Meine wunderbaren Jahre von Karl-Marx-Stadt - Dieter Joerg List - E-Book

Meine wunderbaren Jahre von Karl-Marx-Stadt E-Book

Dieter Joerg List

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Beschreibung

Aufgewachsen in der unsicheren und kargen Zeit der Nachkriegsjahre in Ostdeutschland, 7 Jahre nach der Gründung und des spannenden Aufbaus der DDR, des unmittelbaren Erlebens der Aengste durch den Kalten Krieg und unter den realen Bedingungen der DDR-Diktatur, beschreibt der Autor diese Jahre für Ihn nicht nur als sehr lehrreiche und praegende, sondern im nach hinein und im gesamten selbst betrachtet, auch als die Wunderbaren Jahre von Karl-Marx-Stadt. Der Autor beschreibt aber auch die Stagnation in der Entwicklung der DDR und die damit eingeleitete Bleierne Zeit, welche auch in der Bundesrepublik beschrieben worden ist, auf DDR-Boden aber eine andere war. Er schildert diese Zeit weiter bis zu den Vorwende-Jahren und der friedlichen Revolution der Buerger im November 1989. Erst die Wende und die darauf folgenden neuen Jahre brachten auch eine Wende in seinem Leben. Diese Zeit des Umsturzes und Wandels, diese Zeit voller Veraenderungen. Genau die richtige Ausgangssituation, um lang ertraeumte aber nie verwirklichbare Ziele anzugehen. Staunen Sie über einen beruflichen Aufstieg und anschließenden Fall, den Filmproduzenten nicht haetten besser inszenieren koennen, hier aber real gelebt worden sind. Lassen Sie sich vom Autor mit einer spannenden Schilderung von Wirtschaft, Politik, Gesellschaft, aber auch über Musik und dem Leben entfuehren. Tauchen Sie ein, in die wahre Geschichte eines normalen Lebens, welches in einer Zeit handelt, die alles andere als normal war!

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Veröffentlichungsjahr: 2020

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JURISTISCHE VORBEMERKUNG

Aus rechtlichen Gründen wird darauf hingewiesen, dass alle handelnden Personen frei erfunden sind. Insbesondere die dargestellten Politiker des Freistaates Sachsens sowie Kommunalpolitiker der Städte Sachsens, Personen aus dem Wirtschaftsleben, Sportler und Olympiasieger, Bankenvertreter und andere Persönlichkeiten. Etwaige Übereinstimmungen zu lebenden Personen oder Ereignissen sind rein zufällig oder bestehen nachweislich aus Tatsachenberichten.

ZITAT

„Verschwende keine Zeit mit dem Bedauern, kein Genie zu sein. Vertraue stattdessen lieber auf harte Arbeit, deine Ausdauer und deine Entschlossenheit. Der beste Leitsatz für einen langen Weg lautet: Jammere nicht, pack es an! Du hast deine Zukunft in deiner eigenen Hand! Weiche niemals von dieser Überzeugung ab. Und sei kein Angeber. Ein Junge, der prahlt, wird nur wenig leisten. Er gleicht dem billigen Jakob, der seine schäbigen Waren anpreist. Die leeren Dosen klappern am lautesten.

Sei aufrichtig! Sei zuverlässig! Sei entgegenkommend!

Und denke daran, dass die Fähigkeit, uneigennützig zu sein, am schwersten zu erlernen ist. Aber sie zählt zu den wertvollsten Eigenschaften eines echten Mannes. Liebe die See, den tosenden Strand und die offenen Dünen! Halte Körper und Geist rein!“

Dieses Zitat stammt von Sir Frederick Treves, Träger des Royal Victorian Order, Unteroffizier Seiner Majestät, des Königs, Chirurg Seiner Königlichen Hoheit, des Prinzen von Wales, am 2. September 1903 zum 25-jährigen Jubiläum der Jugendzeitschrift Boy’s Own Paper. Diese, vor über 100 Jahren geschriebenen, Zeilen hätte ich auch gern geschrieben oder als Rede gehalten. Denn diese Worte passen einfach und zu meiner Einstellung zum Leben. Deswegen stelle ich sie hier an den Anfang meines Buches.

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Prolog

Teil 1: Die Frühen Jahre

1957 - Ich War Schneller Als Der Erste Sputnik

Lebensmittelkarten, Ruinen Und Trümmerbahn

1959 - Meine Taufe

Wie Ich Zu Meinem Namen Gekommen Bin

„Prinz Seppel“

Von Flöha Nach Karl-Marx-Stadt

Mein Freund Micha

Lederhosen, Baumwollstrümpfe Und Ein Leibchen

Kolumbus Des 20. Jahrhunderts

1962 - Kuhmilch

1963 Und Etwas Klein

Henschel-Pimper

Vorfreude Auf Weihnachten

Weihnachten In Familie - Heiligabend

Erster Und Zweiter Weihnachtsfeiertag

1964 - Kindergarten

Meine Erste Begegnung Mit Den Digedags Aus Dem „Mosaik“ Von Hannes Hegen

Flöha An Der Flöha (Teil I)

Die Freitagabend-Zinkwanne

Sommergewitter

Defa

Barackenmenschen Und Fadenwürmer

Lied Meiner Frühen Jahre / Kindheit

Ein Jungpionier Bei Der 800 Jahrfeier Von Karl-Marx-Stadt

Mit Professor Jens Im Ferienlager

Neue Klasse, Neue Schule

Tag Der Schmerzen

Kuchenrindeln

Bild Vom Hauptbahnhof Chemnitz /Karl-Marx-Stadt

Flöha An Der Flöha – Lieblingswochenenden II

Mit Eigener Fc Karl-Marx-Stadt-Fahne Beim Ddr-Meister Fck

Der Frosch

Matchbox-Autos Und Unsere Brigade Roter Stern

Unser Besuch In Der Tanzbar Libelle

Der Kalte Krieg Und Meine Angst Vor Der Atombombe

Das Berühmte Jahr 1968

Karl-Marx-Stadt, Sachsen Und Die Niederschlagung Des Prager Frühlings 1968

Zelten Am See

Sommerferien Am See

Der See

Das Seerosenfliess

1968 Prager Frühling II In Karl-Marx-Stadt

1969

Wasserwanderung Im Spreewald

Rheumatisches Fieber

Tollwut Oder Der Eichhörnchenfang

Immer Auf Die Kleinen

431 Kaulquappen-Unglück Und Vier Eidechsen

Im Mai Am See Und Kanal

Nachtangeln

Micha II

Auch Ein Kleiner Kann Helfen!

Bonzen-,Generals-,Direktoren-,Künstler-Und Handwerkerkinder In Der Elite-Klasse Von Karl-Marx-Stadt

Arbeiterklasse In Der Schule

Mitschülerin Andrea B. In Der R-Klasse

Lernkrise

Klassenkameraden

Micha III

Grossmutter

Musterung Für Den Dienst In Der

Grossvater Vor Verdun Im Ersten Weltkrieg

Explosionen In Der Küche

Wunderkerzen: Brand Mit Über 2.400 Grad Celsius Inklusive Deckenbrand

Die Abenteuer Des Werner Holt

Das Unsichtbare Visier Und Der Blücher - Orden

Ölkrise Und Dynamo Dresden

Genesis Und Mein Freund Krümel

Klassenkameradinnen

Professor Jens II Und Die 11.Klasse

Woodstock & Ich

Blutige Erdbeeren In Der Ddr

Ende Vietnamkrieg

Micha IV

Aussenwirtschaft An Der Hochschule Für Ökonomie In Berlin

Teil 2: Die Wunderbaren Jahre

Mein Letzter Sommer Als Zivilist

Teil 3: Die Bleiernen Jahre

Einberufung: Vom „Uffz“ -Schüler Zum Panzerkommandanten

Makkaroni Bei Der Nva

Versetzung In Spezialeinheit Pwgl 13

Manne Krug & Steffi List

Unterzeichnete Nichtspitzel-Erklärung

Studien-Sperre Nun Auch Für Mich

Katastropheneinsätze

Einsatz Im Katastrophenwinter 1978/1979

Explosion Im Ölwerk

Komplexlager An Der Ostgrenze

Verhaftung I - Ein Soldat Ohne Knast, Ist Wie Ein Baum Ohne Ast

Verhaftung II – Meine Individuelle Bahnreise Mit Der Deutschen Reichsbahn Und Meinem Kranpanzer

Episode Mit General

Reserveoffizier

Ende Meiner Armeezeit- Auf Die Grossbaustelle

Marsch Der Pinguine Zur Grossbaustelle

Mein Tonbandgerät Tesla B93

Veränderung Liegt In Der Luft (1980)

Endlich: Mitglied Der Arbeiterklasse

Es Geht (Nicht) Seinen Gang

Micha V

Isb -Internationaler Studenten Bund

Sohn (1983)

Lti

Beststudent

Bleierne Zeit

Meine Kirchlichen Cousinen

Pfarrer Theo Lehmann

Teil 4: Die Neuen, Wunderbaren Jahre In Der Bleiernen Zeit (1985-1989)

Von Der Schippe Gesprungen

Schnee Im Erzgebirge

Schmuggelabenteuer Aus Der Cssr

Schmuggel II

Mein Schlesischer Grossvater

Lustige Ski-Episode

Wasserski Im Winter (Im erzgebirge)

Aus Dem Veb (Fahrzeugelektrik)

Im Sozialistischen Betrieb

Stasi IV

Der Verlorene Riesen - Aal

Loblied Auf Die Heimat

Ddr - Meister

Gegen Den Plan (Gestimmt)

Rias Berlin - Eine Freie Stimme Der Freien Welt

Verhaftung III

Meine Verhandlung Mit Rechtsanwalt Vogel

Schlesien, Die Heimat Meiner Mutter

Teil 5: Die Neuen Jahre Oder Das Ende Der Bleiernen Zeit

7. Oktober 1989 In Karl-Marx-Stadt

Ausreise Aus Der Ddr - Meine Freunde

7. Oktober Bis Zum Mauerfall Am 9. November 1989

Die Neuen Jahre

Mauerfall Am 9. November 1989

Dienstreise Nach Westberlin

Zeiten Der Wende

Westkredit Noch Vor Der Währungsunion

Von Karl - Marx - Stadt Nach Zürich

Erste Schritte In Dieser Zwischenzeit

3 . Oktober 1990 – Freiheitsglocke

Gründerzeit

Zweiter Weg

Ein Tag Im Hamsterrad

Non Stop - Arbeit

Auf Verschleiss – Drohender Burn-Out

Winterabend

Vom Cfc Zur Firma Für Sturmgewehre

Olympiasieger Und Weltmeister In Meiner Firma

Freddy Gerstle (Der Jude)

Freddy`s Letzte Reise Oder Wie Der Kreis Sich Schliesst

Personenbeschreibung

Weihnachten Im Erzgebirge

Einige Zeit Und Viele Verhandlungen Später…

Betriebsprüfung Finanzamt

Beteiligungsverhandlungen

Firmenverkauf

„Unter Aufschiebender Bedingung“

Neuanfang Als Konzerntochter

Ein Jahr Nach Dem Firmenverkauf

Blitzüberweisung Und Haftungsentlassung

Entlassung II (Firma)

Flucht Nach Schweden

Alarm Im Bankschliessfach

Entlassung III (Privat)

Erfolgreich Eingeklagt In Die Firma

Gegenattacke Ins Leere

Platincard Von American Express

Unheil Von Allen Seiten Oder Kondizierte Haftungsentlassung

1.000 Gerichts-Prozesse

2,8 Milliarden Bytes Schriftverkehr

Arbeitsamt

Sozialamt

Iq

Ablehnung Über Ablehnung

Der Doppelte Treuhandvertrag

Politiker Sind Wie Banken

Ein Freund, Ein Guter Freund

Noch Ein Unerwartetes Problem

Zwangsversteigerung Meines Letzten Eigentums Aber Zugewinn An Gesundheit

Meine 1.000 Probleme

Kein Eigenes Konto

Erneute Kontopfändung / Wieder Finanzamt

Mein Treuhänder

Zehn Briefe An Freunde, Die Am Sinn Des Lebens Kratzen Sollen

Erster Brief – „Radtour“ Brief An Einen Freund (Micha)

Zweiter Brief-Leben!

Dritter Brief – Die Allee Ist Weiss

Vierter Brief – Das Wasser Meines Sees Ist Grün

Fünfter Brief – Ende Der Saison / Zeitenkonto

Sechster Brief – Frühlingsanfang Auf Dem Wasser

Siebenter Brief – Ski-Alpin Im Erzgebirge

Achter Brief – Grenzerfahrung: Surfen Im Orkan

Neunter Brief – Saisonbeginn Und Bootsmannschaft

Zehnter Brief – Zum 82. Geburtstag

Elfter Brief – Kreislauf Unseres Lebens

Freiheitsglocke, Noch Einmal

Schulden Des Staates

Der Zauber Des Wassers / Abschied Vom See

Erneuter Neuanfang

Neid Und Missgunst

Überfall Vom Sonder-Einsatz Kommando

Steuerfahndung

Ängste

Es Gibt Noch (Viele) Fragen

Lebenskreuzungspunkt

Carpe Diem Ein Abschluss, Kein Ende

Kurzer, Persönlicher Ausblick

Schlusswort

VORWORT

Ich habe diese Zeilen für meinen Sohn Florian geschrieben, der damals noch nicht geboren war und später zu jung war, um diese turbulenten Jahre und Zeiten bewusst zu erleben. Sie sind für seine und nachfolgende Generationen, für die die DDR-Zeit nur eine Episode der jüngeren deutschen Geschichte gewesen sein wird. Ich aber habe in diesem Kapitel 33 Jahre, mal mehr oder weniger glücklich, gelebt.

Ich hoffe, die folgenden Zeilen tragen für einen Moment zur Besinnung und Rückschau bei.

Ich habe dieses Buch vor etwa zehn Jahren für meinen Sohn Florian geschrieben. Das Buch ist bis hierher noch ein Buchentwurf, den ich erst fertigstellen wollte, wenn ich als Rentner ab dem Jahr 2024 einmal ausreichend Zeit dafür habe. Da aber in den letzten Jahren mehrere gute Freunde von mir bereits gestorben sind und ein sehr guter Freund – unser „Pegida-Opa“ Steffen Musolt - im Sterben liegt, ich inzwischen selbst bereits 63 Jahre alt bin (Jahrgang 1957) und meine Eltern mit ihren 85 Jahren noch geistig voll fit sind, habe ich dies noch einmal überdacht. Besonders der intensive Austausch mit meinem engsten Freund Michael Jecke und mit dem Steffen Musolt hat mich zum Umdenken gebracht! Auch wenn mein Buchentwurf noch nicht fertig ist, möchte ich eine erste Auflage für meine Eltern Erika und Dieter, meine Familie und für meine engsten Freunde veröffentlichen. Der angenehme Nebeneffekt ist, dass ich ab sofort auch meinem Enkel Mark Fernando daraus vorlesen kann. Ich hoffe sehr, dass meine Frau Steffi – die Liebe meines Lebens - mir diesen unfertigen Buchentwurf verzeihen wird. Manchmal muss man im Leben Prioritäten setzen.

PROLOG

Mein Stil hat sich im Laufe der Zeit und im un-)stetigen Prozess des Schreibens und Beschreibens inzwischen gebessert. Jedenfalls hoffe ich das sehr. Schließlich ist das alles schon lange her, insgesamt über ein halbes Jahrhundert. Seither habe ich etwas Übung gehabt. Aber selbst durch den Filter der damaligen Worte meiner Aufzeichnungen überkommt mich mit diesen meine Jugend wie ein Duft, der blitzartig einen bestimmten Augenblick der Vergangenheit heraufbeschwört. Und jene wunderbaren Jahre meiner recht frühen und sorglosen Jugend steigen wieder empor und verlangen, um welchen Preis auch immer, noch einmal gelebt zu werden.

Hier habe ich mich etwas angelehnt und bedient bei einem sehr schönen Buch mit dem Titel „Run before the Wind“ von Edgar-Allan-Poe-Preisträger Stuart Woods, welcher See, Meere und Wassersport genauso sehr liebt wie ich. Bei mir kommt noch die Liebe zu den Bergen, dem Schnee und das Skifahren hinzu.

Oder die Worte von Sir Frederik Treves ergänzt mit den meinen: „Liebe die Berge, den herrlichen Schnee und die offenen Abfahrten; liebe die See, den tosenden Strand und das offene Meer! … mit den richtigen Menschen um sich (dich) herum!“

Und liebe die Menschen, die du um dich willst!

TEIL 1

DIE FRÜHEN JAHRE

1957 - ICH WAR SCHNELLER ALS DER ERSTE SPUTNIK

„Überraschung mitten im „Kalten Krieg“

„US-Präsident Eisenhower hatte Ende Juli 1955 die Entwicklung eines amerikanischen Erdsatelliten in Auftrag gegeben, worauf die UdSSR vier Tage später, am 1. August 1955, eine ähnliche Entwicklung ankündigte. Dies war von der Weltöffentlichkeit teilweise als Propaganda-Coup für die Überlegenheit des marxistisch-wissenschaftlichen Systems über den Kapitalismus (Mitteilung Herbst 1955) angesehen worden. Der erfolgreiche Start am 4. Oktober 1957 um 19:28:34 GMT von einer großen Startrampe in Baikonur (Kasachische SSR in der UdSSR) überraschte daher alle Welt.“ (Quelle: https://deacademic.com/dic.nsf/dewiki/1314864#.C3.9Cberraschung_mitten_im_.E2.80.9EKalten_Krieg.E2.80.9C)

Ich überraschte damals nicht alle Welt, auch nicht die ganze Deutsche Demokratische Republik, als ich an einem schönen Tag im Mai 1957 zur Welt kam. Aber immerhin einen ganz kleinen Teil der DDR, meine Familie. Ich wurde an einem Samstag geboren, was eigentlich nichts Besonderes gewesen wäre, wenn es nicht genau der Geburtstag meines Erzeugers wäre. Ja, ich und mein Vater hatten von nun ab am selben Tag eines jeden Jahres Geburtstag. Damit wurden die Grundlagen gelegt – Plural, weil meine Person und das Datum - für viele schöne Familienfeiern und auch einige wenige nicht so schöne. Doch dazu später mehr.

Und es war bei meiner Geburt ganz knapp. 19 min fehlten noch, sonst wäre ich zwar wie mein Vater ein Sonntagskind geworden. Aber ich wäre um ein 365-stel knapp vorbeigeschrammt an unserem gemeinsamen Geburtstag. Mein Erzeuger hatte seine Arbeit auch schon vor ungefähr neun Monaten getan, während meine Mutter Blut und Wasser nicht nur schwitzte und dazu die üblichen Schmerzen hatte. Am meisten aber stand sie unter der hohen Erwartungshaltung der gesamten Familie, gepaart vom zusätzlichen Termindruck, dem sie gegen 23:38 Uhr ausgesetzt war. Jedenfalls wurde der um 23:41 überstark, und ich gab meine, bis dahin erfolgreichen, Widerstände zum Erblicken des Lichtes der Welt auf. Das sollte ich in meinem späteren Leben noch weiter ausbauen: Widerstand und eigene Meinung zwar, aber eben auch mit Diplomatie und Geschick verbunden, es eben nicht zu übertreiben. Ich war also an jenem Samstag plötzlich ein ganz kleiner Bürger der großen Deutschen Demokratischen Republik. Und klein, relativ klein sollte ich noch ziemlich lange bleiben, bis nach dem zwölften Schuljahr. Für mich war das viel zu lange. Aber da ich schon von Geburt an einen gewissen Widerstandsgeist mit auf meinen Weg bekam, sollte ich die Zwischenzeit bis dahin gut überstehen. Später dann wurde ich Kleiner langsam größer und die große DDR ganz langsam kleiner.

Ich überraschte damals immerhin meine Familie, zumindest einen Teil davon. Denn der andere Teil, und zwar meine Großeltern väterlicherseits, wusste nichts von meiner Geburt, meine Eltern waren nicht verheiratet. Ich wurde also unehelich geboren, das war in den fünfziger Jahren des vorigen Jahrhunderts, also vor über 60 Jahren, nun nicht ganz so einfach. Doch auch dazu, lieber Leser, später mehr.

Es war zwar angesichts der noch fehlenden 19 von 1.440 Minuten eines Geburtstages recht knapp, aber immer noch rechtzeitig für mich und meine Familie. Damit hatte ich eine absolute Punktlandung: ich hatte genau ein 365zigstel getroffen und irgendwie fast einen Bilderbuchstart ins Leben, ins sozialistische natürlich, doch das konnte ich ja damals in meiner damaligen Ahnungslosigkeit und Blindheit wirklich noch nicht wissen. Und ich war eben 145 Tage vor dem ersten Sputnik im sozialistischen Lager, zur künftigen Verstärkung dieses, endlich angekommen.

Ich hatte zwar noch keine Pläne, jedenfalls nicht so zeitig. Aber wie ich meine Eltern –aus meinem Erzeuger wurde schon binnen kürzester Zeit mein Vater - und Großeltern dann etwas später kennengelernt habe, war für mich schon ziemlich viel vorgeplant, zumindest bis zum Abitur und dem Hochschulstudium. Und ich hatte schon mein erstes Problem gleich mit meiner Geburt. Mein glücklicher Erzeuger gab mir für meinen künftigen Weg die Aufgabe auf, ihm ab sofort gründlich nachzueifern, so auch in der Sache mit dem gleichen Geburtstag. Irgendwann sollte ich also in zirka 25 Jahren auch einen Sohn zeugen, der genau an unserem Geburtstag zur Welt kommen sollte. Sozusagen ein Triple über drei Generationen beziehungsweise zum dritten Mal ein 1/365-zigstel treffen! Und meine künftige Frau sollte auch noch mitspielen. Das war schon aus damaliger Sicht kaum zu schaffen. Na prima, wie das ausgehen sollte und was davon wirklich gelungen ist, dazu liebe Leser – Sie wissen schon- später mehr.

Zu diesem Problem wurde mir gleich noch ein weiteres aufgebürdet. Und zwar mein Name, genauer gesagt meine drei Hauptnamen, die Nebennamen vernachlässige ich jetzt mal. Zuerst bekam ich einen furchtbaren Doppelnamen, der eigentlich so nicht zusammenpasste: Dieter Jörg, ohne Bindestrich (das musste ich später häufig auf Behörden erklären und rechtfertigen. Umgekehrt wäre es ganz gut gegangen: Jörg Dieter. Das lässt sich auch besser aussprechen ohne Zungenverhaspler. Jedenfalls sollte ich mit meiner frühkindlichen Skepsis recht behalten, denn mit meinem richtigen Namen hat mich dann später kaum einer gerufen oder angesprochen. Auch nicht meine geliebte Familie, auch dazu liebe Leser – Sie wissen schon - später mehr.

Da ich unehelich die Welt erblickte, bekam ich aber zum Glück den sehr schönen Namen meiner Mutter: Poier. Dieser kommt mit meiner Familie aus dem Schlesischen und kam vor 300 Jahren über die Hugenotten aus Frankreich nach Schlesien. Er wurde aber nicht mehr französisch ausgesprochen „Pooaajeeeh“, sondern ganz einfach Poier. Und mit diesem Namen war ich ganz und gar einverstanden.

Leider gehörte ich damals zu den Neugeborenen, welche von ihren Eltern hauptsächlich in die Rückenlage gelegt wurden. Dadurch konnte sich im Laufe meiner Entwicklung mein Hinterkopf gar nicht oder nur wenig ausbilden. Dies ging relativ vielen Kindern meiner Generation so.

Hiermit hatte ich also schon vom ersten Tag meines Lebens an meine ersten Probleme. Ihnen sollten noch Tausende folgen. Auch wenn ich dieses erste Problem nicht mehr würde lösen können, viele, aber natürlich nicht alle, sollte ich in meiner damals noch fernen Zukunft lösen lernen. Ich wurde gewissermaßen zum Problemlöser, der ich heute nach über einem halben Jahrhundert bin.

Den weiteren Rest meines ersten Geburtstages muss ich dann wohl verschlafen haben…

Ach ja, auch sonst passierte noch einiges, was ich aber noch nicht mitbekam. In der Deutschen Demokratischen Republik wurde von nun an ungesetzliches Verlassen ihres Territoriums als Republikflucht bestraft. Das Schiff Pamir ging unter, mit ihr starben 80 Seeleute. Der erste kommerzielle Atomreaktor ging in den USA in Betrieb und in der DDR wurde der erste Atomreaktor der DDR in meiner sächsischen Heimat in Rossendorf bei Dresden für Forschungszwecke in Betrieb genommen. Das so verhängnisvolle Contergan wurde auf den Markt des Klassenfeindes in der BRD gebracht. Auf einem Kirchenfest in Liverpool begegneten sich zum ersten Mal John Lennon und Paul McCartney. Das Musicals West Side Story von Leonard Bernstein wurde in New York uraufgeführt. Aber damals interessierte mich das alles noch nicht.

LEBENSMITTELKARTEN, RUINEN UND TRÜMMERBAHN

Nicht ganz verschlafen habe ich dann mein erstes Lebensjahr / meinen ersten Geburtstag. Kurz nach meinem ersten Geburtstag beschloss die Volkskammer per 1. Juni 1958 die Lebensmittelkarten abzuschaffen. Für die höheren Preise in der HO wurde ein Zuschlag von 9 DM pro Person und Monat bezahlt. Eine Bockwurst kostete 0,80 DM, ein Pfund Butter 2,50 DM und eine Schrippe 0,05 DM. Dies sollte auf Grund der Stützungen die nächsten 31(!) Jahre so stabil bleiben, bis zum Ende der DDR unverändert. Aber das alles wusste ich damals nicht, ich wusste nur, dass ich immer satt wurde und mir auch alles schmeckte, vor allem Milchreis mit Zimt und Zucker oder auch Grießbrei, dank der etwas späteren Geburt nach dem Weltkrieg.

Es schmeckte mir also alles, und auch die zahlreichen Ruinen in unserer Stadt störten mich nicht. Anders lernte ich Karl-Marx-Stadt ja gar nicht kennen, zumal ich nur am Wochenende mit dem Zug und im Kinderwagen in die Stadt gefahren wurde. Karl-Marx-Stadt hieß vor meiner Zeit fast 800 Jahre lang Chemnitz und war am 5. März 1945 Ziel eines alliierten Bombardements geworden. Damals wurden große Teile des Stadtkerns und der umliegenden Gebiete zerstört, Tausende Menschen starben, 100.000 Menschen wurden obdachlos! An vielen Stellen der Stadt gab es noch die Ruinen aus der Zeit des Zweiten Weltkrieges, die Trümmerberge und –kegel des Bombardements der Alliierten beziehungsweise die leeren Bombentrichter an Stelle der ehemaligen Gründerzeithäuser. So lernte ich die vielen Ruinen, Bombentrichter und Trümmerkegel kennen. Der Geruch nach Schutt und Asche war für mich bei den Spaziergängen mit den Eltern oder Großeltern prägend. 20 Jahre später sollte ich bei einem Unglück in Riesa (Explosion im Ölwerk, siehe späteres Kapitel) daran erinnert werden, was ich eigentlich schon vergessen hatte, dieses Mal allerdings mit zahlreichen Toten. Derartige Gerüche prägen sich ein Leben lang ein, besonders die in der Kindheit wahrgenommenen.

„In den letzten Kriegsjahren begann der Bombenkrieg über Deutschland, von dem Chemnitz leider auch nicht verschont wurde. Einige Angriffe auf Chemnitz fanden im Februar 1945 statt, in der auch Dresden dem Erdboden gleich gemacht wurde. In den Vormittags- und Abendstunden des 5.März 1945, wenige Wochen vor Kriegsende, flog das Britische Bomber Command und die Achte Amerikanische Luftflotte mit etwa 700 schweren Bombern ihren größten Angriff auf Chemnitz. Die gesamte Innenstadt wurde durch Spreng- und Brandbomben fast vollständig zerstört sowie viele umliegende Stadtteile. Dabei starben zirka 2.100 Menschen in Chemnitz. Über 3.000 Gebäude waren vollständig zerstört oder so schwer beschädigt, dass ein Wiederaufbau unmöglich war. Das alte Rathaus, die Jakobikirche und die gesamte Marktbebauung waren den Flammen zum Opfer gefallen ... Die Arbeit von 50 Jahren Vorkriegsentwicklung war in wenigen Minuten dahin, ebenso wurden viele Kulturgüter unwiederbringlich vernichtet.“ (Zitat aus www.projekt-urbanus.de)

Hier gab es mehrere Trümmerbahnen, von denen ich etwas später eine kennenlernen sollte. Auf diesen Bahnen wurden die Trümmerstücke und Ziegel aus den Ruinen der Stadt angeliefert und wieder aufbereitet. Das alles geschah für den Neuaufbau unserer Stadt Karl-Marx-Stadt. Es gibt bis heute nicht viele Informationen zum ganzen Kapitel Trümmerbahnen, die von 1944 bis 1960 (?) das Chemnitzer beziehungsweise Karl-Marx-Städter Stadtbild prägten. Bis zu 20 Kilometer lang war das Schienennetz in Spitzenzeiten, davon am bekanntesten die legendäre Trümmerbahn, welche vom Stadtzentrum zur damaligen Südkampfbahn – später Großkampfbahn – führte. Ich selbst hatte diese Bahn nicht mehr kennengelernt. Was da rollte, waren im Wesentlichen Grubenbahnen und Lokomotiven, mit denen zuvor auch schon andere Chemnitzer Großprojekte gebaut worden waren. Das war wohl ein möglicher Grund dafür, dass die Chemnitzer die Bahnen im Stadtbild nicht als spannendes Fotoobjekt begriffen, sondern dies eben ganz einfach unser Alltag war wie die Ruinen und Trümmerkegel. Gerade in der Innenstadt waren die Lorenzüge seit 1944 stets präsent gewesen. Zwei private Bauunternehmen hatten den Auftrag zur Enttrümmerung von der Stadtverwaltung erhalten. „Dass in großem Maße Trümmerfrauen zum Einsatz kamen, ist eher eine schöne Legende", erzählte mir mein Großvater (Jahrgang 1893), der beide Weltkriege erlebt hatte. „Den Hauptteil der Arbeiten erledigten professionelle Unternehmen." (muss noch anderweitig verifiziert werden). Aus dem Bestand der Chemnitzer Trümmerbahnen wurden später Wagen und Lokomotiven für die Pioniereisenbahn, mit der ich kurze Zeit später so gerne fahren wollte. Unter der Anleitung erfahrener Eisenbahner erhielten Kinder und Jugendliche das Rüstzeug, um die Pioniereisenbahn, so der offizielle Name bis 1990, eigenverantwortlich betreiben zu können. 1991 nannte man die Pioniereisenbahn dann Parkeisenbahn. Ich finde bis heute den ursprünglichen DDR-Begriff Pioniereisenbahn passender, auch wenn längst keine Pioniere mehr ausgebildet oder erzogen werden. Aber ohne ideologische Ausnutzung ist ein Pionier doch etwas Wichtiges im Leben, im Sinne eines Vorreiters, Wegbereiters oder Siedlers, der Neuland erschließt.

Anmerkung:

Zum Nachkriegsaufbau von Chemnitz gibt es auch den 1949 uraufgeführten DEFA-Film „Eine Stadt hilft sich selbst“, in dem die Schwierigkeiten und die Leistungen der Chemnitzer Bürgerinnen und Bürger bei der Beseitigung der Trümmer und beim Aufbau eines neuen Lebens dokumentarisch festgehalten wurden. Nähere Informationen dazu gibt es in der Pressestelle der Stadt Chemnitz.

Ich aber lebte noch in Flöha in Sachsen bei meinen Großeltern mütterlicherseits. Die Kleinstadt lag eingebettet zwischen den Flüssen Flöha und Zschopau, etwa 13 Kilometer östlich von Karl-Marx-Stadt. Flöha war bekannt durch seine große Baumwollspinnerei. Ich wuchs die Woche über noch ohne meinen Vater auf. Er studierte damals in Dresden an der Verkehrshochschule gleichen Namens Friedrich List. Die Wochentage verbrachte ich bei meiner Mutter und meinen Großeltern.

1959 - MEINE TAUFE

Während ich auf meine Taufe vorbereitet wurde, floh in Kuba der Diktator Batista ins Ausland. Fidel Castro kam an die Macht, und Ché Guevara rückte mit seinen Revolutionstruppen Bewegung des 26. Juli in Havanna ein. Alaska wurde der 49. Bundesstaat der USA. Die deutsche Bundesregierung lehnte den sowjetischen Vorschlag, eine Freie Stadt West-Berlin zu bilden, die DDR anzuerkennen und mit ihr eine Konföderation einzugehen, ab. Die deutsche Luftwaffe in der BRD erhielt 300 US-Jagdflugzeuge des Typs Starfighter. Im Laufe der nächsten Jahre stürzten davon 260 Maschinen ab. 110 deutsche Piloten aus der BRD kamen ums Leben. Nach dem Sieg der Revolutionäre über das Batista-Regime auf Kuba übernahm Fidel Castro das Amt des Ministerpräsidenten. Meine spätere Frau wurde(endlich) geboren, doch es sollte noch sehr lange dauern, bis wir uns endlich begegnen würden.

Ich dagegen war zum ersten Mal in meinem Leben in einer Kirche. Im Alter von zwei Jahren wurde ich in der Georgen-Kirche in Flöha getauft. Damit wurde ich Mitglied der evangelischen Kirche. Und ich wäre es bis heute, da ich nicht als Erwachsener bewusst ausgetreten war. Gern würde ich heute Opa dazu ausfragen, denn dies hat mich stets interessiert. Ich bin in der elften Klasse mit 17 ausgetreten, da ich damals noch vom Sozialismus und von einem sozialistischen Weg überzeugt. Angesichts meines Elternhauses war dies kein Wunder. Allerdings war ich als Jugendlicher in Flöha ab und zu aus Interesse in der Kirche, auch zum Abendmahl.

Jetzt war ich alt genug, um mich dem Leser endlich einmal (ausführlicher) zu beschreiben. Klein und zart war ich, das habe ich schon geschildert, aber ich war noch nicht so zart wie ich es in den kommenden Jahren noch werden würde. Noch hatte ich einen blonden Lockenkopf, zwischen hell- und mittelblond, etwas später ging es in ein Dunkelblond über. Nicht verändert hatte sich meine blau-graue Augenfarbe. Es war kein so durchdringendes Blau-Grau wie bei Armin Müller-Stahl, aber es kam dem sehr nahe. Dazu war ich ziemlich „niedlich“. Diese Mischung aus klein und zart und niedlich, dazu sehr aufgeweckt, sehr interessiert und neugierig aber fast immer höflich, ließ mich schnell Sympathien gewinnen, auch bei Menschen, welcher mich noch nicht kannten. Leider sollte ich noch sehr lange niedlich bleiben, ungefähr bis zum 25. Lebensjahr. Mit 25 sah ich noch aus wie mit zarten 15 Jahren. Erst danach entwickelte sich mein Aussehen zu dem eines Mannes.

Wie schon erwähnt, lebte ich in meinen ersten beiden Jahren in Flöha bei meinen Großeltern, in einfachsten Verhältnissen, ich war aber glücklich. Sie werden fragen, woher ich das weiß, dass ich glücklich war. Nun, da haben sie recht. Meine ersten bewussten Erinnerungen setzen erst ein wenig später ein. Es muss im dritten Lebensjahr gewesen sein, aber so weit war ich damals noch nicht, und meine Erinnerungen sind nebulös und bestehen eher aus einzelnen Bildern, Szenen oder Stimmungen. Diese war alles immer sehr angenehm, an negative Stimmungen kann ich mich nicht erinnern. Die einfachsten Lebensverhältnisse waren darin begründet, dass meine Großeltern in Schlesien alles verloren hatten und außer ihrem Leben und ihren drei Töchtern. Lange Zeit war das ein Tabuthema, erst viel später habe ich ausführlich darüber erfahren, sodass die Beschreibung auch erst in späteren Kapiteln folgt. In Flöha haben sie nach ihrer Vertreibungsgeschichte und der anschließenden Irrfahrten Asyl gefunden und ohne materielle Dinge am Punkt Null als Asylant der letzten Generation (1948) und Umsiedler neu begonnen. Die Hälfte meiner Familienmitglieder waren selbst Vertriebene, sie waren Kriegsflüchtlinge!

Meine Mutter, Großvater, Großmutter, alle meine Tanten und andere Verwandte stammen aus Schlesien. Mein Großvater wurde von den Polen 1945 für drei Jahre zwangsverpflichtet, die polnische Eisenbahn mit aufzubauen! Damit kamen meine Großeltern mit ihren drei Kindern erst 1948 nach Flöha. Hier waren vorher schon viele Asylanten und Kriegsvertriebene ab 1945 angekommen. Die fünfköpfige Familie hatte alles im Zweiten Weltkrieg verloren, ihr Leben aber war ihnen geblieben. Sie mussten also komplett von vorn beginnen.

Meine Mutter stammt aus Hermsdorf bei Waldenburg und schwärmt noch heute von der schlesischen Heimat und dem Riesengebirge. Durch die Sprache und den so vertrauten Dialekten wie bei den letzten Verbliebenen wird meine Kindheit wieder wach. Das wirkt genauso intensiv auf mich wie die Gerüche meiner Kindheit.

WIE ICH ZU MEINEM NAMEN GEKOMMEN BIN

Ich habe bereits von meinen zweiten bewussten Lebenserinnerungen berichtet. Dies impliziert, auch einen kleinen Schritt zurückzuspringen und noch von den ersten zu schreiben. Und meine ersten Lebenserinnerungen beginnen mit einem Unfall. Genauer gesagt mit Momentaufnahmen und Fragmenten eines Wintersportunfalls im tief verschneiten Flöha. Damals war es noch ein passiver Wintersport, denn ich wurde im Schlitten gezogen und war damals erst zwei Jahre alt. Und gezogen wurde ich nicht von irgendwem, sondern von meiner Lieblingstante Reni. Da muss es irgendwie passiert sein. Denn in einer Kurve ist der Schlitten umgestürzt, ich bin heraus und auf mein Gesicht gefallen. Es blutete stark und meine Nase war beschädigt. Das Blut war bald vergessen. Die kleine Narbe trage ich heute noch.

Bericht meiner Tante, Helga:

„Wenn ich mich recht erinnere, hat Dir Reni den Namen „Seppel“ aus einer Intuition herausgegeben: Sie hatte eine Lieblingspuppe mit Namen „Seppel“, ich sehe sie noch vor mir mit spitzem Sepplhütchen, Sepplhosen und Wadenstutzen - damals alles selbst gestrickt oder gehäkelt, denn 1956/57 gab es keine Puppenkleidung zu kaufen. Und ihre Liebe zu dieser Lieblingspuppe hat sie samt dem Namen auf Dich übertragen. Sie war damals selbst erst zwölf Jahre und hat in Dir vielleicht mehr ihren kleinen Bruder gesehen als den Neffen.“

Jedenfalls hat mir damals Reni meinen Namen gegeben, der bis heute mein Rufname geblieben ist. Es ist also eigentlich ein Spitzname, aber meine ganzen Freunde und auch die Sportkameraden kennen hauptsächlich diesen. Und aus dem zweijährigen Seppel von damals ist 60 Jahre später Sepp geworden.

Trotz des Unfalls von damals ist Reni bis heute meine ultimative Lieblingstante geblieben.

„PRINZ SEPPEL“

Mein Onkel Manfred Gräser, geboren am 29. April 1931 in Kunzendorf in Schlesien, hat ein Buch geschrieben und dies 2013 unter dem Titel „Mein Leben“ veröffentlicht. In diesem Buch erfuhr ich erstmals nach meinen 63 Lebensjahren, wie ich damals in unserer Familie bezeichnet worden bin. Man nannte mich nämlich „kleiner Prinz“, ohne dass damals (1957–1960) ein Familienmitglied das (später) weltberühmte Buch „Der kleine Prinz“ von Antoine de Saint-Exupéry gekannt hatte. Das Buch, las ich erst viel später, 20 Jahre nach meiner Geburt, da es damals noch nicht Bestandteil des Schulunterrichtes war.

Und dies kam so: Ich war bei fünf Kindern unserer Poier-Familie in Flöha der einzige Junge und damit stand ich irgendwie immer oder oft im gewollten oder auch ungewollten Mittelpunkt. Ich war bei vier Mädchen nicht nur der einzige Junge, sondern auch noch der Erstgeborene, also der Älteste unter uns Kindern. Somit war ich irgendwie besonders, und ich fühlte mich wie ein „Prinz in der Backstube“, bekannt aus dem späteren Ingmar Bergmann-Film „Fanny & Alexander“. Mein Onkel Manfred und die Familie hatten irgendwie Recht. Besonders meine Poier-Muttel (die Oma) und Reni, die 1957 erst 13 Jahre jung war, ließen mich das immer wieder spüren. Hier hatte ich bekanntermaßen meine ersten zwei Lebensjahre verbracht, was mich sehr geprägt hat. Mein Vater war wie gesagt zum Studium in Dresden und hatte später seine Arbeitsstelle bei der LUFTHANSA in Berlin. Er kam somit nur an manchen Wochenenden zu uns nach Flöha. Meine Mutter arbeitete in Karl-Marx-Stadt bei der Reichsbahn. Ich wurde deshalb dauerbetreut von Oma und Reni, sowie meinen Opa, den „Poier-Vatel“ . Er arbeitet auch bei der Reichsbahn auf dem Stellwerk in Flöha und war damals so alt wie ich heute, während ich diese Zeilen niederschreibe. Ich wuchs zu meinem Glück noch ohne den Besuch des Kindergartens auf und wurde schon damals somit durch eine Mehrgenerationenfamilie betreut, aufgezogen und natürlich erzogen. Meine Mutti war selbst erst 22 Jahre jung, die „Poier-Muttel“ 55 Jahre und Reni wie beschrieben 13. Und so wurden meine ersten Lebensgrundlagen durch drei Frauen geprägt. Sie waren unterschiedlich alt und auch verschieden waren und standen mir immer besonders nahe. Mein „Poier-Muttel“ hatte damals nur noch 15 Jahre zu leben, was ich damals noch nicht ahnen konnte. Selbst jetzt 42 Jahre nach ihrem viel zu frühen Tod kommen beim Schreiben die Erinnerungen und Gefühle sehr intensiv in mir hoch. Und jetzt stirbt schon die nächste Generation weg oder beginnt zu sterben. Meine Schwiegereltern Elfriede und Walter mit jeweils 91 Jahren – ihre die Abschiedstour hat längst begonnen. Meine Eltern sind jetzt beide 85 Jahre alt, und ich hoffe sehr, dass sie noch ein paar Lebensjahre mit vollem Bewusstsein, Lesen, Genießen und aktivem Wassersport und Naturerleben unter uns bleiben.

Die Umsetzung des Buches von Onkel Manfred finde ich ganz spannend und äußerst interessant. Auch schließen sich bei mir damit Lücken, was Schlesien betrifft, die ich bis jetzt nicht schließen konnte, da ich für einige wichtige Fragen an unseren „Poier-Vatel“ damals wohl noch zu jung gewesen bin oder ich mich noch nicht getraut hatte nachzufragen. Außerdem gewinne ich eine Sicht von außen auf unsere Familie Poier. Besonders interessant sind für mich dabei die Informationen über die Gräser-Familie mit Marlies, Petra und den „Kinnings“. Sehr interessant finde ich die Sichtweise betreffs des Glaubens von Manfred. Denn dieses Thema kommt bei uns zu kurz beziehungsweise existiert bei der Familie List nicht. Und bei unserer „Poier-Muttel“ und dem „Poier-Vatel“ habe ich davon nicht viel mitbekommen. Es hat mich aber immer schon interessiert, aber mehr vom Geistig-Intellektuellen her, weniger vom Glauben an sich, wie Ihr vielleicht bemerkt habt?

Leider wird Manfred der Einzige aus unserer Familie aus dieser Generation sein, die zwischen dem Ersten und Zweiten Weltkrieg geboren wurde, der diese – unsere - Familiengeschichte noch rechtzeitig aufgeschrieben hat. Denn weder Mutter und Vater noch Reni noch Steffis Eltern (Elfriede und Walter) werden das für uns, unsere Kinder und Enkelkinder noch schreiben! Hier rede ich schon seit über 20 Jahren zu, aber erfolglos, was ich sehr bedaure. Aber umso schöner und wichtiger ist dieses Buch für mich und uns.

Somit wird nicht nur der mir so lieb gewonnene schlesische Dialekt bald verschwunden und ausgestorben sein, auch das Nachfragen unserer Generation und unserer Kinder nach der Vertreibung aus Schlesien,dem Asyl in Sachsen und dem Nachkriegsneuaufbau wird dann nicht mehr möglich beziehungsweise sinnvoll sein, weil uns bald niemand mehr antworten kann…

Aber ich habe früh gelernt im Hier und Jetzt und Heute zu leben. Dies einerseits, ohne die Zukunftsgedanken zu vernachlässigen und andererseits dabei auf die eigenen und Geschichtserfahrungen aufzubauen - eine für mich ausgewogene Dualität. Also schreibe ich jetzt darüber:

26 Jahre nach meiner Geburt wiederholte sich die Geschichte mit der Geburt meines Sohnes, wieder als einziger Junge meiner List-Familie. Meine Schwester gebar vier Monate früher eine Tochter. Da war sie wieder, diese Duplizität der Ereignisse. Ich bin glücklich, und die hält bis heute an. Und ich empfinde eine große und tiefe Dankbarkeit dem Schicksal gegenüber oder dem Schöpfer (?) oder einfach „nur“ dem erlebten und erfahrenen Glück.

56 Jahre nach meiner Geburt und 30 Jahre nach der meines Sohnes wiederholte sich die Geschichte wiederum mit der Geburt meines Enkelsohnes, wieder als einziger Junge meiner List-Familie. Die Tochter meiner Schwester gebar einen Monat früher eine Tochter. Das war nochmals eine Wiederholung der Duplizität der Ereignisse! Ich bin wieder glücklich. Dies hält gerade ganz aktuell an! Und ich empfinde eine große und tiefe Dankbarkeit dem Schicksal gegenüber oder dem Schöpfer(?) oder einfach „nur“ dem (bisher) erlebten Glück…

VON FLÖHA NACH KARL-MARX-STADT

Dann war es soweit, dass ich mit meiner Mutter zu meinem Vater nach Karl-Marx-Stadt. ziehen konnte. Nun lebte ich also bei meinen Eltern in Karl-Marx-Stadt, gleichzeitig aber auch bei meinen anderen Großeltern. Meine Eltern hatten noch keine eigene Wohnung und lebten selbst noch bei den Eltern meines Vaters. Wir wohnten in einem alten Mietshaus aus der Gründerzeit. Die Wohnung hatte ein Wohnzimmer, Schlafzimmer, ein Kinderzimmer und eine Küche. Im späteren Kinderzimmer schliefen meine Eltern, ich nun bei den, für mich neuen, aber fremden, Großeltern im Schlafzimmer. Das war ziemlich eng, doch mich störte das nicht, jedenfalls lebten wir nun zu fünft hier im Stadtteil Gablenz in der Bernhardtstraße 113.

MEIN FREUND MICHA

Nun lebte ich nicht mehr in einer Kleinstadt, sondern in der Großstadt mit über 300.000 Einwohnern Und ich lebte aber auch bei meinen anderen Großeltern, welche so anders und mir anfänglich noch fremd waren. In den Kindergarten ging ich nach wie vor nicht, das sollte erst in ein paar Monaten folgen. Aber schnell lernte ich beim Spielen im alten Hof hinter unseren Gründerzeithäusern oder auf der Straße, genauer auf dem Trottoir daneben, neue Spielkameraden kennen. Einer davon sollte mein Freund werden, aus dem später ein Freund fürs Leben wurde.

Meine Freunde waren auch später fast nie gleichaltrig, sondern merkwürdigerweise fast ausnahmslos älter als ich. Das war auch so mit den Jungen aus der Nachbarschaft. Einer von ihnen war Micha. Nein, nicht einer von ihnen, sondern der Junge für mich, kurz darauf mein Freund. Micha wurde mein erster Freund im zarten Alter von fast drei Jahren. Ich weiß das noch ganz genau, weil das meine zweiten bewussten Lebenserinnerungen sind. Meine Schwester war vor ein paar Tagen geboren worden, meine Mutter kam gerade mit ihr nach Hause und ich freute mich sehr auf beide. Nach dem Kennenlernen meines künftigen Schwesterleins wollte ich jedoch wieder runter. „Runter“, das bedeutet damals hinunter auf unsere Straße, um zu spielen. An diesem Tag wollte ich weiter meinen Holzroller ausprobieren und das Fahren üben.

Auf jener Straße hatte ich vor ein paar Monaten einen Nachbarjungen näher kennen gelernt. Er war mindestens zwei Köpfe größer, aber nur ein Jahr älter als ich. Und er konnte Roller fahren! Aber keinen Holzroller, sondern einen richtigen Luftroller. Dieser Roller war luftbereift, hatte einen Sitz, welcher sich in verschiedene Stufen funktionieren ließ. Stufe 1 war ganz niedrig, für sogenannte Geschwindigkeitsfahrten. Stufe 2 war hoch, ähnlich einem Fahrradsattel. Aber vor allem hatte der Luftroller eine Bremse, eine Hinterrad-Bremse, die eigentlich eine Reifenbremse war. Die wurde wichtig, denn unsere Häuser aus der Zeit vor der Jahrhundertwende 1899/1900 lagen an einem relativ steilen Berg. Und ich lernte wie gesagt erst das Rollerfahren. Mein Holzroller hatte keine Bremse, keinen Sitz, nur Holz und die kleinen Vollgummi-Räderchen, welche sehr hart waren.

Zum Glück war dieser Nachbarjunge da, denn ich wollte mich diesen Berg mit meinem Holzroller wagemutig hinunterstürzen, unwissend wie ich war. Er hielt mich zurück. So bewahrte er mich vor weiteren Abschürfungen und Stürzen, denn genau diese hatte ich bis dahin schon erlitten. Aber es sollte noch besser kommen, denn er wollte mir das Rollerfahren beibringen. Er benahm sich jetzt schon wie mein großer Bruder, der er für mich dann auch wirklich fast werden sollte. Das war also Micha J., der gleich im Nachbarhaus wohnte, sehr zu meiner Freude. Aus dieser Zeit gibt es von uns beiden ein wunderbares Foto. Ich, der sehr Kleine mit meinem Holzroller, und Micha mit dem Luftroller. Aufgenommen damals von meinem stolzen Vater aus unserer Wohnung im ersten Stock heraus.

Was noch im Jahr 1960 geschah: Im Steinkohlebergwerk „Karl-Marx" in unserer Nachbarstadt Zwickau mussten nach siebentägigen Bergungsversuchen 123 Bergleute aufgegeben werden, die von einer Schlagwetterexplosion verschüttet worden waren. Der Schwarze Kanal von Karl-Eduard von Schnitzler wurde erstmals im Fernsehen ausgestrahlt. Das 8. Plenum des Zentralkomitees der SED beriet über den Abschluss der Kollektivierung der Landwirtschaft. Als letzter Bezirk meldete Karl-Marx-Stadt den Abschluss der Kollektivierung. Das ZK der SED veröffentlichte als offenen Brief einen Deutschlandplan des Volkes. Auf in der DDR hergestellten Karten und Atlanten durfte ab sofort der Begriff „Deutschland" nicht mehr verwendet werden. Der erste Bauabschnitt des Rostocker Hochseehafens ging in Betrieb, und noch ging die Entwicklung voran in der DDR. Die „Neue Wache“ Unter den Linden wurde nach der Restaurierung als Mahnmal für die Opfer des Faschismus und Militarismus eingeweiht. Der erste und einzige Präsident der DDR, Wilhelm Pieck, starb. Bundesbürger mussten künftig beim Überschreiten der Berliner Sektorengrenze eine Bescheinigung der Volkspolizei vorweisen. Das Amt des Staatspräsidenten wurde abgeschafft und durch den Staatsrat als kollektives Staatsoberhaupt ersetzt. Staatsratsvorsitzender wurde Walter Ulbricht. Die Westberliner Behörden meldeten 20.968 DDR-Flüchtlinge in einem Monat. Die Premiere des DEFA-Films „Fünf Patronenhülsen" von Frank Beyer erfolgte. Walter Janka wurde aus der Haft entlassen. Im anderen Teil Deutschlands passierte nicht so viel. So trat das Gesetz zur friedlichen Atomnutzung in Kraft. Der Bundestag beschloss das „Gesetz über den zivilen Ersatzdienst“ und die Privatisierung des VW-Werkes. Das Jugendarbeitsschutz-Gesetz erlaubte nun im Westen Arbeit erst ab 14 Jahre. Die Kennzeichnungspflicht für Fremdstoffe in Lebensmitteln auf Verpackungen und Speisekarten wurde eingeführt.

LEDERHOSEN, BAUMWOLLSTRÜMPFE UND EIN LEIBCHEN

Lange Jungenstrümpfe waren eine Plage. Denn ein langer Baumwollstrumpf, der ein Leibchen und Strumpfbänder verlangte, das war schon sehr speziell. Ich musste so „rumlaufen“ in unserer Freizeit, und so ging es fast allen Jungen, zumindest in meinem Wohnviertel im Stadtteil Gablenz in Karl-Marx-Stadt. Später trug ich stolz nur kurze Hosen, meist Lederhosen, aber eben ohne die langen Strümpfe, schon ab Temperaturen um die sechs Grad Celsius. Also fror ich, und da ich sehr dünn war, fror ich ziemlich stark und freute mich über jeden noch so kurzen Sonnenstrahl.

Ich war gerade drei Jahre alt und kam in den Kindergarten. Meine Schwester Gabi lebte damals nicht bei uns. Es arbeiteten außer meinem Vater, der ja noch studierte, alle, weil sie Geld verdienen mussten, denn dieses war in unserer Familie in dieser noch Nachkriegszeit sehr knapp. Meine Großeltern väterlicherseits hatten zwar nicht alles verloren wie die Eltern meiner Mutter in Schlesien. Sie waren aber schon alt, und die Rente meines 67-jährigen Opas war nur niedrig, da er als ehemaliges, aber kleines NSDAP-Mitglied nach dem Zweiten Weltkrieg Repressionen erleiden musste und seine eigentliche Tätigkeit als Kaufmann nicht ausüben durfte. Also musste er noch arbeiten und das sogar bis zu seinem 80. Geburtstag. Dabei war meine Familie noch froh, dass er nicht wie sein Bruder von den Russen abgeholt und in ein Straflager nach Sibirien interniert worden war, von dem er niemals mehr zurückkehren sollte. Diese Angst abgeholt zu werden ging bis weit in die fünfziger Jahre hinein. Meine Oma arbeitete auch noch, war aber gleich nach dem Weltkrieg zeitig in die KPD eingetreten, die Kommunistische Partei Deutschlands. Und somit wurde sie etwas später SED-Mitglied, also der Sozialisten Einheitspartei Deutschlands, die es aber nur in der DDR gab. Es war also tagsüber niemand zu Hause, denn meine Mutter war Alleinverdienerin mit ihrer Arbeit als Eisenbahnerin bei der Deutschen Reichsbahn. Ich glaube, das war der Hauptgrund, warum meine Schwester nicht bei uns lebte. Der andere war, dass wir so schon auf engstem Raum lebten. Deshalb wurde meine Schwester weggegeben zur Schwester meines Großvaters, die zufällig auch in Flöha lebte. Diese, meine Großtante, hieß Martl. Und wochentags wohnte nun mein Schwesterchen bei ihr. Am Freitag dann fuhr Martl mit Gabi im Kinderwagen mit dem Zug zum Hauptbahnhof in Karl-Marx-Stadt und dann mit der alten Straßenbahn zu uns. Übrigens bezahlten meine Eltern Martl dafür, wohl auch deswegen, weil Martl selbst nur wenig Rente hatte. So lebten in diesen drei Zimmern mit 63 Quadratmetern am Wochenende dann insgesamt sieben Menschen. Und für uns alle musste meine Mutter noch sorgen, kochen, waschen, reinemachen. Wie muss das für meine Mutter gewesen sein? Denn nicht nur für mich war das Leben mit den mir immer noch fremden Großeltern und in der Großstadt neu, auch für meine Mutter. Für sie wird es vielleicht schlimm gewesen sein, bei und mit der Schwiegermutter zu leben, die vor kurzem noch nichts über meine Existenz gewusst hatte. Und jetzt lebte sie mit diesen auch ihr noch ziemlich fremden Menschen zusammen, auf engstem Raume.

KOLUMBUS DES 20. JAHRHUNDERTS

Am 12. April 1961 flog der erste Mensch ins All und ich war verdammt stolz darauf. Juri Gagarin umrundete dabei auch als erster Mensch mit seinem Raumschiff Wostok 1 die Erde. Das Ganze dauerte nur 108 min. Er wurde nun der Kolumbus des 20. Jahrhunderts genannt. Kosmonaut wollte ich auch werden, kam aber vorerst in den Kindergarten in die mittlere Gruppe. Dort wurde uns viel über die sowjetischen Kosmonauten erzählt, was ich sehr spannend fand. Nicht so spannend fand ich einige Zwänge. So wurde ich immer gezwungen, dieses fette und alte, knorpelige und zähe Rindfleisch vom Eintopf zu essen. Das konnte man sich später kaum noch vorstellen: richtig altes Fleisch mit gelben, fast ranzigen Fettklumpen! Ich musste minutenlang kauen und diese Batzen wurden kaum weicher. Sie ließen sich auch nicht verkleinern beim Kauen, jedenfalls nicht wesentlich.

Mit Sicherheit musste es von alten Kühen stammen, so zäh und ranzig-tranig wie das schmeckte. Mir kam es vor, als stammte dieses nicht nur von alten, sondern auch noch von kranken Kühen. Mit Sicherheit aber stammte es von toten Rindern. Natürlich hörte ich von der so strengen Erzieherin immer: „In anderen Ländern verhungern die Kinder“ und weitere Mahnungen. Und inzwischen wusste ich auch schon, dass das stimmte. Da es sich zwar kauen ließ, aber nicht zerkleinert werden konnte, würgte ich dieses Fleisch hinunter. Und dabei hob es mich immer wieder - es war eine Tortur, zumal ich ja schon sehr dünn war und ich noch nicht viel aß. Auch wusste ich nicht, wie wir diesen hungernden Kindern in anderen Ländern anders helfen konnten, als meiner Erzieherin Frau Dienelt vorzuschlagen, dass ich für diese Kinder aus diesen Ländern auf mein Fleisch verzichten würde! Ich fand meinen Vorschlag richtig gut und war das erste Mal in meinem jungen Leben stolz auf mich. Nur die strenge Frau Dienelt fand das nicht gut und sie donnerte mich zusammen mit sehr strengen Worten: „Schäm Dich! Denke an die hungernden Kinder! Du bist undankbar!“ Ich verstand nicht warum?

Mein Vater arbeitete bei der Lufthansa in Berlin, so wuchs ich in der Woche ohne ihn und nur bei meiner Mutter und den Großeltern auf. Und da er nicht jedes Wochenende nach Hause kommen konnte, fuhren wir eben oft nach Berlin. Da meine Mutter aus einer Eisenbahnerfamilie stammte und, wie schon berichtet, bei der Reichsbahn arbeitete, hatten wir Freifahrten und konnten somit kostenlos nach Berlin reisen. In Berlin staunte ich dann etwas später über diese Weltstadt. Hier bekam ich etwas später den ersten Westkaugummi und die erste Banane meines Lebens.

Was sonst noch im Jahr 1961 geschah: Die Wasserstoffbombe Zar wurde in der großen SU in Nowaja Semlja gezündet. Die Detonation gilt bis heute als die größte je von Menschen verursachte Explosion. Mit solchen Nachrichten und Schreckensmeldungen wuchs ich damals auf. In den USA wurde John F. Kennedy als neuer amerikanischer Präsident vereidigt. Er löste Dwight D. Eisenhower ab. In Kuba erfolgte die Invasion in der Schweinebucht. Und am 15. Juni erklärte Walther Ulbricht auf einer Pressekonferenz: „Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten!“. Ein paar Jahre später sollte ich ihm als Pionier begegnen. Im Juli 1961 hatte die Zahl der Flüchtlinge aus der DDR und Ost-Berlin mit 30.415 Menschen den höchsten Stand seit Juni 1953 erreicht. Meine Eltern sprachen davon, dass unser Land, die DDR, ausblutet. Mein Vater arbeitete damals noch in Berlin bei der Lufthansa und am Wochenende berichtete er uns vom aufregenden Leben dort. Bald würden wir auch nach Berlin ziehen. Ich freute mich schon darauf, dass ich dann Vater die ganze Woche über „haben“ würde.

Am 13. August wurde auf Weisung von Walter Ulbricht unter Zustimmung der Sowjetunion und unter der Koordination von Erich Honecker die DDR-Grenze zu West-Berlin geschlossen und die Berliner Mauer errichtet. Ihre Errichtung hat die DDR dann noch weitere 28 Jahre am Leben gehalten. Ihre Öffnung im Jahre 1989 läutete die Wende ein. Ost-Berlin wurde am 7. September zum 15. Bezirk der DDR erklärt.Am 20. September beschloss die Volkskammer das „Gesetz zur Verteidigung der DDR“. Nach dem XXII. Parteitag der KPdSU (17.-31. Oktober) begann die zweite Entstalinisierungswelle. In deren Zug wurde am 13. November das ostdeutsche „Stalinstadt“ in „Eisenhüttenstadt“ und die Ost-Berliner „Stalinallee“ in „Karl-Marx-Allee“ umbenannt. Kurze Zeit später zeigte mir mein Vater die Stalinallee (weil der Name im Volke so blieb). Ich fuhr mit einem Doppeldeckerbus durch Ostberlin und durfte sogar oben sitzen.

1962 - KUHMILCH

Vom 4.-28. Oktober 1962 erschütterte die Kubakrise zwischen den USA und der Sowjetunion die ganze Welt und brachte diese dem Abgrund der atomaren Vernichtung ganz nah. Davon bekam ich schon einiges mit, die damit verbundenen Ängste erreichten mich jedenfalls. Die Beatles lernte ich erst zwei Jahre später kennen. Sie machten die ersten Probeaufnahmen bei der Plattenfirma Decca und wurden mit der Begründung abgelehnt, dass Gitarrengruppen nicht mehr modern seien. In der BRD erfolgte Uraufführung des Karl-May-Films Der Schatz im Silbersee.

Am 24. Januar beschloss die Volkskammer die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht in der DDR, einschließlich Ost-Berlins. Die Handelsorganisation „Intershop“ wurde am 14. Dezember gegründet. Sie durfte nur von Ausländern mit konvertierbaren Währungen genutzt werden.

Nicht verschlafen habe ich auch dieses Jahr, ich wurde zunehmend ein aufgewecktes Kerlchen. Das musste ich wohl auch, denn bis zu meinem 19. Geburtstag sollte ich immer der Kleinste in meiner jeweiligen Kindergartengruppe und späteren Schulklassen sein, und zwar bis einschließlich der zwölften Klasse. Aber nicht nur der Kleinste, auch der Leichteste und Dünnste war ich. Deshalb musste ich es recht früh erlernen, mich auch gegen größere und schwerere Jungen zu behaupten, oft gegen viel Größere und viel Schwerere. Ein kleines Beispiel: Zu meiner Musterung für den Armeedienst war ich nicht nur der Kleinste, sondern war mit nur 47 Kilogramm auch ein Fliegengewicht. Meine sportlichen Klassenkameraden wogen dagegen schon 80 bis über 90 Kilo. Dazu war ich fast einen halben Meter kleiner, was sich neben diesen Riesen noch mehr anfühlte.

In meinen ersten Jahren habe ich fast keine Kuhmilch zu trinken bekommen. In diesen Nachkriegsjahren waren bei uns wohl viele Kühe an TBC (Tuberkulose) erkrankt, also durfte ich keine trinken, so jedenfalls begründete es meine Mutter 20 Jahre später auf mein Nachfragen hin. Ich hatte in meiner Kindheit ziemliche Probleme mit meinen Zähnen, wo ich später nach den Ursachen forschen wollte und sollte. Im Kindergarten gab es dann Milch, aber inzwischen wurde mir davon schlecht. Schon beim Geruch der warmen Milch hob es mich. Und wenn ich dann die Haut sah, wurde es noch schlimmer. Im Kindergarten wurde ich immer noch gezwungen, dieses fette und alte, knorplige und zähe Rindfleisch runter zu schlucken. Ich versuchte es wegen des ekligen Geschmackes gar nicht zu kauen, sondern gleich und schnell zu schlucken. Das machte es nicht wirklich besser, denn das Schlucken war eben nur durch das Würgen dieser Batzen möglich. Inzwischen dachte ich auch, dass dieses Rindfleisch von den Tuberkulosekranken Kühen stammen müsste, und auch dieser Gedanke machte es nicht besser.

Und obwohl ich früh Probleme mit meinen Zähnen und auch keinen ausgeprägten Hinterkopf hatte, so wurde ich trotzdem ein schmuckes Kerlchen. Nach zwei Jahren kam nun endlich auch meine Schwester Gabi endgültig nach Hause, denn jetzt hatten unsere Eltern für die Großeltern eine Wohnung gefunden. Obwohl meine Großeltern wohl gar nicht von uns weg wollten und auch dies nicht richtig einsahen, dass es für unsere junge Familie zu viert sehr wichtig war, endlich unser eigenes Leben leben zu können. Bisher hatten sie alle Wohnungen, welche immer noch sehr knapp waren, abgelehnt. Meine Eltern leisteten Überzeugungsarbeit und machten es meinen Großeltern noch schmackhafter, indem sie ihnen die Miete zahlten. Das sollte dann noch viele Jahre so gehen bis an das Lebensende meiner Großeltern. Also hatte jetzt mein Vater auch Geld im Beruf verdient, was sich sofort wieder reduzierte, weil nun die Mieten von zwei Wohnungen bezahlt wurden. Auch wenn die Mieten nicht so hoch waren, so waren damals Anfang der sechziger Jahre die Löhne und Gehälter noch sehr niedrig, besonders für Berufsanfänger wie Mutter und Vater.

Aber jedes Wochenende kamen die Großeltern weiterhin zu uns und Martl auch. Meine Mutter durfte also weiterhin alle sieben Personen bekochen, nur eben in der Woche nicht mehr. Am schönsten für mich aber war es, wenn wir zu meinen anderen Großeltern nach Flöha mit der Eisenbahn fuhren. Und obwohl die Beiden viel weniger hatten, wurden wir dort bemuttert und bekocht. Hier war alles anders. Das Wenige wurde aber bereichert durch zwei Gärten, welche Großvater neben seiner Arbeit im Stellwerk hatte. So gab es immer irgendetwas aus dem Garten zu essen, grüne Gurken und anderes Gemüse, Senfgurken, frische Erdbeeren, selbstgemachte Schwarze Johannisbeermarmelade (die leckerste der Welt), Rhabarber-Saft, Johannisbeer-Schnaps und Wein für die Erwachsenen. Und das schönste für mich war, dass der Hauptgarten direkt am Fluss Flöha lag. Nur ein Radweg und der Damm trennten den Garten vom Ufer. Er lag mitten in einem Natur- und Wasserparadies, ideal für mich zum Baden, dem ersten Angeln, Herumstromern und um auf Entdeckungstour zu gehen.

Ich wohnte in der Bernhardstraße 113 im Stadtbezirk Gablenz und gleich in meiner Nachbarstrasse, nur ein paar hundert Meter entfernt, staunte ich über die bereits erwähnte Trümmerbahn in der Charlottenstraße. Sie war etwa 100 Meter lang und lieferte die Trümmerstücke und Ziegel der Ruinen der Stadt an, die dann wieder aufbereitet und für den Wiederaufbau verwendet wurden. Die Ruinen in unserer Stadt und die Trümmerberge und leeren Bombentrichter an Stelle der ehemaligen Gründerzeithäuser nach dem Angriff der Alliierten gab es immer noch. Inzwischen lief ich mit meinem Großvater oft durch unseren Stadtbezirk und er erzählte mir viel, auch über den Krieg. Der Geruch nach Schutt und Asche war für mich bei den Spaziergängen mit den Eltern oder Großeltern prägend.

1963 UND ETWAS KLEIN

Mit „klein“ war nicht etwa die DDR gemeint, denn diese war für mich damals noch ein ganz großes Land, sondern ich. In diesem Jahr passierte besonders viel in der ganzen Welt und in der DDR und der BRD. US-Präsident John F. Kennedy hielt anlässlich seines Berlin-Besuches die denkwürdige Rede vor dem Rathaus Schöneberg, die mit den auf Deutsch gesprochenen Worten „Ich bin ein Berliner“ endete. Auch wenn ich an einigen Wochenende in Berlin war und meinen Vater besuchen durfte, so war ich leider nicht dabei.

Was sonst noch im Jahr 1963 geschah: In Moskau wurde der Vertrag über das Verbot von Atomwaffentests in der Atmosphäre, im Weltraum und unter Wasser (Partieller Teststopp-Vertrag, Partial Test Ban Treaty, PTBT) zwischen den USA, der UdSSR und Großbritannien unterzeichnet. In England überfiel eine Bande von insgesamt 15 Mitgliedern einen Postzug von Glasgow nach London und raubte 2,6 Millionen Pfund. Das wurde später als der berühmte „Postraub“ bezeichnet. Beim „Marsch auf Washington“ hielt Martin Luther King seine berühmte Rede „I have a dream“. 56 Jahre später bezog ich mich in einer Rede vor 5.000 Menschen vor dem Nischel (Karl-Marx-Kopf) bei einer Demo darauf. Konrad Adenauer trat als Bundeskanzler zurück, und Ludwig Erhard wurde zweiter Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland. Am 22. November wurde US-Präsident John F. Kennedy in Dallas bei einem Attentat getötet. Lyndon B. Johnson wurde 36. Präsident der USA und am 24. November erschoss der Nachtclubbesitzer Jack Ruby in Dallas vor laufender TV-Kamera Lee Harvey Oswald, den mutmaßlichen Mörder von US-Präsident John F. Kennedy, bei Überstellung in das Gefängnis.

Die Wirtschaftskonferenz des ZK der SED (24./25. Juni) beschloss mit dem Neuen ökonomischen System der Planung und Leitung der Volkswirtschaft (NÖSPL) eine Wirtschaftsreform. Am 22. Oktober schlossen die Mitgliedsstaaten des „Rates für gegenseitige Wirtschaftshilfe“ (RGW) ein Abkommen über die Einführung des Transferrubels als Verrechnungseinheit und die Gründung der Internationalen Bank für Wirtschaftliche Zusammenarbeit in Moskau.

Den Postraub fand ich gut, denn die Posträuber würden bestimmt das Geld mit den Armen teilen. Ich dachte dabei sofort an Robin Hood, den wir und ich bewunderten und den wir bei unseren Spielen nachspielten. Das mit JFK fand ich nicht gut, weil meine Eltern traurig waren, also war ich auch sehr traurig. Im Kindergarten wurde ich immer noch gezwungen, dieses fette und alte, knorplige und zähe Rindfleisch zu essen. Ich versuchte es auf Grund des ekligen Geschmackes aber nicht mehr, denn ich hatte eine neue Strategie gefunden: Ich sammelte einige Fleischstücke im Mund (ohne zu kauen) und tat so, als müsste ich mich ausschnauben. Dabei spuckte ich dann alles in mein großes Männer-Stofftaschentuch. Nur zu Hause bekam ich jetzt Ärger, wenn meine Mutter meine Wäsche wechselte und diese alten, angetrockneten Fleisch- und Fettbatzen heraus purzelten.

Und obwohl ich so klein war, lernte ich es, mich zu behaupten, denn ich wurde – wie gesagt - auch ein aufgewecktes Kerlchen. Manchmal musste ich mich nicht nur behaupten, sondern es gab auch Situationen, in denen ich mich durchsetzen musste. Aber das lernte ich erst etwas später. Vorher durfte ich noch ein Jahr länger als meine Kindergarten-Freunde auf meine Einschulung warten, denn ich war wirklich sehr klein. Der Schularzt sah aber keinen Grund dafür, denn wie gesagt geistig war ich ziemlich aufgeweckt. Also sollte ich eingeschult werden, nur mein Vater war dagegen. Er wusste schon warum, denn meinem Vater war es auch so ergangen. In unserer Familie waren die Männer körperliche Spätentwickler und wuchsen erst mit 19 oder 20.

So musste sich mein Vater in meinem Interesse mit der Schule und dem Schulamt und mit mir streiten (nur zarter Versuch von mir). Und wie so oft setzte sich mein Vater durch, was ich offensichtlich von ihm gelernt hatte. Damals wollte ich das natürlich gar nicht einsehen, aber später war ich meinem Vater sehr dankbar. Ich bekam ein Jahr mehr Kindheit und Jugend geschenkt. Ein ganzes Jahr, wo doch unsere Zeit so knapp bemessen ist. Doch lieber Leser, dazu später mehr. Auch heute im Rückblick bin ich dafür sehr dankbar für diesen Zugewinn an Zeit zum Spielen, für Abenteuer und zum Angeln – eben ein Jahr der Kindheit.

HENSCHEL-PIMPER

Jeden Monat ging ich an einem Sonntagvormittag in den „Henschel-Pimper“ zu einer Vorstellung. Henschel-Pimper, so hieß unser kleines Marionettentheater-Puppentheater in der Hammerstraße 4. Es stammte noch aus den 1920er Jahren und war auch in diesem Zustand. Doch für mich war es immer sehr reizvoll, da schöne Geschichten in dieser herrlich alten Atmosphäre und Stimmung erzählt wurden… So ähnlich wie im Ingmar Bergmanns Film „Fanny und Alexander“, in der Langfassung mit einer längeren Laufzeit von fünfeinhalb Stunden, handelnd zur Jahrhundertwende 1899/1900. Jedenfalls war der Henschel-Pimper ein Marionettentheater, aus der guten alten Zeit gefallen und überlebt in die Aufbaujahre der noch jungen DDR. (Quelle: Adressbuch Chemnitz)

Ich ging ich also sonntagvormittags in den „Henschel-Pimper“ zu einer Vorstellung, das war ein kurzer Spazierweg den Kreher-Berg hinunter zur Augustusburger Str., am Kino Welt Echo und dem Gläser-Bäcker und der Mosenstraße vorbei zur Hammerstraße. Diese war nur ca. 60 m lang und mündete in den Hammerweg, der durch eine Gartenanlage zur Friedrich-Engels-Str. (Fürstenstraße) führte. Auf diesem Hammerweg war ich oft im Winter rodeln. Jedenfalls ging ich entweder allein oder mit meinem besten Freund Micha, später nahm ich auch meine Schwester Gabi mit. Gesäumt war die Hammerstraße durch die alten kleinen, niedrigen und geduckten Häuser, welche nur ein oder zwei Stockwerke hatten (wie der „Henschel-Pimper“). Diese Häuser waren viel älter – so über 200 Jahre – als die größeren und höheren Gründerzeithäuser auf der Jakobstraße, die in die kurze Hammerstraße mündet. Die Inhaber führten selbst das Marionettentheater und sprachen und spielten die Rollen und bedienten die Marionetten. Sie waren ein altes Ehepaar, schon um die 70 Jahre alt, erfüllten uns junge Kinder von fünf Jahren aber mit großer Freude und spannenden Abenteuern. Später in der DDR wurden diese alten Häuser leider abgerissen.

„Nach dem „Generalanzeiger für Chemnitz und Umgegend“ wies der Spielplan für 1892 zwölf Schauspiele für Erwachsene und vier für Kinder aus. Ab 22. April 1877 lud „Henschels Restaurant“ in Gablenz zum großen „Kunsttheater“ ein. Im Laufe der Zeit kamen noch andere hinzu und vergingen wieder. Das beständigste und langlebigste mit neun Jahrzehnten war jedoch der „Henschel- Pimper“. Seine Marionetten, an Fäden von oben mit geschickten Händen geführt, hatten im Durchschnitt eine Höhe von 1,20 bis 1,50 Metern. Sie entsprachen damit der Größe elf- und zwölfjähriger Kinder. Sie sollten das Auftreten wirklicher Menschen vortäuschen. Der „Menschenfresser“, der sein Mundwerk bewegen und die Augen fürchterlich rollen konnte, war sogar mannshoch.“ (Wolfgang Bausch, https://vs-aktuell.de/2006/4/aus-derpuppenspielerhistorie.html)

VORFREUDE AUF WEIHNACHTEN

Er hatte mich schon lange angefunkelt, nun hatte ich einen zum Nikolaustag geschenkt bekommen: den Weihnachtsstern, einen Herrnhuter Weihnachtsstern, zum Selbstzusammenbau. Darüber hatte ich mich sehr gefreut, denn schon lange hatte ich mir einen gewünscht.

Also bastelte ich gleich los und setzte Stern vorsichtig zusammen. Allerdings sollte dies beim ersten Mal ziemlich lange dauern, gefühlt mehrere Stunden. Da ich die Anleitung noch nicht lesen konnte, musste meine Mutter mir vorlesen: „Ein Original Herrnhuter Advents- und Weihnachtsstern besteht aus insgesamt 25 Zacken: 17 Viereck und 8 Dreieckzacken. Anstelle der 26. Zacke wird oben die Beleuchtung eingeführt. Traditionell wird er in Einzelteilen geliefert und an Ort und Stelle im Kreis der Familie oder Freunden zusammengesetzt.“( www.herrnhuter-sterne.de). Das sollte für mich eine so wichtige und freudige Weihnachtstradition werden, ähnlich wie das Plätzchenbacken.

Zur Geschichte: Herrnhuter Sterne schmücken in der Advents- und Weihnachtszeit viele Wohnungen, Kirchen, soziale Einrichtungen, aber auch Straßen, Plätze und Schaufenster. Der aus Herrnhut stammende Brauch, den Stern im Familienkreis zusammenzubauen und ihn am ersten Sonntag im Advent aufzuhängen, ist weltweit verbreitet und hat eine lange Tradition. Nachfahren der Evangelischen Brüderunität aus Mähren siedelten Anfang des 18. Jahrhunderts nach Deutschland um und gründeten den Ort Herrnhut. Dieser wurde Ausgangspunkt einer weltweiten Missionsarbeit. Im Erziehungswerk dieser Kirche wurden Kinder von Missionsfamilien im Internat aufgenommen. Um ihnen besonders in der Adventszeit die Trennung vom Elternhaus zu erleichtern, begann vor ca. 150 Jahren ein Erzieher einen Stern aus Pappe und Papier zu basteln. Bald stellten die Schüler diese Sterne selbst her.

Erst am Anfang des 20. Jahrhunderts begann manufakturmäßig die Serienproduktion und führte zur großen Verbreitung dieses Weihnachtsbrauches. Bis heute werden die Sterne mit der Hand gefertigt.