dich und Tom und das Spielhaus knipsen können. Alles war geplant.«

»Dann kann Dido doch ich sein«, sagt Harry, immer noch selig über ihr Papierlaub und ihre Strass-Diamanten. »Mir egal.«

Und so kam es, dass ein Bild von mir mit sechs Jahren an unserem Kühlschrank hing, auf dem ich stolz vor einem flamingorosafarbenen Spielhaus stehe, flankiert von zwei noch stolzeren rotgesichtigen Eltern, die nicht einmal meine eigenen sind. Aber stört mich, dass ich nur der Ersatz für ein anderes Mädchen bin? Ein Double für Harry? Nein, überhaupt nicht. Denn jetzt liegt meine Hand in der von Tom; jetzt, verstehst du, bin ich auf dem Bild, ihrem Bild. Und du? Bist nirgendwo.

Die nächsten siebenundzwanzig Jahre lang werde ich damit beschäftigt sein, die Perfektion dieses Kodak-Moments wiederherzustellen, diese ablichtungsreife Version meiner Vision von Familie. Tage, Wochen, Monate werde ich mit dem Versuch verplempern, sie wie einen Hasen aus dem Hut zu zaubern, sie zu verfolgen, die Brotkrumenspur zu finden, die für mich gestreut worden sein muss, wie ich glaube.

Gott, was musst du dir gedacht haben, Edie?

Und trotzdem sind wir jetzt hier.

Die Prinzessin auf der Erbse

Juni 1977

Es ist Juni 1977 und Thronjubiläum. Wir feiern nicht, weil du nichts von der Königin oder der königlichen Familie generell hältst. »Sie ist ein mieser Parasit«, erklärst du mir. »Eine Schmarotzerin auf Kosten der Gesellschaft, sie und ihre ganze inzüchtige Brut.« Also schiebe ich das Blatt mit den rot-weiß-blauen Motiven, die ich sorgsam abgepaust habe, verstohlen in den Papierkorb. Aber die Gedenkmünze, für die ich Schlange gestanden, die ich mit feuchter Hand von Mrs. Bonnett entgegengenommen und mit feierlicher Ehrfurcht bestaunt habe, die hole ich aus ihrer Plastikhülle und werfe sie in das braune Marmite-Glas zu meiner Murmel und den diversen Knöpfen und Porzellanscherben, die ich aus dem harten Matsch unserer mittlerweile völlig zugewucherten Wildnis ausgegraben habe.

Diese Schätze und mehr habe ich heute noch. Alles in einem Koffer unter meinem Bett gehortet. Gefundenes und Aufbewahrtes, Postkarten von entlegenen Orten und in schleppenden Doppelstunden Physik unter der Bank weitergereichte Zettel. Und Beweismaterial, immer Beweismaterial. Ein Behältnis des Glücks und auch der Gefahr, wie die Bundeslade steht es da, und nichts als zwei rostige Beschläge hindern es daran, seine unvorstellbare Macht zu entfesseln. Aber wir wissen, wo ich diesen Trick gelernt habe, stimmt’s? Obwohl deine Geheimnisse nicht so bequem unter Verschluss waren. Vielmehr hast du sie überall verstreut wie Konfetti, sie in Ritzen und zwischen Dielen gestopft oder sie als Leichen in den Keller verbannt.

Aber ich habe den Faden verloren, bin wieder vom Thema abgekommen, und dabei wollte ich doch auf etwas hinaus.

Der Sommer des Thronjubiläums. Weißt du noch?

In jenem Juni bin ich schon verliebter in die Welt als je zuvor – in unsere Welt. Natürlich gibt es eine ganze Liste von Dingen, die ich ändern würde, wenn ich zuständig wäre: den Staub in den Vorhängen und auf jeder ebenen Fläche, der mich erstickt, wenn er aus Kissen aufsteigt, der sich an meiner Fingerspitze sammelt, wenn ich einen Marienkäfer auf das Kaminsims male. Die schmutzige Wäsche, die sich unelegant in unseren Zimmerecken türmt, bis du, entnervt, endlich die furchterregende Doppelwanne hervorholst und einen Tag lang mit einer langen Holzzange über Seifenlauge schwitzt. Die Beharrlichkeit, mit der du meine Bücherfestung und mein Ablagesystem zerstörst, Wälle einreißt, ungelesene Crompton-Bände achtlos auf meinen »Fertig«-Stapel wirfst, Blyton zwischen Dahl und Dickens ins Regal stopfst.

Doch obwohl ich mich in die Lodge wünsche, mit ihren scharfen Kanten und ordentlichen Stapeln und Duftspendern in jedem Zimmer, wo die Betten immer gemacht sind, die Toiletten immer zitronensauber und man sich fühlt wie am Set einer Fernseh-Sitcom, bin ich zufrieden mit unserem Haus. Denn genau das ist es: unseres. Es schlafen keine Fremden auf Sofas oder, schlimmer noch, in unserem Bett, keine Küchendiebe »leihen sich« meine Bananen oder lassen mein Milky Way verschwinden, wenn ich unklugerweise mal kurz nicht aufpasse. Wir sind die Herrscherinnen über alles, was wir überblicken können, die Königinnen der ganzen Scheißwelt, und meine Zukunft, scheint mir, ist gesichert.

Bis eines Samstags im Jubiläums-Juni.

Denn während ich den Frieden genieße, drehst du still und leise durch. Rastlos wanderst du herum, wie ein Tiger im Käfig, sodass ich fast Angst habe, dich aus dem Haus zu lassen, weil du nicht zurückkommen könntest. Mir fällt eine Comicgeschichte ein über mit Butter bestrichene Katzenpfoten, und ich überlege, ob das bei dir funktionieren könnte.

»Ich vermisse London«, verkündest du beim Frühstück.

»Ich nicht«, sage ich hastig. »Es hat komisch gerochen, und ich hab mal einen Mann auf die Straße kacken sehen.«

Zu meiner Erleichterung lachst du. »Ach Gott, das hatte ich ganz vergessen. Trotzdem, du wirst diejenige sein, die mich anbettelt zurückzuziehen, wenn du sechzehn bist und die Wände hochgehst.«

Das Bild ist faszinierend, ein übergroßes sechzehnjähriges Ich, das an die Decke klettert wie Spider-Girl. »Nein, werde ich nicht«, fauche ich. »Und überhaupt, wir ziehen nicht weg, weil wir jetzt hier wohnen, also.«

»Du meine Güte, Dido, ich hab nur gesagt, dass ich es vermisse, nicht, dass wir in den nächsten Zug steigen.«

Trotz deiner Beteuerungen habe ich solche Angst, alles zu verlieren, das Haus, die Trevelyans, dieses Leben, dass ich mich im Bad einschließe und mich weigere herauszukommen, bis du in meine Forderungen einwilligst.

»Wie lauten die denn?«, fragst du halb amüsiert, halb lustlos.

»Für immer hier zu wohnen«, sage ich. »Außer, wir ziehen in die Lodge.«

»Tja, das wird nicht passieren. Und ich kann dir auch nicht versprechen, dass du immer hier wohnst. Nicht für immer. Was, wenn du auf die Uni gehst?«

»Mach ich nicht.«

»Wie du meinst«, sagst du, ein ständiges Mantra, von dem Harry wegen der angebotenen Entscheidungsfreiheit begeistert ist, das ich aber insgeheim ablehne, weil mir Vorschriften und Grenzen lieber sind, damit ich weiß, wo ich stehe.

»Dann bleibe ich hier drin.«

»Du wirst verhungern«, probierst du es.

»Ich hab Kekse. Und ich kann Wasser aus dem Hahn trinken, also werde ich auch nicht verdursten, falls du darauf hoffst.«

»Überhaupt nicht, Di«, sagst du. »Ich finde das sogar toll. Dein erster Protest. Warte, bis ich das Toni erzähle.«

Bei diesen Worten weiß ich, dass ich verloren habe. Dennoch halte ich einen ganzen Vormittag durch, bis der Sog der Titelmelodie von Pipkins zu stark wird und ich die Tür aufschließe und nach unten aufs Sofa stapfe, deinen Arm um meine Schultern zurückweise, den Käsetoast aber annehme, den du als eine Art Friedensangebot reichst.

»Was, wenn ich sie stattdessen hierher einlade?«, fragst du nach einer Weile. »Toni und die anderen.«

Ich versuche, mich auf die Fernsehserie zu konzentrieren, versuche, die Schmetterlinge in meinem Bauch nicht wieder hektisch mit den Flügeln schlagen zu lassen. »Welche anderen?«, frage ich.

»Weiß auch nicht, Denzil? Chinese Clive vielleicht?«

»Der will bestimmt nicht. Hier gibt es kein Schweinefleisch süß-sauer.«

»Wahrscheinlich nicht. Aber ich frage trotzdem mal.«

In dieser prekären Lage befinde ich mich also in der Jubiläumswoche: Eine Welt und Zukunft, die ich für gesichert hielt, hängt auf einmal in der Schwebe. Denn trotz des Mangels an leicht erhältlichem Imbissessen hat Chinese Clive zugesagt, und neben ihm Toni und Denzil und, zu meiner schweren Besorgnis, Maudsley Mick.

»Wir können ein alternatives Jubiläum feiern«, sagst du. »Ohne die Königin.«

Ich stoße einen übertriebenen Seufzer der Enttäuschung aus, denn was, denke ich, bringt ein königinnenloses Thronjubiläum? Aber bis Samstagnachmittag hat mein Schmollen sich in ungeduldige Vorfreude verwandelt. Nicht auf unsere Party, die ich weiterhin geflissentlich ignoriere, sondern weil unser Besuch zu spät kommt und du allmählich schwach wirst.

Während du dich in der Halbkühle des Hauses herumdrückst, hänge ich über dem Gartentor und starre mit offenem Mund unsere Nachbarn an, die mit ihren Papierkronen und Kunsthermelinpelzen um die Ecke strömen, mit Plastikflaggen wedeln und Pappteller mit frisch gebackenen Würstchen im Schlafrock und ordentlichen, glänzenden russischen Eiern tragen. Es ist weniger die Festlichkeit, die ich zu verpassen fürchte, als das Essen. Du hast gerade eine Selbstversorger-Phase, und jede Mahlzeit wird von einem Häufchen bitterer, holziger Mungbohnensprossen aus der Keimschale auf der Fensterbank und einem Klacks hausgemachtem Hummus begleitet. Da draußen hingegen gibt es Schokokuchen und Waffeln, Chipstüten und Limoflaschen von Corona oder, noch besser, SodaStream. Harrys Vater hat einen gekauft und jeden von uns einmal sprudeln lassen, wir haben Cola und Irn-Bru und Kirschbrause gemacht, bis die sechs gerillten Flaschen voll und zugeschraubt in der Tür ihres riesigen Kühlschranks aufgereiht waren. In unserem stehen ein Bier, ein Karton Orangensaft und eine halb leere Flasche Wodka, die du jetzt gerade austrinkst.

»Ich wünschte, die würden alle ihre blöde Klappe halten«, blaffst du auf dem Sofa. »Mein Gott, ich kann Mrs. Lovejoy aus einem Kilometer Entfernung hören, als wäre sie der bescheuerte Foghorn Leghorn.«

Aber ich beachte dich gar nicht, ebenso wenig wie deine Aufforderungen Glotz nicht so und Komm rein und Mach wenigstens die Scheißtür zu, sondern schaukle weiter vor und zurück, die Füße fest zwischen die Holzlatten geklemmt, während ich die Welt an mir vorbeiziehen sehe.

Um drei Uhr hältst du es endgültig nicht mehr aus und sagst: »Dann hau schon ab, aber erwarte nicht von mir, dass ich mitmache. Wenn mich jemand braucht, ich bin hier. Plane eine Scheißrepublik.«

Also haue ich ab.

Die Plätze an den Tapeziertischen sind alle besetzt, deshalb quetsche ich mich zwischen Harry und Tom, schiebe meinen Po auf ein Viertel ihres Holzstuhls, was physikalisch nicht so richtig aufgehen will, wie sehr ich mich auch bemühe.

»Ich dachte, du darfst nicht kommen«, sagt Tom.

»Hat Edie gesagt«, bestätigt Harry. »Weil doch die Königin furchtbar ist.«

Zwei Plätze weiter wirft Mrs. Payne, Mutter von Brian und Trägerin einer der Schwerkraft trotzenden Frisur, mir einen stechenden Blick zu. Ich hab es nicht gesagt, denke ich. Das war Harry. Aber Harrys Schuld ist es nie, begreife ich langsam.

»Sie ist nicht furchtbar«, sage ich leise. »Nur – warum sollte sie bestimmen dürfen und viel mehr Geld haben statt du oder ich?«

»Wir haben auch eine Menge Geld«, sagt Harry. »Papa sagt, wir kriegen nächsten Monat ein neues Auto. Einen Cortina.«

»Was ist mit dem Capri?«, frage ich und denke dabei an die glatten Kunstledersitze und das satte Klonk-Klick von einrastenden Sicherheitsgurten, den Geruch nach Tabak und Neuheit und Erfolg.

»Den kriegt jemand Ärmeres«, sagt Harry sachlich. »Vielleicht könntet ihr ihn haben?«

»Harry!«, protestiert Tom.

»Was denn?« Sie ist aufrichtig verblüfft.

»Ich frage Edie mal«, sage ich. »Nachher. Sie kann nicht kommen, weil sie auf Toni wartet.«

»Wer ist Toni?«, fragt Tom.

»Mensch, die beste Freundin von ihrer Mutter«, antwortet Harry. »Die Lesbe.«

Mrs. Paynes Gesicht färbt sich von Vanillepudding zu Himbeermarmelade, sie fordert Mrs. Trevelyan mit einem Blick auf einzuschreiten. Doch Angela serviert gerade den Lawson-Zwillingen Ananas am Spieß und bekommt zum Glück die nicht jugendfreie Unterhaltung an unserem Tischende nicht mit.

»Was ist eine Lesbe?«, fragt Tom.

»Die küssen andere Frauen«, sage ich. »Aber sie können sie nicht heiraten oder Babys kriegen.«

»Weil kein Sperma«, raunt Harry.

»Ist deine Mutter eine Lesbe?«

Harry zieht eine Grimasse. »Nein, du Doofi, woher sollte sie sonst Dido haben?«